1994
30. Mai Ich bin tot. Offiziell zumindest.
Ich habe mich zusammen mit Margot zu diesem Schritt entschlossen, weil er uns unausweichlich erschien. Mittlerweile liegt eine Klage beim Berliner Verfassungsgericht vor, wegen »Rechtsbeugung« (was soll das sein?) und »Strafvereitelung im Amt«. Die westdeutsche Justiz lässt nichts unversucht, um unser politisches Erbe mit übler Hetze in den Schmutz zu ziehen. Die Massenmedien des Gegners hatten ihre sogenannten Journalisten sogar bis in unseren Garten geschickt. Ich wurde belauscht und überwacht und konnte mich nicht frei bewegen. Nein, so kann kein Mensch leben wollen.
Margot hat mich gebeten, meine Gedanken in diesem Tagebuch niederzuschreiben. Diesem Wunsch will ich gerne entsprechen, denn natürlich soll die Nachwelt die unwiderlegbare Wahrheit erfahren. Außerdem bleibe ich auf diese Weise geistig in Form, solange ich hier, am anderen Ende der Welt, zum Nichtstun verdammt bin.
Deutsche Kommunisten haben schon einmal in der Geschichte den Weg ins Exil gewählt, um später siegreich in die Heimat zurückzukehren – als »Gruppe Ulbricht«, die nach dem Sieg der Roten Armee über das faschistische Deutschland einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden gründete. Und so wie der Hitlerfaschismus untergegangen ist, geht auch die kapitalistische BRD ihrem Ende entgegen. Es ist einzig und allein eine Frage der Zeit!
Margot und ich warten nun auf das Staatsbegräbnis. Wollen wir hoffen, dass alles gutgeht. Der nette Herr, der uns freundlicherweise seinen Leichnam zur Verfügung gestellt hat, sieht mir leider in keiner Weise ähnlich. Hatten wir überhaupt mit ihm geklärt, wie er bezahlt wird? Ich hoffe, seine Familie verlangt kein Westgeld.
2. Juni Nur einen Tag nach meinem Tod hat ein westdeutscher Journalist Margot vor unserem Haus aufgelauert. Sie kam gerade von einem Blumengeschäft und hatte eine Vase in der Hand. Der junge Mann stellte sich ihr in den Weg und fragte, was sie denn da gekauft habe. Margot wurde wütend und rief, die Urne ihres Mannes sei nicht mal unter der Erde, da stünden sie schon wieder wie die Hyänen vor ihrer Haustür. Der Mann machte ein Foto und verschwand. Heute berichtet ein unsägliches Klatschblatt: »Margot Honecker bewahrt Asche ihres Mannes zu Hause auf«, wie sie mir soeben berichtet.
Außerdem hat Margot mir mitgeteilt, dass die chilenische Regierung mein Begräbnis organisieren wird. Sie will sich nun um die Liste der Staatsgäste bemühen, die bereits zugesagt haben. Bisher haben sie ihr aus Versehen lediglich ein leeres Blatt zugefaxt. Sie will das nun klären.
3. Juni Margot und unser treuer Leibarzt Dr. Puccio haben mich in eine Privatklinik gebracht. Hier werde ich mich erholen, bis Ruhe eingekehrt ist. Die Klinikleitung hat mir ein Zimmer im ersten Stock zugewiesen. Vor der breiten Glasfront liegen die Ausläufer Santiagos. In der Mitte erheben sich majestätisch die weißen Plattenbauten, die mich ein wenig an Jena-Lobeda erinnern. Das Klinikpersonal weiß selbstverständlich nichts von meiner wahren Identität. Konspiration ist schließlich Ehrenpflicht des Kommunisten im Untergrund. In der Krankenhausakte steht mein alter Deckname Marten Tjaden, den ich vor sechzig Jahren auf der Flucht vor den Nazis angenommen hatte. Es war Margots Idee, Tjaden wiederauferstehen zu lassen. Sie sagte, ich solle mich daran erinnern, wie damals alles ausgegangen ist. Ich habe mich dann erinnert, wie ich der Geheimen Staatspolizei in die Arme lief und für zehn Jahre ins Gefängnis wanderte – und war doch etwas skeptisch. Aber Margot hatte eher an die Zeit danach gedacht, und so überzeugte sie mich.
