Sie wollen einen starken Staat? Einen Staat, der unser Zusammenleben regelt? Einen Staat, der Regeln nicht nur aufstellt, sondern auch ihre Beachtung überwacht? Einen Staat, der Regelverstöße auch konsequent ahndet?
Dann sollten Sie falsch parken.
Haben Sie einen Einbruch, eine Körperverletzung oder einen Betrug begangen, einen Menschen als Raser im Straßenverkehr getötet oder sind Sie Profi im Taschendiebstahl – bleiben Sie gelassen. Erst mal müssen Sie erwischt werden, das Risiko ist gering. Und selbst wenn Sie das Pech haben sollten, machen Sie sich keine Sorgen.
Sie finden jemanden, der Ihnen bescheinigt, dass Sie eigentlich ein feiner Mensch sind. Oder dass Sie irgendwie traumatisiert sind, vernachlässigt, zu wenig geliebt oder zu viel verstanden wurden. Oder umgekehrt. Vielleicht haben die Eltern sich getrennt oder zu früh geheiratet, irgendwas. Und dann passiert, was hunderttausendfach passiert. Nämlich nichts.
Der Rechtsstaat fühlt mit Ihnen und gibt Ihnen Ratschläge, Ermahnungen oder Trainingseinheiten mit auf den Weg. Im Namen des Volkes. Und auf seine Kosten natürlich.
Wenn Sie falsch parken, kommen Sie damit nicht durch. Da gibt’s kein Pardon. Da setzt sich der Rechtsstaat durch. Klar, auch da können Sie sich rausreden und behaupten, Sie hätten das Auto da nicht hingestellt. Aber die Verwaltungskosten knöpft Ihnen der Staat ab, rigoros. Wäre ja noch schöner.
Neuer Versuch. Sie wollen zu einer richtigen Strafe verdonnert werden? Das ist zu schwierig; denn sie müssen fleißig sein. Rund vierzig Straftaten in Berlin beispielsweise reichen dazu nicht. Da gibt’s eine Geldstrafe unter 2 000 Euro. Ratenzahlung natürlich.
Bei kleinen Dingen kommen wir ganz groß raus. Hundesteuern, Bauvorschriften, Flaschenpfand, GEZ-Gebühren oder Mülltrennung, da sind wir fit in Deutschland, kleine Sachen gehen immer − große weniger bis gar nicht. Die letzte richtig große Sache, die wir geschultert haben, war die Wiedervereinigung. Eingeleitet und verwirklicht durch die Menschen, die auf die Straßen gingen und die friedliche Revolution erkämpft haben. Gestaltet und umgesetzt durch clevere Politik und einen starken öffentlichen Dienst, der mit seinen Beschäftigten eine rechtsstaatliche und funktionierende öffentliche Verwaltung quasi über Nacht ans Laufen brachte. Danach kam kaum noch was, Deutschland erlahmt. Große Bauvorhaben sind nicht mehr zu realisieren, richtige Reformen nicht durchsetzbar, große Zukunftsmodelle nicht vorhanden. Die Republik ist zugepflastert von Bauruinen und Denkmälern des Versagens politischer Baumeister.
Damit mich niemand missversteht: Natürlich ist es richtig, falsches Parken zu ahnden. Geht man mit aufmerksamen Augen durch unsere Städte, sieht man Rücksichtnahme und gegenseitigen Respekt im Straßenverkehr im »freien Fall«, das fängt beim Parken an. Deshalb ist es richtig, dort einzuschreiten, und die kommunalen Bediensteten sowie meine Kolleginnen und Kollegen machen einen guten Job (und müssen sich anschließend nicht selten beschimpfen, bespucken und tätlich angreifen lassen, aber dazu später).
Jetzt haben wir wieder eine neue große Aufgabe bekommen, eine Jahrhundertaufgabe, sagt die Regierung. Mindestens eine Million Menschen sollen in unsere Gesellschaft integriert werden. Und dazu müssen wir unsere Willkommenskultur pflegen, tolerant, weltoffen und geduldig sein − sagt unsere Regierung.
