Roman
Edition Raetia
Die zwei Schwestern Bess und Sandy und ihre innig geliebte Großmutter sind die Protagonisten des neuen Buches von Selma Mahlknecht. Eine Fahrt mit dem Zug, Kaffee und Kuchen, bunte Briefkuverts: aus scheinbar Banalem entsteht das Mosaik einer Familiengeschichte voller dunkler Geheimnisse. Um die idyllische Fassade zu wahren, haben die drei Frauen ein Dickicht des Schweigens aufgebaut, in dem jede von ihnen gefangen ist. Ängste, Albträume, sogar Sandys Selbstmordversuch und dessen Hintergründe werden vertuscht und totgeschwiegen. Wahr ist, was alle dafür halten wollen, und diese Wahrheit lautet: Es ist nichts geschehen. Alles andere wird nicht zugelassen. Erst spät kommt die schreckliche Wahrheit ans Licht.
Selma Mahlknecht, geboren 1979 in Meran, lebt in der Schweiz. Studium Drehbuch und Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Bei Edition Raetia u. a. „Auf der Lebkuchenstraße“ (2013) „Helena. Roman“ (2010, ausgezeichnet mit dem Sir-Walter-Scott-Preis), „Es ist nichts geschehen. Roman“ (2009, übersetzt ins Schwedische), „Im Kokon. Erzählung“ (2007).
© Edition Raetia, Bozen 2009
Umschlag: Dall’O & Freunde
Umschlagbild: Maria Gapp
Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
ISBN print: 978-88-7283-335-3
ISBN ebook: 978-88-7283-580-7
Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com
Fragen und Anregungen richten Sie bitte an info@raetia.com
Das Leben war nie so wie in meinen Erzählungen, ich weiß es. Aber wenn sie mit ihren fragenden Augen zu mir aufblicken, laufe ich mit bloßen Füßen über den Schotterweg, Blut zwischen den Zehen, das Haar in wilden Locken aufgelöst, eine Zeitlupe von einem Schritt zum nächsten, und unten steht Ludwig, Vigo, ich habe ihn nie so genannt. Ich bin immer sechzehn, nur einmal habe ich zugegeben, dass es doch später war, aber jetzt bin ich mit meiner Überlieferung im Reinen: Sechzehn war ich, immer barfuß, und ich trug ein Schürzenkleid mit blauen Blumen.
Der Frühling passte in diesem Jahr nicht in die Fensterrahmen, zu übermächtig drängte er herein mit seinem saftigen Grün und dem schwellenden Zwitschern und Summen ringsum. Die Schwestern hatten die Türen aufgerissen, und das Getöse des Aufbruchs wehte durchs Haus.
„Ich finde, jeder Roman sollte mit einer Reise beginnen“, sagte Sandy und faltete ihre Hose in den Koffer.
„Jeder Roman ist eine Reise“, entgegnete Bess mild.
„Hast du denn gar keine Angst?“, fragte Sandy und hielt inne.
„Um dich?“ Bess drehte den Kopf zum Fenster.
Warum teilen wir uns nicht wenigstens dieses kluge Profil, diese weichen Linien, warum ist an mir alles so kantig und hart.
„Ich werde niemals Angst um dich haben, Sandy.“
Warum habe dann ich so viel Angst um mich, Bess.
Im Wagen saß sie schweigend und mit verflochtenen Fingern. Vom Fahrer sah sie nur die Knie, sie wagte den Blick nicht höher zu heben. Er redete mit den Ampeln und Geschwindigkeitsbeschränkungsschildern.
„Fünfzig, ihr habt sie wohl nicht alle, hier fünfzig, sagt doch gleich, wir sollen anschieben.“
Im Vorbeiwehen ein Blütenzweig, rosarot.
Der Frühling schon wieder, was will er andauernd.
Die Luft war voller zärtlicher Hände, die ihr über die Wangen strichen und über die Stirn. Sandy grub die Fingernägel schmerzhaft in die Knie und presste die Lippen zusammen.
