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Als sich Leonard Nimoy (1931–2015) und William Shatner 1966 am Set von Star Trek kennenlernen, ahnten sie nicht, dass die Serie ihr Leben verändern würde. Nicht nur entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Männern. Auch wurden ihre beiden Alter Egos Captain Kirk (Shatner) und Mr. Spock (Nimoy) zu einem festen Bestandteil der Popkultur. Vor allem der unemotionale, stets auf Logik bedachte Vulkanier Mr. Spock, erster Offizier des Raumschiffes USS Enterprise und das Gegenstück zu seinem menschlich-emotionalen Captain, ist bis heute Kult.

Doch auch der Mann hinter Mr. Spock führte ein spannendes Leben, wie William Shatner in dieser liebevollen und äußerst unterhaltsamen Biografie seines besten Freundes zeigt. Shatner beleuchtet die Höhen und Tiefen, durch die Leonard Nimoy als Künstler, Familienvater, gläubiger Jude und Alkoholiker ging, und lässt seine Familie und Weggefährten zu Wort kommen. Zudem gibt er Anekdoten vom Star-Trek-Set zum Besten und gewährt Einblicke in sein eigenes Leben.

Kirk und Spock, Shatner und Nimoy: zwei TV-Ikonen und ihre gemeinsame Geschichte – faszinierend!

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Leonard – My Fifty-Year Friendship with a Remarkable Man bei Thomas Dunne Books, an imprint of St. Martin’s Press, New York.

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Deutsche Erstausgabe 10/2016

© by William Shatner 2016

Published by arrangement with St. Martin’s Press, LLC. All rights reserved.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Photo research: Liz Seramur, selected Shots Photo Research, Inc.

Redaktion: Dr. Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich,

nach einer Idee von Lloyd Jones, Pan Macmillan Art Department

unter Verwendung eines Fotos von © INTERTOPICS/mptv

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20641-3
V002

www.heyne.de

Ich widme dieses Buch einem Menschen, dessen mehr als dreiundachtzigjährige Lebensreise voller Freude und Wut war, voller Zynismus und Idealismus, dem endlosen Strom an sich stetig wandelnden und entwickelnden Emotionen. Wir Menschen leben mit der Last der Vergangenheit – sie ist eine Nervensäge, erzwingt Veränderungen. Leidenschaft verwandelt sich in Gleichgültigkeit, aus Freude wird Sorge, und die Liebe nimmt viele Schattierungen an. All dies sind die miteinander verwobenen Elemente der menschlichen Existenz. So bin ich, so sind Sie, und so war er. Ich widme dieses Buch meinem lieben Freund Leonard Nimoy und seiner warmherzigen Familie.

EINS

Der Tod ist das Ende eines Lebens, aber nicht das Ende einer Verbindung.

ROBERT ANDERSON, DRAMATIKER

Am Ende des zweiten Star-Trek-Films, Der Zorn des Khan, sieht die Enterprise ihrer Zerstörung entgegen. Das Raumschiff hat weniger als vier Minuten Zeit, um der Aktivierung des Genesis-Projektils zu entkommen. Aber wegen ihres beschädigten Warpantriebs ist es nicht schnell genug. Er kann repariert werden – doch das ist eine selbstmörderische Mission. Im Reaktorraum herrscht inzwischen schon eine so hohe Strahlung, dass jeder, der dort Reparaturen ausführt, sterben wird. Als Dr. McCoy zu Spock sagt: »Kein Mensch kann diese Strahlung dort drin aushalten«, antwortet Spock wie immer logisch: »Wie Sie schon so oft bemerkt haben, Doktor, ich bin kein Mensch.«

Nachdem er McCoy mit einem Vulkanischen Nackengriff außer Gefecht gesetzt hat, betritt Spock den Reaktorraum und rettet das Raumschiff und seine Besatzung. Doch es kostet ihn das eigene Leben.

