Dunkle Mutter Finsternis

Roman

Klaus Rohrmoser


ISBN: 978-3-903059-28-3
1. Auflage 2016, Krems an der Donau
© 2016 EDITION ROESNER

EDITION ROESNER - artesLiteratur

Lektorat und Layout:
Priv.-Doz. Mag. Dr. Maria-Christine Leitgeb
Covergestaltung und Bildbearbeitung:
Jürgen Dorn – DYNAMIND Marketing

Titelbild: © EDITION ROESNER, Sankt Gabriel; mit Dank an Johannes Kleedorfer für die Location.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Für Nino

I

1. Kapitel

Wie kommt eine Horde wilder Affen in diese Tiefe? Der Durst treibt sie nach unten, hier herunter in Abschnitt elf. Sie müssen über die Stahltreppe bis hierher gefunden haben. Niemand kann sich vorstellen, dass sie ohne fremde Hilfe den Knopf gedrückt und neunzehn Stockwerke mit dem Lift nach unten gefahren sind. Lynn entdeckt sie als Erste, in den Waschräumen. Einige von den Affen haben die Duschen aufgedreht und sind bereits am Trinken. Lynn verständigt die Patrouille. Sie sind innerhalb von drei Minuten da, Gewehr bei Fuß, treiben die Affen in den grüngetünchten Raum im Nordtrakt und schießen alle nieder: Siebenundzwanzig blutüberströmte Kadaver hier unten. Es wäre wichtig, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Die Patrouille ist dafür seltsamerweise nicht zuständig, das ist Sache der Zivilisten. Das müssen wir hinkriegen. Lynn hat von jeher keine Angst, sich die Finger schmutzig zu machen und ich inzwischen auch nicht mehr. Wir beide übernehmen das. Einer von diesen Ignoranten, die hier überall in den Gängen herumlungern und von denen man sich unmöglich vorstellen kann, wie sie je den Elitetest geschafft haben, schlägt vor, die toten Affen zu verbrennen. Ein Feuer hier unten? Sollen wir alle ersticken? Und wenn sie verseucht sind? Dort oben fliegt so allerhand in der Luft herum, was niemandem hier unten besonders zuträglich wäre. Verbrennen? No way! Ich besorge also einen Kanister mit dieser stinkenden Desinfektionsbrühe. Lynn fragt nicht, wo ich ihn so schnell organisiert habe und was ich dafür hab‘ hergeben müssen. Sie nimmt ihn mir schweigend aus der Hand und schüttet die Flüssigkeit über die Affenleichen. Ich gehe inzwischen aus dem Raum und warte in einem der Gänge, bis sich der Gestank einigermaßen verzogen hat. Lynn ist eine Heldin. Entweder ihrer Nase macht das wirklich nichts aus oder sie lässt es sich nicht anmerken. Vielleicht will sie aber auch nur, dass ich mich noch mehr in sie verliebe.

Liebe! Diese Hure von Wort will ich nicht hören. Nie mehr! Ich fürchte ohnehin, ich vergesse hier unten mit jeder Minute mehr, was das ist, geschweige denn, wie sich das anfühlt. Aber möglich, dass Lynn mir nur deshalb den Desinfektionsgestank erspart. Durchaus möglich. Dann holen wir uns zwei Gummimäntel aus dem Kleiderdepot und schaffen eine Affenleiche nach der anderen in den Lift. Dieser Lift ist sehr groß und die siebenundzwanzig Kadaver in seiner Mitte wirken darin wie ein armseliger Haufen aus Fell und Blut. Sie wollten nichts als trinken hier unten. Sie müssen gerochen haben, dass es in der Tiefe noch einigermaßen gutes Wasser gibt. Vielleicht das letzte brauchbare Wasser überhaupt. Wir drücken den Knopf nach oben. Zirka zehn Minuten bis in Abschnitt sechs. Dann steigen wir mit unserer Fracht um in den Zug. Verrückt! Vor ein paar Jahren hätte ich bestimmt: „mit unserer seltsamen Fracht des Todes“, geschrieben oder noch etwas Kitschigeres, aber zu dieser Zeit wollte ich mit dem, was ich geschrieben hatte, noch Geld verdienen. Das hat sich erübrigt. Bücher liest inzwischen niemand mehr. Kein Einziger.

