Bent Ohle, 1973 in Wolfenbüttel geboren, wuchs in Braunschweig auf und studierte zunächst in Osnabrück, bis er an die Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg wechselte, wo er als Film- und Fernsehdramaturg seinen Abschluss machte. Heute lebt er mit seiner Familie wieder in Braunschweig.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2016 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Michael Monzer
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-132-1
Originalausgabe
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Für Björn
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke
Teil 1
Das Wittern der Beute
1
Der Tag, an dem alles begann, der das Leben von Tom und seiner Familie schlagartig veränderte, war trocken und heiß. Die Sonne hing gleißend über den Baumkronen und erwärmte die Kiefern, sodass diese ihren würzigen Duft verströmten. Im Schatten des Waldes war es dunkler und etwas kühler. Lichtsprenkel lagen auf dem weichen, von kupferfarbenen Kiefernnadeln bedeckten Boden. Vögel zwitscherten. Und ein stetes Rauschen in der Ferne signalisierte, dass dort irgendwo die Autobahn lag.
Die Hütte stand am Ende eines kaum erkennbaren Pfades, der eigentlich nur aus zwei parallelen Fahrrillen, eingedrückt in den Nadelteppich, bestand. In den Sonnenstrahlen, die das kleine Häuschen erreichten, schwirrten Fliegen und manchmal auch eine Wespe oder eine Biene.
In der Hütte war es dunkel, nur vereinzelt drang Tageslicht durch die Ritzen der Holzverkleidung. Feiner Staub schwebte in der Luft. Trockene, zerriebene Erde.
Die beiden lagen am Boden. Einander zugewandt, seitlich zusammengerollt wie Embryos. Ihre Hände waren mit Kabeln auf ihre Rücken gefesselt. Ganz still lagen sie da, doch sie waren hellwach. Die Angst ließ sie nicht müde werden. Mit Blicken klammerten sie sich aneinander, weil ihre Hände es nicht vermochten.
Vielleicht war es eine instinktive Haltung der Zwillinge, die vor ihrer Geburt im Bauch ihrer Mutter ebenso so nah beieinandergelegen hatten.
Sie waren schmutzig und verschwitzt. Tom war es, der das Band schließlich löste und sich unter Schmerzen aufsetzte. Staub rieselte aus seinen Haaren, während er sich umsah. Neben ihnen lagen eine leere Wasserflasche mit Strohhalm und ein angebissenes Brot, auf dem Fliegen umherkrabbelten. Eine schwere Holztür versperrte ihnen den Weg in die Freiheit, und Tom registrierte, dass es keine Möglichkeit zur Flucht gab.
Leise fing Tanja an zu weinen, und Tom blickte betreten in den Sand, weil er wusste, dass er ihr nicht helfen und sie nicht trösten konnte.
Auf einmal vernahmen sie das Geräusch eines sich nähernden Autos. In panischer Angst drängte sich Tanja an ihren Bruder, der trotz der Fesseln versuchte, sie abzuschirmen. Wie erstarrt schauten sie zur Tür, als der Motor erstarb, und hörten, wie das Schloss entriegelt wurde.
Die Tür wurde aufgestoßen. Victors kalte, graue Augen mit den kleinen Pupillen erfassten blitzschnell jede Kleinigkeit im Raum und nahmen jede Veränderung wahr. Dann grinste er, und seine Ohren schoben sich ein Stück nach oben. Er hatte weiße Zähne, sie standen aber weit auseinander, sodass er ihnen wie ein Raubtier vorkam, wenn er sie entblößte. Er hatte tiefschwarzes, an den Seiten kurz rasiertes Haar. Er trug ein schwarzes langärmeliges Shirt und schwarze Jeans. In seinem Rücken standen Lara und Andy, die ihm über die Schultern stierten.
Langsam setzte Victor sich in Bewegung und ging auf die Geschwister zu, die zitternd im Staub hockten.
»Jetzt geben wir euren Eltern mal Bescheid«, sagte er, bevor er sich auf ein Knie niederließ und die Zwillinge eindringlich betrachtete. Dann riss er Tom von seiner Schwester weg. Tanja begann zu weinen, und Tom sah ihn hasserfüllt an, während er versuchte, nicht umzukippen.
»Dieser Blick gefällt mir nicht«, fauchte Victor und drohte Tom mit dem Zeigefinger.
Tom spuckte vor sich in den Staub.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte Victor ein kleines Messer aus seinem Gürtel gezogen und stürzte sich auf Tom. Mit einer schnellen Handbewegung schnitt er ihm in die Augenbraue. Sofort klaffte die Wunde auf, und Blut quoll heraus, das Tom in die Augen lief.
»So ein Blick kann dich dein Auge kosten, Kleiner. Versuch das nicht noch mal.«
Tom, der mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte, seine Schulter gegen seine verletzte Augenbraue zu drücken, antwortete nicht. Tanja blickte ängstlich zu ihrem Bruder, als Victor sich zu ihr umdrehte. Ein teuflisches Funkeln blitzte in seinen Augen.
»So, und nun zu dir.«
Er strich ihr mit der blutigen Klinge über die Wange und fuhr langsam an ihrem Hals herab, bis er am Saum ihres T-Shirt-Ausschnitts innehielt. Tanja versuchte, ihr panisches Atmen zu unterdrücken. Mit weit aufgerissen Augen wartete sie auf seinen nächsten Schritt. Würde er ihr das T-Shirt zerschneiden? Und was folgte dann?
»Sehr hübsch bist du, wirklich sehr hübsch«, säuselte er. »Mal sehen, wie viel deine Schönheit deinen Eltern wert ist.« Er nahm die Klinge von ihrer Brust und stand auf. »Ihr werdet euren Eltern jetzt ein paar Worte sagen können.«
Victor bedeutete Andy mit einer Kopfbewegung, dass er an der Reihe war. Andy holte eine kleine Videocam aus der Innentasche seiner schwarzen Lederjacke und stellte sich vor die beiden Geiseln.
»Und jetzt mal schön in die Kamera schauen, ihr beiden.«
Im Hintergrund flüsterte Victor Lara etwas ins Ohr und ging nach draußen.
Tanja und Tom brachten kein Wort heraus. Andys Erscheinung – er war ein bärtiger, muskulöser Riese mit langen Haaren und wildem Bart – war beängstigend genug, um sie erstarren zu lassen. Keiner der beiden wollte etwas Falsches tun.
Andy klappte den Bildschirm der Kamera wieder ein. Die Aufnahme war bereits beendet. Lara trat an seine Seite und blieb dort einen Moment lang unbewegt stehen, ehe sie auf Tom zuging, sich vor ihn hockte und ihm mit einem Taschentuch das Blut aus dem Auge wischte.