Wenn sie wenigstens bis zum Haus mitgekommen wäre. Wenn sie mich wenigstens heute nicht allein gelassen hätte.
„Jetzt sind wir gleich da, da vorne sieht man schon das Dach zwischen den Bäumen.“
Diesmal hatte er wirklich zu ihr gesprochen. Sandy setzte sich auf.
Bess zog die Vorhänge zu. Den grauen Abend durchsang eine Amsel, und die Einsamkeit ihres Tones stach Bess ins Herz. Auf dem Tisch lag das Handy. Nein, keine Nachricht schicken gleich am ersten Tag. Und doch dieser Blick, unwillkürlich. Nichts da. Morgen, nicht eher. Bess ging in die Küche. Wie groß das Haus jetzt war. Sie drehte das Radio an. Musik, es klang nach Tschaikowsky, wunderbar, Weihnachtsstimmung im Mai. Sandy hätte gelacht, aber noch während sie das dachte, verbot Bess sich den Satz. Ich schreibe ihr doch besser erst übermorgen. Oder am Samstag. Ja, Samstag, das klang nach Struktur, zärtlich stellte sie sich vor, wie sie von nun an jeden Samstag schreiben würde. Nur kurz natürlich und ohne einen behütenden, sorgenden Unterton. Ganz sachlich. Wie geht es? Alles okay? Aber das war schon zu viel, einfach nur: na du. Oder einfach nur: nichts. Ich werde gar nichts schreiben, beschloss Bess. Und dann dachte sie wieder an Großmutters blutige Füße.
Meine Haare waren mein Stolz gewesen, schon von Kind auf. Wie ein Wasserfall waren sie meinen Rücken hinuntergeflutet, voll und in übermütigen Wellen. Ansonsten war ich nicht schön gewesen, aber wer mich mit gelöstem Haar schreiten sah, musste mir mit gebanntem Blick folgen. Danach verflog das Interesse meist rasch, aber einen kleinen Triumph hatte ich doch gehabt. Im Übrigen machte es mir nichts aus, hässlich zu sein. Ich wusste, dass man nur für die Männer schön sein wollte, und die Männer waren mir egal. Ich war unter ihnen aufgewachsen, vier Brüder, zwei Onkel, ein Vater groß wie ein Kirchturm, der die enge Stube allein schon zu sprengen schien. Wir rückten zusammen, und ich saß zwischen den stinkenden Onkeln, denen ich einmal im Monat die Haare mit Schmierseife wusch. Da hatte ich alles gelernt, was ich über Männer wissen musste, und ich erkannte, dass es sich nicht lohnte, schön zu sein für sie. Aber mein Haar kämmte ich bedächtig und streichelte es vor dem Einschlafen, und ich duldete nicht, dass sie es anfassten mit ihren klobigen Händen.
Drei Tage schon keine Nachricht von Bess.
Sie denkt nicht mehr an mich. Sie hat mich vergessen.
„Weinst du, Sandy?“, fragte Frau Hummel. Sandy schüttelte den Kopf.
„Eine Pollenallergie.“
„Ja“, Frau Hummel band sich die Schürze um, „so einen Frühling wie dieses Jahr hatten wir schon lange nicht mehr.“
Sie trugen die frischen Leintücher auf das Zimmer, Sandy bezog die Matratzen, Frau Hummel machte das Bad. Als sie herauskam, waren die Betten fertig.
„Wir machen gewöhnlich keine Falte in die Kissen. Aber es sieht recht hübsch aus. Vielleicht sollten wir es so einführen.“
„Nein, nein.“
Sandy schüttelte errötend den Kopf und strich die Kissen glatt.
„Das ist nur eine dumme Angewohnheit von mir. Bitte entschuldigen Sie. Ich werde es selbstverständlich so machen, wie es hier üblich ist.“
„Ja, dann …“
Frau Hummel zuckte die Schultern.
