ISBN: 978-3-903059-24-5
1. Auflage 2016, Krems an der Donau
© 2016 EDITION ROESNER
EDITION ROESNER - artesLiteratur
Titelbild: © EDITION ROESNER
Mitarbeit im Lektorat:
Priv.-Doz. Mag. Dr. Maria-Christine Leitgeb
Alle Rechte vorbehalten.
Klaus Rohrmoser,
geboren 1953 in Innsbruck; Germanistik-, Regie- und Schauspielstudium; war/ist Schauspieler in Wien, Tübingen, Bochum, München, Berlin etc., Ensemblemitglied des Wiener Volkstheaters, Regisseur in Wien (u. a. Theater in der Josefstadt und bei den Wiener Festwochen), München, Berlin u. a. m., zuletzt Schauspieldirektor am Tiroler Landestheater; Publikationen: „Siebzehn und vier“, Innsbruck – Wien 2013; „sieben hoch zwei“, Berlin 2013 etc.; in der EDITION ROESNER erschien 2014 der Roman „Dunkle Mutter Finsternis“; verheiratet mit der Schauspielerin Judith Keller, Vater zweier Söhne: Julian und Nino.
www.klaus-rohrmoser.at
Gefördert von


Für
Julian
Heute wäre das, was ich getan habe, nicht mehr möglich – aus einer Reihe von Gründen gar nicht mehr denkbar. Aber damals, ein paar Jahre nach jenem Krieg, in dem auch ich die zweifelhafte Ehre hatte mitzukämpfen, war es kein Problem. Oder sagen wir, es war bedeutend einfacher.
Ich war damals kein junger Mann mehr, aber auch noch nicht alt.
Jedenfalls wurde der Überdruss, den die immer gleichen und unaufhörlich wiederkehrenden Tage und all die damit verbundenen Verrichtungen bei mir auslösten, bereits immer stärker. Schon das tägliche Überziehen von irgendwelchen Kleidungsstücken war mir zuwider, ganz zu schweigen von der Nahrungsaufnahme und vor allem von der ekelerregenden Anstrengung, mir selbst und anderen ständig meine Besonderheit oder sonst einen Schwachsinn beweisen zu müssen. Eitler, überflüssiger Quatsch! Quatsch! Ich mag dieses Wort, oft sage ich es einfach ein paarmal hintereinander vor mich hin und erfreue mich an seinem feuchten Klang. Trotzdem ist da irgendein diffuser Wunsch, den ich nicht verstehe und von dem ich lieber frei wäre. Er will nicht weg, so sehr ich mich auch bemühe ihn abzutöten, auszulöschen und mich über ihn lustig zu machen.
Ich lebe in einer leicht verwahrlosten Einzimmerwohnung mit Ausblick auf den Hintereingang einer Klinik. Da ich arbeitslos bin, unter Schlafstörungen leide und die Fernsehstationen ihr Programm schon kurz vor Mitternacht beenden, sitze ich nachts oft am Fenster und schaue einfach hinunter auf die Straße, beobachte die Einfahrt zur Klinik und die Krankenwagen, die um diese nachtschlafende Zeit zwar mit Blaulicht, aber meist ohne Sirene vor der Glastür bremsen. Die aufgeregten Sanitäter springen heraus und rollen die Verletzten im Eiltempo ins Gebäude – direkt auf den nächsten Operationstisch, wie ich mir vorstelle. Nach ein paar Minuten kommen sie mit den leeren, manchmal noch blutverschmierten Krankenliegen wieder zurück, rauchen im Stehen noch eine schnelle Zigarette und fahren dann wieder los. Zwei bis drei solcher Einsätze pro Nacht sind die Regel, an den Wochenenden werden es meist mehr. Gegen Morgen, wenn der Himmel an den Rändern schon hell auszufransen beginnt, kommen die Nachtschwestern aus der Klinik und machen sich mit grauen Gesichtern auf den Heimweg. Unter ihnen ist eine mit feinen, zarten Zügen. Sie ist brünett, und ich überlege schon seit Tagen, wie ich es anstellen soll, mit ihr in Kontakt zu kommen. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto unmöglicher scheint mir jede Variante scheinbar zufälliger Begegnungen, die ich alle in meinem Kopf durchspiele. Allein die Tatsache, dass sie fast immer in Begleitung einer oder mehrerer Kolleginnen aus dem Gebäude kommt, türmt in meinem Kopf ein unüberwindbares Hindernis zwischen uns auf. Also wird wohl nichts daraus, denke ich, aber das kenne ich ja schon zur Genüge. Auch diese brünette Nachtschwester bekommt – ohne es zu erfahren, versteht sich – den magischen Namen, wie schon so manch andere vor ihr. Immer, wenn ich einer diesen Namen gebe, weiß ich aus Erfahrung, dass es zu nichts weiter kommen wird. Gewöhnlich beobachte ich sie ein paar Wochen, rufe sie in Gedanken oder im besten Fall in einem Traum bei diesem Namen, dann wird sie von Tag zu Tag immer unwirklicher für mich, und das war es dann auch schon.
