Alternativlos
Alternativlos
Warum wir jetzt erst recht
ungezügelte Finanzmärkte
brauchen
2. Aktualisierte E-Book-Auflage
© TvR Medienverlag, Jena 2016
www.TvRMedienverlag.de
All rights reserved.
E-Book ISBN 978-3-940431-58-5
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Inhalt
Einleitung: Worum es geht
1 Verursacht Devisenhandel Krisen?
2 Wurde die Asienkrise durch Währungsspekulanten ausgelöst?
3 Verhindert „Turbokapitalismus“ nachhaltiges Wirtschaften?
4 Regiert Geld die Welt?
5 Sind Verbriefungen gefährlich?
6 Wozu braucht man Rating-Agenturen?
7 Was bringt eine europäische Rating-Agentur?
8 Sind Rating-Agenturen am Griechenland-Debakel schuld?
9 Gaben Banken Griechenland leichtfertig Kredite?
10 Sollten Leerverkäufe verboten werden?
11 Welche Finanzinstrumente sollen verboten werden?
12 Warum brauchen wir Investmentbanken?
13 Brauchen wir ein Trennbankensystem?
14 Unterstützen Hedgefonds und die Wall Street hauptsächlich die Republikaner?
15 Attackieren Spekulanten den Euro?
16 Sind Immobilienkäufer Opfer der Banken?
17 Warum mußten Banken in der Krise gerettet werden?
18 Müssen Hedgefonds stärker reguliert werden?
19 Wurde die Finanzkrise durch Banken und Hedgefonds ausgelöst?
20 Brauchen die DAX-Konzerne eine Frauenquote
21 Sind Subprime-Hypotheken riskant?
22 Sind 25 Prozent Eigenkapitalrendite zu viel und unmoralisch?
23 Wie viele Billionen sind spekulativ am Devisenmarkt investiert?
24 Was bringt eine Finanztransaktionssteuer?
25 Gibt es einen Währungskrieg?
26 Treiben Spekulanten die Rohstoffpreise in die Höhe?
27 Wie sehr profitieren Spekulanten von Kreditversicherungen?
28 Sollten hohe Gehälter gedeckelt werden?
29 Zahlen Unternehmen wie General Electric wirklich keine Steuern?
30 Wie gefährlich sind Pensionsfonds?
31 Sind Nichtregierungsorganisationen demokratischer als Unternehmen?
32 Zerstören angelsächsische Heuschrecken unseren soliden Mittelstand?
33 Verschärft Turbokapitalismus Einkommensunterschiede?
34 Mit Steuern Ungleichheit bekämpfen?
35 Warum brauchen wir Steueroasen?
36 Schaden Steueroasen dem Fiskus?
37 Leben Amerikaner über ihre Verhältnisse?
38 Ist die Finanzbranche zu groß?
39 Wer gehört zum oberen einen Prozent?
40 Sollte man Reiche und Kapital stärker besteuern?
41 Wann ist der keynesianische Endpunkt erreicht?
42 Sind Steuern auf Kapital und Vermögen sinnvoll?
43 Schulden mit mehr Schulden zurückzahlen?
44 Wiederholt sich Havensteins Trugschluß?
45 Kann der Euro überleben?
46 Jetzt mehr Markt!
Anhang
Einleitung:
Worum es geht
Seit der Finanzkrise quellen die Bücherregale mit empörten Erklärungsversuchen, kapitalismuskritischen Streitschriften und alarmierenden Vorhersagen über, meist verfasst von aufgeregten Zeitgenossen, die es schon immer gewusst haben wollten. Manchmal melden sich auch selbsternannte Aussteiger zu Wort, die plötzlich auf mysteriöse Weise zu Kritikern geläutert wurden, nachdem sie vorher jahrelang gut im Finanzsystem verdient haben und jetzt neue Einnahmequellen brauchen. Es ist ein wohlbekanntes Muster. Wir werden mit Warnungen vor Krisen, Kriegen und Katastrophen derart überschwemmt, dass man sich kaum noch aus dem Haus wagt.
Mit diesem Buch gehe ich bewusst einen anderen Weg. Es wäre nicht sehr schwierig, dem am Boden liegenden Finanzsektor, dessen öffentlicher Ruf bekanntlich ruiniert ist, noch einen weiteren Schlag zu versetzen. Vielleicht zur Krönung noch ein paar Klischees über gierige Bankiers. Doch mehr als genug andere tun das bereits im Überfluss. Wesentlich interessanter und schwieriger ist die eigentliche Frage: War wirklich alles so leicht vorhersehbar, wie im Nachhinein behauptet wird? Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz betont heute bei jeder Gelegenheit, dass er lange vor der Krise gewarnt hatte. Doch er vergisst zu erwähnen, dass er gegen ein großzügiges Honorar ungefähr zur gleichen Zeit eine Studie verfasste, in der er zum Schluss kam, die Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac könnten den Staat im schlimmsten Fall zwei Millionen Dollar kosten.1 Die tatsächlichen Rettungskosten beliefen sich dann zwar auf fast 200 Milliarden, doch Stiglitz findet auch heute noch Anerkennung als Krisenexperte.
Die Materie ist komplex und die Krisenliteratur inzwischen so unübersichtlich, dass nur noch wenige Experten in der Lage sind, ernstzunehmende Verbesserungsvorschläge von Scharlatanerie zu unterscheiden. Deshalb vermeide ich detaillierte Beschreibungen der diversen Hilfsprogramme mit ihren zahllosen Abkürzungen – interessierte Leser können anderswo umfangreiche Schilderungen finden. Ich gehe davon aus, dass die meisten mit den groben Zügen der Krise aus der eigenen Lebenserfahrung vertraut sind. Eine genaue Kenntnis der Rettungsmaßnahmen oder einzelner Finanzprodukte ist für das Verständnis aber nicht notwendig.
Dieses Buch enthüllt Scharlatane, die von der Krise profitieren und uns durch fehlerhafte Erklärungen, unzulässige Vereinfachungen und undurchdachte Forderungen manipulieren wollen. Kaum jemand sah die Krise kommen. Einige sahen sie schon vorher, als die Grundlagen der Krise noch gar nicht gelegt waren und verkauften seit den 80er und 90er Jahren regelmäßig Bücher mit Titeln wie Die Krise kommt. Wer lang genug eine Katastrophe prophezeit, hat durchaus die Chance, irgendwann richtig zu liegen. Dann erscheint der Protagonist dieser Forderung plötzlich als weiser Prophet.
Im Nachhinein ist man eben immer schlauer. Seltene Ereignisse wie Erdbeben und Finanzkrisen eignen sich ganz besonders für die Warnungen von Scharlatanen. Wenn das Ereignis dann doch eintritt, sollte aus einem Scharlatan eigentlich nicht automatisch ein ernstzunehmender Experte werden. Für Auftritte in Fernsehsendungen mag seine Glaubwürdigkeit steigen, aber ein Scharlatan bleibt trotzdem ein Scharlatan.