„Wir lassen die Kissen einfach. Nur für die Neuen legen wir Schokolade drauf. Manchmal auch frische Blumen. Oder etwas anderes, was zu den Gästen passt. Wenn wir sie kennen.“
„Wie kann ich dann wissen, was richtig ist?“
„Frag einfach.“
„Natürlich.“
Was für eine dumme Frage. Sie muss einen ganz schlechten Eindruck von mir haben. So mache ich uns ganz bestimmt keine Ehre. Ich bin eben ein unnützes Ding.
„Diese Allergie ist ja wirklich ziemlich stark. Warst du deswegen schon mal beim Arzt?“
„Nein. Aber das legt sich bald wieder“, sagte Sandy, indem sie das Taschentuch aus Frau Hummels Hand nahm.
„Danke.“
Und sie wischte sich die Tränen von den Wangen und spürte, wie sie nicht aufhörten zu rollen.
Auf dem Beistelltischchen im Flur lagen acht Briefe, zugeklebt, adressiert, mit Marken. Zwei gelbe Kuverts. Zwei blaue. Ein rotes. Im Wohnzimmer saß Bess und schrieb in winzigen Buchstaben den sechsten Brief. Das rote Kuvert lag offen dabei. Immer wieder sah Bess auf, hinaus. So viel Sonnenschein, noch immer. Sie schob den Brief beiseite, stand auf. Ich sollte Großmutter anrufen, dachte sie. Ein Spaziergang tut ihr gut. Tut uns gut. Wir könnten zur Nepomukkirche gehen und auf die Stadt hinunterschauen. Im Café Sonnleiten ein Stück Kuchen essen mit Vanilleeis. Sie wählte mit zittrigen Fingern die Nummer.
„Großmutter?“
„Bess! Wie geht es dir?“
„Hast du Zeit? Ich hole dich ab.“
Schweigen. Dann die Stimme der Großmutter, etwas sanfter, fast traurig: „Aber natürlich. Wann kommst du?“
„Sofort.“
Bess legte auf. Beiläufig steckte sie den Brief ins Kuvert und klebte es zu. Dann nahm sie die Briefe vom Beistelltisch und legte das ganze Päckchen in eine Schublade, die sie fest verschloss. Sie zog sich die Schuhe an und hängte die Handtasche um. Vor dem Haus prahlte der Frühling. Na also. Wer will bei dem Wetter schon Briefe lesen.
„Darf ich dich mal was fragen?“
Sie steckten die Köpfe zum Fenster hinaus, Anna rauchte in langen, tiefen Zügen. Sandy beugte sich weit vor und schaute hinunter auf die schmalen Blumeninseln zwischen den Parkplätzen.
„Sicher. Frag.“
„Heißt du eigentlich wirklich Sandy? Ich meine, ist das dein Name oder heißt du eigentlich Sandra oder so?“
„Nein, Sandy ist richtig.“
„Mit Ypsilon?“
„Ja. Wieso?“
„Weiß nicht. Du schaust nicht wie eine Sandy aus.“
„Nein? Wie schau ich denn aus?“
„Keine Ahnung. Eher wie eine … also, wie eine Irmgard zum Beispiel.“
„Irmgard?“
„Na, du weißt schon, was ich meine. Irgendwas Konservatives eben. So ein alter Name würde zu dir passen, find ich.“
„Aha. Tja.“
Irgendwas Konservatives. Seh ich wirklich so aus.
„Ich wollte dich nicht beleidigen.“
„Nein, schon gut. Vielleicht hast du ja recht. Bess und ich sind bei unserer Großmutter aufgewachsen. Vielleicht haben wir da was mitgekriegt. Was Konservatives.“
Ausgerechnet bei Großmutter.
„Du bist jetzt echt beleidigt.“
„Nein. Nein, nein. Kann ja sein, dass Sandy die Irmgard des 21. Jahrhunderts ist.“
Wo haben sie so was Ähnliches mal gesagt?
„Ich finde konservativ ja irgendwie cool. Die drollige Art, wie du redest zum Beispiel.“
„Wieso, wie red ich denn?“
„Na, so … Ich meine, wie alt sind wir? Und du hörst dich an wie … Du weißt schon. Immer so gepflegt.“
„Und was ist daran falsch?“
Sandy wandte sich ab, setzte sich unter dem Fenster auf den Boden. Anna drückte ihre Zigarette aus und schloss das Fenster. Kurz schaute sie unschlüssig auf Sandy hinab, die ihren Blick nicht erwiderte, dann ließ sie sich neben sie sinken.
