Callan Wink, geboren 1984, arbeitet seit seinem neunzehnten Lebensjahr als Fly Fishing Guide auf dem Yellowstone River in Montana. Seine Stories erschienen im New Yorker, dem Granta Magazine und der Anthologie The Best American Short Stories. Wink besucht als Stegner Fellow die Stanford University und schreibt derzeit an einem Roman.

Hannes Meyer, geboren 1982, lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Wuppertal. Er übersetzte unter anderem Bücher von Phil Klay, Dana Spiotta und Christopher Brookmyre.

CALLAN WINK

DER
LETZTE
BESTE
ORT

STORIES

Aus dem amerikanischen
Englisch von Hannes Meyer

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2012, Callan Wink

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Justin Carrasquillo, Gallery Stock, London

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-74772-8

www.suhrkamp.de

INHALT

Hund Lauf Mond

Schneeschmelze

Noch eine letzte Schlacht

Lichtköstler

Exoten

Sonnentanz

Auf der schiefen Bahn

Crow Country Moses

Im Nachhinein

Für Jim Wink

HUND LAUF MOND

Sid war Nacktschläfer. Schon von Kindheit an. Klamotten im Bett kamen ihm überflüssig vor, als würde man unter der Unterhose noch eine zweite tragen oder so. Sid hatte jede Nacht seines Lebens als Erwachsener nackt geschlafen, und deshalb rannte er jetzt barfuß und mit blankem Arsch über die scharfen Sandstein-Rimrocks weit über den Lichtern der Stadt. Es war nach zwei Uhr morgens in einer klaren, kühlen Nacht Anfang Juni mit wulstigem Dreiviertelmond hoch und hell am Himmel, sodass Sid unten den Rangierbahnhof sehen konnte – das Zickzackgewirr der Schienen, tausend kreuz und quer gefallene alte Schlipse, und den großen Schornstein. Er schwitzte, ahnte aber, dass die Kälte langsam hereinkriechen würde, wenn er nicht mehr laufen konnte. Was dann passieren würde, wusste er nicht.

Der Hund trottete unermüdlich mit, mal an Sids Seite, mal streifte er in weiten Bögen davon, kehrte aber immer wieder zielstrebig zurück, die Nase stets im Wind, um die Witterung der Vögel aufzunehmen. Nicht zum ersten Mal beneidete Sid einen Hund. Um sein Fell. Um die dicken Fußballen. Um die einfache, sorglose Existenz aus Schlafen, Fressen, Laufen, gelegentlichem Ficken, wenn man noch die nötigen Körperteile hatte, und sich keine großen Gedanken darüber Machen, wenn nicht. Selbst in dieser Notsituation konnte Sid nicht anders, als den Hund zu bewundern. Der perfekte Vogelhund für dieses zerklüftete Land, keine Frage. Sid hinkte weiter, während die scharfen Felsen Hackfleisch aus seinen Fußsohlen machten. Wenn er sich umdrehte, sah er sein Blut auf den flachen Felsen schwarz im Mondlicht schimmern. Und dann die Strahlen der Scheinwerfer, die zwischen den Sandsteinfelszungen hindurchstachen. Er konnte Montana Bob und Charlie Chaplin rufen hören, die ihr Quad durch das unwegsame Gelände lenkten.

Sid hatte den Hund nicht gestohlen. Er hatte ihn befreit. Davon war er fest überzeugt, und diese Überzeugung lag seiner Meinungsverschiedenheit mit Montana Bob zugrunde. Für Montana Bob war man als Hundehalter Besitzer und nichts weiter. Sid sah das anders. Er war seit zwei Monaten in der Stadt, und sein Weg zur Arbeit führte ihn zweimal am Tag durch die Gasse. Der Hund beobachtete ihn immer durch den Maschendrahtzaun, und wenn Sid pfiff, stellte er die Ohren auf, ohne aufzustehen.

Sid arbeitete in einem Sägewerk, das die Baumstämme verarbeitete, die aus den Bergen runtergebracht wurden. Die Stämme kamen riesig und rau rein und rochen nach Moos und den dunklen Stellen, wo der Schnee bis in den Juli liegenbleibt. Sie wurden ins eine Ende der kreischend heißen Holzrahmenhalle geschoben, trafen auf die Säge und kamen auf der anderen Seite flach und weiß heraus und bluteten Harz in den roten Erdboden des Sägewerks. Die meisten der Männer an den Stämmen und an der Säge waren Mexikaner, breite, schwitzende Männer mit dreckigen weißen Unterhemden, die Arme innen schorfig und wund, wo sie mit rauborkigen Stämmen gerungen hatten. Die Männer sprachen miteinander ihre Sprache, und Sid kannte sie nicht weiter. Er blieb für sich und arbeitete. Sid war Restesammler. Den ganzen Tag hob er Pappel- und Kiefernabschnitte auf, schnitt sie zurecht und fügte sie mit dem Nagler zu Paletten zusammen, auf die dann die Bretter zum Abtransport gestapelt wurden. Den ganzen Tag messen und sägen und nageln. Seine Hände waren harzverklebt und rissig. Den ganzen Tag rasten seine Gedanken im Kreis, und nach der Arbeit kam er wieder durch die Gasse, pfiff dem Hund im Vorbeigehen zu und trank zügig nacheinander drei Gläser Wasser am Spülbecken des Fertigbungalows, den er monatsweise mietete, aber nicht möbliert hatte. Selbst bei offenem Fenster roch es wie in einem schwülen Dreckwäscheschrank, und Sid hielt es dort nur zum Schlafen aus.