»Halt still«, flüsterte sie.
»Schluss damit!«, rief Victor von draußen, und Lara stand augenblicklich wieder auf ihren Füßen und zerknüllte das Tuch in ihrer Faust. »Wir fahren.«
Ohne ein weiteres Wort verließen sie die Hütte und verriegelten sie von außen. Türen klappten. Tom und Tanja konnten das Auto davonfahren hören.
Jetzt erst trauten sie sich, durchzuatmen und sich wieder zu bewegen, und Tanja robbte zu ihrem Bruder.
»Ist es schlimm?«, fragte sie.
Tom schüttelte mit zusammengekniffenem Auge den Kopf.
»Dein Gesicht ist voller Blut.«
»Ist schon gut«, presste Tom hervor.
»Was sollen wir jetzt tun?« Das kam zaghaft, fast flüsternd, auch wenn ihre Peiniger längst fort waren.
»Sie werden Mama und Papa das Video schicken und wiederkommen«, meinte Tom. »Dann kommen wir hier raus, oder …«
»Oder?«
Er blickte seiner Schwester tief in die Augen.
»Oder eben nicht.«
»Sie werden uns so oder so umbringen«, stellte Tanja schicksalsergeben fest. »Wir haben ihre Gesichter gesehen und könnten sie wiedererkennen, wenn wir freikämen.«
Tom nickte nur und öffnete vorsichtig das vom langsam gerinnenden Blut dunkelrot schimmernde Auge. Blinzelnd sah er sich um. Bis auf die Essensreste und die Trinkflasche gab es hier nichts, was sie erreichen, nichts, womit sie sich hätten befreien können. Er rutschte rückwärts auf die Flasche zu, sodass er sie mit seinen auf den Rücken gebundenen Händen greifen konnte.
»Was machst du?«
»Wir müssen hier raus. Vielleicht kann ich die Flasche zerbrechen.«
Er steckte einen Zeigefinger in die Öffnung der Flasche und schlug sie so immer wieder auf den Boden. Doch das Glas hielt. Der Boden war zu weich. Tanja scharrte mit ihren Füßen im Staub.
»Hier! Hier ist ein Stein im Boden.«
Tom rückte näher heran und positionierte sich so, dass er die Flasche auf den Stein schlagen konnte. Es gab ein helles »Kling!«, fast wie der Schlag eines Hammers auf einen Amboss, doch die Flasche blieb heil. Tom veränderte den Winkel und ließ die Flasche mit aller Kraft auf den Stein niedersausen. Wieder erklang derselbe Ton, diesmal mit einem knackenden Nebengeräusch.
»Sie hat einen Sprung, mach weiter«, rief Tanja.
Tom knallte die Flasche erneut auf den Stein, und sie zerbrach in zwei Teile.
Tom blickte hinter sich und nahm den Flaschenhals mit ungefähr vier Zentimetern Bauch und einer schaufelartigen, spitzen Ausbuchtung daran in die Hand.
»Damit kann ich die Fesseln durchkriegen«, sagte er voller Eifer und begann, mit der scharfen Kante am Kabel zu sägen.
»Du blutest schon«, sagte Tanja besorgt. »Pass auf.«
»Geht nicht anders.« Tom stöhnte weniger vor Schmerz als vor Anstrengung. Er schwitzte. Sein ganzer Körper war angespannt, und die Muskeln in seinen Unterarmen übersäuerten. Doch dann sprangen seine Hände mit einem Ruck auseinander, und er starrte sie einen Augenblick lang ungläubig an, so als gehörten sie nicht zu ihm.
»Du hast es«, flüsterte seine Schwester den Tränen nahe.
Tom verlor keine Zeit und machte sich sofort daran, auch Tanjas Fesseln zu zerschneiden. Das dauerte nicht lang, und das Erste, was sie taten, war, sich in die Arme zu fallen, ehe sie auf unsicheren Beinen zur Tür liefen. Doch nach dem ersten Rütteln und einem Tritt von Tom stellten sie schnell fest, dass sie dieses Schloss nicht so einfach überwinden würden. Tom fasste die Bretter der Seitenwände der Hütte ins Auge und untersuchte sie auf Schwachstellen.
»Hier«, rief er, »hier unten könnte es klappen.« Er hatte sich auf die Knie niedergelassen und tastete mit den Fingern am unteren Ende der Bretter. Sie waren durch die Witterung weich und durch die anhaltende Hitze im Sommer brüchig geworden. Er konnte einzelne Fasern davon abbrechen.
»Versuch’s hiermit«, meinte Tanja und hielt ihm den abgebrochenen Flaschenhals hin. Mit der Spitze der Bruchkante hieb Tom in das poröse Holz und hackte große Stücke heraus. Als es nicht mehr weiterging, rammte Tom das Glas in den Boden und begann zu graben. Staub wirbelte auf, und eine gelbliche Wolke erhob sich träge. Tanja half mit bloßen Händen. Wie wild gruben sie, um ihren Entführern zu entkommen und in die Freiheit zu gelangen. Doch der Boden war hart und von Wurzeln durchsetzt. Es dauerte Stunden, in denen sie sich immer wieder abwechselten und in der einsetzenden Dunkelheit schließlich erschöpft aufgeben mussten. Sie schliefen ein, wo sie gearbeitet hatten. Mit dem angefangenen Tunnel zwischen sich.
Tom wachte als Erster wieder auf. Es musste früh am Morgen sein. Die Luft drang kühl durch das Loch ins Innere der Hütte, und das erste Licht dämmerte bläulich. Sie hatten viel zu lang geschlafen. Jetzt durften sie keine kostbare Sekunde mehr vergeuden. Tom legte los. Hacken, stoßen, ziehen und reißen. Tanja half ihm, kaum, dass sie die Augen geöffnet hatte.
Als die Sonne hoch und heiß über der Hütte stand, hatten sie einen kleinen Tunnel unter dem weggebrochenen Holz gegraben, aus dem lose Wurzelstränge herauswuchsen wie Drähte. Sie wollten gerade testen, ob er schon groß genug war, als sie mit einem Mal in ihrer Bewegung einfroren.
»Hast du das gehört?«, wisperte Tanja.
»Ja.«
Sie lauschten und vernahmen das langsam lauter werdende Geräusch eines Motors. Aber konnte das sein? Konnte Victor so schnell schon wieder zurück sein? Wie viel Zeit war vergangen?