Dieses Buch zeigt, wie sich Kapitalismuskritiker aller politischen Richtungen skrupellos der Finanzkrise bedienen, um die Öffentlichkeit für ihre Ziele zu gewinnen – oder einfach nur Bücher zu verkaufen. Als Kontrast zu dieser Art Literatur, die auf Bauchgefühl anstatt auf Fakten setzt, präsentiere ich bewusst Statistiken, um Trugschlüsse zu entlarven und Tatsachen zu belegen.
Damit begebe ich mich auf dünnes Eis. Denn wer quantitativ argumentiert, gilt als herzloser Zahlenjongleur und setzt sich dem Vorwurf aus, Erbsenzähler oder, schlimmer noch, Ingenieur zu sein. Ich würde solche Vorwürfe als Kompliment auffassen, denn die Geistesblitze der Ingenieure sind es, die der Menschheit Fortschritt bescheren. Googles Chefvolkswirt Hal Varian bemerkte zur zunehmenden Bedeutung von Statistiken:
Ich sage immer wieder, dass der coolste Beruf der nächsten zehn Jahre der Statistiker sein wird. Die Leute denken, ich mache einen Witz, aber wer hätte gedacht, dass Computerprogrammierer den coolsten Beruf der 1990er Jahre haben würden? Die Fähigkeit, Daten zu verarbeiten – in der Lage zu sein, sie zu verstehen, aufzubereiten, Wert daraus zu schöpfen, grafisch darzustellen, sie zu kommunizieren – all das werden sehr wertvolle Kenntnisse sein.2
Im Gegensatz dazu liefern Zahlen für Kapitalismuskritiker lediglich den Beweis dafür, dass die Märkte den Menschen zum Sklaven gemacht haben. Bei einer solchen Denkweise ist jegliche vernünftige Diskussion von vorneherein ausgeschlossen.
Die meisten Probleme, die sich während der Finanz- und Staatsschuldenkrisen offenbarten, gehen keineswegs auf gierige Bankiers zurück, wie die vereinfachenden Experten in Fernsehrunden behaupten. Meist stecken langjährige Entwicklungen dahinter, oftmals von der Politik gefördert, aber immer von ihr mindestens abgesegnet. Im Nachhinein liegt es nahe, verantwortungsloses Handeln gieriger Bankiers als Ursache allen Übels abzustempeln. Doch der komplette Hintergrund ist weit differenzierter. Wir leben in einer komplexen Welt, in der vernünftig erscheinende Entscheidungen meist unbeabsichtigte Folgen haben können.
Ein Beispiel vorab: Nach der lateinamerikanischen Schuldenkrise der 80er Jahre förderte man die Verbriefung von Krediten, um zu verhindern, dass Kreditrisiken in den Banken verbleiben. Nach der aktuellen Finanzkrise behaupten nun regulierungswütige Besserwisser, Krisen könnten vermieden werden, wenn Verbriefungen beschränkt werden. Die unbeabsichtigten Folgen sind schon vorherzusehen: Faule Kredite werden irgendwann wieder Banken in Schieflage bringen, und dann wird man erneut zu der Einsicht kommen, dass Verbriefungen ein gutes Instrument sind, um Risiken aus den Banken herauszulösen. Unbeabsichtigte Folgen sind quasi ein Naturgesetz der modernen Gesetzgebung.
Viel ist schiefgelaufen, aber nichts geschah außerhalb und ohne Mitwissen des Staats, also von Politik und Verwaltung. Die meisten Ereignisse waren eine Wiederholung der Geschichte. Nicht gierige Banken haben das Finanzsystem im Alleingang geschaffen, sondern in Zusammenarbeit, und oftmals unter dem Druck, der Staaten.
Dieses Buch zeigt deshalb auch, wie der Staat zur Vermeidung von Krisen genau die Strukturen schuf, denen jetzt die Verantwortung für die Krise zugeschoben wird. Neue Vorschriften werden nicht Krisen verhindern, sondern Wohlstand. Was wir brauchen, ist mehr Markt und weniger Staat.
Es ist ein Muster, das wir schon in der Vergangenheit gesehen haben. Nach jeder Krise werden neue Vorschriften erlassen, die möglicherweise die vergangene Krise verhindert hätten. Genau diese Maßnahmen werden dann zehn oder zwanzig Jahre später für die nächste Krise verantwortlich gemacht. Denn anstatt Krisen zu verhindern, verzögern viele Vorschriften lediglich notwendige Anpassungen. Da die Welt aber nun einmal nicht stabil ist, sondern sich kontinuierlich wandelt, schaffen die Vorschriften nur einen Schein von Stabilität.
Diese vermeintliche Stabilität maskiert lediglich die sich langsam aufbauenden Spannungen, die sich in der nächsten Krise entladen. Feinde freier Märkte freuen sich über die Stabilität und loben die ihre Weitsicht und die durch sie geschaffenen Gesetze. Für die nächste Krise sind dann nicht sie verantwortlich, sondern näher liegende Täter: gieriges Finanzkapital und Spekulanten. Seltsam nur, dass niemand diese mysteriösen Spekulanten fassen kann.
Risiko lässt sich nicht per Gesetz abschaffen. Die Idee, durch Gesetze mehr Stabilität in eine instabile Welt zu bringen, ist absurd. Doch genau dies wird im augenblicklichen populistischen Klima suggeriert. Die gleichen Aufsichtsbehörden, die vor der letzten Krise geschlafen haben, sollen jetzt mit zusätzlichen Kompetenzen wacher werden.
Wahrscheinlicher ist, dass sie mit mehr Kompetenzen die letzte Krise bekämpfen und die nächste verschlafen. Denn auch hier gilt: die Zukunft kann man nicht perfekt vorhersagen. Aufsichtsbehörden können nicht die Zukunft bestimmen, sondern lediglich hoffen, dass die gegenwärtigen Vorschriften genau richtig sind. Aufsichtsbehörden haben vor der letzte Krise nicht über unzureichende Kompetenzen geklagt. Sie haben genauso versagt, wie alle anderen Beteiligten auch. Dennoch sollen der Staat und damit auch die Behörden jetzt kräftig zupacken und in Zukunft alles besser machen.
Ich gehe in diesem Buch deshalb auch darauf ein, wie schwierig es sein kann, sinnvolle Entscheidungen im Voraus von unsinnigen zu unterscheiden. Natürlich gehen die Meinungen immer auseinander, und es gibt stets plausible Argumente für und auch gegen ein und dieselbe Vorschrift. Solange wir die Zukunft nicht perfekt vorhersagen können, werden sich Gesetze und Vorschriften im Laufe der Zeit immer wieder entweder als unzureichend oder als kontraproduktiv erweisen.