Abends fuhr er. Manchmal in die Nachbarstadt, manchmal stundenlang, bis er ins Flusstal am Fuß der Berge kam, wo es immer zehn Grad kühler war. Dort wohnte sie jetzt, er wusste auch wo, aber er fuhr nie bei ihr vorbei. Er ertrug den Gedanken nicht, sie würde aus dem Küchenfenster schauen und seinen Pick-up langsam vorbeirollen sehen. Er konnte sich vorstellen, wie sein Gesicht für sie aussehen würde. Sonnengegerbt. Hager. Entlang der Mitte zu spitz, als verliefe dort ein Knick. Manchmal holte er sich im Diner einen Milchshake und nuckelte die Fahrt über daran. Wo auch immer er hinfuhr, zurück nahm er jedes Mal die gleiche Strecke, die ihn an dem Haus mit dem Hund vorbeiführte. Dem Haus, dessen Fenster nach Osten mit Alufolie verdeckt waren, und wo Sid noch nie jemanden vor der Tür gesehen hatte.

An einem Nachmittag fiel im Sägewerk eine vollbeladene Palette 20 × 360-cm-Bretter vom Frontlader und zerquetschte einem der Mexikaner die Beine, der am Truck darauf gewartet hatte, dass er die Spanngurte festziehen konnte. Sid saß gerade beim Mittagessen, sah alles und hörte die heiseren Schreie des Mannes über dem Kreischen der Säge, bis sie abgeschaltet wurde, und dann schrie nur noch der Mann, der eingeklemmt am Boden lag und sich krümmte, dessen Augen hervortraten und dem Sägemehl auf den schweißnassen, nackten Armen klebte.

An dem Abend fuhr Sid noch in Arbeitsklamotten direkt zu ihr. Als er ankam, stand ihr Wagen in der Auffahrt und dahinter ein Pick-up. Sid bog scharf ein, stieg aus und schlug nicht mal die Tür hinter sich zu. Er marschierte entschlossen los und war schon auf halber Strecke zur Veranda, als ihm das trockene Blut auf der Hose und den Stiefeln auffiel. Im Sägewerk war er mit allen anderen dem Mann zu Hilfe gerannt, und sie hatten ihm in rasender Gemeinschaftsarbeit die schweren Bretter von den Beinen gewuchtet. Alles war voller Blut gewesen, das Sägemehl hatte sich dunkel gefärbt, und die Bretter waren glitschig und rot und schwer zu fassen. Er stand bei ihr im Vorgarten und schaute sich seine Hände an. Er versuchte, sich die rostfarbenen Schmutzränder unter den Nägeln wegzukratzen und sich das Gemisch aus Kiefernharz und trockenem Blut aus den Furchen der Handflächen zu reiben. Er rubbelte sich hektisch die Hände über die Jeans, als er sah, wie sich hinter dem Küchenvorhang etwas bewegte. Da rannte er los, rutschte durch die offene Tür seines Pick-ups und ließ den Kies auf die Autos vor sich spritzen, als er mit Vollgas rückwärts losfuhr.

Auf dem Heimweg kam er an dem Haus mit dem Hund vorbei, und wie immer war von außen kein Lebenszeichen zu sehen. Der Pick-up, der oft draußen parkte, war nicht da. Sid rollte langsam vorbei und wendete. Er überlegte kurz, fuhr rechts ran, ließ den Motor aber laufen. Er ging hinters Haus, wo der Hund an einen windschiefen Picknicktisch gekettet auf einem dreckigen Strohhaufen lag. Der Hund bellte nicht, stand nicht mal auf, und beobachtete Sid nur mit der Schnauze auf den Vorderpfoten. Sid löste die Kette vom Halsband, und als er sich umdrehte und ging, folgte der Hund ihm zum Wagen, sprang auf die Sitzbank, blieb vorgelehnt sitzen und drückte die Nase an die Windschutzscheibe. Sid fuhr hoch auf das windumtoste Plateau über dem Fluss und der Stadt und ließ den Hund laufen. In der Stunde bis zum Einbruch der Dunkelheit stellten sie drei Ketten Rebhühner und zwei Schweifhühner. Der Hund arbeitete sich zwischen Wüstensalbei und Trespen gegen den Wind voran wie eine wunderbar ausgeklügelte Maschine bei der Ausführung der einen, der einzigen Aufgabe, für die sie da war.

Sid hatte Angst vor Montana Bob, er spürte sie beim Laufen irgendwo unter dem Brustbein stecken, einen scharfen, kleinen Stich bei jedem Atemzug. Sie war aber nur gesund, die Angst vor Montana Bob. Klar hast du Schiss, Sid, dachte er sich. Vor Montana Bob muss man genauso Angst haben wie vor einem Grizzly, einem herrenlosen Hund mit Schaum vor dem Mund und auch sonst allem, was kurzsichtig, krank und unberechenbar ist. Sid blieb hinter den windschiefen Ästen einer Pinyon-Kiefer stehen und horchte. Er hörte, wie sich das tiefe Knurren des Quads von hinten näherte, und dann das andere, sanftere Geräusch des Motors im Leerlauf, als Montana Bob und Charlie Chaplin wohl angehalten hatten, um zu Fuß nach seinen Spuren zu suchen. Sid stand über ihnen und sah ihre langen, scharfen Schatten, die im roten Staubgewaber vor den Scheinwerfern umherzuckten.

»Ich weiß, wer du bist, Sid. Ich weiß, dass du da draußen bist. Wir sind auch noch hier.«

Montana Bobs Stimme hallte über die Felsen zu ihm hoch.