Die Gedanken an meine Zeit im Gefängnis ereilen mich in diesen Tagen immer wieder, zumal frische Erinnerungen an die Kerker von Moabit hinzugekommen sind. Zum Glück konnte Schwester Isabel mich heute Nachmittag ein wenig ablenken. Das Kissen in meinem Nacken war verrutscht, und leider bin ich noch so schwach, dass ich alleine nicht hinter meinen Kopf greifen kann. Deshalb habe ich den Knopf am Rollwagen neben meinem Bett gedrückt. Die Schwester kam sogleich herbei und beugte sich mit ihrem ganzen Oberkörper über mich, um das Kissen wieder zurechtzurücken. Plötzlich spürte ich ein intensives Kribbeln an einer Stelle, mit der ich mich gemeinhin gar nicht mehr beschäftige. Und ich gestehe, nicht ganz unabsichtlich ist mir das Kissen danach noch zwei weitere Male verrutscht.
7. Juni Krenz hat sich per Telefon bei Margot gemeldet. Sie berichtete, erst hätten ihm die Worte gefehlt, dann habe er gestottert, es tue ihm sehr leid, was mit mir passiert sei, und als Margot gerade antworten wollte, habe er gefragt, ob sie noch wisse, wo sein alter Fahrradanhänger stehe. Den hätte er uns doch damals ausgeliehen. Da hat Margot aufgelegt.
8. Juni Margot hat mir einen Pappkarton voller Briefe aus der Heimat mitgebracht. Es sind ausnahmslos gutgemeinte und freundliche Zuschriften von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik. Die Genossin Helga Hartmann aus Magdeburg zum Beispiel schreibt, sie sei bestürzt und fassungslos über meinen Tod. »In der ganzen Stadt herrscht Trauer. Wir vermissen unseren Freund und Genossen Erich. Nie wieder war unser Leben so schön wie in unserer guten alten Deutschen Demokratischen Republik.« Was für eine liebenswerte und sympathische Frau. Ihre Handschrift erinnert mich sogar ein wenig an die von Margot.
9. Juni Heute Morgen wollte der Oberarzt von mir wissen, ob ich privat krankenversichert bin. Das weiß ich leider gar nicht. Mit dieser Frage habe ich mich seit Jahrzehnten nicht beschäftigt. Wenn ich nun überlege, kann ich mich allerdings nicht erinnern, an meinen freien Tagen jemals zu einem Arzt gegangen zu sein. Meines Wissens kam unser Hausarzt immer in mein Büro. Insofern kann privat versichert eigentlich nicht richtig sein. Es müsste also immer noch unsere Staatliche Versicherung sein. Margot hat mir das auch noch einmal bestätigt. Soeben hat der Oberarzt mir nun die Nachricht überbracht, dass es bei der Bettenbelegung einen Engpass gibt. Heute Abend bekomme ich einen Zimmergenossen.
10. Juni Das Essen in der Klinik macht mir zu schaffen. Frittierte Teigtaschen und Maiseintopf. Wie soll ich so je wieder zu meinem alten Gewicht finden? Ich habe Margot gebeten, mit der Klinikleitung über den Speiseplan zu sprechen. Es wird doch wohl möglich sein, wenigstens einmal in der Woche einen Broiler mit Kartoffeln und Mettendchen serviert zu bekommen. Auf meinen Auslandsreisen war das in all den Jahren doch auch nie ein Problem. Schwester Isabel würde sich sicher um meinen Wunsch kümmern, wenn sie nur meiner Sprache mächtig wäre. Heute Morgen kam sie mit einem sanften Lächeln herein, um die Bettwäsche auszuwechseln. Ich bin zwar schon wieder etwas bei Kräften, aber von ihr lasse ich mich immer wieder gerne stützen. Als sie mit allem fertig war, hat sie mir ein Glas Wasser eingegossen und mir über den Arm gestreichelt. Kurz danach hat Margot mich besucht. Sie war sauer, weil der neue Pyjama mit Joghurt bekleckert war.
12. Juni Zur Mittagszeit lag pünktlich der Essensplan für die kommende Woche auf meinem Tisch. Ich habe ihn abgezeichnet und mit ein paar Anmerkungen zurückgehen lassen.