Ich argumentiere in diesem Buch deshalb, dass sich der Staat nicht länger auf das derzeitigen Bankensystem stützen sollte, sondern echte Kapitalmärkte ermöglichen sollte, in denen nicht Banken das Zentrum bilden, sondern echte Kapitalgeber über ihre Anlagen entscheiden können. Europa verlässt sich zu sehr auf den Staat und die Banken. Es ist Zeit für weniger Staat, weniger Banken und mehr Markt.
1 Joseph E. Stiglitz, Jonathan M. Orszag und Peter R. Orszag. Implications of the New Fannie Mae and Freddie Mac Risk-based Capital Standard. Fannie Mae Papers, Washington D.C., März 2002.
2 Hal Varian, „Hal Varian on how the Web challenges managers” In: The McKinsey Quarterly, 1. 2009. Übersetzung des Autors.
1
Verursacht Devisenhandel Krisen?
K ritiker datieren den Beginn des Finanzkapitalismus auf die Freigabe der Wechselkurse in den 70er Jahren. Damit wurde, so der Vorwurf, Spekulation auf Wechselkurse überhaupt erst möglich. In diesem Augenblick habe ein Zeitalter der Deregulierung begonnen, das in der aktuellen Krise endete. Zur Zeit des Bretton Woods-Systems, das auf feste Wechselkurse und Goldkonvertibilität aufbaute, sollen demnach paradiesische Zustände geherrscht haben, bei denen sich Währungen nie änderten, das Wachstum hoch und Krisen unbekannt waren.
Doch die Verfechter dieser Behauptungen ignorieren einfach die wahre Geschichte von permanenter Instabilität, Krisen und häufigen Abwertungen. Denn entgegen allen Behauptungen wurden 1971 nicht primär die Wechselkurse freigegeben. Vielmehr wurde der Goldstandard abgeschafft, der seit dem Abkommen von Bretton Woods im Jahr 1945 einen Dollar als ein Fünfunddreißigstel einer Feinunze Gold definierte. Oder umgekehrt formuliert: Eine Feinunze Gold sollte 35 Dollar kosten. Die Konvertibilität des Dollars war natürlich nicht für jedermann zu haben. Nur Zentralbanken konnten ihre Dollarreserven in Gold wechseln lassen.3
Alle anderen Währungen koppelten sich freiwillig an den Dollar und mussten entweder durch Gold besichert sein, oder durch Dollar, und damit indirekt ebenfalls durch Gold. Der große Nachteil jedes Systems fester Wechselkurse ist die Unmöglichkeit einer autonomen Geldpolitik. Die Geldpolitik der Zentralbanken richtete sich nicht nach den Erfordernissen ihrer jeweiligen Volkswirtschaft, sondern nach der Stabilität des Wechselkurses zum Dollar. Grundsätzlich gilt, dass feste Währungen nur in Wirtschaftsräumen sinnvoll sind, deren Zyklen eng beieinander liegen. Das System von Bretton Woods zwängte die ganze Welt in einen einheitlichen Wirtschaftsraum. Dies führte zwangsweise zu erheblichen Spannungen.
Zur Zeit des Wiederaufbaus bis in die 60er Jahre hinein litt Europa unter akuter Kapitalknappheit. Im Laufe der 60er Jahre änderte sich dies jedoch und die Vereinigten Staaten bauten ein doppeltes Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit auf. Nun litt die Welt nicht mehr an Kapitalknappheit, sondern an einem Überschuss von Dollar. Die Situation wurde als sogenanntes Triffin-Dilemma4 bezeichnet: alle Länder brauchten Dollar, um miteinander handeln zu können. Dollar konnten sie aber nur durch Handelsüberschüsse mit den USA bekommen. Also mussten die Vereinigten Staaten entweder unter einem permanenten Handelsdefizit leiden, oder die Weltwirtschaft wäre zusammengebrochen. Doch ein permanentes Handelsdefizit ist ebenfalls äußerst instabil. Folglich war das gesamte System fester Wechselkurse auf einem instabilen Fundament aufgebaut.
Als der in vielerlei Hinsicht glücklose Präsident Nixon die Konvertibilität des Dollar in Gold aufhob, wurde aus dem Goldstandard ein Dollarstandard. Somit bestand natürlich kein Grund mehr, die anderen Währungen fest an einen Dollar zu koppeln, der nicht mehr durch Gold gesichert ist. Innerhalb weniger Jahre standen fast alle Währungen in flexiblen Wechselkursen zueinander. Das Ende der Goldkonvertibilität war keineswegs ein Akt amerikanischer Deregulierungswut, wie heute manchmal behauptet wird, sondern war eine Flucht aus dem Korsett der festen Wechselkurse.
Es war übrigens auch die Konsequenz einer europäischen Anti-Dollar Politik. Da der Dollar Leitwährung war, hatten Zentralbanken weltweit jahrelang Dollar gesammelt, und zwar weit mehr Dollar, als durch Goldreserven gedeckt waren. Ein durch feste Wechselkurse überbewerteter Dollar verhinderte die Wettbewerbsfähigkeit amerikanischer Exporte, so dass der Handel mit Gütern nicht den Rückfluss der angehäuften Dollar erzielen konnte. Daher kam es zu einem Leistungsbilanzdefizit der USA. Das wiederum führte dazu, dass Zentralbanken auf unablässig steigenden Dollarreserven saßen.
Das Problem dabei war, dass diese Dollar durch Gold hätten gedeckt sein sollen. Die Geldmenge konnte nur wachsen, wenn mehr Gold zur Verfügung stand. Das Wirtschaftswachstum war also in gewissem Umfang von der Goldförderung abhängig, und ein großer Teil der weltweiten Goldminen liegt ausgerechnet in der Sowjetunion, die im kalten Krieg nicht gerade an der Förderung des Wachstums klassenfeindlicher Volkswirtschaften interessiert war.
Die einzige Lösung während des starken Wachstums der 50er und 60er Jahre war also die Ausgabe von mehr Geld, als durch Gold gedeckt werden konnte. Da der Dollar die Ankerwährung des Systems war, bedeutete dies, dass mehr Dollar existieren mussten, als durch Gold gedeckt waren. Die Schere zwischen Dollar und Gold ging so weit auseinander, dass 1970 nur noch 55 Prozent der von ausländischen Zentralbanken angehäuften Dollarreserven durch Gold gedeckt werden konnten, ein Jahr später aufgrund der starken Goldabflüsse aus den USA sogar nur noch 22 Prozent.
Die bei weitem größte Schwäche war jedoch nicht der Goldstandard selbst, sondern die grundsätzlichen Fehlkonstruktion eines jeden Systems fester Wechselkurse. Sie funktionieren nur, wenn all Staaten die exakt gleiche Inflationsrate haben.
Bei der Planung des Systems von Bretton Woods war diese Voraussetzung einfach als ein immerwährender Zustand angenommen worden. In der Realität gingen die Inflationsraten gegen Ende der 60er Jahre in der Welt aber immer weiter auseinander. Steigende Inflationsraten waren übrigens politisch durchaus gewollt, sowohl in den USA als auch in Europa.