»Du hast den Hund, und das ist meiner Meinung nach ein verdammt dämlicher Grund für all den Ärger. Charlie Chaplin ist auch hier. Der hält das auch für eine Riesendämlichkeit, bloß für einen verdammten Hund. Außerdem hat er eine verdammt große Pistole. Dir tun bestimmt mörderisch die Füße weh. Und du blutest hier doch nur die Eidechsenfelsen voll wie eine gestochene Sau, und bald holen Charlie Chaplin und ich dich sowieso ein. Jede Wette. Außerdem war es gar nicht schlau, wie du da zur Hintertür rausgerannt bist. Charlie hat deinen nackten Arsch gesehen. Wir wollten einfach nur den Hund abholen. Den kannst du mir nicht streitig machen. Du hast mein Eigentum. Also fang jetzt gefälligst den Hund ein und bring ihn mir runter. Und, Teufel noch eins, weißt du was? Wir fahren dich sogar zurück in die Stadt, versprochen!«

Sid lief wieder los, bergauf, weg von den Stimmen und Scheinwerfern. Er fand einen langen, glatten Felsen, der sich weiter erstreckte, als Sid in der Dunkelheit sehen konnte, und er rannte. Er hörte das raue Flüstern der Hundepfoten auf dem Gestein, das Klickern der Krallen. Das Fell schimmerte im Mondlicht, die tagsüber schwarzen Stellen waren jetzt lila-blau, die weißen schillerten wie Perlmutt.

Würde Montana Bob sein Versprechen halten? Sid laufen lassen, wenn er den Hund runterbrachte? Sid war sich nicht sicher, wohl eher nicht. Die Stelle unter dem Brustbein pulsierte jedes Mal, wenn seine Füße auf den Felsen klatschten. Er lief weiter. Der Mond oben war eine schiefe, unförmige Kugel, die jederzeit ihr Gleichgewicht verlieren und auf den Felsen zerschellen konnte. Das wäre wohl ganz gut. Eine Landschaft aus Schwärze, in der er sich auflösen konnte.

Er hatte den Hund schon eine Woche gehabt, als Montana Bob dahinterkam. Sid trank gerade auf dem Heimweg ein Happy-Hour-Bier im Mint und hatte den Hund im Pick-up gelassen. Er saß mit dem Rücken zur Tür und hatte sofort ein schlechtes Gefühl, als die beiden Männer hereinkamen. Die Bar war ziemlich leer, aber sie setzten sich direkt neben ihn, jeder auf eine Seite. An der ganzen Theke Hocker frei, und sie rückten ihm auf den Schoß. Der Große trug einen schweißfleckigen Sommer-Stetson mit einer zerzausten Fasanenfeder im Hutband. Unter dem Rand standen seine struppigen Haare zu allen Seiten ab. Außerdem trug er eine Lederweste mit nichts darunter als einem räudigen Pelz aus dichtem blauschwarzen Brusthaar. Sein Begleiter war deutlich kleiner, extrem hellhäutig und fast kahl bis auf ein paar lange Strähnen auf einer Seite, die über die Platte gekämmt waren. Er trug ein Oxford-Hemd und eine Cordhose. Und Bootsschuhe. Am Gürtel steckte ein großes Messer in einer Scheide, der Griff war aus blassgelbem Plastik, das wie Elfenbein aussehen sollte. Sie bestellten Bier, und als es kam, trank der große Mann mit dem Hut einen ordentlichen Schluck und lehnte sich dann mit einem blassen Schaumrest auf der Oberlippe zu Sid herüber.

»Ich rede nicht gerne um den heißen Brei herum.«

Sid kratzte am Etikett seiner Bierflasche. Er fragte sich, ob er abhauen sollte, einfach aufstehen, als müsste er zum Klo, und dann durch die Hintertür raus.

»Also lasse ich es und komme gleich zur Sache. Ich meine, einen mir vertrauten Hund in dem blauen Chevy draußen wiederzuerkennen, und da Sie so ziemlich der Einzige hier drinnen sind, nehme ich an, das ist Ihr Wagen, also würde ich sagen, ich muss Ihnen die Frage stellen, wie Sie an diesen Hund gekommen sind.«

Der Mann schob sich den Hut aus dem Gesicht und drehte sich auf dem Hocker zu Sid um. Er lächelte.

»Ich bin übrigens Montana Bob.« Er streckte die Hand aus – die Sid schüttelte, weil ihm nichts anderes einfiel – und nickte in Richtung seines Begleiters, der auf Sids anderer Seite saß.

»Und das hier ist Charlie Chaplin. Geben Sie ihm die Hand.«

Sid drehte sich um und schüttelte Charlie Chaplin die blasse, ausgestreckte Hand.

»Ich bin ein ortsansässiger Geschäftsmann, und Charlie Chaplin ist mein Buchhalter. Außerdem berät er mich in Fragen juristischer Natur.«

Sid sah Charlie Chaplin an, und als sich ihre Augen trafen, spürte er etwas kalt sein Rückgrat runterkrabbeln. Montana Bob war größer, durchaus körperlich bedrohlich, mit wuchtigen, nackten Armen und kleinen, scharfen Silberbeschlägen an den Stiefelspitzen, aber dieser kleine, wächserne, blasse Mann ließ Sid unruhig hin- und herrutschen.

Sid redete zu schnell und mit hoher Stimme.

»Den Hund hab ich aus dem Tierheim. Ehrlich bezahlt. Die ganzen Impfungen auch, Tollwut, Staupe und so weiter. Die Papiere liegen im Wagen. Im Heim haben sie gesagt, er ist ein Hund mit schwieriger Vergangenheit. Der alte Besitzer hat ihn wohl getreten. Bisschen dämlich ist er, aber treu. Kann ewig immer wieder den Tennisball holen. Meine Kinder sind ganz wild nach ihm.«

Montana Bob nickte, während Sid sprach. Charlie Chaplin nickte auch. Montana Bob winkte den Barkeeper herüber und bestellte noch ein Bier für sich und eins für Charlie Chaplin.

»Noch zwei. Und einen großen Krug Eiswasser. Ohne Eis.«

Der Barkeeper ging, und Montana Bob betrachtete Sid im Spiegel hinter der Theke.

