Über das Buch:
1905 aus St. Petersburg geflohen, findet die kleine Hildegard mit ihrer Familie auf dem Landgut der adligen Vorfahren in Königsberg ein neues Zuhause. Das aufgeweckte Mädchen steckt voller Energie und Wissensdurst, sehnt sich aber zutiefst nach Liebe und Anerkennung. Als sie dem Studenten Gustav von Langner aus Deutsch-Südwestafrika begegnet, beginnt sie zaghaft zu träumen – vom Sehnsuchtsland Afrika und von Gustav.
Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus und ihre Träume zerplatzen wie eine Seifenblase. Hildegard ahnt nicht, welch turbulente Zeiten ihr noch bevorstehen. Sie ahnt nicht, dass sie schon bald im Berlin der 20er-Jahre leben und nicht nur einen, sondern zwei Weltkriege wird meistern müssen. Vor allem aber ahnt sie nicht, welche Umwege das Leben sie noch führen wird, bevor sie endlich das findet, wonach sie sich am meisten sehnt: ein Zuhause.
Über die Autorin:
Irma Joubert lebt in Südafrika. Sie studierte Geschichte an der Universität von Pretoria und war fünfunddreißig Jahre lang Lehrerin an einem Gymnasium. Nach ihrer Pensionierung begann sie mit dem Schreiben. Die Historikerin liebt es, gründlich zu recherchieren und ihre Romane mit detailreichen Fakten zu untermauern. In ihrer Heimat und den Niederlanden haben sich ihre historischen Romane zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.
6. Kapitel
Durch die nächsten Tage stolpert sie; jede Nacht kämpft sie mit ihren quälenden Gefühlen.
Ich habe immer noch die Wahl und kann meine Entscheidung ändern, sagt sie sich selbst. Denn eine Frage, die sie sich die ganze Zeit über gestellt hat, ist nun beantwortet: Sie soll der Platzhalter für die erste Frau von Stein werden.
Aber hat sie wirklich eine Wahl? Wohin sollte sie denn zurückgehen?
Die Hochzeit wird ein immer größerer Berg, der sich vor ihr auftürmt. „Ich habe keine Ahnung, was man von mir erwartet. Ich weiß noch nicht einmal, wie alles ablaufen wird.“
„Morgen früh um zehn Uhr gehen Sie aufs Standesamt, dort wird die Ehe vor dem Gesetz geschlossen.“ Der Ton von Frau Hoffmann bleibt sachlich, so als ginge sie das alles nichts an. „Danach findet dann der Gottesdienst in der Kirche statt.“
Hildegard fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Wer kommt denn alles mit?“
Frau Hoffmann macht eine Handbewegung. Ist sie etwa verärgert? „Zum Standesamt gehen nur der Herr Doktor und Sie, dazu die beiden Jungen und Ihr Vater. Die geladenen Gäste und wahrscheinlich auch einige hochstehende Personen und Armeeoffiziere wohnen dem Gottesdienst bei. Danach kehren Sie und die Gäste zum Mittagessen nach Hause zurück. Das ist alles.“
„Oh, vielen Dank.“
Unbeirrt fährt die Haushälterin damit fort, jede einzelne Blume sorgfältig in den Vasen zu arrangieren. Die großen Schiebetüren zwischen dem formellen Wohnzimmer und dem Esszimmer sind schon aufgeschoben, beide bilden nun einen einzigen großen Raum.
Doch Hildegard hat noch nicht alles erfahren, was sie wissen möchte. „Und was muss ich tun?“
„Sie müssen nur schön aussehen und lächeln.“
Das hört sich sehr einfach an.