Sie macht dabei einige gefährliche Denkfehler. Der erste ist die angebliche Willkommenskultur in Deutschland. Das ist nichts anderes als ein künstlicher Begriff aus der Wunschkiste von Menschen mit edler Gesinnung, die ihr Gefühl zum Maßstab allen politischen Handelns machen. Und alle sollen mitmachen. Wer nicht will, wird ausgegrenzt, da ist dann Schluss mit Toleranz. In Wahrheit gibt es keine Willkommenskultur in Deutschland. Wenn ich jemanden willkommen heißen will, ist das eine persönliche, eine individuelle Entscheidung, nicht Ausdruck irgendeiner kulturellen Identität. Ich suche mir selbst aus, wen ich willkommen heiße und wen nicht, das geht nicht im Kollektiv. Wer das will, übersieht große Teile des Volkes und das geht dann schief. Und darüber freuen sich die Falschen, etwa die Extremen, die Rechten.
Die Formulierung einer Aufgabe für das Volk ist der zweite Fehler. Denn nicht die Regierung vergibt die Aufgaben, sondern das Volk selbst. Diese Aufgaben stehen dann im Gesetz und das bindet die Regierung. Das nennt man Mandat, genauer gesagt, politisches Mandat. In unseren Gesetzen stehen viele kluge Sachen. Zum Beispiel, dass die nationalen Grenzen zu sichern und zu schützen sind und dass dabei illegale Migration nach Deutschland zu verhindern und dafür die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen sind. Das ist Aufgabe der Regierung, aber genau das Gegenteil hat sie gemacht. Das lehnen viele Menschen ab und sie dürfen das. Deshalb brodelt es in Deutschland, was gefährlich für unseren Frieden ist.
Und jetzt gibt uns die Regierung eine Jahrhundertaufgabe, um die wir sie nicht gebeten haben. Und sagt uns, dass wir tolerant sein müssen und weltoffen. Das müssen wir nicht. Und schon gar nicht muss ich das wollen, was die Regierung will. Ich bin gerne tolerant und weltoffen, aber nicht, weil die Regierung das will, sondern weil ich das will. Ich mag viele Menschen und viele auch nicht. Bei denen, die ich mag, sind vielleicht Christen dabei, Muslime, Juden, was weiß ich, ich frage nicht danach. Ich mag nämlich keine Religionen, sondern Menschen, und es ist mir egal, ob und an welchen Gott sie glauben. Natürlich mag ich Menschen aus anderen Nationen, viele sogar. Aber ich will sie nicht mögen müssen.
Das Missverständnis der Regierung hat fatale Folgen. Denn die Menschen haben sich an Demokratie und Rechtsstaat gewöhnt. Sie wollen weiterhin, dass das Mandat auch Auftrag bedeutet und dieser Auftrag steht im Gesetz, zum Beispiel im Grundgesetz.
Wenn Sie nicht über die Absurditäten, Ungerechtigkeiten und die vielen Schieflagen in unserem Land nachdenken oder diskutieren wollen, nennen Sie ihren Gesprächspartner einfach einen Populisten. Das ist für ihn ganz schlecht. Weil: Populismus ist schlecht. Wo kämen wir hin, wenn die Vox populi, die Stimme des Volkes, Gehör fände. Meistens stört das Volk sowieso.
An den Absurditäten ändert das freilich nichts. Und daran, dass viele Menschen sich zunehmend verunsichert, ja regelrecht unsicher und konkret bedroht fühlen, auch nicht. Viele haben Angst – und werden auch dafür noch beschimpft, belächelt, veralbert und gern auch in die rechte Ecke gestellt. Damit sicher ist, dass sie den Mund halten.
Objektive Daten, um Deutschland zum Paradies zu erklären, gibt es schließlich mehr als genug. Wir leben im beliebtesten Land der Welt. Deutschland ist wirtschaftlich erfolgreich wie nie, es herrscht quasi Vollbeschäftigung, wir unterstützen Schwache und Arme, leisten Hilfe für Verfolgte und dürfen uns zu Recht täglich an unserer edlen Gesinnung berauschen. Wir sind ein Land mit reichhaltiger Kultur, tollen jungen Menschen, die mit Engagement und Empathie an ihrer Zukunft arbeiten und fleißig lernen – und wir haben einen Rechtsstaat, mit unabhängigen Richterinnen und Richtern, hoch gebildeten Staatsanwältinnen und Staatanwälten, die energisch Straftaten verfolgen und eine Polizei, die erfolgreich das Verbrechen bekämpft und Deutschland zu einem der sichersten Länder der Erde macht.