»Holt ewig den Tennisball, was? So was aber. Wussten Sie, dass mir der Hund von einem Franzosen geschenkt wurde? Er ist ein Epagneul Breton aus Frankreich. Dort in französisch-bretonisch königlicher Linie geboren. Außerdem war er das Geschenk eines französischen Grafen. Als kleinen Welpen bescherte mir Guy St. Vrain diesen Hund zur Vergütung gewisser durch meine Wenigkeit geleisteter Dienste. Sie kennen Guy St. Vrain nicht, aber das spielt keine Rolle. Das ist genau in seinem Sinne. Er ist im Filmgeschäft. Und im Hundegeschäft.«

Der Barkeeper brachte den Wasserkrug, und Montana Bob nahm den Hut ab und legte ihn auf die Theke. Er goss den halben Krug hinein und setzte sich den Hut dann wieder auf, sodass ihm das Wasser über Gesicht und Hals lief und das dichte, schimmernde Brusthaar matt werden ließ.

»Du hast meinen Hund geklaut, Scheiße noch mal.« Er sah Sid immer noch im Barspiegel an. »Außerdem hatte ich heute einen heißen, staubigen Tag da draußen, und da will ich hier nur in Ruhe einen trinken und finde mein Eigentum in anderer Leute Obhut vor.«

Sid sah sich im Spiegel die Hände hochwerfen und mit den Schultern zucken.

»Aus dem Tierheim. Mehr weiß ich nicht.«

Er rutschte vom Hocker und schaute nach dem Barkeeper.

»Ich nehme auch noch eins. Bin gleich wieder da, muss nur eben pissen.«

Auf der Toilette ließ er den Hahn laufen und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Schon mit dem Autoschlüssel in der Hand stieß er die Tür auf, und dann war er draußen in den letzten Abendsonnenstrahlen, er startete den Pick-up, und der Hund stand hochgespannt mit den Vorderpfoten auf dem Armaturenbrett. Sid fuhr los, ohne sich umzusehen, folgte der Straße bis runter, den Fluss entlang, und ließ den Hund raus. Sid ging einen Pfad durch das Dickicht aus Tamarisken und Ölweiden, und als er stehen blieb, lief der Hund vorne ans Ufer, stützte sich geschickt auf einem Felsen ab und soff das schlammrote Wasser. Bevor Sid die Türen der Bar aufgestoßen und den Wagen gestartet hatte, hatte er noch einen Blick in Richtung Theke geworfen – Montana Bob hatte breitbeinig auf seinem Hocker gesessen wie auf einem alten Gaul. Charlie Chaplin hatte an der Jukebox gestanden. Er war die Platten durchgegangen, als hätte er nach einem speziellen Song gesucht, an dessen Titel er sich nicht erinnern konnte oder dessen Melodie vielleicht nur in seinem Kopf existierte.

Sid wusste nicht so recht, wohin er wollte. Ein merkwürdiges Vorankommen, kaum Orientierung, fast Hellsehen, wie er den glattesten Pfad durch die zerschmetterte Nachtlandschaft aus wilden Felsen ausmachte – und dabei Ausschau hielt nach dem Schimmern der Kaktusfeigen und nach den scharfkantigen Zapfen der Pinyon-Kiefern. Wenn er sich umdrehte, konnte er immer noch die Lichtschäfte des Quads sehen, und er überlegte sich, ob er im Bogen zurück Richtung Stadt laufen sollte. Bloß war da der Hund problematisch. Sid würde einen Riesenkreis laufen müssen, damit der Hund den Scheinwerfern nicht zu nahe kam, denn was sollte das Ganze überhaupt, wenn sie den Hund schnappten? Und noch ein Gedanke, würde der Hund womöglich freiwillig zu seinem alten Besitzer zurückkehren? Da war Sid sich nicht sicher. Er lief weiter. Der Hund scheuchte eine kleine Herde Maultierhirsche aus einem ausgetrockneten Bachlauf auf, sie sprangen an Sid vorbei und legten mit jedem Satz eine enorme Strecke zurück, und ihre Umrisse wurden vom Nachthimmel hinterleuchtet, der sich im Osten langsam aufhellte. Aus solcher Nähe hatte Sid die Wüstenhirsche noch nie laufen sehen. Am höchsten Punkt jedes Sprungs hingen sie scheinbar in der Luft, entfernt vogelartig, eine Gruppe prähistorischer Avifauna, die weder so recht auf das Leben am Boden eingestellt noch ganz von der Tragfähigkeit ihrer Flügel überzeugt war. In dem Moment kam ihm der Gedanke, dass vielleicht alles gut werden würde, wenn er nur bis zum Sonnenaufgang durchhielt.

Nach der Begegnung im Mint war Sid schwach geworden und hatte sie angerufen. Sie war nicht rangegangen, und er hatte ihr eine Nachricht hinterlassen, bei der sich seine Stimme fürchterlich anhörte. Blechern vor Angst, die sie nicht hatte merken sollen. Ich rufe nicht an, damit du zurückkommst und wieder bei mir bist, sondern nur, damit du weißt, falls ich verschwinde, dann deshalb, weil ich in einer Hundesache mit schlimmen Leuten aneinandergeraten bin. Ich wollte dich nie gegen mich haben, wie es jetzt gekommen ist. Das ist alles. Voller Selbstverachtung legte Sid auf. Er faltete für den Hund ein altes Laken am Fußende des Betts auf dem Boden zusammen, und als es schließlich klopfte – um zwei Uhr früh, drei Tage nachdem Montana Bob ihn im Mint gestellt hatte –, konnte Sid nicht behaupten, dass er es nicht irgendwo erwartet hätte. Kurz überkam ihn die Erleichterung des Flüchtigen, der endlich die Handschellen spürt.

Montana Bob sprach durch die Tür mit ihm, seine Stimme war an den Kanten ein bisschen whiskeyweich.