Doch die Beobachtung allnächtlicher Transporte von Verletzten oder von akut Kranken bleibt nicht die einzige Zerstreuung meiner einsamen, schlafarmen Nächte. In drei Fällen bin ich Zeuge eines äußerst seltsamen Vorgangs, den ich beim ersten Mal gar nicht richtig begreife. Gegen vier Uhr früh kommt plötzlich eine vermummte Gestalt die Straße herauf. Nach den Schritten zu urteilen ist es eine Frau oder ein sehr femininer Mann. Die Person trägt eine Einkaufstasche, und als sie zirka zwanzig Meter vom Klinikeingang entfernt ist, beginnt sie sich nach allen Seiten umzuschauen, nimmt dann ein Bündel – etwa so groß wie ein überdimensionierter Brotlaib – aus der Tasche, geht schnell zur Glastür und legt es dort auf den Boden. Dann macht sich die vermummte Figur rasch davon. Ein paar Minuten später kommen ein Pfleger und eine Krankenschwester an die Tür, heben das Bündel auf und tragen es in die Klinik hinein. Ein paar Wochen später eine fast identische Situation, nur, dass die Frau diesmal, obwohl es ziemlich kalt ist, nicht vermummt, sondern lediglich mit einem Kopftuch und mit einer großen Sonnenbrille getarnt ist – und das Bündel ist kein Bündel, sondern eine größere Schuhschachtel. Dieses Mal sehe ich alles ganz deutlich. Vor einigen Tagen habe ich mir nämlich für teures Geld ein gebrauchtes Fernrohr gekauft und es hier am Fenster installiert. In erster Linie, um meine brünette Krankenschwester besser beobachten zu können. Doch im Augenblick geht diese nervöse Frau mit der Sonnenbrille sehr eilig die Straße hinunter. Sie wirkt sehr jung, fast noch wie ein Kind. Jetzt beginnt sie zu laufen, und gleich darauf ist sie in der Schwärze der Nacht verschwunden. Einsam und verlassen steht die grauweiße Schachtel ein paar Minuten im Neonlicht des Klinikeingangs. Dann fliegt die Glastür auf, und wie beim ersten Mal erscheint das Klinikpersonal in seinen wehenden Mänteln. Noch im Freien lüftet der Pfleger den Deckel, und die Krankenschwester hebt einen fast nackten Säugling aus der Schuhschachtel. Ich bilde mir ein, von meinem Posten aus das Kleine weinen zu hören, obwohl das auf Grund meines geschlossenen Fensters und der großen Distanz eigentlich unmöglich ist. Schnell bringen die beiden das Baby hinein in die Wärme. Erst nach einer Weile wird mir bewusst, dass ich immer noch durch mein Fernrohr wie durch einen Operngucker auf die leere Bühne dieser nächtlichen Vorstellung starre. Die Akteure sind längst abgegangen, aber ich stehe immer noch unter dem Eindruck ihrer wortlosen Darbietung.
Im allerletzten Augenblick, ganz kurz bevor ich in dieser Nacht endlich einschlafe, geistert der Gedanke zum ersten Mal durch mein Bewusstsein, vage wie der Schatten eines Hauchs und noch ohne erkennbare Kontur. Am nächsten Morgen ist er verschwunden. Erst zwei Wochen später, als ich wieder Zeuge bin, wie ein Baby vor der Klinik „abgegeben“ wird, findet der Gedanke seinen Weg zurück in meinen Kopf.