In den 60er Jahren setzte sich die Idee der sogenannten Phillipskurve durch.5 Diese Theorie besagt, dass man die Arbeitslosigkeit senken kann, wenn man ein bisschen Inflation schafft. Eine solche schleichende Inflation wird übrigens auch heute wieder von Paul Krugman und anderen Keynesianern gefordert. Durch die Theorie der Phillipskurve wurde Inflation salonfähig, zumindest in einigen Ländern. Die Bundesbank war eine der wenigen Ausnahmen und hielt an ihrer antiinflationären Geldpolitik fest. Sie sollte Recht behalten, denn in den 70er Jahren ging die Welt dann durch eine Ära der Stagflation – also Inflation in Kombination mit wirtschaftlicher Stagnation und hoher Arbeitslosigkeit. Das sollte in der Theorie der Phillipskurve eigentlich nicht vorkommen.
Nach diesen Erfahrungen glauben heute nur noch wenige Unverbesserliche an die Phillipskurve.
Jahr |
Land |
Aufwertung (+) oder Abwertung (-) in Prozent |
1961 |
Deutschland |
+5,0 |
|
Niederlande |
+5,0 |
1962 |
Kanada |
-11,8 |
1967 |
Großbritannien |
-14,3 |
|
Dänemark |
-7,9 |
1969 |
Frankreich |
-11,4 |
|
Deutschland |
+9,3 |
1971 |
Österreich |
+5,05 |
|
Schweiz |
+7,07 |
Tabelle 1: Währungskrisen in führenden Industrienationen in der Zeit fester Wechselkurse im Jahrzehnt von 1960 bis 1971; Quelle: Samuel Katz, Devaluation-Bias and the Bretton Woods System. Discussion Paper No 2, Board of Governors of the Federal Reserve, Washington D.C., 1971.
Mit steigenden Inflationsraten wurden die Spannungen im System fester Wechselkurse immer offensichtlicher. Je länger das System existierte, desto häufiger wurden Anpassungen der Wechselkurse. Verteidiger des Bretton Woods-Systems hätten dies auch genauso formuliert, als Anpassung der Wechselkurse. Dahinter verbirgt sich allerdings nichts anderes als eine Währungskrise, wie sie sich gegen Ende der 60er Jahre häuften. Tabelle 1 zeigt diese Anpassungen für die größeren europäischen Staaten nach 1960.
Jede dieser sogenannten Anpassungen war jedoch in Wirklichkeit eine kleine Krise, wie von heutigen Anhängern fester Wechselkurse gerne übersehen wird. Die Entscheidung über eine Auf- oder Abwertung schafft immer Gewinner und Verlierer und ist damit hochpolitisch. Regierungen neigen dazu, erst dann auf- oder abzuwerten, wenn es nicht mehr anders geht. Genau das ist die Definition einer Währungskrise, wie es sie aber nach Meinung vieler Kapitalismuskritiker damals gar nicht gab.
Für weniger entwickelte Staaten waren Auf- und Abwertungen in der Zeit von Bretton Woods ein weit häufigeres Vorkommnis. Tabelle 2 zeigt insgesamt 48 Währungskrisen in Entwicklungsländern und auch weniger entwickelten Staaten Europas, bei denen die Wechselkurse um mindestens 14 Prozent stiegen oder fielen. Abwertungen um geringere Beträge sind nicht aufgelistet. Das bedeutet, es gab in dem Vierteljahrhundert des Bretton Woods Systems im Schnitt rund zwei Währungskrisen pro Jahr.
Die Behauptung, Währungskrisen wären das Produkt flexibler Wechselkurse oder gar des Devisenhandels, ist entweder ein Zeichen von Ignoranz, oder reine Propaganda.
1954 |
Mexiko |
1955 |
Argentinien, Nicaragua, Pakistan |
1957 |
Kolumbien |
1958 |
Türkei, Peru |
1959 |
Uruguay, Argentinien, Spanien |
1960 |
Korea |
1961 |
Costa Rica, Ecuador, Jugoslawien |
1962 |
Israel, Argentinien, Kolumbien, Ägypten, Philippinen, Chile |
1963 |
Uruguay |
1964 |
Korea, Venezuela, Tunesien |
1965 |
Kolumbien, Jugoslawien |
1966 |
Indien |
1967 |
Brasilien, Ghana, Israel, Jamaika, Kolumbien, Malawi, Peru, Sierra Leone, Spanien, Sri Lanka, Trinidad und Tobago, Zaire |
1970 |
Argentinien, Ecuador, Indonesien, Philippinen, Türkei |
1971 |
Ghana, Israel, Uruguay, Jugoslawien |
Tabelle 2: Währungskrisen mit mindestens 14 Prozent Kursänderung in weniger entwickelten Ländern zur Zeit der festen Wechselkurse des Bretton Woods-Systems. Nach: Sebastian Edwards, Julio Santaella: Devaluation Controversies in the Developing Countries: Lessons from the Bretton Woods Era. In: A Retrospective on the Bretton Woods System: Lessons for International Monetary Reform. University of Chicago Press, Chicago 1993
Obwohl nach den Regeln des Systems von Bretton Woods der offizielle Kurs des Dollars zu Gold bei 35 Dollar pro Feinunze lag, wurde Gold in Europa zu Preisen von bis zu 40 Dollar ge- und verkauft, also weit über der Parität. Wenn Amerikanern der private Besitz von Gold nicht verboten gewesen wäre, hätte sich der Goldpreis zweifellos auch auf der anderen Seite des Atlantiks ähnlich entwickelt. Die Käufer ahnten offenbar, dass die Tage von Bretton Woods gezählt waren und zahlten freiwillig einen höheren Preis, um im Fall eines Zusammenbruchs des Systems Gold als Sicherheit zu besitzen.
Zentralbanken versuchten in konzertierten Aktionen, durch Verkäufe ihrer Goldreserven den Goldpreis auf 35 Dollar zu drücken. Diese Verkäufe ermöglichten Zentralbanken ein lukratives Geschäft: sie konnten Gold auf dem Markt für bis zu 40 Dollar an Privatpersonen verkaufen und anschließend 35 der so erworbenen Dollar bei der amerikanischen Zentralbank in Gold umtauschen. Die Differenz von bis zu fünf Dollar war ihr Gewinn und gleichzeitig für die amerikanische Zentralbank ein Verlust.
Insbesondere die französische Regierung machte von dieser Möglichkeit im großen Stil Gebrauch, wodurch die amerikanischen Goldreserven bedrohlich schrumpften. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die amerikanische Regierung diese französischen Tricksereien nicht lange bieten lassen wollte. Man sieht: Es waren keine finsteren Finanzspekulanten, die das System missbrauchten, sondern Regierungen.