13. Juni Einer der wenigen Vorteile an meiner Situation ist die Tatsache, dass ich nun endlich Zeit finde, die westdeutschen Zeitungen ausgiebig zu studieren und auszuwerten. Früher hat Frau Kelm1 mir das Wichtigste ausgeschnitten und praktisch zu einer neuen Zeitung zusammengeklebt. Die war natürlich dünner, und ich konnte weder in Ruhe die Sportseiten lesen oder ein Kreuzworträtsel lösen, noch hatte ich Gelegenheit, einen Blick auf die Panorama-Seite zu werfen, für die ich erst in den letzten Monaten eine stetig wachsende Begeisterung entwickelt habe. Hier im Krankenhaus unterhalten sie einen sogenannten Lesezirkel, und heute sind die ersten deutschen Ausgaben vom April angekommen. Zum ersten Mal habe ich nun zum Beispiel die Illustrierte Focus gelesen. Meinem ersten Gefühl nach spielen Fakten in diesem Heft keine allzu große Rolle. Ich bin der Meinung, da könnten sie etwas mehr an die Leser denken. Mit vielen Namen bin ich überhaupt nicht vertraut. So ist vor kurzem ein gewisser Kurt Cobain gestorben. Die Titelseiten sind voll davon. Bzw. waren es im April. Auf einem Foto hat der junge Mann ein bisschen Ähnlichkeit mit Hildegard Grützmann, die sich in Wandlitz lange um unsere Wäsche gekümmert hat. Aber die ist auch schon vor etlichen Jahren gestorben.
14. Juni Margot kam, um die schmutzige Wäsche abzuholen. Das Lila in ihren Haaren ist nun beinahe vollständig herausgewachsen. Ich frage mich, ob wir hier in Chile so ohne weiteres an die erprobten Produkte aus unserem VEB Kosmetik-Kombinat Berlin kommen werden. Ich hoffe es sehr, denn derzeit erinnert mich meine Frau leider immer mehr an meine Schwiegermutter.
15. Juni Heute Morgen kam ein junger Arzt herein, um mir die Ergebnisse der Untersuchung mitzuteilen, zu der ich mich hatte drängen lassen. Der junge Mann schaute in seine Mappe, blätterte vor und noch einmal zurück, dann sagte er hocherfreut, ich sei bei bester Gesundheit – und damit auch wieder vollkommen reisetauglich. Der Krankentransport sei bereits organisiert. Ich würde gleich abgeholt und zum Flughafen gebracht. Man erwarte mich mit Freuden in Berlin. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich einen Schlauch im Mund. Neben meinem Bett stand ein anderer Arzt. Er sagte, es tue ihm leid. Ich sei wohl verwechselt worden.
16. Juni Nach Jahren ist es nun also gelungen, den Kaufhauserpresser Dagobert dingfest zu machen, wie ich der Bild-Zeitung vom 23. April entnehme. Margot und ich haben in den vergangenen Jahren ja immer amüsiert beobachtet, wie er die Westberliner Polizei an der Nase herumgeführt hat. Ich erinnere mich noch gut, wie ich Margot damals sagte: Wenn Kohl und Strauß uns nicht bei der Devisenbeschaffung behilflich sein können, dann müssen wir uns eben an diesen Dagobert halten. Das KaDeWe hat er um eine halbe Million erleichtert. Das hätte uns damals fürs Erste schon weitergeholfen. Mielke hat auf mein Anraten hin sofort seine Leute auf den Erpresser angesetzt. Sie fanden auch recht schnell heraus, dass es sich um diesen Funke handelt. Er stand ja sogar im Telefonbuch. Aber die Kontaktaufnahme gestaltete sich doch schwierig. Einmal wäre es dann fast zu einem Treffen gekommen. Aber am vereinbarten Treffpunkt im Wald hatte er alles mit Stolperdrähten versehen. Und bei jedem falschen Schritt lösten Mielkes Agenten Leuchtraketen, Knallkörper und einmal sogar ein Tischfeuerwerk aus. Nur Funke war nirgends zu sehen. Der letzte Versuch, sich mit ihm zu treffen, scheiterte, weil Mielkes Agent auf einem nassen Parkplatz in einen Haufen Hundekot trat, ausrutschte und sich das Steißbein brach. Später stellte sich heraus: Damit hatte Funke gar nichts zu tun. Dennoch gaben wir unsere Kontaktanbahnungsversuche auf. Allein die Telefongebühren und Fangschaltungen hatten Kosten im Gegenwert eines gutgefüllten Lösegeldkoffers verursacht.