„Das darfst du nicht so nehmen. Ich find ja wirklich cool, wie du redest. Ich selbst red dafür immer ein bisschen gequirlt, na und? Ist einfach meine Art. Und deine Art ist dafür …“
„Schon gut.“
Wir leben eben in verschiedenen Welten.
Wieder sekundenlanges Schweigen. Anna nestelte an ihrer Schürze.
„Gefällt’s dir hier eigentlich?“
„Ja. Ist schon ganz in Ordnung.“
Warum lässt sie mich denn nicht endlich in Ruhe? Glaubt sie wirklich, wir können Freundinnen werden?
„Und was machst du an deinem freien Tag? Wann ist der überhaupt? Mittwoch? Fährst du nach Hause?“
„Nein, das lohnt sich doch nicht. Ich dachte, ich bleibe hier und …“
Was soll ich denn hier. Und was soll ich woanders. Was soll ich überhaupt.
„Hier ganz in der Nähe gibt es einen kleinen Badesee mit einem Bootssteg und Schilfrohr und einer kleinen Bucht und so Sachen. An den Wochenenden ist da ganz schön was los. Aber mittwochs ist es vielleicht ganz ruhig dort.“
„Das ist eine gute Idee. Da könnte ich meine Bücher lesen. Vielleicht geh ich ja hin.“
„Unbedingt! Du wirst sehen, das gefällt dir. Dann hast du auch nicht mehr so viel Heimweh.“
„Hab ich doch nicht.“
„Na klar nicht.“
Sie glaubt mir kein Wort.
„Anna! Sandy! Wo steckt ihr? Die Loitolds brauchen frische Handtücher! Und Zimmer 14 wäre jetzt frei zum Saubermachen.“
„Gleich, Frau Hummel, wir sind schon unterwegs!“
Sie rannten polternd die Treppe hinauf und rückten im Lauf ihre Häubchen zurecht. Fast wären sie mit einem älteren Gast zusammengeprallt, der gemächlich die Stufen hinabstieg.
„Verzeihung!“, rief die eine und prustete halb los, „Verzeihung“, echote die andere sanft errötend, und sie hasteten weiter.
„Goldene Jugendzeit“, dachte der Gast.
Die Terrasse war gut besetzt, dennoch fanden sie einen Tisch in der Ecke, von wo aus man auf das Tal sehen konnte. Nur wenige Geräusche drangen herauf, ab und zu ein Hupen von der fernen Hauptstraße, sonst nur der Wind und die Spatzen im Flieder. Sie hatten lange über den Garten geredet und ein Konzert im Drei-Grazien-Saal, jetzt schwiegen sie schon eine Weile und sahen aneinander vorbei in die flirrende Luft.
„Schau“, sagte Bess plötzlich, „ein Marienkäfer!“
Sie hielt den nackten Unterarm hoch, auf dem ein Siebenpunkt über die feinen Härchen stolperte. Die Großmutter nickte und lächelte.
„Sandy hat mich ein paar Mal angerufen“, sagte sie dann.
Bess ließ den Arm sinken, schlug die Augen nieder.
„Was hat sie gesagt?“, wollte sie fragen, aber sie schwieg und sah auf das halbe Stück Torte auf ihrem Teller.
„Es geht ihr nicht so gut. Das hat sie nicht gesagt, aber ich konnte es hören. Sie hat auch nicht gesagt, dass du dich nicht bei ihr gemeldet hast. Aber auch das konnte ich hören.“
Bess rührte sich nicht. Die Großmutter streckte die Hand nach ihr aus.
„Was ist mit euch Mädchen los? Ihr habt euch doch gern.“
Bess kramte mit der Gabel im geschmolzenen Vanilleeis, als wolle sie die schwarzen Pünktchen auslesen.
