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Übersetzung aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
ISBN 978-3-492-98277-1
August 2016
© Arne Dahl, 2009
Published by agreement with Salomonsson Agency
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Piper Verlag GmbH, München 2016
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: © o_pas/shutterstock.com
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Die lange Straße lag merkwürdig still da. Im staubigen Sonnendunst schien sie sich bis ins Unendliche zu erstrecken, und in weiter Ferne, genau dort, wo die Straße das Blickfeld verließ, glaubte sie ein leichtes Zittern zu erahnen. Eine Oase, eine Luftspiegelung?
Es war, als befände man sich in einem Paralleluniversum, das völlig verlassen war, einem Universum, das unmittelbar neben der normalen Welt existierte und die gleichen Eigenschaften hatte. Der Unterschied war nur, dass sie hier allein war. Vollkommen allein.
Sie schüttelte das seltsame Gefühl ab und bemühte sich, die Szenerie nüchtern zu betrachten. Es war mitten im Sommer, mitten in den sogenannten Industrieferien. Natürlich war in diesem Monat, in dem traditionellerweise fast alle Schweden Urlaub hatten, weder im Hafen noch im Industriegebiet viel los. Und dass die leichte Sommerbrise den Straßenstaub in eine Dunstwolke verwandelte, war auch nicht außergewöhnlich. Sie spürte sogar, wie sich beim Einatmen eine trockene Schicht auf ihren Gaumen legte, und hoffte, dass sie keinen braunen Speichel im Mundwinkel hatte. Das würde einen schlechten ersten Eindruck machen.
Eigentlich redete sie sich das alles nämlich nur aus Nervosität ein. Dies war ihre Chance. Die Chance ihres Lebens. Sie war lange arbeitslos gewesen, ganz zu schweigen von der Zeit davor. Es waren harte Zeiten für alle, in ihrer Branche aber ganz besonders, vor allem für jene, die nicht viel Arbeitserfahrung oder gute Kontakte hatten. Und am meisten für Leute wie sie, die erst spät ihre Ausbildung gemacht hatte und deren Vergangenheit nicht leicht zu erklären war.
Eigentlich sprach also alles gegen sie. Aber sie war zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden. In die letzte Runde. Jetzt oder nie. Sonst würde sie für den Rest ihres Lebens beim Pflegedienst jobben müssen.
Sie wusste nicht so richtig, wie sie dorthin gekommen war, ob sich die Fata Morgana plötzlich materialisiert hatte, aber jedenfalls stand sie auf einmal vor dem Industriegebäude. Das vertraute, etwas aufdringliche Logo, das sie in den letzten Tagen so oft gesehen hatte, prangte weit oben an der Wand, und darunter stand in einer ziemlich prahlerischen Schrift: »Televisionsproduktionsfirma«. Sagt man das wirklich so?, fragte sie sich kurz, ehe sie hineinging.
Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und kam zu einer verschlossenen Tür, wo das Logo und die Schrift erneut ihre umständliche Botschaft hinausposaunten. Sie hörte ein mechanisches Summen über ihrem Kopf, sah nach oben und starrte etwas zu lange in ein Kameraauge, bevor weiter unten, am Türschloss, ein ähnliches Summen ertönte. Einen Augenblick überlegte sie noch, ob sie wohl braune Mundwinkel hatte, aber das ließ sich ohne Spiegel nicht herausfinden. Dann öffnete sie die Tür und trat ein.
Dahinter erstreckte sich ein fast menschenleeres Großraumbüro. Sie näherte sich der Rezeption und bildete sich ein, man könne ihren Herzschlag hören. Dröhnende, monotone Buschtrommeln, die sie als ewige Verliererin ankündigten.
Eine lethargische Empfangsdame Mitte fünfzig musterte sie kritisch und ohne ein Wort der Begrüßung. Stattdessen hörte sie sich selbst, wie aus großer Entfernung, atemlos hervorpressen:
»Mein Name ist Mikaela Larsson, ich habe einen Termin bei Bo-Åke Svärd.«
Die nach wie vor vollkommen stumme Empfangsdame zog eine ihrer nachgemalten Augenbrauen nach oben und konsultierte einen Terminkalender. Vermutlich ein Bilderbuch, dachte Mikaela verächtlich, und wieder einmal spürte sie plötzlich, wie ihr Selbstvertrauen von jener Wut gestärkt wurde, die sie geschickt hinter ihrem liebenswürdigen Lächeln verbarg.