Wir haben engagierte Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, die sich um unsere Kleinsten kümmern und eine Zivilgesellschaft, die aus sich heraus Hilfe für Menschen organisiert, die hunderttausendfach aus Krieg und Verfolgung zu uns kommen.
Darf man trotzdem Angst haben und sich Sorgen um die Zukunft machen? Man darf. Und man muss sich auch nicht vorschreiben lassen, ob man das darf.
Denn auch das ist Deutschland: Millionen Menschen, die komplett und seit Generationen auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, alte Menschen, die nach lebenslanger Arbeit Angst davor haben, vor der Armut zu stehen, eine teilweise kaputtgesparte öffentliche Infrastruktur, geschlossene Behörden, zu wenige und alleingelassene Lehrerinnen und Lehrer, Richterinnen und Richter und daneben manche Volksvertreter, denen das Volk nicht geheuer ist, die mitunter gern ohne Volk auskommen würden.
Auch das ist Deutschland: Kriminelle Banden, die sich seit Jahrzehnten etabliert haben, mit ihren kriminellen Aktivitäten weit ins bürgerliche Leben vorgedrungen sind und in ihren Stadtteilen Angst und Schrecken verbreiten, Links- und Rechtsradikale, die sich in einer abenteuerlichen Geschwindigkeit gegenseitig hochschaukeln und ihre jeweilige Gewaltbereitschaft ständig durch die »andere Seite« legitimieren, ausrastende Fußballrowdys, die in Suff und chaotischer Randale versinken, »Krieg führende« Rockerbanden, die sich schneller gründen, als sie verboten werden können, Tausende brandgefährliche Salafisten und andere religiöse Eiferer, die wir nicht im Griff haben, nicht sehen und beobachten, nicht abhören oder überwachen können, und von denen wir vor allem nicht wissen, wann und wo sie mit fürchterlichen Terroranschlägen in Erscheinung treten werden.
Und jetzt noch das: Hunderttausende Menschen sind ins Land gekommen, von denen wir nicht wissen, wer sie sind. Woher sie kommen. Mit welcher Absicht sie hier sind. Ob sie hierbleiben oder weiterziehen wollen. Bei etlichen ist nicht einmal klar, wo sie sich aufhalten. Vielleicht sind es eine Million, vielleicht anderthalb. Wer will das wissen? Kontrolle bei der Einreise? Tut uns leid, das ging jetzt gerade nicht. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge? Vielleicht Hunderte, vielleicht Tausende, wir wissen es nicht. Wo sie geblieben sind? Keine Ahnung. Sind sie registriert? Ja, bald, irgendwie. Wie werden sie integriert? Schauen wir mal. Wer soll das machen? Tja.
Gab es das nicht schon immer, dass wir nicht alles unter Kontrolle hatten? Dass wir vor Fremden Furcht oder doch zumindest Vorbehalte hatten? Dass es randalierende Rechte oder Linke, kaputte Familien oder kriminelle Banden gab? Oder Terroristen, die den Staat bedrohten?
Stimmt, das gab es früher alles auch. Und Gewalt gegen die Polizei gab es früher ebenfalls.
Aber der Staat hat sich immer gewehrt. Mit Volksvertretern, die die Bedrohung als ihre Herausforderung verstanden und angenommen haben, die die Sicherheitsbehörden nicht als Feind, sondern als Instrument des Rechtsstaates angesehen haben, mit starken Strukturen, Menschen im Staatsdienst, die den Willen der demokratisch gewählten Politik konsequent umgesetzt haben, mit Gesetzen, die nicht nur auf dem Papier standen, und Gerichtsurteilen, die ihre Wirkung nicht verfehlten.
Genau das vermissen viele Menschen heute. Deshalb haben sie Angst und Sorge. Weil sie einen Staat sehen, der schwach ist, harmlos und hilflos, der seinen Schutzauftrag nicht ausreichend erfüllt. Einen Staat, der sich zurückzieht und zusieht, der eben alles andere als ein starker Staat ist.
Dabei sagt unsere Verfassung genau das Gegenteil: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Das ist die Botschaft des Artikel 1 unseres Grundgesetzes.
Deutschland hat gar kein Recht auf Schwäche, sondern die Pflicht zur Stärke. Aber dieser Pflicht kommt unser Land eben nicht nach. Schon lange nicht mehr. Deshalb haben die Menschen Angst. Denn unsere Sicherheit ist bedroht. Deshalb ist Deutschland in Gefahr.