„Schreib ihr doch einmal.“
„Was soll ich denn schreiben.“
„Die Wahrheit, Bess.“
„Das kann ich nicht. Ich kann nicht.“
Ich weiß, Kind. Auch ich kann es nicht.
Und sie saßen noch lange und sahen den Frieden an den anderen Tischen.
Als sie wieder nach Hause gefahren waren und die Großmutter aus dem kleinen Auto ausstieg, sagte Bess: „Du fehlst uns, Großmutter. Wann kommst du wieder zu uns zurück?“
„Du musst Geduld haben. Ich komme wieder, sobald es geht.“
Damit nahm sie die Handtasche vom Sitz. Bess umklammerte das Lenkrad fester.
„Danke für den wunderbaren Nachmittag.“
Die Großmutter schlug die Tür zu. Am Treppenaufgang drehte sie sich noch einmal um und winkte. Sie rief nicht: „Ihr fehlt mir doch auch!“ Aber Bess konnte es hören.
Mein ältester Bruder Gottlieb war ein hagerer Bursche mit dunklem Haarschopf und flammenden Augen. Er war der schönste meiner Brüder, und ich war wohl ein bisschen verliebt in ihn, wenn er draußen auf dem Feld die Hacke schwang. Wir redeten nie miteinander, er ging an mir vorbei, als gäbe es mich gar nicht. Vielleicht lag es daran, dass Vater ihn immer an der Schulter hielt mit seiner riesigen Hand. Gottlieb würde den Bauernhof übernehmen, das war von Anfang an klar. Er war unser Anführer, auch wenn er nie etwas befahl. Es genügte ein Blick von ihm oder ein verächtliches Schnauben, und wir lasen ihm alles vom Gesicht ab. Für ihn zählte nur Vater, ihm ging er nach, und er versuchte vor seiner Hand nicht zu zucken. Dabei fürchtete er ihn genauso wie wir, aber er stand still, wenn er geprügelt wurde, und verbot sich jede Träne. Wir bewunderten Gottlieb, aber er gehörte nicht zu uns. Er sonderte sich von uns ab, saß allein in der Kirchenbank, während wir anderen vier uns zusammendrängten. Ich denke, im Grunde war er auf uns neidisch, obwohl er es selbst nicht wusste. Meinen zweitältesten Bruder Heinrich muss er besonders beneidet haben. Er schikanierte Heinrich, wo er nur konnte, warf ihn einmal sogar in den Schweinetrog. Heinrich aber wehrte sich nicht. Er war sanft, ohne dabei schwach zu sein. Er war der Einzige von uns, der keine Angst hatte, weder vor Gottlieb noch vor Vater noch vor dem Ende der Welt. Er tat klaglos seine Arbeit und steckte mir heimlich Äpfel zu und Birnen, wenn ich abends noch Hunger hatte. Davon bekam ich Bauchschmerzen, aber dennoch vergötterte ich Heinrich. Manchmal versteckten wir uns im Heuschober und erzählten einander Geschichten, nur wir vier, Heinrich, Bernhard, Rudolf und ich. Das war meine wahre Familie, hier fühlte ich mich geborgen. Dann aber musste Bernhard fort, nach Leipzig, eine Ewigkeit und zwei Welten von uns entfernt, wo ein Bekannter von Vater eine Uhrmacherwerkstatt hatte. Bernhard sollte dort in die Lehre gehen, Vater hat es bestimmt gut gemeint. Ich aber hatte immer das Gefühl, dass Bernhard verkauft worden sei, verkauft an einen dicken Menschenfresser mit abstehenden Ohren, ich konnte mir Vaters Bekannten nicht anders vorstellen. Bernhard blieb in Leipzig, beendete seine Lehre, gründete eine Familie und eröffnete selbst eine Werkstatt. In all der Zeit kam er uns nie besuchen. Aber er schrieb einmal im Jahr eine Postkarte an mich, immer kurz vor Weihnachten. Auf der ersten war ein gekrönter Engel im plissierten Rauschgoldkleid zu sehen. Der Text war spärlich und wurde in den Jahren nicht ausführlicher, aber immer schickte mir Bernhard einen Engel, Jahr für Jahr, es sind mittlerweile 46 geworden, und sie füllen noch immer dieselbe alte Schachtel von damals. Bernhard kehrte nie wieder in seine alte Heimat zurück, selbst zu Vaters Begräbnis nicht. Gottlieb hasste ihn dafür, wir anderen aber haben ihn verstanden.