»Schnell, kriech durch, mach schon«, zischte Tanja und schob ihren Bruder in die Grube. Tom machte sich ganz lang und krabbelte eilig hindurch. Die ausgefransten Holzlatten kratzen ihm über den Rücken und zerrissen sein T-Shirt, aber er arbeitete sich unbeirrt weiter vor.
»Schnell, Tom, schnell«, piepste Tanja panisch und schob und drückte.
Tom hatte es geschafft, er war auf der anderen Seite angekommen. Es war die Rückseite der Hütte, sodass Victor und seine Komplizen ihn nicht sehen konnten. Er musste nur noch seine Schwester herausziehen und dann so schnell wie möglich mit ihr verschwinden. Er steckte seine Arme in das Loch.
»Komm, Tanja, komm!«
Er bekam ihre Hände zu fassen und zog. Tanjas Kopf war schon zu sehen, da hörte er die Autotür zuschlagen. Schritte näherten sich der Hütte.
»Los!«, drängte er.
Doch Tanja bewegte sich nicht weiter.
»Ich schaffe es nicht, sie sind schon da. Gott, sie werden uns umbringen«, flüsterte sie.
»Mach schon«, forderte er, doch er zog vergeblich an ihren Händen.
»Ich kann nicht, es geht nicht. Lauf, Tom! Lauf und hol Hilfe.«
»Tanja«, rief Tom verzweifelt, doch sie drückte nur seine Hände ganz fest.
Ein letztes Mal. Dann zog sie sich zurück.
»Ich liebe dich. Jetzt lauf.«
Tom konnte es nicht glauben. Er blickte geschockt auf seine leeren Hände und setzte sich erst wieder in Bewegung, als er das Geräusch des Schlosses hörte, das aufgesperrt wurde.
»Ich komme zurück und hol dich da raus. Ich verspreche es dir.«
Er sprang auf und lief los. Lief, so schnell er konnte. Durch sein hektisches Atmen hindurch hörte er wie aus weiter Entfernung das Knacken der Äste unter seinen Füßen und spürte kaum, wie ihm die Zweige ins Gesicht schlugen. Womöglich verfolgten sie ihn bereits, doch Tom wollte sich nicht umdrehen, wollte keine Zeit verlieren, er rannte und rannte. Nach minutenlangem Laufen durch den Kiefernwald erreichte er endlich einen einsamen Weg und hörte irgendwo links von sich das Rauschen der Autobahn. Seine Lungen brannten, seine Beine waren zittrig und schwach. Doch er musste weiter. Für seine Schwester. Er musste Hilfe holen. Er riskierte einen kurzen Blick über die Schulter, doch er konnte niemanden sehen. Also nahm er seine Beine wieder in die Hand und folgte dem Geräusch der Autobahn.
Nach ungefähr sechshundert Metern wurde der Pfad immer schmaler und zugewachsener. Und am Ende entdeckte Tom, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte. Er war in eine Sackgasse geraten, denn als er die Straße fast erreicht hatte, wurde er unversehens von einem hohen Zaun gestoppt, hinter dem eine vierspurige Autobahn verlief. Er krallte sich in die Maschen des Drahtgeflechts und rang nach Atem. Ein weiterer schneller Blick über die Schulter, aber da war niemand.
Tom schätzte die Höhe des Zauns auf einen Meter achtzig oder zwei Meter. Zurücklaufen konnte er nicht, das wäre ein Risiko, das er nicht eingehen durfte. Er musste sich am Zaun entlangarbeiten, bis er einen Ausweg fand, oder er musste hinüberklettern.
Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, was sie jetzt wohl mit seiner Schwester machen würden, wie sie sie für ihren Fluchtversuch bestrafen würden. Dann setzte er seine Fußspitze ins Drahtgeflecht und kletterte den Zaun empor. Er hievte sich über die obere Kante und fiel auf der anderen Seite auf einen Grünstreifen. Hier rasten die Autos beängstigend nah und schnell an ihm vorbei. Er spürte den Fahrtwind, hörte das Heulen der Motoren. Trotzdem wagte er sich bis zum Standstreifen vor und begann zu winken. Jemand musste anhalten. Gott, er hoffte so inständig, dass jemand anhielt.
2
Es war totenstill im Haus. Draußen, in der sommerlichen, lichtdurchfluteten Luft, sangen die Vögel, doch nach drinnen schien kein einziges Geräusch vorzudringen. Es herrschte eine drückende Atmosphäre. Wie eine dunkle Gewitterwolke, die mitten im Raum schwebte.
Kurt Weinmann und seine Frau Elisabeth saßen nebeneinander auf dem ledernen Sofa in ihrem riesigen Wohnzimmer. Sie wirkten klein und verloren. Zusammengesackt hockten sie da und starrten auf das Telefon auf dem marmornen Couchtisch. Ihnen gegenüber saßen unbeweglich wie Schaufensterpuppen Hauptkommissar Kalisch und sein Kollege Oberkommissar Lehmann. Zwei Techniker, Greuner und Petersen, hatten Laptops aufgebaut, um den Anruf zurückzuverfolgen.
Weinmann schob seinen Hemdsärmel zurück und schaute auf das Ziffernblatt seiner goldenen Rolex. Es war eine Minute vor zehn. Der Sekundenzeiger rückte gerade auf die Elf vor. Nur noch fünf Sekunden. Er konnte die Anspannung kaum noch aushalten. Und seiner Frau ging es nicht anders. Er ließ seine Hand sinken und heftete den Blick wieder auf das Telefon. Als es losschrillte, fuhren alle erschrocken zusammen. Weinmann holte über einen Blickwechsel mit Kalisch die Erlaubnis ein, dranzugehen, und nahm das Gespräch entgegen.
»Ja?«
»Sehen Sie vor die Tür«, sagte eine Stimme, und schon wurde wieder aufgelegt.
Kalisch und Lehmann, die über Kopfhörer mitgehört hatten, sprangen auf.
»Was ist los?«, fragte Elisabeth und sah ihren Mann flehend an.
»Ich soll vor die Tür sehen.« Er erhob sich.
Kalisch zog seine Dienstwaffe und bedeutete Weinmann, hinter ihm zu bleiben. Vorsichtig näherten sie sich der Haustür und spähten dabei durch das danebenliegende Fenster, doch nichts war zu sehen. Kalisch öffnete und lugte hinaus. Niemand da. Der weitläufige Vorgarten war verwaist.
»Nichts«, sagte Kalisch und zog die Tür weiter auf, behielt die Waffe jedoch in der Hand.
Weinmann trat vor und sah sich um. Es war nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches zu erkennen. »Vielleicht vor der Gartentür«, flüsterte er.