Der Zug besteht aus nur einem schmalen Waggon. Aus Platzmangel setzen wir ein paar von den erschossenen Tieren auf die Bänke. Schlafende Passagiere, die diese paar Minuten Fahrtzeit dazu benutzen, sich noch ein wenig auszuruhen von den überstandenen und noch zu überstehenden Stürmen des Alltags? Nur die wenigsten in der Zone bekommen Erlaubnis, die Lifte oder den Zug zu benutzen. Unsere Erlaubnis sind die Affenkadaver. Während der Fahrt redet keiner ein Wort, Lynn schaut nur auffallend oft in meine Richtung. Ich spüre, dass sie über eine Möglichkeit nachdenkt, auf dem Rückweg mit mir zu schlafen – am liebsten im Lift. Ich spüre es und stelle mich darauf ein. Oben schleppen wir die Tiere zur ersten Schleuse und geben sie an der obersten Station, die von allen das ‚Tor des Himmels‘ genannt wird, ab. Weiter dürfen wir nicht. Ich sehe die gut sechs Meter hohen und dreißig Zentimeter dicken Stahltore und frage mich, wie es die Affen geschafft haben mögen, überhaupt in die Zone zu gelangen. Vielleicht gibt es doch noch andere Zugänge. Da­rüber wird hier unten viel geredet, aber noch nie habe ich einen getroffen, der etwas Konkretes darüber gewusst hat. Gerüchte ohne Boden. Tatsache ist, dass die Affen hier herein und irgendwie sehr weit nach unten gekommen sind, bis in Abschnitt elf, genau dorthin, wo es noch Wasser gibt und wo man es vor allem noch trinken kann. Höher oben ist es verseucht und tiefer unten wird es zu heiß. Die Beamten am ‚Tor des Himmels‘ rügen uns, weil wir keine Bleischürzen tragen. Bei solchen Einsätzen grundsätzlich immer Bleischürzen, ohne Ausnahme! Trotzdem kriegen wir eine schriftliche Be-stätigung für unseren Einsatz. Wer weiß, vielleicht gibt man uns unten dafür ein paar hundert Milligramm Morphium mehr, wenigstens für ein, zwei Tage. Das wäre schon was.

Auf dem Rückweg im Zug zeigt Lynn mir einen winzigen Plastikbeutel mit rötlichem Sand. Sie hat ihn von den Fußsohlen der Affen abgeschabt und unter ihren Nägeln herausgekratzt. Sie möchte, dass Leroy den Sand heute noch untersucht. Sie will wissen, woher die Tiere gekommen sind. Und Leroy ist ihrer Meinung nach der Einzige, der darauf eine Antwort geben kann. Wir haben Glück. Der Lift ist unbesetzt. Lynn setzt sich ganz nahe zu mir auf den Boden, mitten in der stählernen Kabine machen wir Liebe. „Liebe machen mit Henrik!“, sagt Lynn und lacht dabei. Der Lift und höchstens zwei, drei andere Orte hier unten sind clean. Keine Kameras, keine Mikros, keine Detektoren irgendwelcher Art, keine Kontrolle. Den meisten hier unten ist es egal, ob sie dabei beobachtet werden. Lynn ist es nicht egal. Sie nimmt lieber den eiskalten Boden, das Vibrieren und den Lärm in Kauf. Lynn weiß, dass auch ich den Lift allen anderen Orten vorziehe. Zehn Minuten unbeobachtet zu sein, ist ein großer Luxus in der Zone. Zehn Minuten Liebe machen mit Lynn in diesem stählernen Käfig, wiegt vieles auf. Aber nicht alles. Im Grunde ist dieser ganze, unwirkliche Ort ein Knast, ein Gefängnis. Allerdings ein Gefängnis, aus dem keiner wirklich raus will. Alle bleiben lieber hier drinnen. Weil sie vor dem da draußen, dem im wahrsten Sinne des Wortes ‚unentdeckten Land, aus dem kein Wandrer wiederkehrt‘, Schiss haben, richtig Angst haben. Und das wahrscheinlich zu Recht. Wenn schon die Affen hier runterkommen, um Wasser zu finden, kann es da oben nicht zum Besten stehen.


