1. Auflage, September 2016
Copyright © 2016 by edition krimi, Leipzig
edition krimi
Alle Rechte vorbehalten
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Lektorat: Elia van Scirouvsky
Umschlaggestaltung: ama medien
Umschlagmotiv: photocases.com/mikz1979|Saimen
Satz: ama medien
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ISBN 978-3-946734-51-2 (ebook)
ISBN 978-3-946734-10-9 (print)
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www.edition-krimi.de
Stille Nacht, tödliche Nacht. Keiner schläft, jeder wacht, …
… denn für besinnliche Momente findet sich in den Erzählungen des vorliegenden Buches kaum Gelegenheit, wenn der Weihnachtsmann auf der Jagd nach Opfern durch die Gegend reist, bei einem Wichtelabend Rachepläne geschmiedet werden, dem Glühwein Gift beigemischt wird oder Profikiller noch schnell vor Neujahr ihre Aufträge erledigen. Es wird spannend, wenn ein Immobilienspekulant ein Objekt verkaufen will, Gauner auf die neueste Parfümkreation aus sind oder eine professionelle Diebin mit der Drogenmafia in Konflikt gerät. Und das sind längst nicht alle Schandtaten, die in dieser Anthologie geplant und durchgeführt werden.
Bei den Weihnachtsmorden geht es meist tödlich zu, denn schonungslos nehmen sich Autorinnen und Autoren die Festtage vor, um im Umfeld von Weihnachtsmann, Christkind, Rentier Rudolf & Co. ihrer mörderischen Fantasie freien Lauf zu lassen und Geschichten von Mord und Totschlag aufs Papier zu bannen.
Lästige Zeitgenossen, aber auch Unschuldige werden vergiftet, erschossen und auf weitere Arten unter die Erde gebracht, sodass die Herzen von Krimifreunden höher schlagen werden.
Abwegig ist die Idee nicht, die Weihnachtszeit als Hintergrund für Verbrechen aller Art zu wählen. Gerade auf Weihnachtsmärkten hat die Zunft der Diebe Hochkonjunktur und gestresste Geschenkejäger sind eine leichte Beute für Betrüger aller Art.
Aber auch im trauten Familienkreis verläuft das Fest der Liebe nicht immer harmonisch. Unerfüllte Erwartungen lassen Gefühle hochkochen, es kommt zu Streit und Situationen eskalieren.
Dass die Suizidrate zu den Feiertagen ansteigt, ist dagegen ein Weihnachtsmärchen. Laut Statistischem Bundesamt werden gerade im Dezember wesentlich weniger Selbstmorde begangen, als in den anderen Monaten. Weshalb ist das so? Eigentlich müssten Einsamkeit und das dunkle Wetter vor den geschmückten Fenstern Depressionen begünstigen. Doch ein randvoller Terminkalender, gespickt mit Einkaufstagen, Weihnachtsfeiern in der Firma, Wichtelabenden im Verein und anderem mehr lassen keine Zeit für Verzweiflung und Trauer.
Die Lektüre dieses Buches dürfte jedenfalls ein gutes Heilmittel gegen Langeweile und Melancholie sein. Lassen Sie sich gefangen nehmen von den tiefen Einblicken in menschliche Abgründe und ergötzen Sie sich an der dunklen Seite des Festes.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein amüsantes und packendes Lesevergnügen, wenn böse Buben und Mädchen finstere Streiche aushecken und in die Tat umsetzen.
Andreas M. Sturm
PS: Sollten Sie nach diesem Lesestoff doch noch eine Weihnachtsparty planen, überlegen Sie es sich gut, wen Sie dazu einladen …
Heute würde Deborah sterben.
Simone hatte alles vorbereitet. Sie hatte ihr in lila Papier verpacktes Wichtelgeschenk gleich nach dem Ankommen zwischen die anderen gelegt und scharf darauf geachtet, dass in dem Moment niemand zu ihr hinsah. Raffinierterweise hatte sie sogar ein zweites Wichtel mitgebracht, natürlich in anderes Papier verpackt und mit einem anderen Geschenkband, und es ebenfalls dazugelegt, sodass sie, wenn die Polizei käme, sagen konnte, dies sei ihr Geschenk gewesen. Und selbstverständlich hatte sie beim Einpacken Handschuhe getragen, Einmalhandschuhe, die sie anschließend entsorgt hatte.
Es war also ausgeschlossen, dass jemand darauf kommen konnte, wer die Flasche mit dem Likör unter die anderen Geschenke gemischt hatte.
Deborah redete und redete: »Und ich sage euch, wer nie aus dem Becher der Depression gekostet hat …« Sie lachte hell auf.
Simone schüttelte sich. Die Frau war ihr einfach unerträglich.
Gerade heute hatte sie nicht in ihrer Nähe sitzen wollen. Aber sie war extra spät gekommen, damit der Berg der Geschenke schon so groß war, dass ihre zwei Päckchen rasch darin unsichtbar wurden. Dadurch hatte sie nun den letzten freien Stuhl nehmen müssen und der stand Deborah genau gegenüber.