Kalisch dachte noch darüber nach, da drückte sich Elisabeth von hinten an ihren Mann. »Der Abtreter«, hauchte sie, und alle lenkten ihren Blick auf die Matte vor der Tür. »Welcome« stand darauf zu lesen. »Er liegt falsch herum.«
Normalerweise stand die Schrift für den Ankommenden lesbar, jetzt war sie zum Haus hin ausgerichtet. Kalisch ging in die Knie und hob die Matte vorsichtig an. Als er darunter etwas entdeckte, schlug er sie zurück. Vor ihnen lag eine CD oder DVD in einer Papierhülle.
Minuten später standen sie alle um den Esstisch herum, während Greuner die CD in einen der Laptops einlegte. Es rumpelte im Laufwerk, dann folgte ein lauter werdendes Sirren, und der Mediaplayer öffnete sich.
»Es ist ein Video«, sagte Greuner.
Elisabeth Weinmann klammerte sich förmlich an ihren Mann. Sie ließ einen unterdrückten Schrei hören, als das Bild erschien. Tom und Tanja kauerten irgendwo am Boden. Schmutzig, blutig und verwirrt. Eine verzerrte Stimme erklang, ein Voice-over, nachträglich eingesprochen.
»Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, um drei Millionen Euro zu besorgen. Das Geld werden Sie in kleinen, nicht nummerierten Scheinen in einem Koffer verstauen. Diesen Koffer werden Sie um Punkt zehn Uhr an der Oil-Tankstelle an der B 5 zwischen Koldenbüttel und Husum an der Tanksäule Nummer 7 deponieren. Danach entfernen Sie sich. Wir beobachten Sie. Wenn Sie die Polizei einschalten, sterben Ihre Kinder. Wenn Sender oder Farbbomben im Koffer sind, sterben Ihre Kinder. Sollte nicht der volle Betrag im Koffer sein, sterben Ihre Kinder. Sollten Sie hingegen alle meine Anweisungen befolgen, werde ich Ihre Kinder, nachdem sich das Geld in meinem Besitz befindet, innerhalb von drei Tagen wieder freilassen. Den genauen Ort werde ich Ihnen dann bekanntgeben.«
Damit endete das Video, und der Bildschirm wurde schwarz. Für einen Moment mochte sich niemand rühren. Elisabeth Weinmann liefen stumm die Tränen über die Wangen. Ihr Mann sog die Luft mit einem zitternden Röcheln ein. Sein Kinn zuckte. Kalisch schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln.
»Wir werden Ihre Kinder freibekommen«, sagte er so zuversichtlich, dass er selbst etwas erstaunt darüber war. Aber genau das war sein erklärtes Ziel. Einen solchen Fall hatte er bis jetzt noch nicht bearbeiten müssen, und er wollte gut sein. Er wollte diesen Kindern und ihren Eltern helfen. Er durfte nicht scheitern. »Wir haben Möglichkeiten, mit solchen Situationen umzugehen.«
Weinmann sah ihn an wie ein hilfloses Kind, das gerade einen Alptraum durchlebt hat und nun von den herbeigeeilten Eltern hört, dass ihm nichts passieren kann.
»Vertrauen Sie uns«, sagte Kalisch abschließend und hoffte, dass er dem Anspruch an sich selbst gerecht werden konnte.
3
Der weiße Sprinter fuhr auf der B 5 Richtung Süden. Ein Aufkleber an der Seite wies ihn als Fahrzeug der Heizungsbaufirma »Sander« aus. Der Transporter bog auf die Tankstelle ab und stellte sich auf einen Parkplatz an der rechten Seite des Areals. Kalisch stieg aus. Er trug einen Blaumann und ein kariertes Flanellhemd. Auf dem Weg zum Eingang beäugte er die Fahrer der anderen Fahrzeuge, die hier tankten. Gegenüber füllte ein Mann Kartoffelsäcke in einen hölzernen Verkaufswagen. Es war Lehmann. Kalisch nickte ihm zu, bevor er durch die Schiebetür in den Verkaufsraum ging.
»Einen Kaffee und ein Croissant, bitte.«
Der Verkäufer bearbeitete seine Bestellung, und Kalisch nahm den Teller und eine dampfende Tasse entgegen. Ein Tisch war besetzt, eine Dreiergruppe Handwerker nahm daran ihr Frühstück ein. Weiter links suchte ein Mann mit Zündschlüssel in der Hand im Kühlregal herum. Kalisch stellte sich an einen der Stehtische, sodass er die Zapfsäulen und den Eingang zur Toilette im Blick hatte. Er schaute auf seine Uhr. Es war Viertel vor zehn.
* * *
Weinmann fuhr in seinem Mercedes SLK über die Landstraße. Schweiß perlte auf seiner Stirn und seiner Oberlippe. Nervös warf er einen Blick auf den Beifahrersitz. Dort lag der schwarze Koffer, gefüllt mit drei Millionen Euro, die seine Kinder freikaufen sollten. Wenn dieser Plan bloß funktionieren würde. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, entgegen der Forderung der Entführer mit der Polizei zu kooperieren. Was, wenn sie ihn schon länger beobachteten? Was, wenn sie durchschauten, was die Polizei plante? Aber andererseits konnte er den Entführern unmöglich vertrauen. Es blieb ihm nichts anderes übrig.
Es war wieder ein heißer Tag, und Weinmann musste die Blende gegen die auf die Windschutzscheibe scheinende Sonne herunterklappen. Er sah in den Rückspiegel. Zwei Wagen hinter ihm folgten ihm zwei Beamte in Zivil in einem blauen Passat. Zuerst hatte er es gar nicht wissen wollen, doch jetzt, so allein im Wagen, gab es ihm ein Gefühl von Sicherheit.
Er folgte der leichten Rechtskurve, die auf die gerade Strecke führen würde, an der die Tankstelle lag. Sie war noch knapp einen Kilometer entfernt. Da leuchtete vor ihm ein rotes Licht auf, und Weinmann blieb fast das Herz stehen. Die Schranken an dem kleinen Bahnübergang senkten sich langsam in die Waagerechte. Gehetzt blickte er auf die Uhr. Sieben Minuten vor zehn. Er spielte mit dem Gedanken, einfach zu beschleunigen und noch über die Gleise zu rasen. Doch es war zu spät. Und die Zivilbeamten hinter ihm hätten nicht mehr folgen können.
»Oh, nein, nein, nein! Verdammt!« Verzweifelt schlug er aufs Lenkrad und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Warum hatten sie das nicht einkalkuliert?