2. Kapitel

Der eine Mann steht am Fenster seines Büros und beobachtet den anderen Mann, der unten auf der Straße die Kreuzung überquert. Der Mann im Büro trägt einen billigen, hellgrauen Anzug mit einer farblich schwer zu bestimmenden Krawatte, der Mann an der Kreuzung einen taubenblauen Anzug mit einer schwarzen Krawatte. Wir nennen den Mann am Fenster Dustin und den Mann auf der Straße Dimitrij.

Es handelte sich einst um eine der am meisten bevölkerten Kreuzungen der Stadt, ja vielleicht sogar der Welt. Seit den Massenselbstmorden der letzten Wochen ist es da unten ruhiger geworden. Dustin schafft es jeden Morgen spielend, Dimitrij zwischen den vereinzelten, verängstigten Passanten zu entdecken und ihm mit den Augen zu folgen, bis er das Bürogebäude betritt. Jetzt hat Dustin noch genau hundert-unddrei Sekunden, bis Dimitrij die Tür zum Büro öffnet und sich ihm gegenüber in den schwarzen Ledersessel fallen lässt. Kein Gruß, kein Wort, wie jeden Tag. Und wie jeden Tag versperrt Dustin brav die Bürotür und gleich darauf aktiviert er das Sicherheitssystem. Erst jetzt holt Dimitrij die Liste heraus und beginnt abzulesen. Er liest meistens sieben bis acht Minuten ununterbrochen, mit fast zu leiser Stimme. Dustin muss sich sehr konzentrieren, um nichts zu über-hören. Einmal hat er sich deshalb überlegt, alles was Dimitrij sagt, heimlich mit einem Diktiergerät aufzunehmen, aber das ist natürlich Quatsch und käme einem Selbstmord gleich. Eigentor, denkt Dustin kurz. Im ersten Fußballspiel, an das er sich erinnern kann, gab es am Ende der einundsiebzigsten Minute ein Eigentor. Er sieht das Bild gestochen scharf vor sich, immer noch, obwohl das Ganze schon vor neunundzwanzig Jahren und elf Tagen passiert ist. Nach einundsiebzig Spielminuten und zweiundfünfzig Spielsekunden sprang der Torhüter in die falsche Ecke – und zwar vor genau neun­undzwanzig Jahren, elf Tagen und siebenunddreißig Minuten. Ja, er würde sich damit ein Eigentor mit garantierter Todesfolge schießen, so kann man es ausdrücken. Dimitrij nennt ausschließlich Zahlen und Dustin merkt sie sich, ohne sie aufzuschreiben. Diese spezielle Begabung, alles sofort und detailgenau in seinem Gedächtnis zu speichern, hat ihm den Job hier eingebracht. Dustin ist der Letzte, der ein Diktiergerät braucht, wenn dieser Dimitrij nur etwas lauter lesen würde. Seine einzige Sorge ist es, etwas von Dimitrijs Worten zu verpassen. Ein Nachfragen würde dieser nicht dulden und könnte schwerwiegende Folgen für Dustin nach sich ziehen, er ist überzeugt davon.