»Sie, Sir, sind im Besitz meines königlich französischen Hundes. Charlie Chaplin und ich kommen als Missionare zu Ihnen. Außerdem als Pilger und Kreuzritter.«

Als Montana Bob die klapprige Tür eintrat, war Sid schon nach hinten rausgestürmt und hatte Charlie Chaplin überrascht. Der Buchhalter hatte auf der hinteren Veranda gestanden und die Türklinke in den Bauch gerammt bekommen, dass er sich zusammenkrümmte. Sid rannte die Einfahrt des Trailer Parks hinunter und durch die unkrautüberwucherten Gärten seiner Nachbarn, die Gasse entlang und über die ausgestorbene Hauptstraße und den Rangierbahnhof, und seine nackten Zehen krallten sich um die kalten Stahlschienen, wenn er zum Sprung über den Granitschotter im Gleisbett ansetzte. Erst als er die Brachen am Fuße der Rimrocks erreichte, merkte er, dass der Hund neben ihm herlief und nur ab und zu anhielt, um das Bein an einem Felsen oder einem Strauch Wüstensalbei zu heben. Er sah, wie von der Straße die Scheinwerfer eines Quads zügig näher kamen. Er wartete, bis er die Umrisse von Montana Bobs Hut ausmachen konnte, und Charlie Chaplins blasse, nackte Arme, die sich um die Taille des größeren Mannes schlangen – und dann kämpfte er sich den Hang hoch, während der Hund vor ihm mühelos zwischen den Felsen hindurchfloss.

Sie war eine kleine Frau und so blass, dass die Wüste ihr auf eine Art und Weise zu schaffen machte, die Sid nie ganz verstehen würde. Wie Sid war sie Nacktschläferin. Das war für ihn von Anfang an eine dieser glücklichen, kleinen Überschneidungen, deren langsame Ansammlung Liebe ist. Mit ihr gab es jahrelang Nächte nackter Rücken an nackter Brust. Wenn es heiß war, mussten sie sich nach dem Aufwachen oft erst auseinanderschälen, als wären ihre Gliedmaßen die fleischigen Teile irgendeiner seltsamen, missgestalteten Frucht.

Auch in anderer Hinsicht waren sie einander ähnlich, und früher einmal hatten diese Gemeinsamkeiten natürlich und unaffektiert gewirkt, sogar wichtig. Sie mochten beide den Fluss. Sid besorgte Lastwagen-Reifenschläuche, und wenn die Hitze unerträglich wurde, ließen sie sich treiben und zogen ihr kühles Bier in einem Netzbeutel hinter sich her. Und auch wenn sie die Wüste nie ganz lieben lernte, war Sid sich doch sicher, dass sie mit der Zeit verstand, warum er es tat. Einmal fuhr er mit ihr ins Goblin Valley und zeigte ihr die Hoodoos. Es war Mitternacht und Vollmond, und sie waren angetrunken und ein bisschen high. Sie spielten zwischen den riesigen Sandsteinformationen Fangen und Verstecken, lachten, johlten und kreischten, und all das hallte wider und gab den Felsen selbst eine Stimme. Eine Zeit lang danach konnte einer von beiden spontan eine Partie Fangen starten, und der andere musste mitmachen, ganz egal, wo sie waren – im Supermarkt, im Vorgarten, im Kino, beim Nachbarschafts-Barbecue, wo die halbe Stadt zusah und alle lachten und den Kopf schüttelten. So lief es eine Weile sehr schön, bis er eines Nachts aufwachte und sie im Bad weinen hörte. Am nächsten Abend kam sie in einem seiner T-Shirts und seinen Shorts ins Bett. Und die Nacht darauf schlief Sid alleine.

Beim Laufen hatte er sie jetzt deutlich vor Augen, wie sie auf ihrem gemeinsamen Bett lag, eine Mondblume, ihre weißen Glieder wie Blütenblätter, die sich in der Dunkelheit öffneten. Er erinnerte sich noch an ihr erstes Haus, bei dem der Schnapper der Haustür kaputt war, sodass der Wind sie manchmal aufblies, wenn sie sie nicht verriegelt hatten. Dann saßen sie im kleinen Speisezimmer an einem Tisch voller bunt zusammengewürfelter Tassen, Teller, Messer und Gabeln beim Abendessen, und plötzlich schlug die Tür auf, als hätte sie jemand gestoßen. Sie war dann immer zusammengezuckt, als würde sie irgendjemand ungebeten überrumpeln. Sid hatte sie deswegen immer aufgezogen, aber jetzt fragte er sich, wen genau sie wohl erwartet hatte, der unangekündigt zu ihnen ins Haus kommen sollte. Wer war der Mann mit der Hand am Türknauf, der jederzeit in die Küche rauschen konnte wie der Wind?

Sid rannte, und die Felsen schnitten ihn; die Pinyon-Kiefern packten und kratzten ihn. Trockener Schweiß verkrustete ihm den nackten Rumpf und die Oberschenkel, schon die kürzeste Pause brachte Krämpfe, und seine Beinmuskeln zuckten und peitschten. Unwillkürlich bewegte er die geplatzten Lippen und gab mit jedem schmerzhaften Schritt seltsame Dinge von sich, die Wüste eine stille Zuhörerin, eine ausdruckslose Geschworene, an die er seinen Appell richtete. Ich bin in einer Hundesache mit schlimmen Leuten aneinandergeraten. Binaneinandergeraten. Bindanneinandergerann. Bin dann, ein andrer?, gerannt.

Das hörte sich melodramatisch und verzweifelt an, ein wilder Schrei nach Aufmerksamkeit. Am besten ließ er den Hund da raus und kam gleich zur Sache.

Seit wir nicht mehr sind, renne ich als Geist nackt und blind durch die Wüste. Ist das melodramatisch? Tja, genau das mache ich aber gerade.

Er stellte sich vor, wie er zu ihrem alten, gemeinsamen Haus fuhr und auf die Veranda stieg. Sie würde allein sein und in einem der Strandkleider herauskommen, die sie in den heißen Monaten immer trug, der Stoff wie Mull, wie ein weicher Verband auf ihrem verheilenden Fleisch. Sie würde ihm einen kalten Drink anbieten, und sie würden sich in den Schatten setzen, und die Worte, genau die richtigen, würden aus ihm hervorsprudeln, ein Aufquellen, eine Eruption läuternden Wassers.