Dieses Mal ist es ein junges Paar, das einen Wäschekorb in der Auffahrt zur Klinik abstellt und hastig verschwindet. Und dieses Mal beobachte ich von meinem Klofenster aus, wie die beiden aus der Telefonzelle in der Nebenstraße hinter meinem Haus die Klinik verständigen. Nebeneinander stehen sie in der gläsernen Kabine. Eng aneinander geschmiegt, und wahrscheinlich mit verstellten Stimmen, flüstern sie abwechselnd ihre Botschaft in die schwarze Telefonmuschel, ganz so, als würden sie ihre Liebe gerade für die Ewigkeit konservieren. Sanft wie zwei Verschwörer legen sie den Hörer auf die Gabel, stehlen sich aus ihrer Zelle und verschwinden in der Finsternis. Ich gehe zurück ins Zimmer und sehe durch mein Fernrohr zwei Krankenschwestern aus der Glastür kommen. Eine von ihnen, ich glaube zu erkennen, dass es meine brünette Schönheit ist, nimmt das Baby aus dem Korb und trägt es vorsichtig hinein. Die andere schaut einige Male nervös die menschenleere Straße rauf und runter. Dann nimmt sie den leeren Wäschekorb und geht zurück in die Klinik.
Über fünf Wochen und keine Möglichkeit! Schon zu viele Nächte, in denen ich vergeblich auf der Lauer gelegen bin. Ich bin unruhig an jenem Abend, unruhig und müde. Zudem regnet es stark, schon seit Stunden. Die Sicht auf die dunkle Straße ist schlecht. Und dann kommt der Wagen. Ein kleines rotes Auto. Es hält schräg gegenüber vom Klinikeingang, nur schwach beschienen vom Licht der Straßenlaterne. Eine Frau in einem schwarz glänzenden Regenmantel steigt aus. Sie trägt eine kleine Reisetasche aus Plastik, deren Öffnung mit einem dünnen Tuch bedeckt zu sein scheint. Jetzt geht sie zögernd über die Straße und zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht. Trotz des starken Regens bleibt sie auf dem kurzen Weg immer wieder stehen und schaut sich vorsichtig um. Dieses Mal handle ich sofort und laufe durchs Treppenhaus nach unten. Durch den Hintereingang verlasse ich das Haus und gehe direkt zur Telefonzelle in der Nebenstraße. Mit meiner Zange schneide ich den Hörer vom Kabel und laufe so schnell ich kann zurück. Völlig durchnässt stehe ich eine Minute später im schwach beleuchteten Hauseingang. Von dort aus kann ich sowohl die Auffahrt zur Klinik als auch die Telefonzelle beobachten. Die Frau hat ihre Reisetasche inzwischen unter dem Vordach der Klinik abgestellt und ist bereits am Rückweg zu ihrem Wagen. Sie steigt ein, und der kleine rote Wagen fährt langsam, und ohne die Scheinwerfer einzuschalten, in die Nebenstraße bis zur Telefonzelle. Ich kann nicht erkennen, ob es ein Mann ist, der am Steuer sitzt. Die Frau steigt aus und betritt die Kabine. Jetzt renne ich durch den prasselnden Regen zum Klinikeingang hoch, nehme die Tasche an mich und gehe rasch zurück ins Haus. Ein paar Sekunden später bin ich mit meiner Beute wieder in der Wohnung. Ich halte die Tasche immer noch in der Hand, und vom Klofenster aus beobachte ich, wie die junge Frau im schwarzen Mantel unverrichteter Dinge in den Wagen steigt – höchstwahrscheinlich, um sich auf die Suche nach dem nächsten intakten Telefon zu machen.
Dann gehe ich zurück ins Zimmer, versperre die Tür, mache die Nachttischlampe an und hole das Baby aus der Reisetasche. Es ist in eine nicht ganz saubere, weiße Decke gewickelt, und ich staune darüber, wie leicht es ist. Es schläft.
Ich nehme es vorsichtig auf den Arm, stelle mich ans Fenster und wiege es sanft hin und her, als hätte ich nie etwas anderes getan.
Erst nach zirka einer Viertelstunde erscheinen zwei Nachtschwestern in den Glastüren der Klinik. Nachdem sie nichts gefunden haben, schauen sie noch ein paarmal fragend die Straße rauf und runter, dann kehren sie achselzuckend an ihren Arbeitsplatz zurück.