17. Juni Die zwei Wochen in der Klinik sind schneller vergangen, als ich es mir erhofft hatte. Heute werde ich entlassen. Leider kann ich nicht sagen, dass ich mich vorbehaltlos über die Rückkehr in unser Reihenhaus freue.
18. Juni Zu meiner Rückkehr und Begrüßung hat Margot die Flagge der Deutschen Demokratischen Republik im Flur neben der Treppe gehisst. Beim Abendessen haben wir zusammen die Internationale gesungen. Danach musste ich ihr beim Spülen helfen. Ungewohnt, nach den zwei Wochen in der Klinik. Margot sagt, sie wünscht sich mehr Unterstützung im Haushalt. Ich habe versprochen, ihr in Zukunft öfter beim Staubsaugen zur Hand zu gehen. Das habe ich früher im Büro oft selbst gemacht, um die Langeweile totzuschlagen. Ansonsten war der Haushalt nie meine Stärke. Das hat ja zum Glück alles Günter Mittag geregelt. Ich habe Margot vorgeschlagen, dass wir uns um eine Hilfskraft bemühen. Sie hat unseren Jorge vorgeschlagen, den jungen Mann, der uns von Zeit zu Zeit fährt. Wir werden ihn fragen.2
19. Juni Margot hat den Hausverwalter angewiesen, eine japanische Satellitenschüssel aufs Dach zu montieren, wie wir es aus Wandlitz gewohnt sind. Seit vorgestern empfangen wir über hundert Fernsehprogramme, unter anderem Kanäle, die ausschließlich Reklame zeigen. Ich muss sagen, dass ich den Reiz solcher Sendungen lange Zeit verkannt habe. Diese sogenannten Telehändler bieten dort zahlreiche Produkte an, die im Handel nicht erhältlich sind. Ich habe gleich zu Margot gesagt: »Siehst du, das gibt es auch im Kapitalismus.« Vielleicht sollte man also doch nicht alles verteufeln, was aus dem Westen kommt. Der »Bauch-weg-Gürtel« etwa scheint mir doch eine vernünftige Erfindung zu sein. Abends bin ich dann auf dem Sportkanal hängengeblieben. Die Batterien der Fernbedienung waren leer. So musste ich mir das Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft ansehen. Es hat mich nicht überrascht, dass Matthias Sammer der beste Spieler der deutschen Mannschaft war – auch wenn ich zugeben muss, dass ich fast eine Träne verdrücken musste, als ich sah, wie dieser talentierte junge Genosse die Hymne des Klassenfeinds intonierte.
9. Juli Aus dem Fernsehen habe ich erfahren, dass unser alter Wegbegleiter Kim Il-Sung nicht mehr lebt. Vor nicht einmal vier Jahren hatte er noch angeboten, uns bei sich aufzunehmen. Wir hatten damals darüber nachgedacht, uns dann aber doch dagegen entschieden, weil Margot der Auffassung war, die Zustände in seinem Land kämen der einer Diktatur gleich. Und jetzt ist er tot. So schnell kann das gehen. Wir kannten uns ja nun schon seit vielen Jahren. Ich kann auch eigentlich nichts Schlechtes über ihn sagen. Privat war er ja ganz anders, als man ihn aus dem Fernsehen kannte. Manchmal war er geradezu albern. Einmal hat er bei einem gemeinsamen Abendessen unsere Brillen vertauscht. Plötzlich sah er aus wie Margot. Minutenlang saßen wir da und aßen, ohne dass mir irgendetwas auffiel. Ich flüsterte Margot zu, sie solle nicht so schmatzen. Sie antwortete nicht. Erst, als ich meine Hand auf ihr Bein legte, bemerkte ich den Irrtum. Kims Oberschenkel war ja nun doch etwas kräftiger.
18. Juli In den westlichen Zeitungen bezeichnen sie unsere schöne Deutsche Demokratische Republik nun schon zum wiederholten Male als Bananenrepublik. Ich muss doch sagen, dass mich dieses Prädikat angesichts der zugegebenermaßen nicht immer zufriedenstellenden Versorgungssituation, mit der wir zu kämpfen hatten, im Nachhinein mit großer Zufriedenheit erfüllt. Margot und ich sind der Auffassung, dass wir unser Planziel bei aller Bescheidenheit auch in dieser Hinsicht sicherlich mehr als übererfüllt haben.