Es wird höchste Zeit, die Dinge zu ändern. Deshalb müssen wir dort hinsehen, wo unser Land schwach und unsicher ist. Offen und ehrlich ansprechen, wo es falsch läuft. Und aufzeigen, wie es besser geht. Genau das will »Deutschland in Gefahr« tun. Damit wir endlich wieder stark und wehrhaft werden.
Damit sich die Menschen wieder auf ihren Staat verlassen und ihm vertrauen können. Damit unsere Sicherheit nicht länger auf dem Spiel steht. Es gibt viele Baustellen und große Schwachpunkte. Schauen wir also gemeinsam hin.
Deutschland versagt schon ganz am Anfang. Alleingelassene Familien, marode Schulen und unterfinanzierte Kitas, Schulpolitik wie auf der Achterbahn, frustrierte Lehrerinnen und Lehrer, mies bezahlte Erzieherinnen und Erzieher und über allem eine Finanzpolitik, die ohne Sinn und Verstand ausgerechnet da spart, wo Investitionen wichtig wären. Kleinteilig und bürokratisch, kaputt und verwirrt, so wird unser Land wahrgenommen, wo eigentlich Zukunft für Kinder gestaltet werden soll.
Wo Erziehung und Wertevermittlung falsch laufen, gerät unsere Gesellschaft in Gefahr. Und zwar von Anfang an. Später sollen Polizei und Justiz alles heilen, was vorher falsch gelaufen ist. Sicherheitsbehörden als Oberlehrer der Republik, das kann nicht klappen, das geht schief. Und ganz nebenbei soll dieser Staat jetzt noch Integration leisten? Das kann niemand ernsthaft glauben, dass das geht. Die ersten Ergebnisse sieht man. Wenn man hinsieht. Aber man muss auch hinsehen wollen.
Eine Gruppe Kindergartenkinder, jeweils zwei Kinder halten sich an den Händen, mitten in der Hauptstadt Berlin. Vorn und hinten Erzieherin und Erzieher, ruhig, konzentriert und mit professioneller Gelassenheit. Sie wissen, was sie tun, und die Kinder spüren es. Sie können ihren Erziehern vertrauen.
Sie sind gut vorbereitet auf ihren Gang durch die Menschenmassen und verlieren die Erzieherin an der Spitze nie aus den Augen. Niemand schert aus, keiner läuft alleine, sie fühlen sich offensichtlich sicher und auch geborgen. Ich bewundere diese Erzieherinnen und Erzieher. Und ich weiß gar nicht, ob ich den Mut hätte, mit einer Gruppe Kinder quer durch die Berliner Innenstadt zu gehen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, gefährliche Straßen zu überqueren (in Berlin sind übrigens auch die Fußgängerwege gefährlich, denn rasende Radfahrer schießen urplötzlich auch durch dichte Menschenmassen) und sie all den vielen Verlockungen auszusetzen, die doch schon uns Erwachsene ablenken, gelegentlich unvorsichtig und sogar leichtsinnig werden lassen. Da muss man doch Nerven wie Drahtseile haben.
Oder eben sein Handwerk verstehen, wie mir eine erfahrene Erzieherin in einem ausführlichen Gespräch verriet. Mit klaren Ansagen an die Kinder, verbindlichen Regeln für den Gang durch die Stadt, mit Orientierung und Vorbild, eben mit Erziehung. Es ist richtig und notwendig, in einer komplizierter werdenden Umwelt professionelle Erziehung zu gewährleisten, um jungen Menschen den Start in die Schul- und Lebenswelt zu erleichtern.
Natürlich kann dies auch ein gutes und liebevolles Elternhaus. Aber es gehört zu den vielen Absurditäten unserer Gesellschaft, dass wir diejenigen, die ihren Kindern diese wichtigen und prägenden Erfahrungen in ihrer wichtigsten Prägungsphase verweigern, dafür mit Geldprämien belohnen.