Als Kirk realisiert, was geschehen ist, eilt er hinunter in den Maschinenraum. Spock liegt im Sterben. Die beiden Männer, die im gesamten Universum Seite an Seite gekämpft haben, sind durch eine Glaswand voneinander getrennt. In seinen letzten Augenblicken sagt Spock zu Kirk: »Seien Sie nicht traurig, Admiral, seien Sie logisch. Die Bedürfnisse vieler … sind wichtiger …«

»… als die Bedürfnisse weniger«, vervollständigt Kirk den Satz.

»Oder des Einzelnen«, fügt Spock hinzu und legt die Hand mit einem Vulkanischen Gruß an die Scheibe. Von der anderen Seite legt Kirk seine Hand daran, und es sieht aus, als würden ihre Hände sich berühren. Ein endgültiger Abschied. Mit seinem letzten Atemzug sagt Spock zu Kirk: »Ich war es … und werde es immer sein … Ihr Freund. Leben Sie lang … und in Frieden.«

Am Ende des Dokumentarfilms Mind Meld: Secrets Behind the Voyage of a Lifetime (2001), der einfach aus einem langen Gespräch zwischen Leonard Nimoy und mir besteht und unsere lebenslange Reise an Orte thematisiert, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat, befinden wir uns in seinem Arbeitszimmer. Irgendwann zu Beginn des Films betrachten wir eine gerahmte Fotografie von uns in unseren Star-Trek-Kostümen, ein altes Coverfoto des TV Guide. »Das sind wir«, sagte Leonard nachdenklich. »Siamesische Zwillinge.«

»Genau«, stimmte ich ihm zu. »Du und ich, an der Hüfte zusammengewachsen.« Einige Sekunden später füge ich hinzu: »Du und ich, wir haben mehr als unser halbes Leben miteinander verbracht. Ich betrachte dich als einen meiner engsten Freunde, ja, als meinen engsten Freund. Ich habe dich wirklich sehr, sehr gern.«

Leonard war kein Mensch, der in der Öffentlichkeit Gefühle zeigte. Genau wie seine Figur Spock war auch er sehr reserviert. »Geht mir genauso«, war die stärkste Reaktion, zu der er sich in diesem Augenblick durchringen konnte. Aber am Ende derselben Dokumentation stehen wir nebeneinander und blicken in die Kamera, als er mir plötzlich und ziemlich unerwartet den Arm um die Schultern legt und herausplatzt: »Du bist mein bester Freund.«

Mr. Spock und Captain James T. Kirk, die Figuren, die Leonard und ich bei Star Trek verkörperten, waren beste Freunde, und so war es auch im wahren Leben. Wie die Millionen Menschen, die ihn bewunderten, werde auch ich ihn immer vermissen.

Zwischen Leonards und meinem Geburtstag liegen vier Tage. Ich kam zuerst auf die Welt, bin also der Weisere, Reifere und Erfahrenere von uns beiden, während er vor allem gern betonte: »Du bist viel älter als ich.« Zwar erinnerten wir uns später beide nicht mehr daran, aber wir begegneten uns bereits 1964 zum ersten Mal, als wir beide in einer Folge von Solo für O.N.C.E.L. auftraten. Ich spielte einen scheinbar betrunkenen Lebemann, er einen russischen Bösewicht. In unserer ersten gemeinsamen Szene legte ich den Arm um Leonards Schulter, hob mein Martiniglas und nuschelte: »Calvin Coolidge! Wie geht’s, alter Junge? Willst du mal probieren?« Aber unsere Freundschaft, die fünfzig Jahre andauern sollte, begann erst im Juli 1965, als wir unsere erste Star-Trek-Folge zusammen drehten.