Deborah von Ansbacher! Schon wenn sie diesen Namen nur dachte, wurde ihr schlecht. Diese Anmaßung! Dieser Größenwahn!
In Wirklichkeit hieß Deborah nämlich schlicht und ergreifend Magda Meier. Aber der Name war ihr wohl für eine Karriere als Schriftstellerin nicht schillernd genug gewesen, und so hatte sie sich ein Pseudonym zugelegt. Ein adliges Pseudonym natürlich, weil sie ja etwas Besseres war als alle anderen!
Simone schluckte. Eigentlich kam sie, seit sie denken konnte, mit allen gut aus. Sie war ein freundlicher, sanfter Mensch, jemand, der sich einordnen und anderen auch mal den Vortritt lassen konnte. Nie hatte sie so etwas wie Konkurrenz empfunden.
Das mit Deborah hatte Jahre gedauert. Der Hass war langsam und stetig gewachsen.
Das erste Mal war sie ihr vor vier Jahren begegnet, in einer kleinen Schreibgruppe, in der es um Grundlagen der Textarbeit ging. Damals hatte Simone lange mit sich gerungen, ob sie sich überhaupt trauen sollte, solch eine Gruppe aufzusuchen. Sie hatte Angst gehabt. Sie war sich so klein und unbedeutend vorgekommen. War es nicht zu früh? Schrieb sie nicht zu simpel? Würde sie nicht beim Vorlesen stottern? Würde sie sich nicht furchtbar blamieren?
Schließlich hatte sie sich doch durchgerungen. Man musste ja mal irgendwann seine Geschichten vorzeigen, wenn man bekannt werden wollte. Und schreiben, das tat sie schon ihr Leben lang. Nur landeten immer alle Texte in der Schublade.
Sie war also hingegangen. Und dann saß dort diese Frau, diese Deborah, mit ihrem affektierten Gehabe und ihrer schrillen Stimme, mit ihren Glitzerketten und lackierten Fingernägeln, mit ihrem Wissen und ihren angeblichen Triumphen, und füllte eine geschlagene Stunde der Eingangsrunde mit ihrem Gerede. Sie sprach nur von sich. Von ihrer Großartigkeit. Von ihren Erfolgen. Von ihren tollen Ideen.
Die anderen vierzehn Teilnehmerinnen hatten sich anschließend die verbleibende halbe Stunde untereinander aufteilen dürfen.
Und so war es geblieben. Immer war Deborah vor ihr da gewesen. Ob es sich um Schreibkurse, Workshops, Autorengruppen, Anthologien, Lesungsorte, Stipendien, Verlage, Lektoren, Literaturagenten oder irgendeinen anderen Kontakt in der Branche handelte. Kaum tat Simone mit vielen Mühen etwas auf, kaum überwand sie ihre Angst und wagte den nächsten Schritt, kaum öffnete sie eine neue Tür, schon fand sie dort Deborah, die just vor ihr erschienen war und bereits die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesenden auf sich gelenkt hatte.
»Habt ihr euch mal gefragt, warum Sir Arthur Ignatius Conan Doyle in unseren Tagen kläglich scheitern würde?«, fragte Deborah gerade theatralisch in die Runde. »Ich sag’s euch: Rätselspannung allein reicht eben heute nicht mehr. Das ist Schnickschnack, noch nicht mal für Kinder reicht das. Natürlich muss ein Rätsel immer dabei sein, aber man muss den Leser vor allem psychologisch packen. Emotional! Mit Kalkül und Geschick. Man muss ihn leiden lassen mit dem Helden, Blut und Wasser muss er schwitzen, durch die Hölle muss er! Ha!? Und genau das mache ich! Gelernt ist eben gelernt!« Triumphierend blickte sie um sich.
Simone merkte, wie der Ärger als heißer Klumpen in ihrem Magen pulsierte.
Sie sah zu der Flasche hinüber, die artig zwischen den anderen Wichteln ruhte. Dort schlummert dein Ende, Frau von Ansbacher, dachte sie, geträufelt in Baileys, geschmacksund geruchsneutral und liebevoll in lila Papier verpackt. Du wirst ihm nicht widerstehen können. Du wirst dafür sorgen, dass der Likör bei dir landet, soviel ist sicher. Hin und her tauschen wirst du deine Geschenke, bis du ihn hast. Und gierig, wie du bist, wie du immer gewesen bist, wirst du ihn allein trinken.
Sie hatte nämlich beobachtet, dass Deborah geradezu verrückt war nach diesem Likör. Bei jedem Treffen in den letzten Monaten hatte sie sich mehrere Gläser davon bestellt und hatte sie nicht nur in einem Zug hinuntergekippt, sondern auch – Simone schüttelte sich bei der Erinnerung daran – die Gläser anschließend ausgeleckt.