Dann schließlich wendet sich die Haushälterin doch kurz von den Blumen ab und ihr zu. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann sollten Sie sich nicht in die Gespräche einmischen, sondern das Reden lieber den Männern überlassen. Vor allen Dingen sollten Sie sich bei den politischen Themen sehr zurückhalten. Wenn Sie und die Damen allein sind, können Sie über die Dinge reden, von denen Sie etwas verstehen. Das wird aber mit Sicherheit nichts Politisches sein, sondern eher soziale Angelegenheiten.“
Hildegard wird noch bekümmerter. „Aber ich kenne nicht einen Menschen in den hiesigen sozialen Kreisen.“
„Sie wissen aber doch zum Beispiel über Musik und Bücher Bescheid – bei allen anderen Themen schweigen Sie am besten und hören zu.“
Es ist verstörend, was die Haushälterin in gerade einmal zwei Wochen schon über sie herausgefunden hat, denkt Hildegard überrascht. „Danke, das ist ein guter Rat. Ich … bin sehr nervös.“
Frau Hoffmann hat sich schon wieder ihrer Arbeit mit den Blumen zugewandt. „Das brauchen Sie nicht zu sein, der Herr Doktor wird die ganze Zeit über nicht von Ihrer Seite weichen. Und beim Empfang wird auch alles glattgehen.“
Hildegard lächelt gequält. „Darum mache ich mir keine Sorgen. Danke, Frau Hoffmann.“
„Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen morgen helfen, sich zurechtzumachen“, sagt sie sehr vorsichtig, um keine Grenze zu überschreiten.
„Oh, ja, bitte, Frau Hoffmann.“
* * *
So kommt es schließlich dazu, dass Frau Hoffmann am folgenden Morgen das grüne Samtkleid auf dem Bett ausbreitet.
Ich hätte nie geahnt, dass mein Brautkleid irgendwann einmal so aussehen würde, denkt Hildegard. Sie hätte so gern ein weißes Kleid mit einer Bordüre und Satinspitzen getragen. Doch die Damenschneiderin hat nicht mit sich reden lassen. „Der Herr Doktor hat mir ausdrücklich aufgetragen, eine Farbe auszusuchen und ein Kleid zu schneidern, das zum Beispiel auch in der Oper getragen werden kann. Sie wollen doch als Braut sicher kein Modepüppchen sein? Schließlich ist der Herr Doktor ein respektierter und stilsicherer Mann.“
Aber das ist doch meine Hochzeit, hat Hildegard bei sich gedacht. Und ich bin noch nicht einmal neunzehn Jahre alt.
„Es ist ja auch nicht seine erste Hochzeit. Weiß wäre deshalb vollkommen unpassend.“
Aber es ist meine erste Hochzeit, hätte Hildegard ihr am liebsten erwidert. Doch dann hat sie ihre Worte schnell heruntergeschluckt. Alles ist so fremd gewesen. Und ihr Selbstvertrauen hatte gelitten. Sie war so am Boden zerstört, dass sie noch nicht einmal wusste, wie ihr Traumkleid überhaupt aussehen sollte.
Nun streicht Frau Hoffmann vorsichtig mit der Hand über das smaragdgrüne Kleid. „Wunderschön, sehr elegant“, bemerkt sie anerkennend. „Kommen Sie, wir müssen erst das Kleid anziehen, bevor wir uns die Haare machen können.“
Hildegards Magen hat sich zu einem Knoten zusammengezogen, ihre Kehle ist wie zugeschnürt. „Gut“, erwidert sie unsicher und versucht zu kichern. In der Nacht hat sie kaum geschlafen und wünschte sich, dass dieser Tag, am besten die ganze vor ihr liegende Woche schon vorbei wäre. Doch jetzt muss sie hindurch.
Das Kleid mit seinem fest anliegenden Oberteil ist mit einer schweren Bordüre auf dem Samt verziert. Frau Hoffmann hilft Hildegard dabei, es über den Kopf zu ziehen, und schließt die kleinen Häkchen auf dem Rücken. Der wadenlange Saum fällt glockenförmig nach außen. Dazu soll Hildegard eine kleine Handtasche aus demselben Samt tragen und vornehme schwarze Schuhe mit Absätzen.