Natürlich ahnten wir damals nicht, dass wir einmal beste Freunde werden würden. Genauso wenig war uns bewusst, dass wir dabei waren, zwei der größten Kultfiguren der amerikanischen Kulturgeschichte zu erschaffen. Wir waren einfach zwei Schauspieler, die zur Arbeit erschienen. Ehrlich gesagt hatte ich, bis sich die Freundschaft mit Leonard entwickelte und wenn ich einmal von meinen Ehefrauen absehe, nie einen richtigen Freund. Ich wusste nicht einmal, was das war. Ich hatte niemals jemanden gehabt, dem ich mich emotional völlig öffnen konnte. Natürlich gab es einige wunderbare Menschen, die mir nahestanden, Menschen, auf die ich mich verlassen konnte. Aber mein Innerstes preisgeben, das Geheimste und Quälendste darin, in dem Wissen, dass es im Herzen des anderen genauso fest verschlossen sein wird wie im eigenen, das konnte ich nur bei Leonard. Wir haben drei Staffeln lang miteinander gearbeitet. Während der Dreharbeiten verbringen Schauspieler mehr Zeit am Set als mit ihren Familien. So entwickeln sich ungezwungene Freundschaften. Gemeinsam erträgt man Spott und das Gefühl der Unzulänglichkeit. Man treibt sich gegenseitig über seine Grenzen, um noch bessere Arbeit abzuliefern. Man schlägt sich mit dem Empfang und der Bürokratie herum und bringt am Ende etwas Gutes hervor. Bei all dem lernen viele von uns, einander zu schätzen und sich aufeinander zu verlassen.

Bevor wir Star Trek machten, drehte ich zum Beispiel eine Serie mit dem Titel For the People mit Howard Da Silva, Lonny Chapman und Jessica Walter. Es war eine tolle Arbeit, und die Leute waren meine besten Freunde. Als alles vorbei war, umarmten wir uns, sagten einander, wie viel wir uns bedeuteten, schworen uns ewige Freundschaft – und sahen uns nie wieder. Lange nach Star Trek hatte ich eine Rolle in Boston Legal mit James Spader. Oh, Mann, war ich vernarrt in den! Wir sorgten füreinander, respektierten uns. Außerdem lernte ich von ihm, wie sinnvoll es ist, sich einem Problem zu stellen, anstatt es zu vergraben und zu hoffen, es werde sich in Luft auflösen. Die Rollen, die wir spielten, standen sich so nahe, dass ich vorschlug, wir sollten heiraten, denn wenn ich später einmal senil würde, bekäme er so die Vormundschaft für mich. Fern vom Set standen wir uns nicht ganz so nahe, aber ich betrachte ihn durchaus als einen guten Freund. Riefe ich ihn an und bäte um irgendeinen abwegigen Gefallen, schlüge er ihn mir sicher nicht ab. Als die Serie beendet war, stand fest, dass wir für immer befreundet sein würden. Abgesehen von einigen Ausnahmen haben wir seitdem nichts mehr voneinander gehört.

Das ist typisch für Freundschaften zwischen Schauspielern. Sie tendieren dazu, tief und kurzfristig zu sein. Während der Abschlussparty umarmen wir uns fest und eng, egal, ob Mann, Frau oder Kind – wir haben zusammen gekämpft. Ich hab dich lieb. Ich werde dich nie vergessen. Du wirst für immer mein Freund sein. Aber innerhalb weniger Tage tritt man, wenn man Glück hat, einen neuen Job an, und das Leben füllt sich mit neuen, ebenso wunderbaren Menschen, und man sieht sich nie wieder. Bei jeder Serie, jedem Film und jedem Theaterstück, wo immer ich mitgespielt habe, hatte ich gute Freunde, die ich danach aus den Augen verlor.

Mit Leonard war das nicht so. Der normale Lauf der Dinge wäre gewesen: Nach drei Jahren am Set einer verhalten erfolgreichen Serie hätten wir jede Menge Respekt und positive Gefühle füreinander entwickelt und wären nach Abschluss unseres letzten Drehtags unserer Wege gegangen. Doch es kam anders, es geschah etwas Unvergleichliches. Statt nach der Erstausstrahlung in den Tiefen der Filmgeschichte zu versinken, wurde Star Trek eine der beliebtesten Serien aller Zeiten. Sie wurde ein fester Bestandteil der amerikanischen Kultur. Leonard und ich machten fünf Filme zusammen, von denen er bei zweien Regie führte, ich bei einem. Wir besuchten pro Jahr mehrere Conventions, hatten darüber hinaus weitere gemeinsame Termine und drehten sogar Werbespots. Den Umständen nach hätten wir verschiedene Richtungen einschlagen müssen, aber der beispiellose Erfolg von Star Trek brachte uns immer wieder zusammen.