Keine von den anderen Frauen trank dieses Zeug. Die anderen würden also, falls sie die Flasche beim Spiel bekamen, so lange tauschen, bis diese bei Deborah gelandet war.
Warum hörten die anderen Deborah immer noch zu? Warum regte sich niemand sonst darüber auf, wie viel Raum sie ständig einnahm? Wie konnte ein Mensch nur dermaßen von sich überzeugt sein und es auch noch genießen, das ständig in die Welt zu posaunen? Warum fingen sie nicht endlich mit dem Spiel an?
Simone knetete unter dem Tisch ihre feuchten Finger, folgte betont unbeteiligt Deborahs Eigenlob und warf nur aus den Augenwinkeln einen Blick zu ihr.
Bald ist es vorbei, dachte sie. Ganz bestimmt wirst du bühnengerecht zu Boden sinken, vielleicht einen letzten publikumswirksamen Seufzer ausstoßen, und in Zukunft werden endlich andere, ich eingeschlossen, Aufmerksamkeit bekommen.
Dass Deborah dauernd im Zentrum des Interesses stand, hatte ja nicht im Mindesten mit ihren schriftstellerischen Qualitäten zu tun, sondern einzig mit ihrer Extrovertiertheit und ihrer Kunst zur Intrige. Jedem, der ihr über den Weg lief, erzählte sie, ob es ihn interessierte oder nicht, dass sie a) eine begnadete Schriftstellerin und b) göttlich genial sei, c) Krimis der Extraklasse schrieb und d) demnächst mindestens den Ingeborg-Bachmann-Preis bekommen würde. Und offenbar gab es genug Leute, die, wenn man ihnen das nur oft genug versicherte, es auch glaubten.
Simone nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas und strich die Tischdecke glatt. Das war das Schlimmste daran, dass nicht die wirklich Fähigen es zu etwas brachten, sondern die, die am lautesten schrien.
Bleib ganz ruhig, sagte sie sich. Alles hat seine Zeit. Man muss nur Geduld haben.
Vor sechs Monaten hatte sie gewagt, sich bei den berühmten Krimiautorinnen als Mitglied zu bewerben. Hatte all ihren Mut zusammengenommen, sich auf alle erdenklichen Fragen vorbereitet und war zu dem Treffen gegangen. Vernetzen wollte sie sich. Endlich Anerkennung bekommen, erfolgreich sein, einen Verlag finden.
Mit klopfendem Herzen war sie die Treppe in der Gastwirtschaft ›Klimp &Honig‹ hinaufgestiegen, hatte die Tür mit den Milchglasscheiben geöffnet, und noch ehe sie sie sah, hatte sie Deborah gehört. Ihr Lachen. Ihre schrille Stimme.
Wieder war sie vor ihr dagewesen.
Fast wäre Simone rückwärts aus der Tür gegangen. Aber sie hatte die Zähne zusammengebissen und war geblieben.
Beim nächsten Treffen war ein Verleger gekommen. In der Pause war Simone über ihren Schatten gesprungen, war auf ihn zugegangen, hatte ihn angesprochen, fast nicht gestottert, ihm von ihren fertigen Manuskripten erzählt. Sie hatte wie um ihr Leben geredet, hatte ihn fast schon soweit gehabt, dass sie ihm eines schicken durfte, fast, sie war ganz kurz davor, er hatte bereits seine Mappe geöffnet und wollte ihr eben seine Visitenkarte geben – genau in diesem Moment war Deborah neben ihr aufgetaucht, hatte sich lachend die Locken aus dem Gesicht geschüttelt, eine witzige Bemerkung gemacht, den Mann umgarnt und ihn im Nullkommanichts davon überzeugt, dass ihr Manuskript bestsellerverdächtig war.
Er wollte es auf der Stelle haben.
Simone hatte danebengestanden wir ein begossener Pudel. Der Mann hatte sie sofort vergessen. Die offene Mappe blieb auf dem Tisch liegen. Er nahm die Karte nicht heraus. Er reichte sie ihr nicht. Er unterhielt sich mit Deborah.
An jenem Tag war der Hass in ihr hochgekocht wie ein Vulkan. Plötzlich hatte sie gewusst, dass sie neben Deborah niemals eine Chance haben würde, dass sie sie beseitigen musste, wenn sie je Erfolg haben wollte.
Simone bohrte ihren Fingernagel in den Handrücken, bis es schmerzte.
Deborah redete und redete.
Die anderen nippten an ihrem Kaffee, hörten ihr zu und schienen das geplante Spiel vergessen zu haben. Wann fingen sie endlich damit an? Natürlich wollte sie auf gar keinen Fall selbst die Sprache darauf bringen. Daran könnte sich im Nachhinein jemand erinnern, später, bei der Zeugenbefragung. Aber sie merkte doch, wie sie immer nervöser wurde.