„Heute Morgen hat der Herr Doktor die Blumen anliefern lassen. Vielleicht könnten wir uns eine davon in die Haare stecken?“
„Ja, das ist schön. Könnten Sie das tun, Frau Hoffmann?“
„Ich kann es versuchen.“
Nach einer Viertelstunde hält die Haushälterin den versilberten Handspiegel so, dass Hildegard ihren Hinterkopf betrachten kann. „Frau Hoffman, das sieht wunderbar aus!“, ruft sie überrascht aus. „Sie sind eine Künstlerin.“
Und zum ersten Mal, seit sie ihr vor ein paar Wochen begegnet ist, huscht ein flüchtiges Lächeln über das Gesicht der älteren Frau. „Ich bin froh, dass Sie zufrieden sind.“
Ich bin zufrieden, denkt Hildegard. Ich glaube, ich hätte meine Haare niemals so schön frisieren können.
„Haben Sie ein Hochzeitstaschentuch?“
„Ein Hochzeitstaschentuch? Nein, so etwas habe ich nicht, aber dort in der obersten Schublade ist ein quadratisches Taschentuch. Ich habe es vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen“, antwortet Hildegard. „Benutzt habe ich es noch nie, weil es kein besonders praktisches Taschentuch ist.“
„Das tut es auch, ja“, entscheidet Frau Hoffmann und legt das Taschentuch vorsichtig in die Samthandtasche. Dann betrachtet sie Hildegard von Kopf bis Fuß. „Warten Sie, etwas fehlt noch, um das Bild abzurunden“, sagt sie und geht bedächtig zur Tür hinaus.
Hildegard wendet sich dem hohen Spiegel zu und betrachtet sich kritisch darin. Sie merkt, wie sie sich nach und nach entspannt. Das ist vielleicht nicht das blütenweiße Brautkleid, das sie im Modebuch der Damenschneiderin entdeckt hat, aber mit Sicherheit das schönste Kleid, das sie je besessen hat. Und es macht etwas mit ihr: Sie kommt sich erwachsen, elegant und fast schon königlich vor.
Frau Hoffmann kommt zurück und legt Hildegard eine lange Perlenkette um den Hals. „Ich werde den Herrn Doktor fragen, ob Sie die tragen können. Sie würde den Gesamteindruck vornehm abrunden.“
Hildegard erkennt die Kette sofort wieder. Es sind die Perlen, die Frau von Stein auf dem Gemälde trägt. „Diese Perlen haben Frau von Stein gehört“, stellt sie nüchtern fest.
„Ja, sie hat sie sehr gern gemocht. Der Herr Doktor hat sie ihr zur Verlobung geschenkt. Aber ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen hat, wenn Sie sie tragen.“
Aber ich möchte sie nicht tragen, denkt Hildegard schweigend. Doch sie will auch Frau Hoffmann nicht vor den Kopf stoßen – denn im Augenblick ist sie der einzige Mensch in diesem Haus, in der ganzen Welt, mit dem sie reden kann.
„Kommen Sie, wir müssen hinuntergehen. Der Herr Doktor wartet schon.“
Plötzlich überfällt sie wieder die Nervosität und ihr gewonnenes Selbstvertrauen löst sich in der grauen Luft auf. Hastig legt sie ihre Hand auf den Arm der Haushälterin. „Frau Hoffmann, kommen Sie bitte mit?“
Sanft löst die Haushälterin ihren Arm aus der Umklammerung. „Nein, Fräulein Hildegard, das würde sich nicht schicken. Aber machen Sie sich keine Sorgen, der Herr Doktor wird die ganze Zeit über nicht von Ihrer Seite weichen.“
* * *
Er steht bereits am unteren Ende der Treppe und wartet: stolz und kerzengerade in seiner Ausgehuniform, die Orden sind blitzblank gewienert.
In Uniform?, denkt Hildegard erschrocken. Warum hat er denn keinen Anzug an?
Doch die Zeit drängt, sie kann sich nicht mehr beschweren. Vorsichtig gleitet sie Stufe für Stufe die Treppe hinunter, das Kinn erhoben, die eine Hand auf dem Treppengeländer. Er folgt jedem ihrer Schritte. „Hildegard, du siehst sehr elegant aus, wunderschön“, begrüßt er sie und bietet ihr seinen Arm an. „Du machst aus mir heute einen sehr stolzen Mann.“
Ich werde mein Bestes geben, denkt sie. Aber es kommt ihr kein Wort über die Lippen – ihre Kehle ist immer noch wie zugeschnürt.