Weißt du noch, wie wir in dem einen Winter hoch in den Norden gefahren sind und uns eine Hütte gemietet haben, und ganz in der Nähe war eine heiße Quelle? Wir sind abends immer losgezogen und haben gezittert auf dem Weg zum Wasser, und als wir uns in die Wärme haben gleiten lassen, war das, als hätten wir uns in ein heißes Laken gewickelt. Meine Füße im schwefeligen Schlamm der Quelle, deine Beine um meine geschlungen wie weiße Wurzeln, die die Erde suchen. Weißt du noch? Wie die Rehe kamen, wenn es richtig kalt war, und sich einfach nur in den Dampf stellten, der vom Wasser aufstieg? Und dann, als wir am letzten Tag abfuhren? Wie kalt es da war? Da kamen wir nach draußen, und sofort sind einem die Augenwinkel eingefroren, und du als Mädchen aus dem Süden hattest so was noch nie gesehen und hast ein Foto von mir neben dem Thermometer gemacht, das minus vierzig Grad anzeigt, weil es tiefer nicht geht. Auf dem Bild stehe ich auf der Veranda der Hütte und hinter mir ist der Fluss komplett gefroren, wenigstens sieht er so aus.

In dem Moment stellte Sid sich vor, wie er ihr ein bisschen näher kam und seine schwielige Hand auf ihre legte.

Ich denke manchmal an das Bild und an den Fluss am kältesten Tag des Jahres. Unter dem Eis bewegt sich der Fluss noch. Minus vierzig, aber das Wasser direkt am Grund fließt noch, kalt, aber nicht fest. Als würde der Fluss aus Trotz existieren oder hätte ein geheimes Leben. Oben ist alles gefroren und starr, aber unten bewegt es sich weiter und fließt über die Felsen, als hätte der Zustand an der Oberfläche keine Bedeutung. An so einem Tag kann man über den Fluss gehen wie über eine Straße. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass es direkt unter der äußeren Schale immer noch die Strömung gibt.

Und dann würde es so weit sein. Sie würde mitkommen, sich auf der Sitzbank des Pick-ups an ihn schmiegen, und er würde mit offenen Fenstern losfahren, und ihre Haare würden ihm ins Gesicht, in den Mund und die Augen wehen. Staub und der Geruch ihres Shampoos in der Nase. Sie würden da weitermachen, wo sie aufgehört hatten.

Er stieg ein trockenes Bachbett hoch und stapfte durch den weichen roten Sand, den die Schneeschmelze über die Jahre dort hinterlassen hatte, als er das Gefühl bekam, der Bach sei gar nicht ausgetrocknet, und er würde durch die knöcheltiefe Strömung des schlammigroten Wassers waten. Er hatte Durst. Mann, hatte er Durst, aber als er sich eine ordentliche Doppelhandvoll Wasser an die geplatzten Lippen führte, wurde es wieder zu Sand und rann ihm durch die Finger. Das kam ihm wie ein besonders grausamer Scherz vor, und er hätte sich am liebsten eine dunkle Stelle gesucht, wo er sich mit einem Felsen als Kopfkissen und einem weichen Laken aus Sand zusammenrollen konnte. Aber da war immer noch die Sache mit dem Hund, die Sache mit Charlie Chaplins leeren Augen und seiner Pistole, die in Sids Vorstellung beachtliche Proportionen angenommen hatte. Charlie Chaplin ritt darauf wie auf einer bösen, alten Mähre mit gesplitterten Hufen und verblasstem Brandzeichen. Die Waffe selbst jagte ihn, halb Pferd, halb Schlag- und Todesinstrument. Ein spatkranker Gaul, dessen blau angelaufene Flanken versengt qualmten.

Anfangs war das Laufen auf dem Sand wahnwitzig angenehm, der weiche Boden wie die Antwort auf ein Gebet für Sids wunde Fußsohlen. Je weiter er kam, desto schwerer wurde es aber, der Sand rutschte und gab unter seinen Füßen nach, sodass jeder Schritt seinen sowieso schon schreienden Waden mehr abverlangte.

Als er die Windungen des Bachbetts nicht mehr ertrug, kletterte Sid hinaus auf die offenen Felsen. Von diesem erhöhten Punkt aus beobachtete er, wie der deutlich geschrumpfte Mond zum fernen schwarzen Horizont hinabdriftete wie ein blasser Phosphorstreichholzkopf, der beim Anreißen abgebrochen war. Falls Montana Bob und Charlie Chaplin ihn immer noch verfolgten, gab es dafür keine Anzeichen. Ein kleiner, gelöster Teil von ihm war sich nicht mal sicher, ob die beiden je existiert hatten. Die meiste Zeit konnte Sid den Hund nicht sehen. Manchmal vergaß er ihn ganz. Das Tier lief weiter voraus, still und unbeirrt wie die Erde selbst.

Es war eine laute Dämmerung. Sid hatte so etwas noch nie gesehen oder gehört; als die Sonne den Horizont durchbrach, hörte es sich an, wie wenn ein stumpfes Messer ein Bettlaken zerfetzt. Er ging jetzt ziemlich steif, schwang die Arme in weiten Kreisen und schlug sich gegen die Kälte auf die Oberschenkel und den Rumpf. Er schaute runter, und sah sich zum ersten Mal richtig, auf den Waden die wütendroten Striemen, wo die Zweige ihn gepeitscht hatten, die violetten, gespaltenen Fußnägel, die erhabenen blauen Linien geschwollener Adern und über allem eine Schmutzpatina aus Schweiß, Wüstenstaub und Blut.