»Gerade Depressionen«, sagte Deborah, »kann eben nur jemand richtig beschreiben, der sie kennt. Und eine Depressive als Mörderin vermutet niemand, oder? Da könnt ihr Gift drauf nehmen, mein neuer Roman wird einschlagen wie eine Bombe!« Sie breitete die Arme aus. »Ich sehe mich schon in der Spiegel-Bestsellerliste! Wie aufregend! So ist das eben, wenn man weiß, wovon man schreibt. «
Plötzlich sah sie Simone an. »Na, meine Liebe«, säuselte sie, »stimmt doch, oder? So säuerlich, wie du immer guckst, sollte ich vielleicht dich interviewen als Fachfrau zum Thema Depression?« Sie lachte schallend. »Ach du Arme. Schon wieder eine Ablehnung vom Verlag? Oder war es wieder nichts mit der letzten Stipendienbewerbung? Oder ist dein Krimi immer noch nicht fertig?«
Simones Magen zog sich zusammen.
»Kommt von Herzen!«, rief Deborah, lachte und zwinkerte ihr zu. »Du weißt ja, ich meine es nicht böse. Böse bin ich nur beim Schreiben.«
In Simones Hals bildete sich ein Kloß. Sie biss die Zähne zusammen und sah auf die Tischdecke.
»Wann fangen wir eigentlich mit dem Spiel an, meine Lieben?«, flötete Deborah in die Runde. »Deswegen sind wir doch schließlich hier?«
Wie auf Kommando wurden die Frauen geschäftig, sprangen auf, räumten den Tisch ab, holten Würfel und Würfelbecher, häuften die verpackten Geschenke in der Mitte des Tisches auf, begutachteten sie neugierig, bestellten frische Getränke und machten sich bereit, das weihnachtliche Schrottwichteln der Krimiautorinnen in Angriff zu nehmen.
Ein großes Gejohle begann, als ein Geschenk nach dem anderen aus seiner Verpackung geholt wurde. Die Würfel machten die Runde. Bei einer Sechs durfte man sich ein eingewickeltes Wichtel aus der Mitte nehmen und es auspacken, bei einer Eins musste man eins seiner bereits erhaltenen Geschenke mit jemandem tauschen.
Besondere Lacher gab es bei einem schrillen mexikanischen Blechkaktus, der sich nach einigem Rätseln als weihnachtlicher Kerzenständer entpuppte, einer leeren 4711-Flasche, einem pinkfarbenen gehäkelten Sofakissen und einer roten Lederhandtasche mit einem Totenkopf aus Strasssteinen.
Simone konnte die Anspannung kaum noch ertragen. Heimlich spähte sie zu ihrer verpackten Flasche, die deutlich als solche zu erkennen war.
Nach einer halben Tischrunde war der Würfel bei Deborah angekommen. Diese würfelte sofort eine Sechs, griff in die Mitte, zog gezielt die Flasche hervor, als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet und quietschte vor Vergnügen, als sie sie auspackte.
Simones Herz schlug bis zum Hals. Besser hatte es ja gar nicht laufen können! Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Flasche so schnell an Deborah gehen würde. Schon beim ersten Würfeln! Und die Tatsache, dass diese sie auch noch selbst genommen hatte, ließ, was geschehen würde, beinahe schicksalhaft erscheinen.
Sie musste sich zwingen, nicht ständig zu Deborah und der Flasche zu sehen. Ob sie diese gleich öffnen würde? Sie durfte nicht daran denken. Sie …
»Eh, Simone, du bist dran!«
Ihre Nachbarin stieß sie mit dem Ellenbogen an.
Schnell nahm sie die Würfel und war froh, dass sie weder eine Eins noch eine Sechs hatte.
Wäre die Flasche bei mir gelandet, dachte Simone, wer weiß, vielleicht hätte mein Mut mich in letzter Sekunde verlassen, vielleicht hätte meine christliche Erziehung gesiegt, ich hätte mich an das fünfte Gebot erinnert, ich hätte die Flasche letztlich doch nicht an Deborah weitergeben können und den Inhalt zu Hause in den Ausguss gekippt.
Aber so, wie es nun stand, was konnte sie noch tun, um die Katastrophe zu verhindern? Nichts.
Mit Genugtuung sah sie, wie Deborah gierig noch andere Geschenke vor sich anhäufte, ein riesiger Berg lag da schon vor ihr auf dem Tisch, wie sie jedoch immer, wenn sie eine Eins würfelte, etwas anderes weggab als die Flasche.
Es würde klappen.
Sie hatte das Gift so dosiert, dass ihre Feindin bereits nach einem winzigen Schluck ihr Leben aushauchen musste. Natürlich würde es danach ein ziemliches Chaos geben, zuerst würde der Notarzt gerufen werden, dann die Polizei. Vermutlich würden sich die Befragungen die ganze Nacht hinziehen, schließlich befanden sich fünfundzwanzig Autorinnen in diesem Raum.
Aber was machte das? Umso besser, da konnten sie doch die Polizeiarbeit, über die sie alle so viel in ihren Büchern schrieben, endlich einmal hautnah kennenlernen.