Geht unser Staat respektvoll und anerkennend mit Erzieherinnen und Erziehern um? Das glauben viele. Aber es stimmt nicht. Die Wahrheit ist eher traurig. Denn was ist das für ein Land, das Paketzusteller besser bezahlt, als diejenigen, die seine Kinder auf dem Weg in das selbstbestimmte Leben begleiten? Welches Land treibt die Beschäftigten immer wieder in Arbeitskämpfe und sogar gelegentliche Streiks, bei denen sie auch noch mit schlechtem Gewissen um magere Gehaltszuwächse streiten? Stimmt. Unser Land ist das.
Wenn wir eine starke Jugend haben wollen, müssen wir diejenigen hervorragend ausbilden, gut bezahlen und wertschätzen, die die Grundlagen dafür legen. Wir dürfen ihnen nicht die gesellschaftliche Anerkennung, nicht das notwendige Studium und eben auch nicht die erforderlichen Arbeitsbedingungen verweigern. Aber genau das tut unser Land seit Jahrzehnten.
Es geht leider auch anders. Halbwüchsige auf dem Weg zum Schulausflug im ICE, tobend, lärmend, unangenehm, chaotisch und eine Belästigung für alle anderen Fahrgäste. Und pädagogisches Personal, das längst resigniert hat und völlig abwesend unter Kopfhörern im eigenen Musikgenuss versunken oder ins Bordrestaurant geflüchtet ist.
Fahrgäste müssen sich selbst wehren, den lautstarken Dialog mit rotzfrechen, aggressiven und anmaßenden Teenagern aufnehmen, wenn sie um Ruhe bitten, um einigermaßen ungestört die eigene Reise fortsetzen zu können. Das Zugbegleitpersonal versucht ebenfalls verzweifelt, etwas Ordnung und Ruhe herzustellen und muss sich herablassende Pöbeleien anhören, wird verbal übel attackiert und beschimpft und gibt irgendwann entnervt auf. Feuer frei für ohrenbetäubende Musik, Geschrei und ausgelassene Stimmung. Rücksicht auf andere Fahrgäste – Fehlanzeige. Diese flüchten in andere Abteile, gestresst, fassungslos und ohne Hoffnung darauf, dass irgendjemand eingreifen könnte.
Die Gruppen sind austauschbar, Ost-West, Nord-Süd, alt oder jung, ein einheitliches Bild gibt es nicht. Aber es gibt eben zu viele schlechte Beispiele.
Niemand macht den Lehrerinnen und Lehrern einen Vorwurf, die häufig vor einer Bildungspolitik kapituliert haben, die die »Jeder-macht-was-er-will-auch-dazu-ist-er-nicht-verpflichtet-Konzepte« zur Leitlinie des politischen Handelns gemacht haben. Die meisten von ihnen gehen jahrzehntelang immer wieder mit großem Eifer und hehren Grundsätzen an ihre Arbeit, hoch engagiert und immer von dem Willen geprägt, jungen Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden die erforderlichen Inhalte mitzugeben.
Aber viele sind eben auch rasch desillusioniert, erstickt von Bürokratie und Vorschriften, Berichtspflichten und Sparvorgaben. Und häufig berichten Lehrerinnen und Lehrer nicht nur von den widrigen politischen Bedingungen, die sich in immer rasanteren Intervallen ändern. Richtigerweise beklagen sie mangelnden Respekt, ein Minimum an Anerkennung für ihre Arbeit und zwar von allen Seiten.
Ungestraft durfte sie ein Provinzpolitiker, der es später sogar bis ins Kanzleramt schaffte, öffentlich als »Faule Säcke« beschimpfen. Bei solchen Vorbildern muss man auf Nachahmer nicht lange warten. Und viele unserer superklugen Muttis und Vatis wissen natürlich auch, was für ihre lieben Kleinen das Beste ist und dass die Schule im Zweifel nichts zu melden hat – außer der Vollendung des Abiturs für ihr Wunderkind selbstverständlich.
Erziehung ohne Autorität funktioniert nicht, da muss man kein Pädagoge sein. Wer auch immer das probiert hat, ist gescheitert. Und spätestens jetzt jaulen unsere »Wir-machen-Arbeitsgruppen-und-Workshops-bis-alle-Abitur-haben-Bildungsstrategen« auf, weil es eben auch Verantwortung bedeutet, Autorität auszuüben. Und Kompetenz. Und Geduld. Denn niemand will das autoritäre Gehabe der Nachkriegsjahrzehnte an deutschen Schulen zurückhaben, mit Prügeln, Schreien und Demütigungen. Aber ganz ohne Rückhalt für die Lehrerinnen und Lehrer geht es eben auch nicht. Es ist einigermaßen unerträglich, dass elfjährige Rotzlöffel mit der »Mein-Papa-ist-Anwalt-Masche« immer wieder auftrumpfen und damit auch noch durchkommen können. Wenn eine Lehrerin nicht einmal den Schulranzen einer Dreizehnjährigen nach Waffen durchsuchen darf, ohne sich vorher einen richterlichen Beschluss zu holen, ist das nicht Rechtsstaat, sondern einfach nur bescheuert.