Er erreichte die Kuppe eines Hügels und konnte vor sich am Hang eine rostige Tränke sehen. Sie wurde von einer schiefen Windpumpe gespeist und ragte aus einem Grüppchen Akazien hervor. Er glaubte nicht an die Tränke. Die war wie der Fluss mit dem Schlammwasser, sie würde doch nur austrocknen und ihm wie Sand durch die Finger rinnen. Er setzte sich auf einen flachen Felsen und beobachtete. Dem Windrad fehlten ein paar Blätter, und er wusste, dass in der Tränke kein Wasser war. Das war eine endgültige Wahrheit, die Sid spürte wie die Schwerkraft. Nach einer Weile kam der Hund aus einem Wüstensalbeibusch hervor, lief zielstrebig auf die Tränke zu und soff daraus, wobei sein Schwanz in einem sanften Lufthauch wehte, der bei Sid nicht ankam.

Als Sid den Hang hinunterhumpelte, spannten sich seine Muskeln und Bänder wie die Darmsaiten eines Tennisschlägers. Mit weit aufgerissenen Augen tauchte Sid den ganzen Kopf ins Wasser, das metallisch und von der letzten Nacht eiskalt schmeckte. Am Boden der Tränke hatte sich eine Schicht neongrüner Algen angesetzt, über denen ein einsamer orangefarbener Karpfen schwebte wie ein Zeppelin. Sid wollte hineinsteigen und dort mit dem Karpfen in seiner Wüste in der Wüste leben. Aber das Wasser war kalt, und er wusste, dass der Karpfen ihn nicht wollte. Sid trank, bis er aus dem Augenwinkel schwarze Punkte sah, kleine schwarzbeinige Formen wie Wasserläufer auf der klaren Oberfläche am Rand seines Sichtfelds. Er riss den Kopf hoch, japste nach Luft und sackte mit dem Rücken zur Tränke zusammen, sodass sich ihm die Nieten ins Fleisch drückten. Aus dieser Perspektive konnte er das verbogene Innenleben der Windpumpe sehen, die kaputten Einzelteile, die nur noch von Bindedraht zusammengehalten wurden. Der Hund lief unter der Akazie herum, das Fell an den Pfoten etwas rot von der Berührung der Wüstenfelsen, und pflügte mit der Schnauze durchs tote Gras des letzten Jahres. Über dem Hund in den gebogenen Akazienästen sah Sid zwei Spatzen, die auf Dornen gespießt waren.

Als Sid aufwachte, hockte Charlie Chaplin neben ihm, sein Oxford-Hemd wüstenrot gefärbt, seine Cordhose staubig. Über die blassen Wangen liefen ihm zwei Rinnsale, die wohl aus Tränen bestehen mussten, und seine Augen waren feucht und rot. Er hatte sein Messer gezogen und stichelte damit an Sids nacktem Oberschenkel herum, sodass sich strahlende kleine Blutperlen bildeten, als hätte seine Haut eine Horde Ameisen angezogen. Der Anzahl nach zu urteilen, war Charlie Chaplin wohl schon eine Weile am Werk. Als er sah, dass Sid wach war, wischte er sich die Wangen mit dem Ärmel ab. Er versetzte Sid einen letzten kleinen Stich, steckte das Messer in die Scheide und stellte sich neben Montana Bob, der eine Kette in der Hand hielt, die er dem Hund am Halsband eingehakt hatte. Der Hund lag Montana Bob zu Füßen, die Schnauze auf den Pfoten.

»Was zum Teufel? Warum?« Montana Bob zog sich den Hut gegen die Sonne tiefer ins Gesicht.

Darüber dachte Sid kurz nach, hob dann die Hände und zuckte die Schultern.

»Ich bin schon immer gerne gelaufen.« Und als er es aussprach, wurde ihm klar, dass es stimmte.

»Du siehst ja aus wie etwas von einem anderen Planeten. Eher tot als lebendig. Außerdem ist Charlie Chaplin etwas ungehalten wegen dir. Er trägt Kontaktlinsen, und da du uns die ganze Nacht hier draußen durch den Staub geschickt hast, geht es seinen Augen gar nicht gut. Deshalb tränen sie, lässt er dir ausrichten. Er weint nicht. Der Staub macht ihm zu schaffen. Außerdem hat er seine Pistole verloren. Ist ihm während der Fahrt aus dem Hosenbund gerutscht. Und ich weiß, dass sie ihm fehlt.«

Sid erwischte sich beim Nicken. Die Bewegung geschah fast unwillkürlich, und er musste sich zum Aufhören zwingen.

»Du dummer Drecksack. Ich weiß gar nicht, was ich mit dir anstellen soll. Andererseits hast du dir wohl selbst schon so einiges angetan. Was meinst du, Charlie Chaplin?«

Sid sah hoch in das blasse, schmutz- und tränenverschmierte Gesicht des Buchhalters. Er konnte es nicht deuten. Charlie Chaplin hockte sich mit einem Ächzen hin und löste die Schleife seiner Bootsschuhe. Er trat sie sich in Sids Richtung von den Füßen, drehte sich um und stieg auf das Quad. Vom Knöchel abwärts waren seine Socken strahlend weiß. Montana Bob setzte sich ohne ein weiteres Wort vor Charlie Chaplin und fuhr los, sein Buchhalter hielt sich von hinten an seiner Taille fest, und sein Hund trabte an der Kette nebenher.

Es dauerte lange, bis Sid aufstehen und losgehen konnte und langsam seinen blutigen Fußspuren folgte. Erst später, als der Schmerz zu heftig wurde, zog er sich die Bootsschuhe über die ruinierten Füße und fühlte dabei gleichzeitig Wonne und Verrat. Irgendwie war er mit den Schuhen nackter als ohne, und er stellte sich vor, wie er zurück in die Stadt würde schlurfen müssen, nicht mehr frei, sondern nur noch entblößt. Dann überlegte er sich, ob er es wagen sollte, einfach nach Osten abdrehen und weitermarschieren, bis er entweder verdunstete oder ankam und bei ihr auf der Veranda zusammensackte. Und sie anflehte, ihm die Füße zu waschen.