Unsere Freundschaft wurzelte in vielen Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel hatten wir eine ähnliche Kindheit verlebt. Beide waren wir in einer jüdisch-orthodoxen Immigrantenfamilie der unteren Mittelschicht aufgewachsen, in religiös gemischten Vierteln zweier großer Städte. Beide entdeckten wir den Zauber der Schauspielerei, als wir noch sehr jung waren, und nutzten sie, um unsere emotionalen Bedürfnisse zu stillen. Um unsere Träume zu verwirklichen, setzten wir uns beide über unsere Väter hinweg. Wir hatten unsere Familien, unsere Kinder, unser Zuhause und unsere Ehen, eine starke Arbeitsmoral, das Bedürfnis nach Anerkennung und großen Respekt vor dem Beruf, den wir uns ausgesucht hatten. Wir begleiteten uns durch Ehen und schmerzhafte Scheidungen, wir rangen mit dem Studio, ja, wir bekamen sogar gleichzeitig einen Tinnitus. Vor allem aber teilten wir eine außergewöhnliche Erfahrung, die sehr wenige Menschen in ihrem Leben machen. Wir wurden von denselben Windstößen emporgetragen und umhergestoßen, und es gab außer uns wirklich niemanden, der verstand, was das hieß. Aber unabhängig von allem – vom Erfolg, von der Anerkennung, vom Applaus – verbrachte ich einfach gern Zeit mit diesem Kerl. Leonard war clever, witzig und sympathisch. Er hatte sich allen Herausforderungen seines Lebens gestellt und eine Menge daraus gelernt, und er war so liebenswürdig, diese Lehren mit mir zu teilen.

Ich empfand tiefen Respekt für ihn und bewunderte sein künstlerisches Talent. Es gibt Menschen, die durchs Leben eilen und den verschiedensten Leidenschaften erliegen. Leonards Leben hingegen entfaltete sich langsam, und es entwickelten sich Leidenschaften, die ich nie in ihm vermutet hätte. Als Schauspieler schuf er eine archetypische Figur, die Teil unserer Kultur wurde. Er war ein sehr erfolgreicher Regisseur und ein wunderbarer Fotograf. Er schrieb Theaterstücke, trat darin auf und veröffentlichte Bücher mit eigener Lyrik. Leonard Nimoy war der einzige mir bekannte Mensch, der Shakespeare auf Jiddisch spielen konnte. Er war imstande, die Schönheit von Shakespeares Stücken zu vermitteln, selbst wenn man als Zuschauer kein Wort verstand außer »Oy gevalt, Hamlet«.

Er war mein Freund. Aber dem Projekt Global Family Reunion zufolge waren wir auch entfernte Verwandte. Angeblich bin ich der Großneffe sechsten Grades von der Frau vom Onkel von Leonards Frau Susan. So oder ähnlich. Zugegebenermaßen haben wir darüber nie gesprochen, aber in gewisser Hinsicht waren wir tatsächlich verwandt, waren aus demselben Holz geschnitzt. Uns prägte dieselbe historische Situation. Unsere Lebensläufe wurden vom selben Hass einerseits, vom Mut und von den Sehnsüchten unserer Familien andererseits beeinflusst. Wir stammten von Juden ab, die aus Osteuropa geflohen waren, um der Verfolgung zu entkommen. Leonards Eltern stammten aus dem ukrainischen Dorf Isjaslaw. Seine Mutter und Großmutter wurden unter Heuballen auf der Ladefläche eines Fuhrwerks aus der gerade erst gegründeten Sowjetunion geschmuggelt und schafften es bis nach Amerika. Sein Vater schlich sich zu Fuß über die Grenze, segelte zuerst nach Buenos Aires und dann weiter nach New York. Als Leonards Vater herausfand, dass ein Cousin in Boston einen Friseurladen eröffnete, ließ er sich ebenfalls dort nieder, traf Leonards Mutter wieder und heiratete sie. Genau wie Leonards Familie stammte auch meine Familie aus Osteuropa. Meine Großeltern kamen aus der Ukraine, aus Litauen und der österreichisch-ungarischen Monarchie. Leonard und ich wurden beide im März 1931 geboren.