Es ist falsch, wenn der Staat es zulässt, dass die Schulen sämtlicher Autorität beraubt werden. Jede Schulnote, Versetzungs- oder Schulwechselentscheidung, der Speiseplan in der Mensa, die Regeln des Schwimmunterrichts oder das Ziel des Schulausfluges – am Ende müssen sich diejenigen, denen wir die Erziehung unserer Kinder anvertrauen, vor den Gerichten rechtfertigen.
Wenn das so bleibt, darf man sich nicht darüber wundern, dass Lehrerinnen und Lehrer zum Spielball von Arroganz, Aggressivität und völlig falsch verstandener Fürsorge für den Nachwuchs gemacht werden und schnell resignieren.
Wir schreiben das Jahr 2016, die Abiturarbeiten sind gefertigt und die Last der Konzentration und des jahrelangen Lernens fallen von unseren Schützlingen ab. Kurz durchatmen, dann geht’s weiter in die Phase des Studiums, der Berufsausbildung und der nächsten Schritte in die Zukunft.
Doch Halt! Kleine Feiern müssen erlaubt sein. Aber die produzieren dann schnell mal Schlagzeilen. Etwa über eine Straßenschlacht nach einer Abi-Party. Siebzig Polizeibeamte seien nötig gewesen, um die Feier aufzulösen. Mehrmals hätten die Abiturienten versucht, die festgenommenen Mitschüler zu befreien. Die Polizei habe schließlich zehn Personen im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren festgenommen. Gegen die werde nun wegen Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und versuchter Gefangenenbefreiung ermittelt.
Oder über Ausschreitungen in Köln berichtete eine Zeitung. Es sei zu schweren Abi-Krawallen gekommen, bei denen 200 Schüler mit Raketen und Stichwaffen aufeinander losgegangen seien. Auch Alkohol und Drogen seien im Spiel gewesen. Das kenne man schon seit Jahren, habe ein Sprecher der Polizei erklärt. Zwei 18-jährige Schülerinnen hätten schwere Kopfverletzungen erlitten.
Einzelfälle? Mitnichten. Solche Schlagzeilen werden immer wieder in ganz Deutschland produziert. Da geht es mal um Abi-Randale in Überruhr, mal heißt es, dass in Velbert eine Abifeier aus dem Ruder gelaufen sei, inklusive Raub, Reizgas, Schlägerei. Auch in Halle und Magdeburg gab es vergleichbare Vorfälle. Allein die Aufräumarbeiten kosteten die Stadt zwischen 2 500 und 3 000 Euro.
Nein, nicht alle Abiturienten sind so. Aber es gibt sie eben auch, die künftigen Ärzte, Architekten, Politiker, Rechtsanwälte, die schon in jungen Jahren ein Maß an sozialer Verwahrlosung zeigen, das einen schaudern lässt.
In Magdeburg treffen sich nach einem Bericht der Mitteldeutschen Zeitung in jedem Jahr zwischen 500 und 800 Schülerinnen und Schüler in der Stadt, um gemeinsam zum Stadtpark zu ziehen. Im Laufe des Tages komme es dann wie auch in Halle zu einzelnen Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Das scheint mittlerweile normal zu werden.
Ebenso normal wie der Umstand, dass die lieben Kleinen selbstverständlich nichts mit den Müllbergen zu tun haben, die anschließend in den Parks und auf den Straßen liegen. Der Polizeisprecher der Landeshauptstadt zeigt denn auch Verständnis für die Abiturienten. Sie würden nur etwa ein Drittel der gesamten Feierwütigen ausmachen und so auch nur ein Drittel des Mülls produzieren. Dass die Abiturienten nicht den Müll für mehrere Hundert weitere Menschen wegräumen wollen, sei verständlich.