Es war also nur eine Frage der Zeit, bis das System fester Wechselkurse, das auf Gold beruhte, zusammenbrechen würde. Es war klar, dass Gold gegenüber dem Dollar zu billig war. Und da der Dollar und alle anderen Währungen fest aneinander gekoppelt waren, war Gold in allen Währungen zu billig. Eine Abwertung des britischen Pfunds im Jahr 1967 um 14,3 Prozent hatte aller Welt verdeutlicht, dass feste Wechselkurse nicht auf alle Ewigkeit fest sein würden. Briten, die rechtzeitig Gold gekauft hatten, konnten dadurch einen Verlust ihrer Ersparnisse um 14,3 Prozent verhindern. Wer konnte, sparte von nun an in Gold statt Geld.
Die Abwertung des Pfunds von 1967 war bei weitem nicht die erste Abwertung im System der doch eigentlich festen Wechselkurse. In den Jahren vorher hatten bereits viele andere Staaten abgewertet und Deutschland aufgewertet. Die Höhe der Abwertung durch ein so großes Land wie Großbritannien war jedoch ein Schock. Sie hatte Signalwirkung und zeigte, dass die Tage weltweit fester Wechselkurse gezählt waren.
Auch in Deutschland führten feste Wechselkurse zu wirtschaftlichen Spannungen, die heute längst vergessen sind und deshalb ignoriert werden. Deutsche Exportüberschüsse und niedrigere Inflation als im Rest der Welt sorgten für Aufwertungen der D-Mark in den Jahren 1961 (5 Prozent) und 1969 (9,3 Prozent).
Beide Aufwertungen geschahen nicht in einem Vakuum, sondern waren lange erwartet. Die Politik zögerte jedes Mal, denn jede Aufund Abwertung hat Gewinner und Verlierer. In Erwartung der Aufwertungen erlebte Deutschland starke Kapitalzuflüsse in den Monaten vor den Aufwertungen. Die damaligen Regierungen ergriffen die gleichen Maßnahmen, die auch heute noch von Staaten angewandt werden, die verzweifelt Währungen auf unrealistischem Niveau zu halten versuchen. Die Devisenmärkte wurden für mehrere Tage geschlossen, Diskontsätze und Mindestreserven erhöht oder gesenkt. Dazu kamen Durchhalteparolen der Politik. Regierungssprecher Conrad Ahlers erklärte 1969 zum Gelächter der anwesenden Journalisten, die D-Mark würde endgültig, eindeutig und ewig nicht aufgewertet. Am Tag nach der Wahl endete diese Ewigkeit und Deutschland gab zeitweise die Wechselkurse frei.6
Trotz der eigentlich festgesetzten Wechselkurse konnte nun der Markt den Wert der D-Mark ermitteln. Als sich der Wert um 3,70 Mark pro Dollar stabilisierte, entschied die Bundesregierung, zu festen Wechselkursen bei 3,66 Mark pro Dollar zurückzukehren. Dies entsprach einer Aufwertung um 9,3 Prozent. Bemerkenswert ist, dass der neue feste Wechselkurs also vom freien Markt bestimmt worden war. Wenn man also den Devisenmarkt braucht, um das jeweilige Niveau der Wechselkurse zu bestimmen, auf dem sie dann festgesetzt werden, dann können Devisenmärkte genauso gut kontinuierlich das Niveau festlegen. So lassen sich die Folgen einer plötzlichen krassen Abwertung mindern.
Am 5. August 1971 war es dann endgültig soweit. Präsident Nixon erklärte, dass der Dollar nicht mehr in Gold gewechselt werden könne. In seiner Rede machte er für diese Entscheidung natürlich nicht das unhaltbare System fester Wechselkurse und Goldkonvertibilität verantwortlich. Er fand andere Schuldige:
In den letzten Wochen haben Spekulanten einen Krieg mit allen Mitteln gegen den Dollar geführt.
Richard M. Nixon, 15. August 1971
Von Defiziten, Inflation, den Tricksereien der französischen Zentralbank oder den grundsätzlichen Problemen fester Wechselkurse sprach er dabei natürlich nicht. Dass die sogenannten Spekulanten letztlich europäische Zentralbanken waren, war Nixon dann doch zu heiß. Trotzdem wussten alle, wovon er sprach.
Nixons Entscheidung wird von Kritikern als der Anfang einer langen Phase von Deregulierung in den angelsächsischen Ländern gesehen, sogar von der Grundwertekommission der SPD. Doch hatte Bretton Woods keineswegs ein Finanzparadies von dauerhafter Stabilität geschaffen, wie es manch einer mit Scheuklappen im Rückblick zu sehen glaubt. Spannungen im System waren vorprogrammiert und wurden durch Abwertungen oder Aufwertungen bereinigt, sobald der Status Quo nicht mehr zu verteidigen war.
Die Rolle der Kosten des Vietnamkriegs beim Zusammenbruch des Systems wird manchmal übertrieben; trotz der hohen Kriegskosten konnten die USA ihren Schuldenstand7 bis 1973 auf ein Rekordtief senken. Weder Deregulierungswut noch Kriegskosten sind also letztlich für das Scheitern des Bretton Woods-Systems verantwortlich. Vielmehr waren es die Spannungen, die sich aus den festen Kursen ergaben und auf die gesamte Wirtschaft auswirken.
Es wird auch gerne vergessen, dass Nixon eigentlich nur ein Nachzügler war. Deutschland und die Niederlande hatte bereits im Mai 1971, also drei Monate vor Nixon, das System von Bretton Woods verlassen und die Mark beziehungsweise Gulden zum freien Handel freigegeben. Also müssten Gegner freier Märkte eigentlich die von ihnen beklagten angelsächsischen Deregulierungen als Made in Germany verteufeln. Noch dazu als von der damaligen SPD-Regierung ausgelöst. Doch eignet sich der damalige Helden-Kanzler Willy Brandt (Mehr Demokratie wagen!) anscheinend nicht als Urheber einer drei Jahrzehnte dauernden neoliberalen Deregulierung – also muss Nixon (rechter Republikaner!) herhalten.
Anfang der 70er Jahre stand die Niedrigzinspolitik der Vereinigten Staaten im Widerspruch zu der von der Bundesbank betriebenen Geldpolitik, die auf Preisstabilität abzielte. Die Inflation stieg 1970 und 1971 jeweils auf knapp 8 Prozent, nicht zuletzt, weil der günstige Wechselkurs der Mark Einkäufe in Deutschland billiger machte. Damit importierte Deutschland die Inflation anderer Staaten und erhielt gleichzeitig mehr und mehr Dollar von den Exporteuren.
Eine Zinserhöhung hätte die Inflation zwar theoretisch gebremst. In der Praxis wäre Deutschland dann mit Dollar überflutet worden, die aufgrund der höheren Zinsen in Mark gewechselt worden wären. So kam dann 1973 das endgültige Ende des Systems von Bretton Woods. Die Wechselkurse wurden freigegeben.