Am Beginn, vor genau sechs Wochen und zwei Tagen, hat er gar nicht begriffen, wovon dieser Dimitrij, der übrigens jeden Tag einen neuen Anzug trägt, überhaupt sprach und vor allem nicht, was diese Zahlen bedeuteten. In der Zwischenzeit ist Dustin davon überzeugt, es handelt sich um eine Art Code. Einen Code, mit dem Botschaften, militärische Geheimnisse und Befehle übermittelt werden. Sein Gefühl zur ganzen Sache hat sich nach allem, was in diesen sechs Wochen passiert ist, radikal verändert. Immer, bevor er geht, holt Dimitrij sein Feuerzeug aus der linken Anzugtasche und verbrennt die Liste im Aschenbecher. Dann verschwindet er. Damit ist Dustins Arbeitstag zu Ende. Er verlässt sofort das Büro und verbarrikadiert sich in seiner Wohnung. Erst kurz nach Mitternacht, immer um zehn nach zwölf bekommt er den Anruf. Eine Frauenstimme mit leicht russischem Akzent nennt das Codewort, das täglich neu ist, und Dustin gibt die Zahlen aus seinem Gedächtnis weiter. So einfach läuft das. Dustin fragt sich, ob die Frau am anderen Ende der Leitung auch über ein eidetisches Gedächtnis verfügt oder ob sie seine Informationen aufschreibt und aufzeichnet. Er hat lange über alles nachgedacht. Um zehn Minuten nach Mitternacht ist es in Moskau zehn nach neun am Morgen. In den darauffolgenden Mittagsnachrichten sieht Dustin dann jeden Tag die neuesten Kriegsberichte aus dem Osten der Welt: Bilder von den Bombardements, grauenvolle Bilder von brennenden Städten und verkohlten Menschenmassen. Oft reißen die Berichte plötzlich ab, am Schirm bleibt nur ein schneeiges Flimmern und ein hoher Ton surrt noch im Raum. Dann Funkstille. Dustin fragt sich ernsthaft, ob er nicht an diesen Dingen beteiligt ist. Einige Tage lang hat er versucht, die Codes zu entschlüsseln, aber es ist ihm nicht geglückt, auch nur einen Schritt in diese Richtung vorzudringen. Dustin kann sich zwar besser Zahlen merken als jeder andere, aber er ist kein Spezialist, was Geheimcodes angeht. Er scheint zwar nur ein kleines Bindeglied zu sein, wenn auch ein wichtiges. Er hat sich überlegt, falsche Zahlen weiterzugeben, aber die Angst vor Dimitrij hat ihn abgehalten. Dann kommt der einunddreißigste Tag – der Tag an dem halb Europa ausgelöscht wird und die ersten Atombomben auch hier, in diesem Teil der Welt, fallen. Kommt der Plan zur systematischen Auslöschung aller Zivilisation aus Dimitrijs krankem Hirn und ist Dustin sein bestes Pferd im Stall? Vielleicht bin ich es, vielleicht drücke ich die Knöpfe, denkt er. Und mit einem Mal ist er sich ganz sicher: Dimitrij gibt über ihn Befehle zur Vernichtung weiter und diese Befehle werden umgehend in die Tat umgesetzt. Es sind seine Zahlenreihen, die auf direktem Weg Raketen mit millionenfach tödlichen Sprengköpfen aus ihren unterirdischen Gefängnissen befreien und auf den Weg schicken, auf dass sie Feuer und Schwefel über die Häupter der Menschen schleudern!

Vor genau sechs Wochen und zwei Tagen, mit Dustins erstem Arbeitstag, hat dieser Krieg, der gar kein Krieg, sondern pure, gesichtslose, motivlose Destruktion auf allen Ebenen ist, begonnen. Es fängt mit Napalm in Kanada an, mit dem Abwurf chemischer Waffen in Japan, gleichzeitig fällt eine Atombombe in den Krater des Ätna und Teile der Ostküste Englands brechen aus unerklärlichen Gründen ins Meer. Jeden Tag werden irgendwo Atomsprengköpfe gezündet, niemand kann sagen von wem. Neutronenbomben werden wie Schoßhündchen von der Leine gelassen und laufend werden Erdbeben und Tsunamis gemeldet – so lange noch jemand da ist, der etwas melden kann. Mehrere hundert Millionen Tote, zigtausende von Massenselbstmorden aus unerfindlichen Motiven und der Ausbruch extremer Gewalt in allen Schichten der Bevölkerung. Die meisten Staaten und politischen Systeme haben bereits aufgehört zu existieren. Nur die Telefonverbindung nach Moskau bleibt intakt, wie es scheint. Oder sitzt die russische Frauenstimme einen Stock über oder unter ihm im selben Bürogebäude? Egal. Dimitrij jedenfalls zieht sich jeden Morgen einen neuen Anzug mit dazu passender Krawatte an, kommt zu Dustin ins Büro, lässt sich in den Ledersessel fallen und flüstert ihm das neueste Katastrophenszenario ins Ohr. So einfach läuft das. Oder scheint es nur so?