»Zimmer 104«, sagte die Empfangsdame schließlich und ging an ein Telefon, das gar nicht geklingelt hatte.
Mikaela wollte nicht in dem Zustand der Verwirrung verharren, den die Dame anscheinend aus reiner Langeweile herbeiführte, und machte sich auf die Suche. Sie durchquerte das leere Großraumbüro und erreichte einen Korridor, in dem die Türen weiter auseinanderlagen. Vermutlich residierten hier die Chefs. Auf der ersten Tür stand die Nummer 531, was ihr seltsam vorkam. Dann folgten die Büros 532 und 435. Aber es musste viel passieren, ehe sie mit eingekniffenem Schwanz wieder zu der Empfangsdame zurückkehren würde, und deshalb suchte sie weiter. Die Zimmernummern schienen vollkommen willkürlich verteilt worden zu sein, 600, 154, ja sogar die Nummer 19 gab es.
Irgendwie landete sie am Ende doch vor dem Büro Nummer 104, und dort stand auch tatsächlich der Name Bo-Åke Svärd an der Tür. Sie klopfte an und hörte ein tiefes Brummeln, das man positiv und negativ hätte deuten können. Sie entschied sich für die positive Variante. Jetzt war sie in der richtigen Stimmung dafür. In Vorwärts-Stimmung.
Hinter einem sauberen Schreibtisch, auf dem penible Ordnung herrschte, saß ein braun gebrannter Mann im Anzug, der wie die Empfangsdame in seinen Fünfzigern war. Wahrscheinlich hatte er noch gar keine richtigen Ferien gemacht und seine Bräune stammte nur von einem kurzen Segeltörn in der Ägäis, dachte Mikaela. Die richtige Auszeit käme dann im August auf seiner eigenen Yacht, die langsam und verführerisch zwischen den mondänsten Häfen der schwedischen Westküste kreuzen würde.
Vermutlich sollte ich nicht so denken, dachte sie. Jedenfalls nicht jetzt.
»Mikaela Larsson, nehme ich an?«, fragte der Mann, stand von seinem ergonomischen, spezialangefertigten Designer-Schreibtischstuhl auf und wies auf den einfachen Holzstuhl auf der anderen Seite.
Sie nickte und setzte sich. Der Stuhl war unbequem.
»Schönes Büro«, sagte sie und fühlte sich plötzlich völlig verkrampft. Das ganze Selbstbewusstsein war wieder wie weggeblasen.
»Sie haben da was«, sagte Bo-Åke Svärd und strich sich zur Verdeutlichung mit dem Daumen und dem Zeigefinger über den Mund.
Verwirrt betastete sie ihre Mundwinkel. Anschließend waren ihre Fingerspitzen braun.
»Lassen Sie uns ein bisschen plaudern«, sagte Svärd ins Blaue hinein und lehnte sich zurück. »Haben Sie sich die Sendungen angeschaut, die ich Ihnen geschickt hatte?«
»Ja«, antwortete Mikaela dankbar und wischte sich unauffällig die Hände an der Jeans ab. »›Ghost House‹ ist ein sehr interessantes Format.«
»Na ja«, erwiderte Svärd. »Es war einmal ein sehr interessantes Format. Nachdem die erste Faszination abgeflaut ist, sind die Quoten rapide gesunken. Vor der zweiten Staffel hat der Sender drastisch das Budget gekürzt, aber wir durften trotzdem in einer abgespeckten Variante weitermachen. Leider haben die Zahlen immer weiter abgenommen, bis Ann schließlich ausgestiegen ist. Der Sender war aber der Meinung, unsere Zuschauergrundlage wäre so vielversprechend und ressourcenreich, dass wir grünes Licht für eine weitere Staffel bekommen haben. Allerdings nur, wenn es uns gelingt, die Quoten wieder anzuheben. Sonst wird die Sendung mit sofortiger Wirkung und für immer eingestellt. Sind Sie immer noch interessiert, Mikaela?«
»Ja, natürlich!«, sagte Mikaela mit einem Enthusiasmus, der sie selbst überraschte.