Bei diesem kurzen Ausflug in die Geschichte der Nachkriegszeit lernt man, dass feste Wechselkurse keineswegs optimal sind und dass Wechselkurse nur zeitweise fest waren. Sobald sich genug Spannungen aufgestaut hatten, wurden die Kurse plötzlich und abrupt neu festgelegt. Wer die steigenden Spannungen nicht erkannte, erlag einer Illusion von Stabilität. Andere hingegen erkannten die Risiken plötzlicher Währungsänderungen und hatten größte Schwierigkeiten, in einem solchen Umfeld langfristig zu planen. Die Illusion von Stabilität wurde auf Kosten noch stärkerer, aber relativ seltener Krisen erkauft. Statistiker bezeichnen diesen Effekt als Reduzierung der Volatilität zugunsten häufig auftretender Extremwerte.
Währungsspekulationen rentieren sich gerade bei festen Wechselkursen, denn durch die kurzfristige Kursstabilität ist das Risiko bei einer Spekulation viel geringer, als wenn kurzfristige Schwankungen an der Tagesordnung sind. Bei frei schwankenden Währungen geht ein Spekulant ein höheres Risiko ein. Beispielsweise kann er bei einer Spekulation auf eine Abwertung aufgrund von kurzfristigen Kursschwankungen einen Verlust erleiden, wenn die Währung zeitweise aufwertet. Bei festen Wechselkursen gibt es derartige Schwankungen nicht, und Spekulationen sind deshalb weniger riskant.
Trotzdem behaupten Kritiker immer wieder, Währungskrisen und -spekulation wären erst durch den erweiterten Devisenhandel mit dem Ende von Bretton Woods entstanden. Diesem Trugschluss liegen zwei Irrtümer zugrunde. Die Annahme, es hätte in der Zeit von Bretton Woods keinen Devisenhandel gegeben, ist falsch. Wie ich gezeigt habe ist es auch falsch, zu behaupten, dass es damals keine Währungsspekulationen gab.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Währungskrisen nach Meinung der Kritiker ein Merkmal des Finanzkapitalismus sind. Die wahrscheinlichste Erklärung für diese Fehleinschätzung liegt in der Wahrnehmung der Kapitalismuskritiker. In der Zeit von Bretton Woods und bis in die 80er Jahre hinein beschäftigten sie sich hauptsächlich mit Theorien über Neokolonialismus. Währungskrisen spielen in dieser Gedankenwelt bestenfalls eine Nebenrolle.
Theorien über den Finanzkapitalismus entstanden erst in den 90er Jahren, also zeitgleich mit den in der Presse ausführlich berichteten Krisen in den Jahren 1992, als das Pfund das Europäische Währungssystem verließ, und 1998, als zahlreiche asiatische Währungen abgewertet wurden. Die Krisen der 60er Jahre waren zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in der Erinnerung vieler Zeitgenossen. Und die Theoretiker des Finanzkapitalismus hatten kein Interesse daran, die Erinnerung zu wecken, denn das hätte die Schlüssigkeit ihres gesamten Gedankengerüsts erschüttert.
Könnte eine Rückkehr zu stabilen Wechselkursen heute Devisenspekulationen ein für allemal beenden? Im Gegenteil. Solange Wechselkurse stabil sind, geht ein Spekulant bei einer Wette gegen eine Währung kein Kursrisiko ein. Er verkauft die Währung an die Zentralbank, deren Währungsreserven daraufhin sinken. Wenn dann die Abwertung kommt, kauft der Spekulant die Währung zum billigeren Kurs zurück. Die Zentralbank verbucht einen Verlust. Feste Wechselkurse sind ideal zur Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten.
3 Darin unterscheidet sich das System von Bretton Woods vom klassischen Goldstandard, der bis zum Ersten Weltkrieg herrschte.
4 Benannt nach dem belgisch-amerikanischen Ökonomen Robert Triffin, der es zuerst formulierte.
5 Insbesondere durch Arbeiten von Paul Samuelson und Robert Solow, später von James Tobin.
6 Auslöser der Aufwertung war übrigens die französische Lohnpolitik, die nach den Unruhen von 1968 Lohnerhöhungen von 25 Prozent durchsetzte. Die dadurch in Frankreich entstandene Inflation wurde durch den festen Kurs des Franc zur Mark nach Deutschland exportiert – dies ist noch ein unangenehmer Nebeneffekt fester Wechselkurse. Die Bundesbank war aufgrund ihrer stabilitätsorientierten Geldpolitik zur Aufwertung der D-Mark gezwungen.
7 Ausgedrückt in Prozent des Bruttosozialprodukts.
2
Wurde die Asienkrise durch Währungsspekulanten ausgelöst?
Kapitalismuskritiker schieben die Krise der asiatischen Tigerstaaten der Jahre 1997 bis 1998 gerne Währungsspekulanten in die Schuhe. Rückendeckung für diese Theorie bekommen sie von Politikern der betroffenen Länder wie dem damaligen malaysischen Premier Mahatir. Der wetterte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gegen ausländische Spekulanten, die angeblich nichts Besseres zu tun hatten, als Währungen und ganze Volkswirtschaften zu zerstören. Mahatirs Ausfälle überraschen nicht, insbesondere nicht, dass er die Schuld bei Ausländern sucht. Denn der Politiker attackiert immer wieder Ausländer und Minderheiten, beispielsweise als er 2001 ankündigte, homosexuelle ausländische Diplomaten oder Minister auf der Stelle auszuweisen.
Erstaunlich ist hingegen, wie erfolgreich er den Ton der kapitalismuskritischen Debatte zur Asienkrise vorgab. Bis heute sind viele Menschen davon überzeugt, dass Spekulanten die Währungen der asiatischen Tigerstaaten zerstörten. Mahatir brachte immer wieder George Soros in die Debatte und behauptete, Beweise für dessen Aktivitäten zu haben. Soros selbst war allerdings von den plötzlichen Abwertungen überrascht worden. Die angeblichen Beweise hat Mahatir bis heute nicht vorgelegt.
Die Hintergründe der Asienkrise sind weit komplexer, als Gegner freier Märkte wahrhaben wollen. Die Krise war von einheimischen Akteuren und leichtfertigen politischen Entscheidungen ausgelöst worden und nicht durch ausländische Spekulanten. In den 80er und 90er Jahren hatten sich die sogenannten asiatischen Tigerstaaten (Thailand, Singapur, Hong Kong, Malaysia, Taiwan und Indonesien) rapide entwickelt und dadurch ihren Beitrag zum Ende der Theorien des Neokolonialismus geleistet. Das hohe Wirtschaftswachstum führte zu relativ hohen Zinsen in den heimischen Währungen.