19. Juli Nach dem ersten Besuch bei unserem neuen Nachbarn Campos habe ich den Eindruck gewonnen, dass der sozialistische Bruderkuss in Chile nicht die gleiche Beliebtheit besitzt wie in unserer Deutschen Demokratischen Republik und der Sowjetunion.
21. Juli Jorge muss das Skatspielen gewissermaßen vom Pik auf lernen. Unsere gegenwärtige finanzielle Situation lässt es leider nicht zu, dafür eine weitere Kraft einzustellen. Aber ich bin zuversichtlich und gebe gerne zu, dass auch mir dieses Spiel zu Beginn nicht leichtgefallen ist. Auf einer Dienstreise habe ich damals in der Gaststätte »Grand« im thüringischen Altenburg sechs Genossen beim Skat beobachtet und war an diesem Spiel gleich interessiert. Ich habe dann sofort eine Generalabsolution erteilt und den Skatbrüdern in Altenburg in einem Telegramm durch den Parlamentspräsidenten mitteilen lassen: »Sofern dieses die Kombinationsfähigkeit entwickelnde und die Phantasie anregende Skatspiel als Mittel der Entspannung zu sinnvoller Freizeitgestaltung genutzt wird, darf jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Leidenschaft pflegen und Skatfreund werden.« Einige altgediente Genossen haben natürlich gemurrt. Es handele sich um ein Spiel, das durch die unterschiedliche Wertigkeit der Farben und Zahlen Klassengegensätze vertiefe; zudem sei der »König« ein feudalistisches Relikt, das in einem sozialistischen Staat keinen Platz haben dürfe. Ich habe diesen Nörglern und Renegaten dann jedes Jahr ein neues Skatspiel in ihre Zellen nach Bautzen liefern lassen.
25. Juli Ein Busfahrer aus Eisenach hat geschrieben und wünscht sich von Margot einen Geburtstagsgruß für seine Frau Helene. Aus alter Gewohnheit griff ich in die Schublade unter meinem Schreibtisch, um einen Briefbogen hervorzuholen, fand dort aber nichts. Ich rief gleich Margot herbei, doch die hatte keinerlei Verständnis für meine Aufregung. Ob ich der guten Frau denn den Schreck ihres Lebens einjagen wolle? Wer wolle denn schon, dass ihm ein Toter zum Geburtstag gratuliert?
Ich werde mich wohl noch daran gewöhnen müssen, dass ich nun keine repräsentativen Aufgaben mehr übernehmen kann. Die Briefbögen hat Margot den Kindern aus der Nachbarschaft geschenkt. Auf meinen Einwand, dass sie ja nun womöglich in meinem Namen Briefe in die ganze Welt schicken, hatte Margot keine Antwort. Sie riss mir den Eisenacher Brief aus der Hand. Die Glückwünsche will sie nun selbst schreiben. Ich will hoffen, dass mein Ableben für sie nicht nur ein Vorwand war, mir auch noch die letzten Befugnisse aus der Hand zu nehmen.
4. August Margot erwartet Besuch. Vier Frauen von der sozialistischen Partei in Chile haben sich angekündigt. Seit Tagen spricht sie nun von nichts anderem als diesem so genannten Kaffeekränzchen. Es ist grauenvoll. Kaffeekränzchen hier, Kaffeekränzchen da. Wenn ich dieses Wort nur höre, durchfährt mich ein kalter Schauer. Ich nehme es ja nun schon mit großem Gleichmut hin, dass ich bei der Durchsicht unserer alten Fotoalben auf jeder zweiten Seite an Egon erinnert werde. Da muss ich ja nun wirklich nicht auch noch ständig seinen Namen hören.
17. September Hier in Chile ist wirklich alles im Überfluss vorhanden. Seit wir in Santiago wohnen, verabreicht Margot sogar den Pflanzen die doppelte Menge Wasser. Aber den Blumen scheint die kapitalistische Maßlosigkeit nicht sonderlich gut zu bekommen. Die Geranien auf der Terrasse lassen seit Tagen die Köpfe hängen. Der Gummibaum hat zwei Blätter verloren. Im Sinne der Übererfüllung des Planziels eines florierenden Vorgartens werden wir das Gießwasser wohl oder übel neu rationieren müssen. Jorge wird einen zentralen Verteilungsplan erstellen.