Im Rückspiegel wollte er kontrollieren, was die beiden Polizisten hinter ihm machten, doch er konnte nur den Mann auf dem Beifahrersitz sehen, der zweite war durch die Frau im Wagen hinter ihm verdeckt.
Ein vierter Wagen rollte ans Ende der Warteschlange und hielt hinter dem blauen Passat. Zwei Männer saßen darin. Kaum stand der Wagen, setzten sie sich schwarze Motorradhelme auf und stiegen aus. Der Fahrer, ein kräftiger Mann, unter dessen Helm lange, zu einem Zopf zusammengebundene Haare hervorlugten, überquerte die Straße, der andere ging zielstrebig zum Wagen der Polizisten und klopfte an die Scheibe. Der Fahrer ließ das Fenster herunter und wollte gerade eine Frage stellen, da zog der Mann eine schallgedämpfte Pistole und erschoss beide Insassen.
Weinmann hatte das durch den Außenspiegel verfolgt. Jetzt kam der Mann mit der Pistole auf ihn zu. Diesmal klopfte er nicht. Er riss die Tür auf. Weinmann fuhr entsetzt zurück. Im spiegelnden Visier des Helmes konnte er nur ein verzerrtes Abbild seiner selbst erkennen.
»Sie haben etwas, das mir gehört«, herrschte der Mann ihn mit durch den Helm gedämpfter Stimme an.
Weinmann stand unter Schock, aber er begriff auch, dass der Plan soeben eine Wendung erfahren hatte – oder dass es vonseiten der Entführer nie anders geplant gewesen war. Mit zitternden Händen übergab er den Koffer mit dem Lösegeld.
»Was hatte ich in Bezug auf die Polizei gesagt?«, zischte der Entführer, entriss ihm den Koffer und ging zu seinem Wagen zurück. Sein langhaariger Kompagnon hatte inzwischen auf der anderen Straßenseite ein Motorrad aus dem Gebüsch zwischen den Bäumen hervorgeholt und auf die Fahrbahn geschoben.
Weinmann stürzte aus seinem Auto. Sein Kopf war völlig leer, es war nichts mehr darin bis auf den einen Gedanken, dass er denjenigen, der das Geld hatte und damit die letzte Verbindung zu seinem Sohn und seiner Tochter darstellte, nicht einfach gehen lassen konnte. Er eilte dem Killer hinterher. Der bekam ein Zeichen von seinem Freund und drehte sich um. Er hob seine Waffe.
»Bitte«, flehte Weinmann im Näherkommen, doch der Mann drückte ohne zu zögern ab.
Weinmann stürzte zu Boden und schlug hart auf den Asphalt auf. Erst als er bereits einige Sekunden am Boden gelegen und die Einschusswunde in seinem Bein gehalten hatte, begann er zu schreien. Er schrie vor Schmerz und aus Angst, seine Kinder nie wieder sehen zu können.
»Bitte lassen Sie meine Kinder gehen!«, rief er verzweifelt. Doch der Kerl stieg nur unbeirrt in seinen Wagen, scherte aus und fuhr davon.
Der andere heftete sich mit quietschenden Reifen an seine Fersen, während Weinmann blutend auf der Straße zurückblieb.
* * *
Kalisch wurde langsam ungeduldig. Er hatte nicht einen Schluck von seinem Kaffee getrunken, geschweige denn etwas gegessen. Er hatte nur unentwegt in der Tasse herumgerührt und dabei auf die Uhr gestarrt. Es war fünf Minuten nach zehn, und niemand war aufgetaucht. Er versuchte, die beiden Beamten im Wagen hinter Weinmann zu erreichen, doch die gingen nicht ans Telefon. Er wollte ihnen noch zwei Minuten Zeit geben, als sein Handy klingelte. Es war die Zentrale.
»Ja?«, rief er so laut, dass die Handwerker sich zu ihm umdrehten.
»Wir haben gerade eine Meldung hereinbekommen, dass es eine Schießerei am Bahnübergang einen Kilometer nördlich der Tankstelle gegeben haben soll«, sagte eine Stimme.
»Scheiße«, fluchte Kalisch und rannte hinaus. »Schickt den Hubschrauber los. Habt ihr eine Täterbeschreibung?« Er winkte Lehmann von der anderen Seite zu sich herüber und lief zu seinem Sprinter.
»Zwei Männer mit Motorradhelmen. Der eine flüchtete in einem dunklen Wagen, der andere auf einem Motorrad.«
Kalisch riss die Fahrertür auf und sprang auf den Sitz. Er startete den Motor und fuhr bis nach vorn zur Tankstellenauffahrt, wo er Lehmann auflas und dann vom Gelände brauste.
Die Schranken waren zwar wieder geöffnet, doch die Autoschlangen auf beiden Seiten bewegten sich nicht. Mehrere Personen befanden sich auf der Straße, teils Schaulustige, teils Helfer, und ein Mann lag am Boden. Einige Autofahrer hupten, Männer schrien und eine Frau weinte hysterisch. Kalisch fuhr den Sprinter bis direkt vor den Bahnübergang und lief mit Lehmann zu der Menschentraube, die sich um den Verletzten gebildet hatte. Er erkannte Weinmann auf Anhieb und wusste, dass es schiefgelaufen war.
»Wo sind unsere Männer?«, fragte er Lehmann, der daraufhin weiterlief und in den blauen Passat blickte. Während Kalisch sich über Weinmann beugte, sah er, wie sein Kollege förmlich zurückprallte. Seine Reaktion sagte alles. Sie waren tot. In der Ferne vernahm man die Sirene eines Krankenwagens, und weit über ihren Köpfen näherte sich der angeforderte Hubschrauber. Es war aus dem Ruder gelaufen.
Lehmann kam mit hängenden Schultern zurück. Er war bleich wie ein Tuch und brachte kein einziges Wort heraus.
Kalisch stand auf und blickte prüfend in den Himmel. »Ich hab’s vermasselt. Der Mann wird seine Kinder nicht mehr lebend wiedersehen. Und es ist meine Schuld.«
Er hatte das ganz leise gesagt in all dem Lärm um sie herum, dennoch war er sich sicher, dass Lehmann ihn gehört hatte. Doch auch darauf kam keine Antwort von ihm.
* * *
Victor war in die Rantrumer Straße eingebogen, die rechts von der Bundestraße abging, und raste zwischen Feldern hindurch. Wenn er nach links blickte, konnte er Andy auf dem Motorrad erkennen, der in Richtung Hattstedt unterwegs war. Nach der ersten Kurve gab Victor Gas und rauschte mit fast hundert Kilometern pro Stunde über den Weg, bis er an einer verlassenen Gabelung anhielt und die dort wartende Lara aufnahm.