Simone warf einen raschen Blick auf ihr Gegenüber. Merkwürdig, dass Deborah, die der Baileysflasche ständig verliebte Blicke zuwarf, diese noch immer nicht geöffnet hatte. Vor ihr stand doch ein leeres Likörglas, warum benutzte sie das nicht?
Die Wichtelgeschenke in der Mitte des Tisches wurden immer weniger. Jede der Frauen hatte jetzt etwas vor sich liegen, meist sinnloses Zeug, Staubfänger, aus Regalen und Schubladen zusammengesucht. Trotzdem wurde wie wild hin- und hergetauscht. Eine billige Kette, ein Kritzelbuch für Kinder, eine Packung Kugelschreiber, eine große Bienenwachskerze … Der Knaller war ein handsignierter Krimi von Simenon.
Nun waren alle Geschenke ausgepackt, die Tischmitte leer, und die obligatorischen letzten fünf Minuten, in denen noch getauscht werden durfte, wurden auf dem Kurzzeitwecker eingestellt.
Unter lautem Geschrei versuchten die Frauen, ihren Kitsch und Schund gegen halbwegs nützliche Geschenke einzutauschen, indem sie ihn anpriesen wie sauer Bier. Deborah tauschte einen Weihnachts-Tischläufer gegen ein Zweierset Likörgläser aus den Siebzigern. Simone wurde den hässlichen Kerzenständer los und bekam dafür die nützliche Packung Kugelschreiber.
Niemand versuchte, Deborah ihre Flasche abzuschwatzen, genau wie Simone es vorausgesehen hatte.
Schon ertönte das Klingeln des Weckers. Nun musste, was man vor sich stehen hatte, behalten und mitgenommen werden, ob es einem gefiel oder nicht.
Doch nachdem das Spiel unter lautem Jubel für beendet erklärt worden war, geschah etwas, womit Simone nicht gerechnet hatte.
Deborah nahm die beiden Likörgläser, die sie soeben eingetauscht hatte, stellte sie nebeneinander auf den Tisch, schraubte feierlich die Flasche auf, goss beide Gläser randvoll, schob Simone das erste Glas rüber und erhob das zweite mit den Worten: »Meine Liebe, wollen wir nicht, da wir uns nun schon so viele Jahre kennen, endlich Schwesternschaft trinken? Ich verspreche feierlich vor all diesen Zeuginnen hier, dass ich dich auch nie mehr ärgern werde. So wahr mir Gott helfe.«
Sie lachte, erhob ihr Glas, drückte Simone das andere in die Hand und prostete ihr zu.
Ich liebe Weihnachten. Nicht wegen der Geschenke – die Zeit, als ich ein kleines Mädchen war und ungeduldig auf den Weihnachtsmann gewartet hatte, war vorbei – nein, in der Zeit von Pfefferkuchen, Stollen und Räucherkerzenduft, klingelte bei mir die Portokasse.
Störend empfand ich nur das lästige Gedränge der dem Kaufrausch verfallenen Menschenmassen in den Shoppingtempeln und dem öffentlichen Nahverkehr. So weiß ich nun seit heute, wie sich ein Spieler beim American Football fühlt. Und ich wette, dass er mit wesentlich mehr Herzenswärme und Rücksicht behandelt wird, als ein Fahrgast, der sich durch eine völlig überfüllte Straßenbahn kämpfen muss. Nur dem rücksichtslosen Einsatz meiner Ellbogen verdankte ich es, dass ich die Tür erreichte und sogar erfolgreich hindurchschlüpfen konnte, ehe mir guillotinenartig ein Körperteil amputiert wurde.
Erleichtert schnaufend blieb ich erst einmal an der Haltestelle stehen und versuchte meine gequetschten Gliedmaßen halbwegs wieder in Form zu bringen. An die wie zufällig wirkenden Berührungen an meinen intimsten Stellen wollte ich gar nicht denken. Die Zunft der Grapscher hatte die Situation erkannt und erfolgreich zugeschlagen.
Nachdem ich mich halbwegs berappelt hatte, betastete ich argwöhnisch meine Jackentaschen, ob ich noch genauso viele Dinge bei mir trug, wie beim Betreten der Bahn. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein, denn es soll Leute geben, die solche Gelegenheiten nicht nur für den Lustgewinn schamlos ausnutzen. Stöhnend öffnete ich gleich darauf die Knöpfe meiner Jacke. Puh, war das heute warm. Nur noch neun Tage bis zum Heiligen Abend und das Thermometer hatte sich bei dreizehn Grad über null festgefressen. Die Hoffnung auf eine weiße Weihnacht konnte ich knicken. Stattdessen verkündete eine graue Wolkenschicht Unheil. Ich zuckte die Schultern. Mir galt dieses Omen sicher nicht. Auf gar keinen Fall würde ich mich von ein paar Wolken deprimieren lassen.