Schon elf Tage habe ich den Jungen jetzt hier in der Wohnung, und ich bin ziemlich sicher, er fühlt sich wohl bei mir. Ihn zu füttern, ihn in den Schlaf zu wiegen und auf seine sonstigen Bedürfnisse einzugehen, ist kein Problem für mich, vielmehr eine nicht gewohnte Abwechslung, fast möchte ich sagen: eine Freude. Auch seine Existenz geheim zu halten und bei den übrigen Hausbewohnern keinen Verdacht zu erregen, ist im Augenblick noch einfach, wird aber bestimmt mit der Zeit bedeutend schwieriger. Die Schallisolation der Wohnung mit leeren Eierkartons, die ich über viele Wochen gesammelt und mit denen ich alle Wände tapeziert habe, war schon vor seiner Ankunft fertig. Jetzt muss ich wenigstens keine Angst mehr haben, dass man mir auf die Spur kommt, nur weil Innozenz, so habe ich den Jungen „getauft“, manchmal schreit. Das ist bei einem Säugling seines zarten Alters ganz normal und darf auf keinen Fall dazu führen, dass irgendwer kommt und ihn mir wegnimmt. Dieses Risiko sollte und will ich nicht eingehen. Deshalb habe ich zusätzlich zu den Eierkartons noch etwas Geld in dicke, dunkelblaue Vorhänge investiert und auch alle Fensterritzen verklebt. Mit einem Mal bin ich rund um die Uhr beschäftigt – damit beschäftigt, Innozenz zu füttern, ihn zu waschen, zu wickeln, zu wiegen und ihn durchs Zimmer zu tragen, bis er einschläft. Dann sitze ich an seinem Bett und schaue ihn an, oft viele Stunden lang. Seit er bei mir ist, hat das Fenster viel von seiner Attraktivität für mich verloren. Ich ärgere mich über das teure Fernrohr, das jetzt fast sinnlos geworden ist und mir nur den kostbaren Platz verstellt. Vielleicht sollte ich es wieder verkaufen. In der wenigen Zeit, die mir noch bleibt, lese ich in einem ziemlich umfangreichen Buch über Säuglingspflege, das ich mir besorgt habe. Es ist bewusst sachlich gehalten, sehr informativ und ungemein hilfreich. Das Auskochen der Windeln und der leeren Babymilchflaschen ist eine Arbeit für die Nacht, die ich erledige, wenn Innozenz schläft – und noch schläft er viel. Manchmal muss ich hinaus in die Stadt, um Dinge zu besorgen. Fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten, in denen ich ihn allein lassen muss, kostet mich das.
Ich habe Kerzen besorgt, ziemlich viele Kerzen, jeweils mehrere davon auf große Teller gestellt, angezündet und wie leuchtende Inseln im Zimmer verteilt. In ihrem natürlichen Licht sieht Innozenz noch friedlicher aus, scheint sein unendlich entspanntes Gesicht noch intensiver von innen heraus zu strahlen und lässt mich eine Harmonie empfinden, die ich bis jetzt nicht gekannt habe. Er ist weder schön noch hässlich. Er ist beides und nichts davon zugleich. Langsam wacht er auf. Da sind jetzt nur noch seine Augen im Licht der Kerzen und übernehmen die Herrschaft über den Rest seines Körpers. Die Formen im Zimmer verschwimmen, und ich glaube zu sehen, wie dieses Kind eingehüllt in die Falten seiner Decke leicht wird und zu schweben beginnt, hinaustreibt wie ein weißes Boot ins grenzenlose All – nicht weg von mir und auch nicht auf mich zu – fast reglos im schwerelosen Raum, sich kaum und doch bewegt. Ein federleichtes Blatt in einer trägen Flut aus Licht.
In diesen Minuten bekomme ich zum ersten Mal so etwas wie eine versteckte Ahnung davon, warum der Junge hier auf meinem Bett liegt, warum ich das Risiko eingegangen bin und ihn zu mir geholt habe und warum wir jetzt schon seit vielen Tagen gemeinsam in diesem beengten Raum leben. Noch bin ich freilich weit davon entfernt, die Gründe für das alles in Worte fassen zu können, aber weit hinten – so kann ich den Ort am besten beschreiben – sehr weit hinten am gerade noch unscharf erkennbaren Rand meines Bewusstseins taucht etwas Helles auf, kein Licht, nur ein fahler Streifen am Horizont, der nicht ganz so dunkel ist wie alles andere, was ihn umgibt. Später werde ich das etwas pathetisch „meine Morgendämmerung“ nennen, aber so weit bin ich noch nicht. Ich könnte auch sagen, dass ich in diesem Augenblick zum ersten Mal den Unterschied zwischen dem Wesentlichen und dem Unwichtigen tatsächlich zu begreifen beginne. Wie auch immer.