»Habt ihr’s?«, fragte sie ängstlich und schielte wieder in die Richtung, aus der sich der Hubschrauber langsam dem Tatort näherte.
Victor zog den Helm vom Kopf und öffnete den Koffer. Da war es. Das ganze Geld, fein gebündelt und akkurat gestapelt.
»Wow«, entfuhr es Lara.
»Los, pack es um«, wies er sie an.
Lara holte einen alten Sportrucksack aus einem Jutesack und warf eilig die Geldbündel hinein, ehe sie den Koffer in den Sack warf und diesen wiederum in den Entwässerungsgraben. Dann lief sie um die Motorhaube herum zur Beifahrerseite und stieg ein.
Und weiter ging ihre Flucht.
In Schwabstedt wechselten sie den Wagen und fuhren weiter nach Südosten, bis sie in Küstennähe kehrtmachten und wieder in Richtung Norden zurückfuhren, auf Flensburg zu. Etwa eine Viertelstunde vor Erreichen ihres Verstecks im Wald kontaktierten sie Andy. Er war genau wie sie unbehelligt entkommen und fuhr, ebenfalls nach einem Wechsel des Motorrads, fast gleichzeitig mit Victor und Lara bei der Hütte vor.
»Es hat geklappt, Mann!«, rief er adrenalingeladen, nachdem er seinen Helm abgenommen und einfach zu Boden geworfen hatte. Mit glänzenden Augen kam er auf die beiden zu, und Lara fiel ihm um den Hals. »Drei Millionen«, raunte er. »Darf ich’s mal sehen?«
Victor nickte.
»Zeig’s ihm«, wies er Lara an.
Die zog den Reißverschluss des Rucksacks auf. Andys Augen weiteten sich.
»Irres Gefühl, was?«, flüsterte Lara.
Andy konnte gar nicht antworten, so sehr versetzte ihn der Anblick in Staunen.
Victor öffnete indes das Vorhängeschloss und zog die Tür auf. Drinnen war es so dunkel, dass man von hier kaum etwas erkennen konnte. Er machte einen Schritt in die Hütte hinein und sah Tanja an der hinteren Wand kauern. Ihren Bruder sah er nicht. Seine Miene verfinsterte sich. Er schritt auf Tanja zu und riss sie grob von der Wand weg. Das Loch kam zum Vorschein. Das Mädchen wimmerte, den Arm in seinem eisernen Griff.
»Andy!«, schrie er, und schon hörte er die schweren Stiefel seines Komplizen hinter sich.
»Ja, Boss?« Andy stutzte, als er Victor nur mit dem Mädchen dort stehen sah.
»Finde – den – Jungen«, sagte Victor.
»Und dann?«
»Leg ihn um.«
»Nein, nein, bitte«, jammerte Tanja, doch mit einem kräftigen Dreh ihres Arms hatte Victor sie augenblicklich ruhiggestellt.
Lara erschien im Türrahmen, als Andy bereits wieder hinausstürzte.
»Du gehst mit ihm!«, befahl Victor.
4
Es war ein kalter Tag Ende Oktober. Es regnete wie aus Eimern, und die Tropfen zerplatzten schwer auf der schwarzen Motorhaube des 2006er Pontiac GTO. Im Licht der Straßenlaterne legten sie einen silbernen Schimmer um die Karosserie des Sportwagens.
Die Windschutzscheibe war eine schwarze spiegelnde Fläche. Tom saß hinter dem Lenkrad und starrte unentwegt auf ein hohes eisernes Tor, das von Stacheldraht gekrönt war. Rinnsale liefen an dem rostenden Portal herab. Der Regen trommelte dumpf auf das Autodach.
Während er wartete, durchlebte er ein weiteres Mal die Ereignisse von vor zehn Jahren. Sah sich selbst, wie er sich durch den flachen Tunnel zwängte, sah seine leeren Hände, die er wieder herauszog, als Tanja auf der anderen Seite zurückblieb. Bei Victor. Ihm völlig schutzlos ausgeliefert.
Sein Magen krampfte sich zusammen, und sein Herz fühlte sich an, als würde es von einem eisernen Schraubstock zerquetscht.
Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber diese Wunde schien niemals zu heilen. Auch nach zehn Jahren nicht. Ihm war, als wäre das alles erst gestern geschehen.
Endlich bewegte sich die eine Seite des Tores, und im Mauerwerk der Justizvollzugsanstalt öffnete sich ein schwarzer Spalt wie der Schlund eines Monsters, das jemanden ausspie. Nachdem sich der Durchlass wieder geschlossen hatte, stand eine einzelne Person im diffusen Licht der Straßenlaternen und schaute sich um. Tom erkannte ihn sofort, auch wenn so viel Zeit vergangen und der Mann gealtert war. Das da vorn auf dem nass glänzenden Bürgersteig, eine Tasche in der Hand, mit Vollbart und langen Haaren, genau wie damals, war Andy.
Tom beugte sich zur Windschutzscheibe vor, und während er so dasaß und Andy beobachtete, huschte auf einmal ein kaltes Licht über sein Gesicht. Scheinwerfer schwenkten über die parkenden Autos, und der Wagen, zu dem sie gehörten, hielt direkt vor Andy an. Der trat auf die Straße, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Das Auto, ein älterer dunkler 5er-BMW, fuhr an und an Tom vorbei. Er duckte sich und ließ sie passieren. Dann drehte er den Zündschlüssel herum, und der Motor des Pontiac röhrte auf wie ein wütendes Raubtier.
Es konnte beginnen.
Teil 2
Das Anpirschen
1
Tom fuhr zum Stützpunkt. Es würde schwer werden, aber er war bereit zu lügen. Zu lügen, wie er es noch nie getan hatte.
Sein Trainer und sein Co-Pilot waren bereits da, er sah ihre Wagen auf dem Parkplatz stehen und fand sie in der Garage. Der Rallyewagen war auf der Hebebühne, Daniel und Teddy, ihr Teamchef, standen mit einem Mechaniker unter der Vorderachse.
»Hey, Leute«, grüßte Tom.
Teddy blickte auf seine Armbanduhr. »Bist früh dran für deine Verhältnisse«, sagte er mit hörbarer Sympathie in der Stimme.
Teddy war sein Trainer, seit er als Kind in der Kartserie angefangen hatte. Er war wie ein Großvater für ihn, und das Letzte, was er wollte, war, seinem Mentor unrecht zu tun. Aber es ließ sich nicht vermeiden.