Mit einem optimistischen Lächeln auf meinem Gesicht stiefelte ich los. Von der Haltestelle benötigte ich nur wenige Meter bis zu meinem Ziel, dem Weihnachtsmarkt. Kaum hatte ich das mit debil dreinblickenden Engeln dekorierte Tor durchschritten, hüllten mich die typischen Düfte ein. An jeder Ecke wurde ein neuer Anschlag auf meine Geruchsnerven verübt. Mal lockte Bratwurst-, mal Pfannkuchen-, mal Glühweinaroma. Obwohl ich beim Frühstück zugeschlagen hatte, dass mir der Bauch wehtat, klingelten meine Geschmackssensoren Sturm, wie die Glöckchen am Kinderkarussell. Ich musste mich richtig zusammenreißen, um den lukullischen Verführungen zu widerstehen.
Bevor ich meine Tätigkeit startete, galt es mein Äußeres zu überprüfen. Dafür suchte ich mir ein stilles Plätzchen zwischen zwei Buden und zückte meinen Taschenspiegel. Am Sitz meiner Perücke gab es nichts auszusetzen, dennoch konnte ich es mir nicht verkneifen, an einzelnen Strähnchen ein wenig herumzuzupfen. Dies ist aber keine Paranoia, das ist in meinen weiblichen Genen so programmiert. Und das ist auch gut so, schließlich will Frau hübsch aussehen. In meinem Fall war Schönheit zudem sehr nützlich fürs Geschäft.
Apropos nützlich, mir kam da ein Gedanke, der mich strahlen ließ. Eine Wunderwaffe, geschickt eingesetzt, würde meine Wirkung auf Männer enorm verstärken und gleichzeitig meinen rasenden Appetit dämpfen. Fürs erste jedenfalls.
Froh über diesen wunderbaren Einfall, hüpfte ich zu einem Süßwarenstand und liebäugelte mit den verlockenden Auslagen. Geradezu magisch zogen die Schokofrüchte meinen Blick auf sich. Mir lief das Wasser im Mund zusammen – ich könnte morden für Erdbeeren mit Schokolade. Die erste der leckeren Beeren verschwand sofort in meinem Mund und nur unter Aufbietung aller Willenskräfte gelang es mir, die beiden Spieße in meiner Handtasche zu verstauen. Dabei machte ich ein trauriges Gesicht und überlegte entsagend, ob es auch bei Lebensmitteln Freiheitsberaubung gibt.
Dann wischte ich alle Gedanken ans Naschen beiseite, hängte mir die Handtasche entschlossen über die Schulter und ermahnte mich: So Luise, genug getrödelt, schaff deinen Knackarsch ins Gefecht! Du musst dir auch an diesem Tag das Salz für die Suppe verdienen.
Die Erfassungswinkel der Überwachungskameras hatte ich bereits in der Aufbauphase des Marktes gecheckt. So eilte ich auf flotten Sohlen in einen Bereich des Christkindbasars, wo mich kein neugieriges Linsenauge erfassen konnte und fuhr meine Antennen aus. Vor einem Stand, an dem eine füllige Verkäuferin Weihnachtsbaumschmuck anpries, entdeckte ich Kandidat Nummer eins. Ende sechzig, helle gepflegte teure Lederschuhe, noch hellere Hosen und dazu farblich abgestimmt der preisintensive Wintermantel. Am sehenswertesten war allerdings das Haupt des Mannes. Unter einer – selbstverständlich hellen und kostspieligen – Fellmütze lugte verschmitzt eine einzelne, rabenschwarz gefärbte, fünfzehn Zentimeter lange Haarsträhne hervor. Die hatte offensichtlich die Gesellschaft ihrer Brüder satt und beschlossen, sich die große weite Welt anzusehen.
Entzücken rieselte durch jede Faser meines Körpers. Ich hatte den perfekten Kandidaten für eine Umverteilung gefunden. Blitzschnell holte ich den bereits angeknabberten Schokoladenspieß aus meiner Handtasche und weltvergessen, völlig dem Genuss hingegeben, leckte ich an der obersten Erdbeere – Schwarzlöckchen fielen fast die Augen aus dem Kopf. Arschwackelnd an ihm vorbeischlendernd, ließ ich wie unabsichtlich ein bereits vor Jahren ausrangiertes Handy fallen. Scheinbar ohne meinen Verlust zu bemerken, trödelte ich weiter.
Der feine Mann enttäuschte mich nicht: »Hallo, Ihr Telefon …«, rief er aufgeregt hinter mir her.
Mit erstauntem Gesichtsausdruck drehte ich mich um. Gilt dieser Ruf mir?, stand deutlich in meinen Zügen geschrieben. Diese Mimik hatte ich stundenlang vor dem Spiegel geprobt, bis ich sie auf Kommando abrufen konnte.
»Junge Dame, Sie haben Ihr Telefon verloren. « Mit dem stolzen Lächeln eines erprobten Pfadfinders hielt mir der Winnetou-Schopf das steinalte Mobiltelefon entgegen.
Erschrocken zusammenzuckend fuhr ich mit der Hand in meine Manteltasche und zauberte nach der obligatorischen Schrecksekunde ein strahlendes Lächeln auf mein Gesicht.