Direkt vor der Außentreppe wartet Klaus, um ihnen den Schlag des vornehmen, schwarzen Mercedes zu öffnen. Sie fahren durch das schwere Eisentor und durch die Straßen von Berlin zum Standesamt. Hildegard kommt es so vor, als würde etwas Schweres auf ihrer Brust liegen, so als würde ein Schraubenzieher etwas in ihrem Magen fester und fester anziehen.
Siegfried nimmt ihre Hand, die in einem eleganten Handschuh steckt, in die seine. „Du musst dich entspannen, Hildegard, du bist ja gespannt wie eine Gitarrensaite.“
Sie holt tief Luft. „Gut, ich werde es versuchen.“
Vor dem Standesamt warten die Jungen, ordentlich angezogen, beinahe in Hab-Acht-Stellung. Doch auch ihre Gesichter sehen angespannt aus. „Guten Morgen, Vater, guten Morgen, Fräulein von Plötzke“, grüßt Hans.
Fräulein von Plötzke. Zum letzten Mal. In weniger als einer Viertelstunde ist ihr Leben als Fräulein für alle Zeiten vorbei.
Oswald murmelt etwas vor sich hin, das man als Begrüßung verstehen kann.
Dann entdeckt Hildegard ihren Vater, die schneeweißen Haare ordentlich nach hinten gekämmt, in seinem dunklen Anzug sieht er gut aus. Dieser Augenblick übermannt sie beinahe. „Papa!“
Er lächelt sie an und in seinen Augen blitzt Stolz auf. Dann macht er einen Schritt auf sie zu und streckt ihr seine Hand entgegen. „Du siehst wunderbar aus, Hildegard.“
Wie gern würde sie ihm entgegenrennen und sich in seine Arme werfen, damit er sie an sich drückt, auch wenn es nur für einen Augenblick wäre. Aber da hat er sich schon abgewandt, um Siegfried die Hand zu schütteln.
* * *
Nur noch fünf Minuten, nur eine Antwort auf die Frage und eine Unterschrift auf einem Blatt Papier und sie ist vor dem Gesetz Frau Hildegard von Stein. In einem Augenblick ist es vorbei. „Das fühlt sich unwirklich an“, sagt sie im Auto zu Siegfried.
„Das war ja nur der standesamtliche Teil. Ich halte den Gottesdienst in der Kirche für die eigentliche Eheschließung.“ Dabei hört sich seine Stimme etwas steifer an als sonst. Ist er etwa auch ein wenig angespannt?, überlegt Hildegard einen Moment lang.
Nach einer kurzen Fahrt halten sie vor der Kirche, der prachtvollen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mitten auf dem Breitscheidplatz. Sie betrachtet das hohe Dach und die kleinen Spitztürme, von da aus schweift ihr Blick zu dem hohen Turm, der sich vor dem grauen Wolkenhimmel deutlich abhebt.
„Warte hier einen Augenblick, ich sage dem Pfarrer Bescheid, damit wir gemeinsam einziehen können“, dringt Siegfrieds Stimme an ihr Ohr.
Sie lehnt sich in den Autositz zurück und schließt für einen Moment die Augen. Sie ist todmüde und fühlt sich … vielleicht so wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird?
Wieder wirft sie einen Blick zur Gedächtniskirche hinüber, die märchenhaft schön ist. Vielleicht wird auch für sie das eine oder andere Märchen Wirklichkeit. Doch da hat sie ihre Zweifel.
„Hildegard?“
Verlegen lächelt sie. „Entschuldigung, ich war ganz in Gedanken.“
„Hast du schon wieder Luftschlösser gebaut? Komm, wir ziehen ein.“
Schnell ergreift sie Siegfrieds Hand und steigt aus dem Auto, Klaus schließt hinter ihr die Tür. Als sie ihren Vater entdeckt, fragt sie: „Wie geht es dir, Papa?“
„Gut, gut. Wir können nachher reden, beim Essen. Hildegard, das ist dein großer Tag. Für mich ist es auch ein großer Tag, weil ich weiß, dass es dir nie mehr an etwas fehlen wird.“
Nie an etwas fehlen. „Ja, Papa.“
Sie treten durch die Tür, während die gewaltigen Orgelklänge bis auf die Straße hinausdringen.