Wir wuchsen beide im West End auf. Meine Familie lebte im West End von Montreal, seine in dem Bostoner Viertel mit dem gleichen Namen. Mein Vater war im Schmatta-Geschäft und nähte günstige Anzüge für Arbeiter, die nur jeweils einen Anzug besaßen. Leonards Vater hatte einen Friseurladen. Ich wuchs in einer hauptsächlich katholisch geprägten Umgebung auf, während das West End in Boston der Schmelztiegel Amerikas war, wo Italiener, Juden, Polen, Iren, kurz, jeder europäischstämmige Einwanderer lebte. Und sogar, wie Leonard es beschrieb, »eine Prise Schwarzer«. In den meisten Immigrantengemeinden gab es ein starkes Gleichheitsgefühl: Wir besaßen alle nichts. Ich erinnere mich an die Handwagen und die Bettler, den Eismann, der Eisbrocken lieferte, womit die kleinen Truhen kalt gehalten wurden, den Singsang und die Glocken der Händler, die langsam durch die Straße fuhren. Leonard konnte die Sprüche der Händler auf Jiddisch wiedergeben: »Wir haben Garn, wir haben Nadeln, wir haben Stoff, wir haben Schleifen. Was benötigen Sie? Es ist alles hier auf meinem Wagen.«

Keiner von uns beiden hatte echte Armut erlebt, doch da wir zur Zeit der Weltwirtschaftskrise aufwuchsen, hatten wir genug davon gesehen. Leonard erinnerte sich an die Familien, deren Wohnungen zwangsgeräumt worden waren. Die saßen dann mit ihrem Hab und Gut auf dem Bürgersteig und warteten darauf, dass sie jemand mit einem Fuhrwerk abholte und irgendwohin brachte. Niemand von ihren alten Nachbarn hörte dann jemals wieder von ihnen.

Im Rückblick fällt mir auf, dass ich viel mehr über Leonards Kindheit weiß als er über meine eigene. Leonard war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, und er konnte die Menschen und Orte seiner Kindheit sehr lebendig wiedergeben. Im Friseurladen seines Vaters – ein Haarschnitt für fünfundzwanzig Cent, eine Rasur für zehn – gab es drei Stühle, ziemlich extravagant für diese Gegend, aber ein Großteil des Lebens spielte sich im Hinterzimmer ab. Anscheinend war dies der Ort, an dem man sich traf. Dort war immer ein Binokelspiel im Gang, vielleicht auch andere Spiele, über die nicht viel geredet wurde. Wenn jemand knapp bei Kasse war und sich ein paar Mäuse leihen musste, war er hier genau richtig. Leonards Vater war nämlich der Schatzmeister der Genossenschaftsbank der Isjaslaw-Gesellschaft, der die Einwanderer beitraten, um sich wenn nötig gegenseitig zu unterstützen. Leonard erinnerte sich an Menschen, die einmal in der Woche in den Modern Barbershop kamen, um seinem Vater einen ganzen Dollar zu überreichen.