Die täglichen Verpflichtungen, die akribische Planung unseres Zusammenlebens und die etwas unbequemen Stunden, die ich auf der dünnen Matratze am Boden vor meinem Bett, in dessen Mitte Innozenz schläft, zubringe, lassen wenig Raum für solche Gedanken. Trotzdem denke ich sie. Die einfachen Tätigkeiten wie das Wickeln oder das Wärmen der Milch und das darauffolgende sukzessive Abkühlen-Lassen, bis die ideale Trinktemperatur erreicht ist, erfordern mein ganzes Gespür, meine ganze Geduld. Sie geben mir das Gefühl, nicht zu lügen, keiner wie immer gearteten Heuchelei ausgeliefert zu sein, vor allem nicht meiner eigenen. Ich weiß, das klingt paradox, weil sich alles, was ich hier mache, in einer Zone der Heimlichkeit, der Illegalität und der dauernden Camouflage abspielt und auch in der Zukunft abspielen muss. Aber das hat nichts mit jener Art Lüge zu tun, die ich meine – nichts zu tun mit dem halbherzigen Ja-Sagen zu Lebensumständen, zu denen meine innere Überzeugung eigentlich ein ununterbrochenes „Nein!“ herausbrüllen möchte, es aber nicht fertig bringt – aus welchem verdammten Grund auch immer. Was ich hier tue, ist eine klare, eine ehrliche Sache für mich, die mir zwar Vieles und vor allem Ungewohntes abfordert, aber bei der ich mir nichts vorzumachen brauche und für die ich meine Hand ins Feuer legen werde, wenn es nötig sein sollte.
Ich habe einfach beschlossen, mich von keiner dieser Lügen, die uns eines Tages ohnehin alle in den Abgrund reißen werden, verführen zu lassen. Ich habe mir schon vor langer Zeit – noch im Krieg – geschworen, all diesen einschläfernden, im Grunde brutalen Quatsch um keinen Preis weiter in meinem Leben bestehen zu lassen und dieses Leben um kein Gold der Welt nach Schlagworten in einer mir fremden und höchst verdächtigen Sprache auszurichten.
Diese bei Gott unbequeme, aber höchst heilsame Einsicht habe ich dem Krieg, der ja bekanntlich aller Dinge Vater ist, zu verdanken – so paradox sich das auch anhören mag. Damals, beim Hinschauen auf die warmen, zerfetzten Fleisch- und Knochenhaufen, die noch vor Minuten meine dummen, lebendigen, neunzehnjährigen Kameraden in ihren exakt gleich aussehenden, graugrünen Hosen und Jacken gewesen waren, habe ich, ohne dass es mir wirklich bewusst war, Abstand genommen von den Worten der Verführung und Verblendung – und gleichzeitig von den vergifteten Klingen, mit denen jedes dieser Worte gespickt war und immer noch gespickt ist. Diese Worte habe ich nach dem Krieg genauso gehört und gelesen wie währenddessen und davor. Die Worte sind ähnlich geblieben und ihre Ziele auch, nur dass sich das keiner zuzugeben getraut. Dieses illusionslose Hinschauen und Begreifen war der Grund für meinen Rückzug – den Rückzug in die Einzimmerwohnung mit Blick auf die Klinik, ohne Arbeit, ohne Zukunftspläne und vor allem ohne Menschen. Jetzt, seit Innozenz’ Ankunft in meinem Leben, ist dieser Rückzug vorbei, und ich beginne möglicherweise meine eigene Geschichte.
Vielleicht ist das Ganze aber auch nur eine Wiedergutmachung für etwas, das ich nicht imstande bin zu vergessen? Es liegt auf der Hand, dass mich diese Erinnerung gerade jetzt heimsucht. Ja, sie sucht mich heim! Anders kann ich das im Angesicht des schlafenden Kindes nicht sagen.
Es war der letzte Hochsommer in diesem Krieg. Das Dorf, auf das wir uns vorsichtig zubewegten, schien ausgestorben zu sein. Wie tote Hunde lagen die Hütten vor uns in der grellen Sonne – nur ab und zu ein müdes Brummen von Insekten, das am Ohr vorbeizieht und sich gleich in der Hitze verliert. Still, fast beschaulich wirkte dieser Nachmittag. Für ein paar Augenblicke blieb ich im Schatten eines Baums stehen, ließ das Marschgepäck ins Gras sinken und lehnte mein Gewehr an den Stamm. Ich schloss die Augen, und versuchte, an nichts zu denken. Es gelang mir nur zum Teil. Immer wieder jagten die Bilder der letzten Nacht durch meinen Kopf – die zerschossenen Gesichter meiner vier Kameraden, ihre verkrümmten Körper, ihre Finger in mich verkrallt und ihr verspritztes Blut auf meiner Uniform. Von den zweiundzwanzig „Freiwilligen“, die vor einer Woche zu diesem Einsatz aufgebrochen waren, hatten, einschließlich unseres Offiziers, nur fünf überlebt.