»Kann ich euch kurz sprechen?«
Teddy merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie gingen in sein Büro und setzten sich an einen Tisch, der vor einer Vitrine stand, in der unzählige Pokale funkelten, die sie zusammen gewonnen hatten.
»Was ist los?«, fragte Daniel neugierig.
»Ich …« Tom wusste nicht weiter. Sein Gewissen nagte an ihm, mit großen, scharfen Zähnen.
Teddy blickte Tom durchdringend an, sein Mützenschirm warf einen düsteren Schatten auf seine kleinen runden Augen.
»Ich war heute bei einem Arzt«, begann er aufs Neue. Daniels Blick wanderte zu Teddy. Der rührte sich nicht, sondern behielt weiter Tom im Fokus. »Ich habe mich schon länger nicht richtig wohlgefühlt, dachte, ich hätte eine Grippe verschleppt oder so. Und hab ein paar Tests machen lassen. Dabei hat man leider festgestellt, dass ich eine Wucherung in meinem Kopf habe, etwa hier.« Tom tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe, direkt oberhalb des linken Ohrs. »Und die muss entfernt werden.«
Er pausierte und wartete ab. Daniels Mund klappte langsam auf, er blinzelte verwirrt. Teddy zeigte keine Reaktion. Er saß da wie in Bronze gegossen.
»Du meinst … einen Tumor?«, fragte Daniel nach.
Tom nickte und presste die Lippen aufeinander.
»Scheiße, Mann. Scheiße«, sagte Daniel.
»Es ist ein schwieriger Eingriff, aber die Chancen stehen gut«, fuhr Tom fort. »Ich habe eine spezielle Klinik in den Staaten kontaktiert. Die wollen es versuchen.«
»In den USA? Du wirst in den USA operiert?«, fragte Daniel.
»Ja, so schnell wie möglich. Ich werde daher ab sofort ausfallen und realistisch gesehen bestimmt ein halbes Jahr raus sein.«
»Ach du Kacke. Tom, das tut mir echt leid.« Daniel fuhr sich betroffen durch die Haare, bevor er hilfesuchend zu Teddy blickte.
»Ich weiß, was uns das kostet«, sagte Tom an seinen Trainer gewandt. »Die Sponsoren und so …«
Teddy nahm langsam seine Kappe vom Kopf. Tom wurde bewusst, dass er ihn, soweit er sich erinnern konnte, noch nie ohne Kopfbedeckung gesehen hatte. Seine Haare waren dünn und wuchsen nur noch in einem schmalen weißen Kranz um seinen runden Schädel.
»Du musst wieder gesund werden«, sagte er leise. Seine Stimme klang brüchig.
»Das werde ich«, entgegnete Tom und bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall, weil er spürte, wie sehr Teddy von der Nachricht getroffen war. »Aber ich habe auch noch eine Bitte an euch.«
Sie sahen ihn aufmerksam an.
»Redet bitte nicht mit meinen Eltern darüber. Ich kann es ihnen nicht sagen, das würde sie umbringen. Ich sage ihnen, dass wir ein paar Rennen in den Staaten fahren werden.«
»Natürlich«, erwiderte Daniel sofort. Teddy fuhr sich mit einer Hand über den Mund.
»Vielleicht findet ihr ja einen guten Ersatzfahrer«, meinte Tom.
»Keiner fährt wie du«, hielt Teddy dagegen und senkte seinen Blick.
Gott verdammt, du brichst ihm grad das Herz, Tom. Weih ihn ein. Das hat er nicht verdient.
Aber das konnte er nicht tun. Jeder Mitwisser war zu viel und bedeutete ein höheres Risiko. Nein, er musste das ganz allein durchziehen.
»Was, wenn es nicht gut geht?«, fragte Daniel.
»Mmh?«
»Was, wenn sie das Ding nicht entfernen können oder wenn das nicht reicht? Wenn du eine Chemo kriegen musst oder was weiß ich noch?«
»Das entscheide ich dann«, sagte Tom und war gerührt, wie sehr auch Daniel sich Gedanken machte. »Ich danke euch«, fügte er daher an und schloss damit das Gespräch.
Sie standen auf, und beide nahmen Tom in den Arm, bevor sie hinausgingen. Teddy begleitete ihn noch bis zu seinem Auto.
»Wann fliegst du?«, fragte er.
»Morgen.«
»Ist wirklich dringend, was?«
»Ja, ist es.«
»Pass gut auf dich auf.« Er legte Tom seine dicke, trockene Hand auf die Wange. Dann ging er.
Tom verspürte den heftigen Drang, hinter ihm herzulaufen, ihn in den Arm zu nehmen und ihm die Wahrheit zu sagen. Stattdessen stieg er ein und startete den Motor. Das nächste Treffen würde keinen Deut besser werden.
Das Haus seiner Eltern auf Nordstrand war ein altes Landgut, das sein Vater umgebaut und modernisiert hatte. Hier waren sie aufgewachsen, er und seine Schwester, behütet und zumeist draußen an der frischen Luft. Grünes Land, so weit man sehen konnte, umgeben vom blauen Meer. Die Landstraßen um Husum kannte er so gut wie sein eigenes Zimmer. Hier hatte er angefangen. Wie ein Verrückter war er jede noch so kleine Straße entlanggerast. Nacht für Nacht.
Er fuhr über den Deich, der die Nordseehalbinsel mit dem Festland verband. Dichte Wolken hingen träge am Himmel. Nieselregen hatte eingesetzt. Tom stellte die Heizung höher. Er fröstelte. Je näher er seinem Elternhaus kam, desto schneller schlug sein Herz. Alles in ihm wehrte sich dagegen, diesen Besuch zu machen. Als er in den Grünen Weg einbog, wollte er nichts als zurück und wieder umkehren. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Erinnerungen an Kindheitserlebnisse mit seiner Schwester. Wie sie Fahrradfahren gelernt hatten, genau hier. Zu Hause auf der Auffahrt hatte es nie geklappt. Das Haus stand etwas erhöht, die Zufahrt war abschüssig. Tanja hatte vor der Geschwindigkeit Angst gehabt und war immer wieder hingefallen oder abgesprungen. Aber hier auf der Straße hatte es schnell funktioniert, und sie waren Seite an Seite gefahren.
Er dachte an ein Foto, das er nach wie vor für das schönste von ihnen beiden hielt. Es zeigte sie im Alter von sechs Jahren am »Knie«, wie ihr Vater den Strandabschnitt an der Westseite immer nannte, im Schein der untergehenden Sonne. Sie standen Schulter an Schulter und waren nur als schwarze Schemen im goldenen Licht zu erkennen. Dennoch sah man, dass sie Geschwister waren, Zwillinge, und unzertrennlich.