Leonard und sein älterer Bruder wuchsen in einer Wohnung mit ihren Eltern und Großeltern auf. Genau wie bei mir war es ein koscheres Zuhause, wo es vielleicht keinen Luxus gab, aber immer drei verschiedene Teller. Viele jüdische Immigranten im West End, auch Leonards Großeltern, sprachen hauptsächlich Jiddisch, wodurch Leonard die Sprache nahezu fließend beherrschte. Er liebte ihren Klang und wiederholte häufig Redewendungen seiner Großmutter. So zum Beispiel: »Du sollst wie eine Zwiebel heranwachsen, mit dem Kopf im Boden und den Füßen in der Luft.« »Geh und schlag mit dem Kopf gegen die Wand, wenn dir langweilig ist und du nichts zu tun hast.« Zu der Zeit, als wir uns anfreundeten, machte er sich Sorgen, er könne seine Jiddischkenntnisse verlieren. Er suchte sich also eine Jiddisch sprechende Psychiaterin in Los Angeles und bezahlte sie einmal pro Woche für eine einstündige Sitzung, nur um mit ihr auf Jiddisch zu plaudern.

Er war immer stolz darauf, einer aus dem West End zu sein. Er benannte sein Haus am Lake Tahoe und auch sein Boot danach. Menschen wie wir, die in einer solchen Umgebung aufgewachsen sind, tragen die Werte, die uns dort vermittelt wurden, ein Leben lang mit uns. Für Leonard bedeutete dies, ein pflichtbewusster Bürger zu sein, andere zu respektieren, der Gemeinde etwas zurückzugeben, indem man Hilfsbedürftigen unter die Arme griff, hart zu arbeiten und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Leonard beschrieb seine Eltern als fleißige, hochanständige Menschen, die sich ständig Sorgen um die Zukunft machten. »Alles, was meine Eltern taten, war von Angst überschattet«, sagte er. »›Was kann passieren, wenn man dies oder jenes tut? Sei vorsichtig, sei ja vorsichtig!‹« In seiner Familie war der Großvater Sam Spinner ein echter Charaktertyp. Wenn Leonards Eltern sagten: »Nein, tu das nicht, es ist zu gefährlich«, schob sein Großvater ihm einen Dollar zu und sagte: »Hier, unternimm etwas!«

Sein Großvater war derjenige, der ihn fortwährend antrieb, etwas zu versuchen, etwas zu tun. Er war der Abenteurer der Familie, der als Erster nach Amerika gegangen war und den Rest der Familie einen nach dem anderen nachgeholt hatte. In meiner Familie hatte mein Vater diese Aufgabe übernommen. Er kam mit vierzehn allein nach Amerika und verhalf über viele Jahre hinweg jedem seiner zehn Geschwister ebenfalls zur Überfahrt.

Mein Vater schnitt Stoffe zu und nähte Anzüge. Sam Spinner war Lederschneider. Ich weiß noch, wie Leonard mir erzählte, dass er nach Ablauf seiner ersten Jahre in Hollywood nach Hause kam und sein Großvater sich gebückt und seine Lederschuhe abgetastet habe, um festzustellen, wie erfolgreich er war. Brauchte Leonard neue Absätze, wusste sein Großvater, dass es nicht gut lief.

Und natürlich waren wir beide zu jener Zeit Antisemitismus ausgesetzt. Ich musste mir tatsächlich überlegen, wie ich die Hebräischschule unbeschadet erreichte: Ich ging auf der anderen Straßenseite daran vorbei – und rannte dann über die Straße ins Gebäude. Trotzdem geriet ich in genügend Auseinandersetzungen mit den katholischen Kindern. Ich war hart im Nehmen, und das war sogar mein Spitzname: »Toughie«, zäher Bursche. Leonards Familie gab ihm den Kosenamen Liebe, wie das deutsche Wort. Der Moment, der ihn am nachhaltigsten beeindruckte, ereignete sich während des Zweiten Weltkriegs. Sein Vater ließ plötzlich die Zeitung sinken und sagte leise: »Sie bringen Juden um.« Er meinte die europäischen Juden, von denen viele entfernte Verwandte von uns waren. Unter allen Juden war das Gefühl, das hätte ich sein können, sehr verbreitet. Auf Kinder im Alter von Leonard und mir hatte das eine starke Wirkung. In jüdischen Wohnungen fanden viele geflüsterte Gespräche statt über die Frage, ob Franklin Roosevelt gut für die Juden war. Er wurde in der jüdischen Gemeinde viel dafür kritisiert, dass er die Bahnschienen in die Konzentrationslager nicht bombardiert hatte. Mancher wandte allerdings ein, dann hätte es Klagen gegeben, und er mache sich mehr Gedanken um die Juden als darum, den Krieg zu gewinnen. Das Ergebnis war in jedem Fall, dass die Juden auf sich allein gestellt waren. Sie waren anders, und ich vermute, Leonard empfand das mindestens ebenso stark wie ich. Das gehörte zu unserem gemeinsamen Erbe.