Aber auch unsere Kräfte und unser Durchhaltevermögen neigten sich langsam dem Ende zu. Die Angst hatte uns aggressiv gemacht, und unsere Nerven waren am Rande ihrer Belastbarkeit. Wir hatten nichts, aber auch gar nichts von unserer ursprünglichen, fast heroisch anmutenden Mission erfüllt. Unser einziges Ziel bestand nur noch darin, lebend in eines der Lazarette oder zu unserem Stützpunkt zurückzufinden, von dem wir nicht wussten, ob es ihn überhaupt noch gab.
Der Ort hier schien tatsächlich eine Geisterstadt zu sein, vielmehr ein Geisterdorf. Die meisten Häuser waren ohne Türen, ruinierte Möbel lagen davor auf der Straße, und die Scheiben in den Fenstern waren vom Wind zerschlagen. Wir suchten einen Brunnen und fanden auch einen mitten auf dem Dorfplatz, aber er war ausgetrocknet. Sein Wasser war vor langer Zeit versiegt. Gerade wollten wir weiter nach oben in die kühleren Wälder, als eine Salve die Stille auseinanderriss. Das Feuer kam von einem Maschinengewehr aus der Dachluke des einzigen zweistöckigen Hauses direkt auf dem Platz. Ich spürte sofort, dass ich getroffen worden war – ein heißer, stechender Schmerz, der in meinen linken Oberarm fuhr und der mich kurz zum Aufschreien brachte. Trotzdem gelang es mir, mich hinter einer niedrigen Mauer zu verschanzen, wo sich auch der Rest unserer Gruppe zusammengekauert hatte. Ich konnte meine Waffe nicht in Stellung bringen. Mein Arm tat zu weh. Die anderen schossen sofort zurück – in Richtung der winzigen Dachluke, von wo das Maschinengewehr immer noch seine Salven auf uns herunterschickte. Mit einem Schlag herrschte absolute Stille. Entweder der Heckenschütze war getroffen worden, oder er wartete geduldig, bis wir uns aus der Deckung hervorwagten, um uns in aller Ruhe niedermähen zu können. Wir warteten – viele Minuten lang. Dann schickte mich der Offizier hinaus auf den Platz – als lebende Zielscheibe. Wahrscheinlich musste ich gehen, weil ich schon verwundet und dadurch nicht mehr ganz so wertvoll war wie die anderen. Ein Teil von mir ergab sich in sein Schicksal, begann sich halb bewusstlos aufzurichten und über den Platz zu wanken, der andere Teil war hellwach und bestand nur noch aus schierer Angst, die sich dadurch manifestierte, dass sie mir schlicht und einfach die Hosen nass machte. Während ich den vor Hitze flirrenden Platz überquerte, tropfte das Blut aus meiner Wunde, der Urin aus meinen Kleidern, und das Sirren der Insekten dröhnte von Sekunde zu Sekunde lauter in meinem Kopf. Ich wusste, das Sirren wartete darauf, von den Schüssen aus der Dachluke zum Schweigen gebracht zu werden – aber nichts geschah. Niemand wollte mein Leben. Niemand erschoss mich. Ich schaffte es ohne Störung bis zu dem Haus mit der Dachluke, ging durch die zerbrochene Türe hinein und dann die Treppe hoch bis in die Dachkammer. Dort stand das Maschinengewehr, und daneben lag eine junge Frau, in ihrer Stirn ein kleines, schwarzgerändertes Loch. Sie war tot. Zwischen den Dachbalken hatte jemand eine Hängematte montiert. Da lag ein kleines Kind, das gerade anfing, leise zu weinen. Ich nahm das Baby und trug es nach unten. Die anderen kamen jetzt aus ihrer Deckung. Sie waren sehr erleichtert. Dann nahm der Offizier den Säugling aus meinem Arm, packte ihn bei den Beinen und zerschmetterte seine kleine Hirnschale an der nächsten Hausmauer.