Doch anstatt die Währungen freizugeben und die Wechselkurse von den Märkten bestimmen zu lassen machten die Regierungen der Tigerstaaten den Fehler, ihre Währungen fest an den Dollar zu koppeln. Höhere Zinsen in den Tigerstaaten als im Dollar hätten eigentlich zu einer Aufwertung dieser Währungen führen müssen. Doch die Regierungen hielten die Währungen niedrig, um ihre Exportwirtschaft zu fördern.
Hohes Wachstum trotz hoher Zinsen hatte zunächst positive Auswirkungen. Der Lebensstandard in den Tigerstaaten stieg unablässig. Regierungen nahmen umfangreiche Infrastrukturprojekte in Angriff, bei denen es erheblichen Nachholbedarf gab. Zur Finanzierung des Wachstums konnten diese Länder angesichts hoher Zinsen und stabiler Wechselkurse ausländische Investitionen anziehen. Deren Kapitalbedarf war zu groß, um trotz hoher Sparquoten allein durch einheimisches Kapital gedeckt werden zu können. Nur durch Kapitalzuflüsse aus dem Ausland konnte der Bedarf gedeckt werden.
Investoren sahen hohe Wachstumsraten, gut ausgebildete Arbeitskräfte und Märkte mit noch viel Wachstumspotential. Anfang der 90er Jahre gehörten die Tigerstaaten zu den beliebtesten Zielen für Kapitalanlagen. Nicht nur wohlhabende Menschen investierten – auch die Masse europäischer und amerikanischer Kleinanleger konnte ihre Ersparnisse durch Investmentfonds in diesen Nationen investieren. Antoine van Agtmael hatte schon in den 80er Jahren den Begriff Emerging Markets für solche Schwellenländer geprägt, deren Einkommen rapide stiegen und im internationalen Vergleich im Mittelfeld lagen.
Die Tigerstaaten lagen am oberen Ende der Emerging Markets und hatten sich nun auch begrifflich von der Dritten Welt und Entwicklungsländern abgesetzt. Sie wurden zu respektablen Empfängern von Kapital. Insgesamt waren die Kapitalmärkte der Tigerstaaten allerdings noch relativ unterentwickelt. Ein Großteil der Finanzierungen war deshalb in Bankkrediten konzentriert und lief nicht über Anleihen oder Aktien, die an Märkten breit gestreut werden konnten. Die Wirtschaft befand sich deshalb in einer hohen Abhängigkeit vom Bankensystem. Finanzmärkte steckten noch in Kinderschuhen, obwohl angesichts der Menge des Kapitalbedarfs eine weite Streuung der Finanzierungsquellen notwendig gewesen wäre, wie sie nur in einem flexiblen System von Kapitalmärkten erreicht werden kann, aber nicht durch staatlich gelenkte Bankkredite.
Vor lauter Euphorie übersahen alle Beteiligten kritische Spannungen, die sich in der Wirtschaft der Tigerstaaten zusammenbrauten. Es waren nicht nur Finanzhaie und Bankiers, die diesem Irrtum aufsaßen, wie manch finanzkritischer Leser denken mag. Unternehmer, Politiker, Akademiker, Journalisten – vor lauter Wachstum sah niemand die Schwächen des Systems. Zum einen führte das Wirtschaftswachstum zu einem Investitionsboom, insbesondere in Industrieanlagen und Immobilien. Steigende Immobilienpreise führten, wie zu erwarten, zu einer Immobilienblase mit den dafür typischen Bauprojekten, die in Erwartung einer stetig steigenden Nachfrage konzipiert wurden. Investitionen nahmen so stark zu, dass diese Länder aufgrund der Importe von Investitionsgütern 1995 Handelsdefizite hatten.8 Und das, obwohl die Wirtschaft dieser Länder eigentlich exportorientiert aufgebaut war, also Überschüsse hätte generieren müssen.
Zum anderen ermutigten die festen Wechselkurse Unternehmer, Darlehen in Dollar anstatt der Landeswährung aufzunehmen. Zinsen in Dollar waren deutlich niedriger. Die Zinskosten konnten sogar noch weiter gedrückt werden, wenn man kurzfristig laufende Kredite aufnahm und sie bei ihrem Auslaufen durch Aufnahme neuer Kredite zurückzahlte. Gerade in der Immobilienbranche, die aufgrund der hohen Baukosten immer und überall mit einem hohen Grad an Verschuldung arbeitet, war die kurzfristige Finanzierung in Dollar weit verbreitet. Was konnte schon schiefgehen? Die Politik garantierte die Stabilität der Wechselkurse. Es ist also kein Wunder, wenn zu Beginn der Asienkrise viele Unternehmen nur über wenig Eigenkapital verfügten und sich hauptsächlich über kurzfristige Bankkredite finanzierten.9
Das asiatische Wirtschaftsmodell von staatlich gelenkten Investitionsentscheidungen erschien vielen Beobachtern im Westen bis zur Krise als das überlegene. Technokraten können nicht irren und treffen immer optimale Entscheidungen. Doch was passiert, wenn sich die Technokraten in den mächtigen Ministerien dann doch verspekulieren? Wenn Fehlinvestitionen zentral gesteuert werden, nehmen sie ein weit größeres Ausmaß an, als wenn dezentral agierende Marktteilnehmer Fehler begehen. Es wurde nicht bedacht, dass solche staatlich gesteuerten Fehlinvestitionen weitaus katastrophalerer Folgen haben als private Spekulationsblasen.
Dieser Irrtum überrascht umso mehr, wenn man die Erfahrungen des Vorbilds der asiatischen Tigerstaaten betrachtet: Sie hatten das japanische Modell der Steuerung durch das omnipotenten Ministerium für Handel und Industrie (kurz: MITI) übernommen. Doch bereits Anfang der 90er Jahre war Japan mit seiner zentral gesteuerten Privatwirtschaft gescheitert. Wie ich in Kapitel 41 zeigen werde, leidet dieses Land noch heute unter den Auswirkungen dieses fehlgeschlagenen Experiments. Aber inmitten eines jeden Booms ist es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Grenzen des Aufschwungs zu erkennen. Natürlich gibt es immer und überall Kritiker, die vor einer unmittelbar bevorstehenden Rezession warnen. Gerade sie machen es umso schwieriger, zwischen seriösen und unseriösen Warnungen zu unterscheiden.
Wie bei jeder Krise kamen mehrere Faktoren zusammen: japanische Banken hatten in den 80er und 90er Jahren die Expansion japanischer und lokaler Unternehmen in den Tigerstaaten kapitalkräftig unterstützt. Doch nach 1995 reduzierten japanische Banken internationale Risiken, weil sie mehr als genug Probleme in ihrer Heimat hatten. Für die Unternehmen in den Tigerstaaten war dies ein Problem, denn aufgrund der unterentwickelten Kapitalmärkte waren sie von Bankkrediten abhängig. Feste Wechselkurse suggerierten allen Beteiligten immerwährende Währungsstabilität. Und angesichts des jahrelangen soliden Wachstums konnte sich niemand eine Konjunkturabschwächung vorstellen.