Sowohl Leonard als auch mir rief man alle erdenklichen judenfeindlichen Schimpfwörter hinterher. Solche Erlebnisse erzeugen so etwas wie einen gemeinsamen Hintergrund, und als wir uns kennenlernten, trugen diese Erfahrungen dazu bei, uns zusammenzuschweißen. Es funktioniert fast wie eine emotionale Schnellschrift.

Wir lernten auch den Wert eines Dollars schätzen und erbten eine solide Arbeitsmoral. Später im Leben nahm Leonard mich und die Tatsache, dass ich mit dem Arbeiten nicht aufhören kann, einmal sehr treffend aufs Korn. »Es ist Viertel vor vier«, sagte er auf beste Shatner-Art. »Was steht für zehn nach vier auf dem Plan? Wenn ich hier um sechzehn Uhr zweiunddreißig fertig bin, können wir etwas für zwanzig vor fünf einplanen.« Aber in Wahrheit legte Leonard die meiste Zeit seines Lebens denselben Arbeitseifer an den Tag wie ich. Es lag uns einfach im Blut, uns Sorgen um den nächsten Job, das nächste Honorar zu machen. Im Grunde arbeiteten wir beide unser Leben lang.

Als Heranwachsender war es mein Job, die Anzüge in der Fabrik meines Vaters zu verpacken. Ich bin heute noch sehr stolz auf meine Faltfähigkeiten. Ich habe oft gesagt, wenn es mit der Schauspielerei nichts geworden wäre, hätte ich eine Karriere im professionellen Falten hingelegt.

Als Kind nahm Leonard jeden verfügbaren Job an. Er verkaufte Zeitungen, arbeitete im Kartenladen seines Cousins, putzte Schuhe und stellte Stühle für das Boston Pops auf. Für welche Arbeit auch immer jemand bezahlte, Leonard übernahm sie. Er verkaufte sogar Staubsauger für die Firma Ace. Das Geld besserte die Familienfinanzen spürbar auf. Leonards eindrücklichste Erinnerung an den Tag, als die Japaner Pearl Harbor angriffen, war zum Beispiel, dass er alle Ausgaben des Boston Record verkauft hatte und keine neuen auftreiben konnte.

Keiner von uns beiden war ein besonders guter Schüler. In der echten Welt gab es so viel zu lernen, dass die Schule unsere Aufmerksamkeit nicht ernsthaft fesselte. Aber eine Fähigkeit besaßen wir beide in hohem Maß: Wir konnten reden. Meine Mutter war Rhetoriklehrerin und ließ es sich nie nehmen, meine Aussprache zu korrigieren, und Leonard gewann einmal einen Vortragswettbewerb im Stadtteilzentrum, dem Elizabeth Peabody House, indem er den gesamten Text von Longfellows Sang von Hiawatha auswendig lernte und rezitierte. Schließe ich die Augen, höre ich seine tiefe, melancholische Stimme mit Longfellows Worten spielen, wenn er im Brustton der Überzeugung rezitiert:

An den Ufern Gitche Gumees,

An dem blanken Groß-See-Wasser,

Vor dem Türweg seines Wigwams,

In der luft’gen Sommerfrühe …1

Und dann ist es fast unmöglich, nicht zu lächeln.

Etwas schwieriger, aber auch viel lustiger ist es, sich den wortkargen Mr. Spock vorzustellen, wie er das Gedicht konzentriert, aber emotional völlig unbeteiligt liest.


1 Übersetzung von Ferdinand Freiligrath