»Das ist aber lieb von Ihnen«, sprudelte ich hervor und schmachtete ihn an. »Dass Sie sich die Mühe machen, hinter mir herzulaufen, und ich dachte die Kavaliere sind ausgestorben.«
»Na, alle noch nicht, wie Sie sehen. « Mein Pfadfinder sonnte sich in seiner Ehrenhaftigkeit und nutzte den Moment, in dem ich mein Handy zurücksteckte, um die Größe meiner Brüste abzuschätzen.
»Sie sind ein Schatz! Ohne Sie würde ich ganz schön alt aussehen, alle meine Telefonnummern sind auf dem Teil gespeichert und ohne bin ich völlig aufgeschmissen.« Ich trat auf ihn zu, schaute ihm tief in die Augen und schnurrte kehlig: »Vielen, vielen Dank. Sie sind ein ganz, ganz Lieber. «
Dann tat ich, als würde ich kurz zögern, um ihn gleich darauf fest an mich zu drücken. Trotz seiner offensichtlichen Überraschung platzierte er seine Hand wie unabsichtlich auf meinen Po.
Gut so, das lenkt dich ab, dachte ich vergnügt, während ich mit geübtem Griff die Brieftasche aus seiner Manteltasche fischte.
»Heiner!« Dieser zornig hervorgestoßene Ruf beendete unsere traute Zweisamkeit. Eine Frau, die mehr Haare auf den Zähnen, als er auf dem Kopf hatte, stand neben einem Passat auf der Straße und schaute bitterböse in unsere Richtung. Mit einer barschen Geste deutete sie auf das Fahrzeug. Heiner löste sich sofort aus der Umarmung und wieselte, nachdem er mir ein verlegenes Lächeln geschenkt hatte, zu seiner Vorgesetzten. Beide verschwanden im Auto, wobei sie demonstrativ die Tür knallte.
Na, dem armen Heinerle steht bestimmt kein schönes Viertelstündchen bevor. Doch für Mitleid hatte ich keine Zeit. Ich verbuchte Heiners Anschiss unter Kollateralschaden und verschwand in der Menge. Im Schutz eines Karussells drehte ich mich um, spähte in Richtung Straße und sah die Rücklichter von Heiners Hämorridenschaukel hinter der nächsten Kurve verschwinden. Wenn Fortuna mir hold war, würde es eine Weile dauern, bis die beiden den Verlust bemerken und die Bullen alarmieren würden.
Besser konnte es gar nicht laufen. Ich schwankte kurz, ob ich meinen gewohnten Ablauf einhalten sollte – und die Bequemlichkeit stand kurz vor einem Sieg, aber ich beschloss meinen Prinzipien treu zu bleiben; bisher war ich immer gut damit gefahren. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, betete ich mir vor und suchte die Toilette in der Tiefgarage unter dem Weihnachtsmarkt auf.
Fünfzehn Minuten später lächelte mich ein neues Gesicht aus dem Spiegel an. Die langen schwarzen Haare und das rassige Make-up waren verschwunden und hatten einem blonden Bob und einer helleren Schminke Platz gemacht. Praktischerweise trug ich bei der Arbeit ein Wendeblouson. Die Ärmel waren schnell umgestülpt und statt des Schwarz, passte sich das helle Grün hervorragend meinem aktuellen Typ an. Selbst wenn mir durch einen unglücklichen Zufall mein Freund Heiner über den Weg laufen sollte, die verwandelte Luise würde er nicht wiedererkennen.
Heiner war ein Volltreffer gewesen. Einhundertdreiundvierzig Euro trug nicht jeder in seiner Brieftasche spazieren. Und das gute Heinerle konnte sich gleichfalls glücklich schätzen – er war an eine ehrliche Diebin geraten. Ich beanspruchte nur das Bargeld, sozusagen als Finderlohn. Sein Portemonnaie hatte ich in einen der bereits frankierten Briefumschläge gesteckt, die ich bei der Ausübung meiner Tätigkeit immer bei mir trug. Sämtliche Dokumente würde ihm die Post frei Haus liefern. Ich fand, dass der Verlust des Geldes und der Anschiss seiner Göttergattin genug Desaster für einen Tag waren.
Ein wenig wurde mein Gewissen durch diese gute Tat besänftigt. Doch ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte, irgendwie anrüchig war mein Job schon. Und zudem mit einem gewissen Risiko behaftet, aber tausendmal besser als ein Kellnerjob, bei dem es zu meinem Leidwesen nicht gestattet ist, einem aufdringlichen Kunden als Revanche für seine unsittlichen Berührungen herzhaft in die Eier zu treten.
Stil und Berufsehre für das Geschäft hatte mir mein Onkel vermittelt Er war der cleverste Dieb, den ich kannte. Bis auf zwei kleine Versehen war er nie geschnappt worden. Ich hoffte, dass ich für mich diese Zahl bei null halten konnte.