Die Krise ging von Thailand aus, wo die Immobilienfirma Somprasong Land eine Zinszahlung auf einen Kredit über 80 Millionen Dollar nicht leisten konnte. Mit einem Schlag wurde aller Welt klar, dass der Boom vorbei war. Auch andere Immobilienfirmen hatten sich übernommen und standen jetzt vor dem Aus. Mit den Immobilienfirmen kamen Banken und Finanzierungsgesellschaften in Schwierigkeiten. Es begann ein Wettrennen um Devisen. Es war klar, dass ausländische Kreditgeber kurzfristige Schulden in Dollar nicht verlängern würden.
Doch es gab ein Problem: die Devisenreserven der Zentralbank waren durch die Handelsdefizite in den Jahren des Investitionsbooms geschrumpft. Jetzt brauchten die Schuldner – Immobiliengesellschaften, inländische Banken und Finanzierungsgesellschaften – zusätzliche Dollar, um die bald fälligen Dollarschulden begleichen zu können. Die Devisenreserven der Zentralbank würden nicht ausreichen, um alle Dollarschulden zu begleichen. Ziemlich schnell setzte sich die Einsicht durch, dass der feste Wechselkurs nicht halten würde.
Also begann ein Wettrennen um Dollar. Die thailändische Landeswährung Baht wurden gegen Dollar verkauft. Dieses Wettrennen wird in der Presse vereinfacht als spekulative Attacke bezeichnet. Doch Spekulanten waren bestenfalls eine Randerscheinung. Der Verkaufsdruck auf den Baht kam von verzweifelten Schuldnern, denen klar geworden war, dass nicht genug Devisenreserven für Alle vorhanden waren. Bei einer Abwertung wären die Dollarschulden in der Landeswährung Baht entsprechend höher ausgefallen – für viele Unternehmen ein Todesurteil. Dies erklärt, weshalb eine große Zahl von Verkäufern auf einen Schlag Baht gegen Dollar tauschten. Auf den ersten Blick sieht dies wie eine spekulative Attacke aus, aber bei genauerer Betrachtung entpuppt es sich als die Summe einer Vielzahl von Überlebensversuchen.
Bald wurde klar, dass die anderen Tigerstaaten nach ihren jeweiligen Investitionsboom die gleichen Probleme wie Thailand hatten. Indonesien und Südkorea mussten die Kurse ihrer Währungen freigeben, was einer Abwertung gleichkam. Auch in diesen Staaten hatten Unternehmen, Finanzierungsgesellschaften und Banken kurzfristige Kredite in Dollar aufgenommen. Lediglich Malaysia konnte einer Abwertung durch scharfe Maßnahmen wie Kapitalkontrollen verhindern. Dies half zwar kurzfristig. Allerdings ist Malaysia seitdem weit hinter Thailand und Südkorea zurückgefallen, die sich seit der Krise von 1997 nicht nur vollständig erholt haben, sondern es inzwischen zu weit höherem Wohlstand als zuvor gebracht haben. Beide haben Malaysia abgehängt.
Aus der Asienkrise hat man einige Lektionen gelernt: Das in den 80er und 90er Jahren gepriesene asiatische Wachstumsmodell stellte sich als Fehlschlag heraus. Beobachter lobten seinerzeit die staatlich gelenkten Wirtschaftssysteme als dem amerikanischen und europäischen überlegen. Die Krise zeigte jedoch, dass die jeweiligen Regierungen die Risiken der Schuldenberge einfach ignorierten, die sich zur Finanzierung der von ihnen geförderten Investitionsprogramme aufgetürmt hatten. Die asiatischen Staaten haben ebenfalls Lehren aus der Krise gezogen und reduzierten seitdem den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft.
Doch seit der Finanzkrise wird in Europa und den USA erneut der Übergang zu genau dieser gefährlichen Wirtschaftspolitik einer staatlichen Lenkung von Finanzen, Investitionen und Konsum gefordert. Devisenhandel und Schwankungen von Wechselkursen sind Scharlatanen schon lange ein Dorn im Auge. Sie fordern daher stabile Wechselkurse und ignorieren die Erfahrungen aus der Asienkrise. Sie machen nach wie vor Spekulanten für die Abwertungen verantwortlich. Spekulanten spielten jedoch bestenfalls eine Nebenrolle. Des Weiteren werden vor allem Pensionsfonds und deren kurzfristige internationale Investitionen für die Asienkrise verantwortlich gemacht. Die von ihnen verursachten schnellen Kapitalabflüsse hätten die Krise zumindest verstärkt. Diese These widerlegt ein Blick auf die Statistik in Tabelle 3. Sie zeigt die Zusammensetzung der Kapitalzuflüsse (negative Werte: Kapitalabflüsse) in den von der Krise betroffenen Ländern.
Tabelle 3: Kapitalflüsse in Prozent des BSP (Anmerkungen: Neben ausländischen Direkt- und Portfolioinvestitionen tragen Finanzierungen der öffentlichen Hand und Kreditaufnahme des Privatsektors zu den Kapital-zuflüssen bei. Ein negatives Vorzeichen zeigt einen Abfluss an). Quelle: IWF, World Economic Outlook: Interim Assessment, Dezember 1997
Die Gesamtzu- oder Abflüsse sind unterteilt in Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen. Unter Direktinvestition versteht man beispielsweise den Bau oder Kauf einer Fabrik, Immobilie oder eines ganzen Unternehmens, also Investitionen, die illiquide sind und nicht leicht veräußert werden können. Portfolioinvestitionen sind der Erwerb von leichter zu veräußernden Anteilen wie börsennotierten Aktien. Es ist deutlich zu sehen, dass Portfolioinvestitionen nur einen geringen Teil der ausländischen Nettoinvestitionen ausmachten. In den meisten Ländern stellten Direktinvestitionen einen größeren Anteil an den Investitionen dar.
Der Rest der Investitionen, der nicht separat gezeigt wird, sind Kredite oder Anleihen von aus- und inländischen Banken. Die meisten Kapitalzuflüsse finanzierten also Schulden. Es ist klar, dass dies kein Rezept für solides Wirtschaften war. Trotzdem fokussieren Kapitalismuskritiker ihre Analyse der Ursachen auf Währungsspekulanten und angeblich kurzfristig agierende Aktieninvestoren.
8 Im Jahr 1995: Indonesien -3,5 Prozent, Malaysia -5,9 Prozent und Thailand -8,1 Prozent.
9 Die Quote von Fremd- zu Eigenkapital betrug von 1991 bis 1996 1,8 in Indonesien, 1,5 bis 1,9 in Thailand und sagenhafte 3,2 bis 3,4 in Korea. Lediglich in Malaysia besaßen Unternehmen mehr Eigen- als Fremdkapital, die Quote lag zwischen 0,6 und 0,9. Vgl. Marcus Miller, David Vines: The Asian Financial Crisis: Causes, Contagion And Consequences. Cambridge 2006.