Svärd fuhr fort. »Weil es eine Low-Budget-Produktion ist, ist der Produzent gleichzeitig auch der Moderator. Sie können sicher halbwegs akzeptabel aussehen, das wird die Maske schon hinbiegen. Ich frage mich allerdings, wie Sie es schaffen wollen, den abnehmenden Zuschauertrend umzukehren.«
Wahrscheinlich war das eine Beleidigung, aber Mikaela ignorierte sie und trug stattdessen das vor, was sie viele Stunden lang allein in ihrer Einzimmerwohnung im Vorort auswendig gelernt hatte:
»›Ghost House‹ hat ein großes Potenzial. Trotzdem finde ich, Ann hat eine wichtige Stärke des Formats nicht genutzt, nämlich die schleichende Spannung. Am Ende hatte man das Gefühl, sie würde nur noch zu den heimgesuchten Häusern fahren, um offenzulegen, dass alles nur vorgetäuscht war. Dabei geht es doch um das genaue Gegenteil. Die Täuschung ist der Ausgangspunkt. Erst wenn sich herausstellt, dass etwas keine Täuschung ist, wird es doch richtig spannend.«
»Guter Einwand«, sagte Svärd nachdenklich. »Und ich muss gestehen, dass Sie meine bevorzugte Kandidatin für diesen Job sind, Mikaela. Ich habe nur noch eine Frage.«
Nanu, sie war sogar bevorzugte Kandidatin. Doch die Freude darüber mischte sich mit der Furcht vor der Frage, die sie bereits vorausahnte. Apropos Auswendiglernen: In diesem Fall hatte sie sogar zwei Antworten zur Auswahl, eine elaborierte erlogene Version, und eine, die ganz einfach die Wahrheit war. Und selbst in dieser Sekunde war sie sich noch nicht sicher, für welche sie sich entscheiden sollte.
»Es gibt da einige Jahre in Ihrem Lebenslauf, Mikaela«, fuhr Svärd fort und blätterte in den Papieren, die er vor sich hatte. »Um genau zu sein, eine Lücke von drei Jahren, die Sie nicht weiter ausführen. Was haben Sie eigentlich gemacht, bevor Sie die Ausbildung zur Produzentin gemacht haben?«
In der Welt herumgereist. Eindrücke und Erfahrungen gesammelt, um eine hervorragende TV-Produzentin zu werden. Interessante Menschen aus allen Kulturen kennengelernt, ein halbes Jahr in einem buddhistischen Kloster in Nepal gewesen. Ashtanga-Yoga in Rishikesh gemacht, Mandarin in Peking gelernt, viel über jenes Asien erfahren, das einmal unsere Zukunft sein wird. Ja, all das hätte sie erzählen können. Sie blickte ihm tief in die Augen und sah, dass er es ihr sogar abgekauft hätte. Er hätte die Lüge akzeptiert, wenn nicht sogar daran geglaubt. Und dennoch entschied sie sich für die Wahrheit und wunderte sich selbst darüber.
»Ich war in einer freikirchlichen Sekte. Zwei Jahre in der Sekte, ein Jahr Deprogrammierung. Meine finsteren Jahre.«
Bo-Åke Svärd runzelte kurz die Stirn. Die Veränderung dauerte nur einen Sekundenbruchteil, dann war das gebräunte Gesicht wieder so glatt, als hätte er nie eine Miene verzogen. Für einen Moment saß er still da, ehe er ausbrach: »Aber das ist ja geradezu ideal! Sie besitzen die Fähigkeit zur extremen Ekstase, wissen aber auch, wie man sich wieder aus diesem Zustand befreit. Das ist doch viel besser als diese ziellosen Rucksackreisen.«