3. Kapitel

Leroy behauptet, der rötliche Sand in Lynns Plastikbeutel stamme aus Madagaskar. Das klingt sehr unwahrscheinlich. Madagaskar liegt mindestens sechstausend Kilometer entfernt von hier, auf der anderen Hälfte des Globus. Wie sollen die Affen es bis hierher geschafft haben und warum? Aber Leroy irrt sich selten und auf sein Labor, übrigens das Einzige in der Zone, war bis jetzt immer Verlass. Außerdem ist Leroy zweifellos ein kleines Genie und er setzt alles daran, diese Tatsache mindestens einmal pro Tag zu hören, egal aus welchem Mund. Der Sand von den Fußsohlen der Affen ist also aus Madagaskar? „Ja“, meint Leroy und nimmt den Tonfall eines orientalischen Märchenerzählers an. „Vielleicht hat sich die ganze Zone inzwischen ja abgetrennt vom festen Land und wir haben es hier in der Tiefe gar nicht mitbekommen. Wie ein vom Sturm losgerissenes Boot treiben wir ziellos über die Meere und jetzt sind wir nach monatelangen Irrfahrten auf Madagaskar gestrandet, auf dieser geheimnisvollsten aller Inseln, dort wo alles begonnen haben soll. Alles, wie einige behaupten.“ Leroy gehört auch zu ihnen, deshalb kann er den Sand so schnell und sicher zuordnen. „Wenn wir tatsächlich dort gelandet sind, ist das wohl ein Zeichen“, meint er mit einem vieldeutigen Lachen und fängt an, sich die Fingernägel zu putzen. „Das Zeichen, das alles bald vorbei sein und endgültig zum Teufel gehen wird. Die Reste von dem, was Zivilisation genannt wird. Diese jämmerlichen Reste kehren dorthin zurück, wo sie vor Urzeiten in diese Welt geschickt wurden, zurück zu ihrem Ursprung, um genau dort wieder zu vergehen, in der ewigen Finsternis zu versinken und für immer zurückzukriechen in den dunklen Schoß, aus dem sie einst gepresst wurden, diese kümmerlichen Reste des Menschengeschlechts und der sogenannten Zivilisation.“ Leroy spricht langsam. Er genießt den Nachhall seiner Worte und betrachtet dabei zufrieden seine Hände. Das Labor ist der einzige Raum in der Zone, der mit Neonröhren bestückt ist, sonst gibt es hier unten nur Glühbirnen. Irgendwann meint Lynn, es könnte natürlich auch umgekehrt sein. Die Insel Madagaskar hätte sich vom Meeresboden losreißen auf den Weg machen können, die letzten Reste der Zivilisation zu suchen. Und hier sei sie fündig geworden. Die Affen wären nur die Vorhut. Sie sollten die Zone erkunden. Die Zone hat die Vorhut getötet. Die Rache dafür werde schrecklich sein. Die treibende Insel werde ihren schwarzen Schoß öffnen und diesen kranken, verrotteten Rest, diese letzte übel riechende Schleimspur einer verwesenden und nie mehr genesenden Gesellschaft, mitsamt allen und allem in sich hineinsaugen und nie wieder hergeben. Leroy gibt sich beeindruckt. Ich gebe ihm vierhundert Milligramm für seine Dienste und Lynn, die schon in der Tür steht, sagt noch: „Leroy, du bist genial, das muss dir der Neid lassen. Aber kann es nicht sein, dass irgendein verrückter Zoo- oder Zirkusdirektor diese Affen schon vor ein, zwei Jahren hierher in diesen Teil der Welt verschleppt hat und sie ganz einfach vom Durst getrieben und mit ungeputzten Zehennägeln hier gelandet sind?“ Doch Leroy betrachtet nur noch seine Finger und schweigt. Er scheint sich zu schade für eine Antwort. Wir gehen wortlos. Ich schließe die Tür zum Labor und fast im selben Augenblick kommen der Schlafalarm und die Durchsage. Uns bleiben genau sieben Minuten bis zum Wechsel. Ich habe Hunger, entscheide mich aber für das Morphium. Ich möchte unbedingt durchschlafen. Lynn holt sich eine Thunfisch-Konserve und schlingt sie hastig hinunter. Sie meint, heute könne sie sicher ohne Mittel einschlafen, unsere Aktion mit den Kadavern und vor allem die Liftfahrt nach unten hätten sie genügend erschöpft. Dabei lächelt sie in ihre Konservendose hinein. Jetzt zieht die Kolonne der gerade Aufgewachten wie jeden Tag vorüber und unsere Betten im Schlafsaal sind frei. Nach genau sechseinhalb Stunden wird uns der Alarm wecken und die Durchsage die nächste Gruppe in den Schlafsaal rufen. Lynn geht nach rechts in den Frauensaal, ich nach links zu den Männern und lege mich sofort in mein Bett. Fast augenblicklich beginnt das Morphium zu wirken. Die Droge schleicht wie ein zärtlicher Dieb durch die Räume meines Körpers und nimmt fast unbemerkt alle harten und kantigen Gegenstände mit sich. Der Dieb ist gründlich und vergisst auf seinem leisen Raubzug keine noch so kleine Kammer. Wenn er die letzte Tür hinter sich zumacht, schlafe ich.