2. Oktober Überall auf der Welt wählen sie in letzter Zeit neue Staatspräsidenten. Burundi, Kiribati und jetzt Brasilien. Ich muss sagen, es juckt mich doch ein wenig in den Fingern. So eine Aufgabe könnte ich mir durchaus noch einmal vorstellen, falls sich irgendwo eine Perspektive ergeben sollte. Die Schweiz böte gute Voraussetzungen: Ein übersichtliches Land, in Europa ausreichend isoliert, und wenn wir die Finanzindustrie ins Volkseigentum überführen könnten, hätten wir ein gewisses Maß an Startkapital zur Verfügung, um mitten in den Bergen eine sozialistische Republik aufzubauen. Natürlich müssten wir uns an die regionalen Gegebenheiten anpassen. Den Zirkel im Wappen könnte man zum Beispiel durch einen Skilift ersetzen. Auf freie Wahlen würde ich mich allerdings auch dort unter keinen Umständen einlassen wollen. Und diese ständigen Volksabstimmungen müssen den Bürgern doch selbst auf die Nerven gehen, denke ich mir.
17. Oktober Margot und ich sind sprachlos. Nun haben sie Kohl in der BRD tatsächlich noch eine weitere Amtszeit zugestanden – und das, obwohl er ja zweifellos als einer der Hauptverantwortlichen für die sogenannte deutsche Einheit anzusehen ist. Fast genau fünf Jahre nach dieser Tragödie müssen wir nun feststellen: Kein einziges seiner Versprechen hat sich bewahrheitet. Auf den Gegenbesuch, den er bei meiner Staatsvisite 1988 angekündigt hatte, warten Margot und ich zum Beispiel bis heute. Und wenn ich daran denke, wie oft meine Reise in die BRD damals über Jahre hinweg immer wieder aus den fadenscheinigsten Gründen verschoben wurde, haben die Gespräche unsere Erwartungen letztlich nicht erfüllt. Mir war immer daran gelegen gewesen, dass beide deutsche Staaten sich endlich auf Augenhöhe begegnen, aber mit Kohl war das nicht zu machen. Schon bei unserem Empfang vor dem Bundeskanzleramt sah ich von ihm kaum mehr als seine Brusttasche. Und es ist uns natürlich auch nicht entgangen, dass uns nicht dieselben protokollarischen Ehren gewährt wurden wie Besuchern aus anderen souveränen Staaten. Der rote Teppich vor dem Kanzleramt zum Beispiel kam mir kaum länger vor als der Läufer hier bei uns im Flur. Auch den Sauerbraten, der uns auf Schloss Benrath serviert wurde, mussten wir als protokollarischen Affront verstehen. Aus unserer Sicht war die Reise ein einziger Spießrutenlauf. Kohl brachte das Gespräch immer wieder auf diesen angeblichen Schießbefehl. Aber was sollte ich ihm dazu sagen? Meines Wissens gab es den lediglich im Sturm unserer Fußballnationalmannschaft. Aber selbst da hat sich ja niemand dran gehalten. Ich muss wirklich sagen: Unsere Gespräche hat das damals belastet. Und wie wir von Anfeindungen, Beleidigungen und unterschwelligen Manipulationsversuchen begleitet wurden. Unvorstellbar. Sogar in der U-Bahn-Station ließen sie bei meiner Ankunft durch die Lautsprecher durchsagen: »Zurücktreten, bitte!«
2. November Die Uhren in Chile scheinen ja doch etwas langsamer zu gehen als in unserer Deutschen Demokratischen Republik. Auch hier begebe ich mich direkt nach dem Frühstück in mein Büro, wie ich es immer getan habe, und zeichne in alter Gewohnheit dringliche Beschlüsse und Akten ab. Doch wenn ich das erledigt habe, ist es an vielen Tagen noch immer kaum 9 Uhr.
6. November Margots Blutdruck macht, was er will. Ich kann ihr Gezeter nicht mehr ertragen. Heute Mittag habe ich ihr gesagt: »Wenn das nicht aufhört, werde ich gehen.« Natürlich weiß Margot, dass sich mir da nicht viele Möglichkeiten bieten. Hämisch fragte sie: »Wo willst du denn hin?« Leider neige ich in solchen Situationen doch zu Überreaktionen. Ich antwortete: »Wenn alle Stricke reißen, mache ich eben rüber. In die BRD.« Das saß. Seitdem hat sie nicht mehr mit mir gesprochen.