Na, dann geht’s ja. Hunderte feierwütige künftige Eliten ziehen durch die Stadt, setzen den Anlass für eine gewaltige Straßenparty, saufen, prügeln, randalieren – den Müll räumen andere weg.
Und dort, wo es noch gewalttätiger zur Sache ging, soll es dann doch zu härteren Konsequenzen kommen. Da droht dann tatsächlich ein Vermerk im Abiturzeugnis. Na, wenn das nichts ist. Und die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker bemerkte in ihrer Analyse zunächst richtig, dass das Verhalten der Abiturienten offenkundige Unreife und Wohlstandsverwahrlosung zeigt, hat dann aber die eher schlichte Erklärung für das Ausrasten ihrer Stadtkinder parat: Sie könne sich die Randale nur damit erklären, dass die betreffenden Schüler zu Hause nicht oder nicht immer die nötige Zuwendung erführen. Zuwendung, so Frau Reker weiter, sei auch das Aufstellen von Regeln. Was bei diesen verwöhnten, unreifen Randalierern zu Hause läuft, kann man sich unschwer vorstellen, wenn man die Reaktionen der Eltern hört: Vorwürfe gegen die Polizei!
In einer E-Mail an die Beamten, so berichtete die Welt, wirft eine Frau der Polizei vor, nicht früh genug eingeschritten zu sein. Ähnliche Vorwürfe hätten auch andere Eltern geäußert. Die Polizei, sofort im Rechtfertigungsmodus, hatte mit ihren Kräften ausreichend damit zu tun, die rivalisierenden Gruppen voneinander zu trennen.
Ausgesprochen spannend und vielsagend in diesem Zusammenhang ist die Forderung des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die Schulen mögen doch bitte dafür sorgen, dass bei jungen Flüchtlingen Disziplin und die Einhaltung von Regeln durchgesetzt werden. Möglicherweise, so Kauder weiter, seien sie in der Vergangenheit zu nachlässig gewesen. Disziplin für Flüchtlingskinder? Und was machen die anderen?
Zu verzeichnen sind unzählige Experimente von Schulpolitikern, die je nach Koalition und Zeitgeist neue Regeln aufstellen und wieder verwerfen, jahrzehntelang gegen jegliche Autorität von Schule zu Felde ziehen, die Gebäude verkommen und verrotten lassen, Lehrerstellen abbauen und Lehrer demütigen, ihre Einkommen kürzen und das Personal ausbluten lassen. Und wenn erst einmal jeglicher Respekt verloren ist, wenn Autorität auf dem Nullpunkt angekommen ist, werden die Schulen dafür verantwortlich gemacht, dass die Dinge nicht funktionieren.
Was läuft da falsch in der Erziehung vieler junger Menschen, wo wir doch in Deutschland die besten aller Voraussetzungen haben, um für das Leben fit zu machen? Ein reiches Land, kluge Menschen, die in den Lehrerberuf gehen und sich engagiert ihren Aufgaben stellen, eine gute Infrastruktur und freie Meinungskultur. Zumindest theoretisch alles gut. Aber in der Praxis eben nicht.
Einigermaßen fassungslos nimmt die deutsche Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, Milliardeninvestitionen für den Bau und die Sanierung von Schulgebäuden fordert: »Der bauliche Zustand vieler Schulen in Deutschland ist schlicht empörend. Nicht Bankentürme, sondern Schulen müssen Deutschlands Kathedralen werden.« Wie wahr. Und wie wenig realistisch.
Unter tausend Schulleitern in Nordrhein-Westfalen hat der Westdeutsche Rundfunk in einer Umfrage erschreckende Ergebnisse zutage gefördert. Milliarden Euro fehlen, die Schulen verrotten. 85 Prozent, so berichtet die Rheinische Post, sind sanierungsbedürftig. Undichte Fenster, Schimmel, defekte Toiletten und Heizungen sowie Putz, der von der Decke fällt. Betroffen sind alle Schulformen – der Staat geht miserabel mit seinen Schülerinnen und Schülern um, aber das macht er gleichmäßig für alle.