SCHNEESCHMELZE

Es war der 21. Juni, der längste Tag des Jahres, und am Beartooth Pass lag immer noch zweieinhalb Meter hoch der Schnee zu beiden Seiten der Straße. Dale war mit Jeannette und ihren beiden Jungs hier hochgefahren. Unten in der Stadt waren 21 Grad gewesen, als sie oben ankamen, gerade mal 10. Sie rutschten die weichen Gletscherkanten hinunter und machten eine Schneeballschlacht. In der Höhe war der Himmel nah, und sie bekamen alle einen leichten Sonnenbrand. Abends bei ihr zu Hause grillte Dale Hamburger, und sie aßen auf der Veranda. Normalerweise tröpfelte der Bach im Garten nur, aber jetzt gurgelte er und hatte die Farbe von dünnem Kakao.

Nach dem Abendessen rieb Jeannette den Jungs Aloe-vera-Lotion auf die roten Wangen und brachte sie ins Bett, wogegen sie protestierten. »Ist ja noch gar nicht dunkel«, hörte Dale den älteren sagen. »Wenn es noch hell ist, kann ich nicht schlafen.«

»Das war ein langer Tag für euch«, erwiderte Jeannette. »Ihr wisst nur noch nicht, wie müde ihr seid.«

Sie kam mit einem Bier für ihn und einem Glas Wein für sich wieder nach draußen. Auch die Aloe-vera-Flasche hatte sie noch, und sie setzte sich ihm auf den Schoß. Sie massierte ihm die Lotion ein, am Hals, an den Ohrläppchen, über den Wangenknochen. Jeannette hatte kleine Hände, starke Finger und kurze Nägel. Bevor sie ihren Mann kennengelernt hatte, war sie Masseurin gewesen. Sie erzählte Dale, dass ihr Mann nach der Hochzeit nicht offen darauf bestanden habe, dass sie den Job aufgebe. »Das konnte er immer gut, versteckte Forderungen stellen. Ich war eine gute Masseurin. Ich mochte die Arbeit. Ihm war das alles zu sinnlich, und er wollte nicht, dass ich das bei anderen Männern mache.«

»Zu sinnlich also?«, fragte Dale.

»Na ja, Happy Endings gab es bei mir nicht gerade. Ich überlege, ob ich nicht wieder anfangen soll. Ist jetzt zehn Jahre her, aber ich habe noch den Tisch und alles. Das Geld könnte ich gut gebrauchen.«

»Ich spiele gerne das Versuchskaninchen. Das mit den Happy Endings kannst du dir ja noch mal überlegen.« Sie lachte und schlug nach ihm.

Die Aloe vera kribbelte ihm auf den Wangen. Jeannette hatte ihm den Kopf auf die Schulter gelegt. Er spürte ihre Wärme durch den dünnen Stoff des Sommerkleides. Sie war eine kleine Frau. Kleine Brüste, schlanke Taille, zarte Füße, schönes, volles, schweres schwarzes Haar. Eine Abneigung gegen Unterwäsche, die er attraktiv fand. Dieses Jahr hatte sie ihren Vater an den Krebs verloren, war dreiundvierzig geworden und hatte zugesehen, wie ihr Mann in Handschellen abgeführt wurde.

Sie rutschte bei Dale auf dem Schoß etwas hin und her, als wollte sie es sich gemütlich machen. Sie seufzte. »So ein schöner Tag. Der schönste seit Ewigkeiten. Und den Jungs hat es auch gefallen. Die mögen dich sehr. Das sagen sie selbst, denk ich mir nicht bloß aus.«

»Eigentlich habe ich mir immer schon kleine Brüder gewünscht«, sagte Dale und wusste sofort, dass das nicht das Richtige gewesen war. Jeannette lachte leise und nippte an ihrem Wein. »Wie alt wäre deine Mutter jetzt?«, fragte sie.

»Viel älter als du.«

»Wie viel?«

»Spielt keine Rolle. Du bist hinreißend.«

»Dann gehöre ich wohl doch noch nicht ganz zum alten Eisen.«

Dale war vor kurzem fünfundzwanzig geworden. Das College hatte er nicht geschafft. Jetzt stand er kurz vor der Abschlussprüfung zum Rettungssanitäter, aber die letzten paar Monate wohnte er bei seinem Vater im Keller. Dass er Jeannette kennengelernt hatte, war für ihn der größte Glücksfall seines Lebens. Vorher hatte er ein Jahr lang etwas mit einer anderen gehabt. Einer Bankangestellten. Sie rief ihn eine Woche lang jeden Tag an, bevor sie schließlich aufgab.

Manchmal dachte er an Jeannettes Mann, aber nicht oft. Als Letztes hatte sie ihm erzählt, er sei in einem Resozialisierungszentrum in Billings. Die Jungs wollten sich mit ihm treffen, aber sie war sich noch unsicher. Es schien ihr ein bisschen zu früh. Die meiste Zeit sprach sie nicht von ihm, und Dale fragte nicht.

Sie saßen in der langsamen Dämmerung der Sonnenwende auf der Veranda. Der Flieder hatte sich geöffnet, und sein Geruch lag schwer in der Luft. Dale massierte ihr den Nacken mit dem Daumen und hörte dem dumpfen Murmeln des Baches zu, das klang wie eine anschwellende Menschenmenge, kurz bevor sie ihrem Unmut Luft macht.

Morgens ging Dale joggen. Damit hatte er vor kurzem als Teil des allgemeinen Vorhabens angefangen, sich in den Griff zu bekommen. Er hatte es mit Meditieren versucht. Das hatte nicht so recht geklappt. Laufen dagegen war gut. Er band sich die Schuhe im Dunkel seines Kinderzimmers, nahm mit jedem Schritt zwei Treppenstufen und lief eine Acht-Kilometer-Runde. Über die Gleise, die die Stadt durchschnitten und deren Schotterbett ihm unter den Sohlen knirschte, und den Hang runter zum Fluss.