7. Dezember Unser Nachbar Campos hat uns einen Weihnachtsbaum vor die Tür gestellt. Er ist ein sehr netter Mann. Er spricht sogar fließend Deutsch, aber manchmal übertreibt er es doch ein wenig. Margot hat den Baum freundlich abgelehnt, doch er schien das nur als Geste der Höflichkeit zu verstehen. Er trug die Tanne an ihr vorbei ins Wohnzimmer und baute sie in der Ecke auf. Dann ging er nach Hause und kam mit einer Kiste Baumschmuck zurück. Auf die Spitze hat er eine Jahresendflügelfigur gesetzt. Der Baum glitzert nun wie Mielkes Orden in der Mittagssonne. Die einzige Frage lautet: Was sollen wir damit? Manchmal wünsche ich mir, wir hätten das Weihnachtsfest einfach aus dem Kalender gestrichen, wie Ulbricht es schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen hatte. Aber das ließ sich nicht machen. Das Christkind und der Nikolaus wären arbeitslos gewesen. Mit unseren Prinzipien hätte sich das nicht vereinbaren lassen.
22. Dezember Von Margot habe ich erfahren, dass auch Sonja und Robbie sich die kapitalistische Tradition des Weihnachtsfests angeeignet haben. Von mir wird nun erwartet, dass ich mich an diesem Ritus ebenfalls beteilige. Da hat man sich über fünfzig Jahre seines Lebens im Sinne des Sozialismus mit aller Kraft gegen die Verlockungen des Konsums gestemmt. Und nun, zum Ende seines Lebens, wird man dazu verdammt, mit der Kreditkarte in die Stadt zu fahren und sich einem regelrechten Kaufrausch hinzugeben. Margot hat mir einen Zettel geschrieben: Sonja wünscht sich Duftwasser der Marke Chanel. Bei sich selbst hat Margot etwas kryptisch mit einem roten Herzen vermerkt: »Du weißt doch, was mir am meisten Freude macht.« Natürlich weiß ich das, aber benötigt sie zum willkürlichen Herumkommandieren irgendwelche Hilfsmittel? Unser Enkel Robbie wünscht sich offenbar einfach Geld. Nur wie viel, das hat Margot leider nicht dazugeschrieben. Dieser Zettel ist mir wirklich alles andere als eine Hilfe. Aber ich wäre ja nicht über all die Jahre Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands geblieben, wenn ich nicht in der Lage wäre, derartige operative Probleme auch alleine, gewissermaßen ohne fremde Hilfe, erfinderisch zu lösen. Ich habe Jorge die Kreditkarte in die Hand gedrückt, ihm Margots Aufzeichnungen gezeigt und ihn gebeten, sich selbst einige Gedanken zu machen. Er hat für Margot eine schöne Seife gekauft und für Sonja ein Duftwasser mit einem ähnlich klingenden Namen, aber einem viel günstigeren Preis. Robbie werden wir wie gewünscht Geld schenken. Jorge hat einen sogenannten Scheck besorgt. Nur den Betrag müsste Robbie dann gefälligst selbst eintragen – das wird man ja wohl erwarten können, wenn er es schon nicht für nötig hält, uns rechtzeitig über seine Wünsche zu informieren.
31. Dezember In den Jahresrückblicken zeigen sie die Bilder von meiner beschwerlichen letzten Fahrt zum Krankenhaus. Das hätte böse enden können. Ich sah wirklich übel aus. Leider versuchen die Westmedien auch bei dieser Gelegenheit, unser sozialistisches Erbe zu verunglimpfen. Der Reporter sagte, ich sei uneinsichtig gewesen bis zum Schluss. Ich frage mich: Welche Einsicht hätten sie denn erwartet? Dass der Kapitalismus die Menschen glücklich macht? Bei Margot und mir kann ich das nicht feststellen. Wobei es heute Abend schön war. Sonja hat drei Flaschen Rotkäppchen-Sekt gekauft. Viel zu viel, wie ich fand, aber jetzt sind doch alle Flaschen leer. In alter Tradition haben wir den Jahreswechsel zwei Stunden früher gefeiert, weil zu dieser Zeit in Moskau das neue Jahr begrüßt wird. Danach schießen sie dann in Berlin die Raketen in die Luft. Dann haben wir drei Stunden später ein weiteres Mal angestoßen, um das neue Jahr in Chile zu feiern. Leider etwas zu früh. So mussten wir später ein weiteres Mal trinken. Ich bin leicht beschwipst. Margot schnarcht.
Anmerkung des Herausgebers