4. Kapitel

Die ganze Nacht kämpft Dustin mit seinen Skrupeln. Dann, im Morgengrauen, beschließt er, etwas zu unternehmen. Wenigstens ein Zeichen zu setzen, auch wenn es schon zu spät sein sollte, was es zweifellos ist. Die Katastrophe hat be­reits ihre eigene Dynamik entwickelt und ist von niemandem mehr aufzuhalten. Draußen in der Stadt herrscht schon seit Ta­gen der Ausnahmezustand: Permanente Stromausfälle, der Aufenthalt auf den Straßen ist lebensgefährlich. Plötzlich versteht er, was das Wort ‚Asphaltdschungel‘ wirklich bedeutet. Fast jeder trägt sichtbar eine Waffe und sei es auch nur ein Küchen­messer oder einen Hammer, um dem anderen zu signalisieren: „Komm mir ja nicht zu nahe, sonst weiß ich nicht, was ich mit dir mache!“ Viele versuchen, noch einen Platz in den hoffnungslos überfüllten Bunkern der Untergrundbahn zu ergattern und bieten ihren Goldschmuck, ihre Körper und ihre Geldreserven dafür an. In der ganzen Stadt herrscht eine Atmosphäre absurden Galgenhumors, gemischt mit rückhaltloser Aggression und Hilfe suchender Verzweiflung. Er beobachtet eine Gruppe von jungen Leuten, die mitten auf der Straße übereinanderliegen und eine wilde Sex- und Alkoholorgie feiern, in deren Verlauf sich einige von ihnen den Revolver an die Stirn halten und lachend abdrücken. Russisches Roulette. Die Hoffnung stirbt scheinbar doch nicht zuletzt, denkt er an diesem Morgen, auf seinem letzten Weg in dieses Büro. Ihm graut.

Pünktlich wie immer taucht Dimitrij an der Kreuzung auf. Heute trägt er einen schwarzen Nadelstreifenanzug und eine gelbliche Krawatte. Schwarz-gelb, die Farbe der Selbstmörder, denkt Dustin und versucht sich zu konzentrieren. Dimitrij betritt das Bürogebäude und die hundertdrei Sekunden scheinen heute schneller zu vergehen als sonst. Schon steht er im Zimmer und landet im Lederfauteuil. Dustin versperrt die Tür heute nicht, er tut nur so und auch das Sicherheitssystem aktiviert er nur scheinbar. Er will sich einen möglichen Fluchtweg nicht abschneiden. Dimitrij beginnt mit dem Vorbeten seiner Zahlen und murmelt wie immer. Doch heute unterbricht Dustin ihn und bittet ihn herrisch, verdammt noch mal doch endlich laut und verständlich zu sprechen. „Außerdem“, sagt er, „möchte ich jetzt wissen, was es mit meiner beschissenen Mission hier wirklich auf sich hat!“