Dann soll es eben so sein, denkt Hildegard gelassen. Denn dort, vor der Kirche, kommt es ihr zum ersten Mal so vor, als würde sie wirklich heiraten.
* * *
Sie hätte nicht gedacht, dass sie dort stehen würden, wenn sie herauskommt. Sie hatte gedacht, dass sie die Kirche einfach an Siegfrieds Arm verlassen würde und die Gäste sie beglückwünschen würden. Doch dann stehen sie da, in Reih und Glied, ordentlich angetreten, die Männer in Uniform mit ihren Schwertern, die einen Ehrenbogen über ihren Köpfen bilden.
Und sie bringen die herzzerreißende Bösartigkeit des Krieges ins Herz ihrer Hochzeit.
„Das ist die größte Ehre, die sie uns erweisen können“, erklärt Siegfried leise neben ihr. „Ich wollte dich damit überraschen.“
Wie wenig du mich doch kennst, Siegfried von Stein, denkt sie. Dennoch zwingt sie sich zu einem Lächeln. „Danke.“
Dann zuerst das Foto: sie und Siegfried in der Mitte, die Jungen neben Siegfried, ihr Vater neben ihr. Hinter ihnen stehen einige Gäste, die sie nicht kennt, die meisten Männer tragen die imperiale Uniform der kaiserlichen Armee. Ein blendendes Licht. „Bleiben Sie stehen, ich mache noch eins“, sagt der Fotograf unter dem schwarzen Tuch.
Schließlich kommt irgendjemand sie abholen – Klaus ist schon vor längerer Zeit zum Haus zurück, um bei den letzten Vorbereitungen zu helfen. „Die Glückwünsche finden zu Hause statt“, erklärt Siegfried ihr sachlich. „Bisher ist alles glatt verlaufen.“
So wie eine militärische Operation.
Auf der Eingangstreppe wartet schon Frau Hoffmann auf sie. „Gehen Sie zuerst schnell noch nach oben, im Waschbecken in Ihrem Zimmer ist warmes Wasser“, sagt sie zu Hildegard. „Legen Sie auch ein wenig Rouge auf, Sie sehen sehr bleich aus.“
Das war also meine offizielle Hochzeit, denkt Hildegard, während sie sich im Spiegel betrachtet. Ein paar einzelne Haarsträhnen haben sich aus dem Knoten gelöst, aber es sieht nicht unordentlich aus. Die Blumen sind immer noch frisch, in den Sommermonaten wären sie zu diesem Zeitpunkt sicher schon verwelkt. Nachdem sie den Rat ihrer Haushälterin befolgt hat, sieht ihr Gesicht auch nicht mehr so bleich aus.
Jetzt ist sie bereit, die hohen Herren und Damen aus Siegfrieds Gesellschaft – ihrer neuen Gesellschaft – zu treffen.
Sie wird einer Person nach der anderen vorgestellt. Die meisten von ihnen sind schon ergraut oder ihr Haaransatz schiebt sich weit nach hinten. Nach dem vierten Ehepaar kann sie sich die Namen nicht mehr merken, sondern lächelt nur und nickt mit dem Kopf – ihre Kehle ist geschwollen, ihre Schultern verkrampft, ihr Lächeln auf dem Gesicht festgefroren.
Warum kommt ihr Vater nicht auf sie zu, um sie zu beglückwünschen? Scheinbar ist er in ein Gespräch vertieft und wohl auch tief beeindruckt von den hohen Herren von Berlin.