Was will sie bloß von mir. Wahrscheinlich war es der fette Schmitz. Der mag mich nicht, ich seh’s ihm an. Vielleicht merkt er, dass ich ihn ekelhaft finde. Hoffentlich wirft sie mich nicht raus. Die Schande ertrag ich nicht.
Frau Herbsts Büro war klein und sonnendurchflutet. Im Fenster standen Blumen, frisch vom Garten. Telefon, Faxgerät, Laserdrucker, Notebook, viel Büttenpapier und Samtbänder für die persönliche Note. Sandy stand in der Tür und wagte sich nicht hinein, wollte den weißen Wollteppich nicht betreten, nicht mit ihren Hausschuhen, die so unpassend waren für diesen Raum und die Bilder an der Wand.
„Sandy. Kommen Sie doch, setzen Sie sich.“
Schnell zwei Schritte bis zum Stuhl. Sandy setzte sich und hob die Füße vom Boden, nur wenige Millimeter, ließ sie schweben wie über einer heißen Platte.
„Wir haben uns jetzt schon eine Weile nicht mehr gesehen. Drei Wochen.“
Sie hielt inne, sah Sandy prüfend an.
Sollte ich etwas sagen? Und was?
„Ja. Das ist richtig.“ Sandy räusperte sich, bewegte die schwebenden Füße leicht nach vorne und zurück, als wolle sie mit kleinen raschen Schritten davontrippeln.
„Frau Hummel meint, Sie hätten sich ganz gut eingelebt.“
„Ja.“
Worauf will sie hinaus. Sie will doch auf irgendetwas hinaus. Das war bestimmt dieser Schmitz.
„Wie Sie wissen, müssen alle Angestellten eine Probezeit bestehen.“
„Ja.“
„Nun, ich denke, Sie können sich schon vorstellen, wie diese bei Ihnen verlaufen ist.“
Sandy hustete leise.
„Nein. Nein, kann ich, kann ich mir nicht.“
Natürlich. Natürlich weiß ich schon alles. Ich weiß, worauf das hinausläuft. Ich ertrage die Schande nicht.
„Aber Sandy. Sie haben doch bestimmt gemerkt, dass Sie beim Personal gut ankommen. Frau Hummel lobt Sie in den höchsten Tönen. Und die Gäste sind auch zufrieden. Ehrlich gesagt, habe ich mir das auch genau so vorgestellt. Sie haben gleich schon so einen guten Eindruck auf mich gemacht. Den haben Sie jetzt nur bestätigt.“
Sandy wusste nicht mehr, wohin mit ihren Blicken.
Ist das … ist das ihr Ernst? Das kann nicht … das ist ganz bestimmt nicht ihr Ernst. Sie nimmt mich auf den Arm. Jetzt gleich, gleich sagt sie es. Dass ich mir nichts einzubilden brauche. Dass sie das nur aus Mitleid gesagt hat.
„Sandy? Haben Sie mich gehört?“
„Natürlich, Frau Herbst.“
„Nennen Sie mich doch Regina. Das ist bestimmt angenehmer, wenn Sie noch länger hierbleiben. Und ich hoffe, dass Sie das tun werden.“
„Danke. Das ist sehr freundlich.“
Der Schmitz hat nichts gesagt. Noch nicht. Aber er wird es tun, ganz bestimmt. Und dann werden ihr die Augen aufgehen. Sie wird erkennen, dass ich nichts tauge. Die Schande ertrag ich nicht.