Während Dimitrij damit beschäftigt ist, seine Worte zu verdauen, holt Dustin mit einem schnellen Griff den Eispickel aus dem Zwischenfach unter der Schreibtischplatte hervor und bedroht ihn damit. Dimitrij scheint sehr verwundert und sagt nur drei zärtliche Worte zu ihm: „Dustin, mein Todesengel!“ Dann beginnt er aus vollem Hals zu lachen und seine rech­te Hand gleitet wie nebenbei unter das Jackett. Doch Dustin ist hellwach. Bevor Dimitrij seine Waffe ziehen kann, trifft ihn der Eispickel mit aller Wucht mitten in die Stirn und er bricht sofort zusammen wie ein gefällter Baum. Einen ganz kurzen Mo­ment wird er panisch. Der Strom von Blut, der aus der aufgehack­ten Hirnschale quillt und die hellen Streifen auf dem Anzug färbt, bringt ihn zum Schreien. „Vielleicht bist du ja unschuldig, du Arsch, und ich habe dich verdammt nochmal grundlos getötet?“, brüllt er ihn an, aber Dimitrij ist bereits nicht mehr zu erreichen.

Er wollte ein Zeichen setzen und das ist ihm gelungen. Doch seine Nerven wollen jetzt nicht mehr. Nur sein Überlebenstrieb ist dafür verantwortlich, dass er schon zwei Minuten später auf der Straße steht: vor ihm das Haus, das sie ‚flaches Bügeleisen‘ getauft haben, und hinter ihm, oben im Büro, der noch warme, blutüberströmte Körper. Auf einmal weiß er, dass er die Stadt verlassen muss – und zwar sofort!

5. Kapitel

‚Sendero Luminoso‘ – Henrik träumt diese zwei Worte. ‚Sendero Luminoso.‘ Ich kenne sie, diese Worte. Aber warum nenne ich mich bei meinem eigenen Namen? Und was bedeuten sie? Warum denke ich über mich in der dritten Person? Und vor allem, wo habe ich die zwei Worte zum ersten Mal gehört? Meine schlafgefesselte Seele klammert sich an ihren Klang, will ihn nicht loslassen. Um keinen Preis. ‚Sendero Luminoso.‘ Henrik hat eine Fackel in der Hand, nein, keine Fackel, es ist eine brennende Flasche. Ich weiß genau, wenn ich sie nicht sofort werfe, werde ich selbst brennen. Ja, brennen sollen sie! Wir sind der Weg und wir werden diesen Weg mit unseren Flammen erhellen, so verdammt hell, bis die Wahrheit am Licht ist und nie wieder in die Dunkelheit zurück muss. Ich ziele und werfe. Im Bruchteil einer Sekunde steht die ganze Brücke in Flammen – von einem Ufer zum anderen. Als hätte es Benzin geregnet, denkt Henrik. Noch nie hat er etwas so Beeindruckendes gesehen. ‚Sendero Luminoso!‘ Der leuchtende Pfad! Perfekt! Jeder Proletarier in ganz Peru müsste zu meinen Füßen liegen und mich wie einen Gott verehren, sagt er zu sich selbst. Dann glaubt er, zuckende, brennende Figuren zu erkennen, die wie Sternschnuppen von der Brücke in die Tiefe fallen, um gleich darauf im Fluss zu verlöschen. Der Traum bleicht aus und ich wache auf. Es ist dunkel im Schlafsaal, nur die bläuliche Notbeleuchtung ist an. Ich bin zurück. Zurück in der Zone.