Verantwortlich ist niemand. Der Bund hält sich raus, die Schulen sind Ländersache, auch dann, wenn es um stinkende Toiletten geht. Ist dann die Landesregierung verantwortlich? Das wäre viel zu einfach. Eine ureigene Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung sei der Bau und Erhalt von Schulen – tja, Pech gehabt, wer in einer armen Gemeinde lebt, und davon gibt’s in Nordrhein-Westfalen mehr als genug. Das bleibt also von Gabriels Forderung. Nix mit Milliarden, die Kathedralen bleiben in Frankfurt − die Schulen auf dem Niveau alter Vorstadtkirchen. Banken sind in Deutschland noch immer wichtiger als Schulen oder Kindertagesstätten.
Wie man weitere Unordnung in den Schulalltag bringen kann, haben die Sparkommissare der Politik beim Programm »Wir-sparen-am-Personal-und-alles-wird-gut« bestens gezeigt. Es ist nur ein kleines Beispiel, aber es wirkt seit Jahren: Der alte Hausmeister ist weg. »Facility Management« ist das nicht mehr ganz neue Zauberwort. Einer der dümmsten politischen Leitsätze der Nachkriegszeit, »Privat vor Staat«, hat auch hier zugeschlagen.
Der jahrzehntelang bewährte Hausmeister in den Nachkriegsjahrzehnten war eine geachtete Persönlichkeit an seiner jeweiligen Schule. Es war »seine Schule«. Der Hausmeister reparierte Kleinigkeiten, ohne Rechnungen zu schreiben, er achtete auf den sorgfältigen Umgang mit Mobiliar und Ausstattung, Sauberkeit in den Waschräumen und als Respektsperson reichte häufig schon ein Stirnrunzeln, um allzu laute und aggressive oder gar gewalttätige Schüler auf dem Schulhof zur Räson zu bringen. Und natürlich wohnte er in der Schule oder doch zumindest in der Nähe. Und war nebenbei auch noch der beste Objektschutz für »seine Schule«.
Das geht doch billiger. Das haben wir jetzt. Gleich mehrere Schulen im Schnelldurchgang durch private Firmen, die streng darauf achten, ja keinen unbezahlten Handschlag zu machen. Für die die Schule ein Objekt ist, mit dem sich Geld verdienen lässt. Und je schlechter man die Leute bezahlt, die die Jobs machen, umso mehr Geld bleibt für den Unternehmer.
Gewalt ist an unseren Schulen längst kein Fremdwort mehr. Das Strafgesetzbuch rauf und runter – Raub, Vergewaltigung, Diebstähle aller Art, alle Körperverletzungsdelikte, Sachbeschädigungen. Die Fälle nehmen zu, die Gewalt steigt. Hunderte Delikte schwerer körperlicher Gewalt nur an Berlins Schulen, Jahr für Jahr, das Schulpersonal und auch die Lehrerinnen und Lehrer bleiben als Opfer nicht verschont.
Dagegen muss man doch etwas machen. Richtig, die Reaktion der Regierungen blieb nicht aus. Die Schulen wurden aus der Verpflichtung befreit, derartige Vorfälle zu melden. Folge: Mehr als die Hälfte der Schulen meldeten nichts mehr. Eine ganz besondere Form der Verbrechensbekämpfung. Sonst müsste man sich tatsächlich noch kümmern. Möglicherweise Schulpsychologen einstellen, die mit Gewaltprävention der ausufernden Brutalität entgegentreten. Und die einen Betreuungsschlüssel haben, der eine angemessene Betreuung sicherstellt.
Oder wenigstens vorübergehend Wachdienste, die einigermaßen im Blick haben, wer sich an der Schule aufhält, durch die Flure streift und Schülerinnen belästigt, Handys raubt oder Lehrerinnen und Lehrer angreift.
Früher gab es einen Hausmeister, aber im modernen Deutschland gibt’s dafür kleine und große Unternehmen, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie wollen Geld verdienen, die Schulen sind ihnen wurscht.
Der Staat ist dann mal weg.
Kinder und Jugendliche machen Dinge falsch, sie wissen es oft nicht besser. Oder sie testen Grenzen aus und überschreiten sie versehentlich − oder vorsätzlich. Das ist recht normal. Selbst wenn sie die Grenzen der Strafbarkeit überschreiten, muss dies nicht der Beginn einer kriminellen Karriere bedeuten. Wenn kluges pädagogisches Handeln greift, Eltern, die Schule und alle anderen Beteiligten die Nerven behalten, bleiben diese Vorfälle unerfreuliche Einzelfälle im Kindes- oder Jugendalter.