Die Besuche bei meinem Onkel waren die Höhepunkte meiner Kindheit gewesen. Seine Geschicklichkeit hatte meinen Mund stets weit offen stehen lassen. Ohne auf den genervten Gesichtsausdruck meiner Tante einzugehen, hatte Onkelchen mir seine besten Tricks beigebracht. Ein so versierter Dieb wie er, das muss ich neidlos eingestehen, werde ich trotz aller Übung nie werden. Das Einzige, was ich ihm voraushabe, und was ich ohne jede Hemmung einsetze, war meine Macht als Frau über die Männer.
Zurück auf dem Weihnachtsmarkt, gönnte ich mir den zweiten Erdbeerspieß und hielt Ausschau nach weiteren Opfern. An einem Bratwurststand vertilgte ein gedrungener Typ gerade eine übergroße Wurst. Na, der sollte mal lieber auf seine Figur achten, dachte ich und musterte ihn gründlich. Nach der Prüfung ließ ich ihn links liegen und lief weiter Der wirkte zu nervös, viel zu hibbelig und seine Augen huschten schneller als das Spotlight an der Schießbude umher. Solche Leute sind unberechenbar. Von Mister Unruhe ließ ich lieber die Finger.
Begleitet von Weihnachtsgedudel bog ich in die Gasse mit der Winterbekleidung ein. Vor einer Mützen- und Schalbude stand eine junge Frau und ging durch das Angebot. Hart sah sie aus, kämpferisch und unnahbar. Mit aller Kraft drückte sie ihre Handtasche an ihren flachen Busen. Würde sie ein Kind so fest an sich pressen, hätte der kleine Scheißer in kürzester Zeit seinen letzten Schnaufer getan. Ich unterdrückte ein Grinsen und schwebte stolz an ihr vorüber. Keine Sorge Schwester, Frauen zocke ich aus Prinzip nicht ab. Nicht etwa aus Solidarität, nein, davon kann ich ja nicht leben – Frauen sind einfach pfiffiger. Und eine heulende, handtaschenschwingende Meute rachedurstiger Amazonen auf meiner Spur brauchte ich so dringend wie einen Hefepilz an meiner wertvollsten Stelle.
Eine Gasse weiter sah ich ihn. Er stand vor der geschmückten Tanne und grinste mich dreckig an. Ein Blick in seine Eisaugen genügte. Ärger stand ins Haus. Alles in mir schrie: Lauf! Sein selbstsicheres Grinsen und die entspannte Körperhaltung verrieten mir aber überdeutlich, dass er mich nach zehn Schritten beim Wickel haben würde. Also tat ich unschuldig und wollte betont gleichmütig an ihm vorbeischlendern. Ich zuckte nicht einmal, als er mich am Arm packte. Irgendwann musste es ja soweit kommen. Ohne Widerstand zu leisten oder zu protestieren, tapste ich brav neben ihm her. Er stoppte an einem Glühweinstand. Was soll das denn jetzt werden?, fragte ich mich verblüfft. Will der mich abfüllen, bevor er mich verhaftet?
Der Typ trat an den Tresen und verlangte zwei Glühwein.
»Du bezahlst«, sagte er mit einem kurzen Seitenblick zu mir »Warst ja heute schon recht erfolgreich.«
Ich nickte ergeben. Was blieb mir denn noch? Offensichtlich war ich überführt. Doch bis zur Nummer mit Heulen und auf Mitleid machen war noch Zeit. Erst einmal musterte ich den Bullen. Er war gut in Schuss, dunkelhaarig und gepflegt. Der Glühwein unterbrach meine Beobachtung. Ein kurzer Wink von ihm und ich folgte mit den Bechern zu einem abseits stehenden Tisch.
Stumm holte Mister Maulfaul ein Tablet aus seiner Manteltasche, fummelte kurz daran herum und legte es vor mich auf den Tisch. Beim Betrachten der Filme fiel ich in eine katatonische Starre. Hier war jemand sehr fleißig gewesen. Fast all meine Einsätze auf dem diesjährigen Weihnachtsmarkt waren dokumentiert worden. Leider war die Qualität der Aufnahmen so gut, dass kein Zweifel blieb, was ich da Schönes anstellte.
Ein lautes Scheppern holte mich aus meinem Schockzustand. Es kam von einer leeren Getränkedose, die ein Kind in einen Mülleimer geworfen hatte. Automatisch griff ich zum Glühweinnapf und pustete über die dampfende Flüssigkeit, um das Getränk auf Trinktemperatur abzukühlen. Ich brauchte jetzt ganz schnell Alkohol.
Dann stutzte ich. Irgendetwas lief hier falsch. Weshalb zog der Kerl seine Show an einem Tisch auf dem Weihnachtsmarkt und nicht in einem Verhörraum ab? Langsam kroch Angst in mir hoch. Ich begann zu befürchten, dass der Typ, der mir gegenüberstand, eine viel größere Bedrohung für mich war, als es die Polizei je sein könnte.