Das ist achtzehn Jahre her. Peru. Gott! Ich wollte unbedingt ein Zeichen setzen, wollte unbedingt und um jeden Preis dazugehören. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Erst wollte mich der ‚leuchtende Pfad‘ nicht aufnehmen. Sie dachten, ich wäre ein Spion, einer, der ihre Ideologie nicht akzeptiert und alle Pläne an ihre Feinde verraten würde. Sie wollten mich ins Messer laufen lassen und gaben mir den Auftrag mit der Brücke. Aber ich habe bewiesen, dass es mir ernst war – todernst. Ihre kommunistische Idee war mir wirklich ein Anliegen damals. Ich war bereit, mich dafür häuten zu lassen. Die Zeitungen schrieben von über vierzig Opfern. Alle paar Wochen träume ich diesen Traum, vielmehr träumt ihn jetzt immer öfter Henrik für mich. Ziehe ich mich langsam aus Peru zurück? Ich liege mit offenen Augen und warte, bis der Alarm kommt. Erst dann darf ich aufstehen.

Drüben auf der Frauenseite liegt Lynn mit offenen Augen und wartet auch. Ich frage mich, ob sie schon einmal getötet hat. Ich weiß es nicht und ich habe kein Gefühl dazu. Vielleicht sollte ich sie bitten, mir ihre Träume zu erzählen.

6. Kapitel

Als kleines Mädchen schläft Lynn in einem Koben. Die Schweine sind alle schon lange geschlachtet oder eingegangen. Deshalb ist der Koben frei für sie. Zimmer frei! Wenn sie Hunger hat, klingelt sie mit dem kleinen Glöckchen – mit so einem winzigen, mit dem man die Kinder zum Weihnachtsbaum ruft. Sie bimmelt und irgendwann bringt ihr irgendwer einen Kübel mit Resten und Abfällen aus der Küche. Koben-Service nennt sie es heute.

„Ich war erst fünf und hatte schon Koben-Service.“ Nie habe ich sie so lachen gehört. Es ist ein Lachen, total abgetrennt von der Person, die dieses Lachen lacht. Es existiert für sich selbst. Zwar nur solange es lacht, das Lachen, aber immerhin. „Von denen, die mir täglich den Kübel hinstellten,“ sagt sie, „war sicher einer mein Vater. Doch er hat sich mir nie vorgestellt. Und auch ich habe für keinen aus dem Koben-Service-Personal mehr empfunden als für alle anderen – immer nur Angst. Ich halte das für eine Legende, dass man seine Eltern aus Intuition heraus erkennt. Auch dein Vater erkennt dich nicht einfach auf der Straße, wenn er nicht einmal etwas von deiner Existenz weiß oder sich immer noch einredet, die Abtreibung damals habe tatsächlich geklappt. Hauptsache Papa hat Mama erkannt – im biblischen Sinn –, anderenfalls gäbe es dich nicht auf dieser Welt.“ Noch einmal lacht das Lachen. Noch ungehemmter und noch abgetrennter.

Henrik, denke ich, auch er trennt sich von mir. Immer öfter, immer mehr. Peru. Gott! Seit ich hier in der Zone bin, versuche ich so selten über meine Vergangenheit nachzugrübeln und so wenig zu empfinden, wie es mir nur möglich ist. Ich möchte eine Maschine sein: ohne Vorsicht, ohne Rücksicht und ohne Absicht. Reine, kalkulierte Funktion ohne Gefühl. Ein treuer Diener dieser letzten Bastion und ihrer Bewohner hier unten.

Wieder das Lachen. „Statt ,Bigfoot‘ haben sie mich ,Pigfood‘ genannt“, sagt Lynn. „Schweinefutter! Damals hab’ ich begriffen, was ich wert bin: Die Küchenabfälle bin ich wert! Zwei Jahre danach, als die ersten Angestellten vom Koben-Service versuchten, in mein Höschen zu kommen, hab’ ich mit dem Bimmeln aufgehöß’„“üäßüö“

Niemand redet ein Wort. Die Zone schläft. Oder gibt es sie gar nicht mehr? Lange, bleierne Stille, die scheinbar immer schon da war. „Möchtest du jetzt keine Liebe mehr mit mir machen, Henrik?“, fragt Lynn endlich. Ich sage ihr, wir würden wieder Liebe machen, aber sie dürfe mich nie wieder Henrik nennen. Henrik sei vor acht Jahren in Peru verbrannt. „Henrik war nur mein Zwillingsbruder“, sage ich zu ihr. „Mein Name ist nicht Henrik, sondern Lars“, lüge ich.