Die Jungen tauchen erst am Ende einer langen Reihe von Menschen auf. Über das Gesicht von Hans huscht ein flüchtiges Lächeln, er wirkt selbstbewusst, aber die Situation ist ihm unangenehm. „Viel Glück, Vater, Fräulein von Plö… ich meine, Frau von Plö…, ich meine, Frau von Stein.“
Plötzlich muss Hildegard leise lachen. „Danke, Hans. Das hört sich seltsam an, nicht wahr? Ich muss mich auch erst noch daran gewöhnen.“
Hans wirft ihr ein schiefes Lächeln hin. „Ziemlich seltsam.“
Oswald sagt nichts, nicht einmal in die Augen schaut er ihr, sondern schüttelt ihr nur die Hand.
„Danke, Oswald“, erwidert sie.
„Diesen jungen Mann werde ich etwas fester anpacken müssen“, sagt Siegfried leise neben ihr.
Das ist kein junger Mann, sondern ein Kind, das leidet, möchte sie ihm entgegnen. Aber bisher hat sie in der Familie noch keinen Platz, der ihr eine eigene Stimme geben würde.
Aus dem formellen Wohnzimmer sind alle Möbel herausgeräumt und extra Tische und Stühle hineingetragen worden. Weiße, gestärkte Tischdecken, steife, weiße Servietten, Sträuße cremeweißer Blumen, langstielige Kristallgläser und das sanfte Licht unzähliger Kerzen verleihen dem Raum eine adelige Atmosphäre.
Ich muss daran denken, mich bei Frau Hoffmann und natürlich auch bei Klaus dafür zu bedanken, dass sie so hart gearbeitet haben, überlegt Hildegard flüchtig.
Schließlich nimmt sie neben Siegfried ihren Platz ein, ihr Vater sitzt auf der anderen Seite neben ihr. „Erzähl mir doch einmal, wie es dir geht, Papa“, bittet sie ihn nach endlosen Ansprachen, Grußworten und Trinksprüchen.
Ihr Vater nickt. „Mir geht es gut, Hildegard, mir geht es wirklich gut. Das Chateau ist luxuriöser, als ich je gedacht hätte, und die Gegend dort ist herrlich. Ganz langsam lerne ich dort auch die Gesellschaft kennen. Ich glaube, ich brauche nie mehr zurückzuschauen.“
Sie muss es einfach wissen: „Papa, weißt du, wie es Mama geht?“
„Ich habe nur einen kurzen Brief von Pfarrer Schumanski bekommen. Er schreibt, dass Charlotte einfach mit ihrem Leben weitermacht, so wie vor dem Krieg. Nicht, dass sie jemals viel von einem Leben gehabt hätte.“
Das Essen, das Herr und Frau Hoffmann in einer Schüssel nach der anderen auftragen, schmeckt vortrefflich. Der Wein gehört zu dem Besten, was in dieser Nachkriegszeit zu bekommen ist. Die Gäste genießen die Einladung, sie kennen sich untereinander und je mehr von dem guten Wein fließt, desto geselliger werden sie.
„Sie sehen gelangweilt aus“, behauptet eine Jungenstimme direkt hinter ihr.
Hildegard zieht scharf die Luft ein und dreht sich um. „Nein, ich …“
Das Lächeln von Hans wird breiter. „Kommen Sie schon, gleich ist es vorbei, ich kenne diese Sorte Essen.“
„Aber ich sollte dennoch nicht gelangweilt aussehen.“
„Nein, versuchen Sie einfach zuzuhören. Und vergessen Sie nicht, hin und wieder zu nicken.“ Dann geht er nach draußen.
Der ganze Tag fühlt sich mit einem Mal besser an. Oswald verhält sich immer noch äußerst feindselig, aber es kommt ihr so vor, als ob sie in Hans bald einen Bundesgenossen finden könnte.
Als sich die Gäste verabschiedet haben, Klaus die Jungen ins Internat gebracht und ihr Vater sich ins zweite Gästezimmer zurückgezogen hat, sagt Siegfried zu ihr: „Das war doch jetzt außerordentlich erfolgreich, was meinst du, Hildegard?“
Erfolgreich, ja. Haarklein geplant, geschmackvoll durchgeführt, ordentlich abgerundet.
Nur eine Kleinigkeit ist übersehen worden: Irgendwann an diesem langen Tag sollte doch ein Bräutigam seiner Braut sagen, dass er sie liebt, oder etwa nicht?