Tom lenkte den Pontiac rechts in die Auffahrt. Das Haus thronte erhaben auf dem Hügel, wirkte aber schon von außen seltsam verloren und leer. Er hielt vor der Gartentür und ging schweren Schrittes auf die weiße Eingangstür zu. Er klingelte und hörte bald die vertrauten Schritte seines Vaters.
»Tom«, sagte er überrascht.
»Hallo, Pa.«
»Ja, komm rein.« Er trat zur Seite. »Wir haben gar nicht mit dir gerechnet.«
»Nein, ich hab mich auch nicht angekündigt.«
Sein Vater zog ihn am Oberarm näher zu sich heran. »Mama ist nicht ganz so fit, das dunkle Wetter macht ihr zu schaffen, weißt du?«, flüsterte er.
»Ich weiß«, antwortete Tom leise.
»Elli«, rief sein Vater ins Haus hinein, »rate mal, wer da ist!«
Seine Mutter kam aus der Küche und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Ihre Haltung war in den letzten Jahren immer gebückter geworden, und vor fünf Jahren hatten er und sein Vater bemerkt, dass sie langsam dement wurde. Anfänglich hatten sie gedacht, dass sie sich nur ein wenig seltsam benahm, weil sie so sehr um ihre Tochter trauerte, doch inzwischen war deutlich geworden, dass die Trauer sie hatte verrückt werden lassen.
»Tommy, mein Junge«, sagte sie und öffnete ihre Arme.
»Hallo, Mama.«
»Du kommst gerade rechtzeitig zum Mittagessen. Wasch dir die Hände und sag deiner Schwester Bescheid.«
Tom und sein Vater wechselten einen ernsten Blick.
»Ja, mach ich«, entgegnete Tom und küsste sie auf die Wange.
Elisabeth schob einen Servierwagen aus der Küche ins Esszimmer und begann, den Tisch zu decken. Teller, Gläser und Besteck für vier Personen. Auf der Anrichte aus Kirschholz standen Bilder ihrer Kinder. Die von Tom waren in den letzten zehn Jahren mehr und er auf den Bildern älter geworden. Tanjas Fotos waren Kinderbilder geblieben. Sie war für immer fünfzehn Jahre alt.
»Es gibt Zander in Estragonsoße, Tommy«, sagte seine Mutter und füllte die Teller. »Hast du dir deine Hände gewaschen?«
»Äh, ja, sicher«, antwortete Tom und nahm das Besteck zur Hand.
»Guten Appetit«, wünschte sein Vater.
»Wo bleibt denn Tanja nur?«, fragte Elisabeth.
Tom sah auf Tanjas Teller, auf dem der Zander langsam kalt wurde.
»Tommy, warst du wieder mit Sven unterwegs?«, wollte seine Mutter wissen. Sven war sein Schulfreund aus der Grundschule, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»Ich … ja, wir haben Fußball gespielt.«
»Ich hoffe, du hattest nicht wieder deine gute Schulhose an.«
»Nein, ich hab … eine kurze angezogen.«
»Na, dein Glück.«
Tom blickte zu seinem Vater und meinte, eine Träne in dessen Augenwinkel zu erkennen.
»Schmeckt großartig«, sagte er.
Seine Mutter lächelte dankbar.
Tom wusste, dass er das Gespräch, das er führen wollte, nicht hier am Tisch und nicht in der Anwesenheit seiner Mutter beginnen konnte. Also wartete er, aß auf und spielte den Schuljungen, für den seine Mutter ihn hielt.
Nach dem Essen schickte er seine Mutter ins Wohnzimmer und sagte, dass er mit seinem Vater den Abwasch machen werde.
Kurt wusch die Teller, während Tom abtrocknete.
»Tut mir leid, Junge. Sie kann ja nichts dafür.«
»Schon gut, Pa.«
»Wie geht’s dir denn so? Läuft alles gut?«
»Ja, sehr gut sogar«, sagte Tom und nahm einen weiteren Teller entgegen.
»Was macht der alte Teddy?«
»Er hat Pläne. Wir haben ein paar Rennen in den USA angenommen.«
»In den Staaten?«
»Ja, wir wollen das neue Modell drüben auf die Probe stellen. Wir werden bald rüberfliegen.«
»Das klingt ja toll. Welcher Staat?«
»Oh … zunächst in New Mexico, dann noch eins in Kalifornien.«
»Das klingt großartig, wirklich.« Kurt zog den Stöpsel und wischte seine schaumigen Hände mit einem Tuch ab.
»Kommst du … kommst du hier so lange allein klar?«, fragte Tom.
»Natürlich, Junge. Sie ist durcheinander, aber ansonsten ist sie fit. Sie ist immer müde und schläft viel. Aber wir kommen zurecht. Mach dir keine Sorgen.«
Wenn Tom ehrlich war, hatte er nichts als Sorgen. Doch er wollte sie loswerden. Ein für alle Mal.
»Lässt du dir einen Bart stehen?«, fragte Kurt und deutete auf seine Bartstoppeln.
»Ja, vielleicht. Mal was anderes ausprobieren.«
»Steht dir. Macht dich aber älter.«
»Ich muss jetzt los, Pa.«
»Ist gut. Sag ihr noch Auf Wiedersehen, ja?«
Tom ging ins Wohnzimmer, doch seine Mutter war auf der Couch eingeschlafen. Er wollte sie nicht wecken.
»Mach’s gut, Mama«, flüsterte er.
Sein letzter Blick galt dem Foto von Tanja auf der Anrichte, bevor er seinen Vater an der Tür zum Abschied in den Arm nahm und ihn ganz fest drückte.
Auf dem Rückweg hielt Tom noch kurz bei einem Supermarkt, dann fuhr er nach Hause. Er besaß einen alten reetgedeckten Bauernhof in Westerhever mit einem kleinen das Haus umgebenden Grundstück und dem Rest eines Stallungsgebäudes, das er als Garage nutzte. Sein Vater, der eine große Baufirma besaß, hatte ihm geholfen, dieses Objekt zu ergattern und umzubauen. Es lag versteckt inmitten von Bäumen und mit Blick auf den Westerhever Leuchtturm. Das Meer und der Strand waren nur ein paar hundert Meter entfernt.
Er hatte diesen Rückzugsort gebraucht. Er war ein Stück Heimat und gleichzeitig ein Stück eigene Freiheit.