Liebe Sandy,
heute Morgen hat es in der ganzen Straße nach frischen Butterhörnchen geduftet. An der Ecke hat eine kleine Bäckerei eröffnet, wo früher Blumers Schuhsalon war. Ich bin bestimmt zehn Minuten vor dem Schaufenster gestanden und habe auf das schöne Gebäck gestarrt. Dann bin ich wieder gegangen. Ohne dich macht das Naschen keinen Spaß.
Ich denke oft an dich. Nicht jeden Tag. Auch nicht jede Stunde. Jede Minute. Verstehst du? Jede Minute denke ich an dich. Ich habe dir jeden Tag geschrieben. Aber ich habe alle Briefe verbrannt. Wahrscheinlich werde ich diesen auch verbrennen. Dabei gibt es ein paar Dinge, die ich dir sagen möchte. Sagen muss. Aber ich weiß nicht wie. Ich habe in jedem Brief angefangen, sie zu sagen. Aber ich krieg es einfach nicht hin. Ich weiß doch, dass du das Recht hast, die Wahrheit zu erfahren. Und glaube mir, ich werde dir alles sagen. Eines Tages. Wenn die Zeit reif ist. Aber noch ist es nicht so weit. Noch würde ich nur alles verderben. Und Großmutter hat gesagt, dass es gut läuft bei dir. Dass du dich wohlfühlst.
Ich bin froh, dass du dich bei ihr meldest. Natürlich weißt du, dass sie mir alles sagt. Und ich hoffe, dass du weißt, dass ich immer auf Nachricht von dir warte. Und dass ich dich gern habe. Aber ich muss dich loslassen. Das bin ich dir schuldig. Das kannst du noch nicht verstehen. Ich muss dich loslassen, damit das Monster irgendwann aufhört, zwischen uns zu stehen.
Bitte verzeih mir.
Deine Bess
Als Heinrich fortging, brach es mir fast das Herz. Es war das Beste für ihn, er sagte es selbst immer wieder, und ich fühlte, dass er recht hatte. Aber ich wollte, konnte ihn nicht gehen lassen, was wurde denn dann aus uns? Bernhard war schon lange fort, und Rudolf war noch ein Kind. Ich war zu schwach, das allein durchzustehen mit Vater und Gottlieb und Vaters verlotterten Brüdern. Heinrich nahm mich in den Arm, strich mir die Haare von der Stirn.
„Du bist doch schon so groß“, sagte er. „Du kriegst das hin.“
Ich konnte nicht antworten, grub nur mein Gesicht tief in seine Achselhöhle und atmete Heinrichs herben Geruch ein, der mich mehr tröstete als alle seine Worte. Er sollte Theologie studieren, ein Gelehrter werden.
„Du wirst sehen, ich werde Bischof. Und dann hole ich euch zu mir, dich und Rudolf, und ihr besorgt mir den Haushalt und poliert die Monstranzen, und dann sind wir wieder zusammen für immer.“
Ich glaubte ihm und hatte Hoffnung in den Augen, als der Zug ruckelnd anfuhr und mit ihm verschwand. Wir winkten uns fast die Hände aus den Gelenken, und Rudolf hörte nicht auf „Heinrich! Heinrich!“ zu rufen.
„Er ist längst weg“, knurrte Gottlieb.
Da beugte ich mich zu Rudolf hinunter, „schon gut, mein Schatz, komm, wir gehen nach Hause“. Wir trotteten hinter Vater und Gottlieb her, die groß und steif wie hölzerne Statuen vorangingen, ohne sich umzuwenden. Ab jetzt würden wir allein sein, Rudolf und ich. Ich drückte seine Hand, und er schaute zu mir auf, als verstünde er. Du und ich, sagte sein Blick, wir werden einander niemals, niemals im Stich lassen.
Bodenlos ragte der Himmel in den See, für einen Augenblick blitzte eine Libelle über dem spiegelnden Wasser.
So still ist es.
Sandy tastete mit nackten Füßen über den hölzernen Bootssteg, vorsichtig die Arme ausgebreitet, als könne sie fallen.
Ich bin ein Kind. Ganz bestimmt bin ich ein Kind. Warum bin ich so groß geworden.
Rings der Wald, das Schilf.
So still.