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Tanz auf Scherben

Vollständige E-Book-Ausgabe der 2016 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin, erschienenen Buchausgabe

E-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
ISBN 978-3-7641-9143-6
Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2016
ISBN 978-3-7641-7041-7
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Lektorat: Kathleen Neumann
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere

www.ueberreuter.de

Carolin Philipps

Tanz auf Scherben

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»Wer auf die Jagd nach einem Tiger geht, muss damit rechnen, einen Tiger zu finden.«

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Über die Autorin

Carolin Philipps wurde in Meppen geboren. Sie hat Geschichte und Anglistik in Hannover und Bonn studiert. Im Zentrum ihrer Bücher stehen aktuelle politische Themen und Menschen, die anders sind als die Norm. Für ihren Roman »Milchkaffee und Streuselkuchen« wurde Carolin Philipps der Mentioning Award des UNESCO­‐Price for Tolerance and Peace 2000 verliehen.

Über das Buch

Hoffnung auf ein besseres Leben

Der 17­‐jährige Manu lebt zusammen mit seiner Familie in Mumbai. Seine jüngere Schwester Sanjana träumt davon, eines Tages als Tänzerin in Bollywood­‐Filmen aufzutreten. Dreimal die Woche holt Manu Sanjana abends von ihrem Tanzworkshop ab. Denn seit einigen Monaten werden nach Einbruch der Dunkelheit immer wieder junge Mädchen überfallen und zusammengeschlagen. Als Manu sich eines Abends verspätet, ist Sanjana schon ohne ihn aufgebrochen. Auf halber Strecke nach Hause findet Manu seine Schwester leise wimmernd im Abwasserkanal. Da die Ermittlungen der Polizei im Sand verlaufen, schließt Manu sich mit ein paar Freunden zusammen, um den Tätern eine Falle zu stellen. Als es ihnen gelingt, sie aufzuspüren, erlebt der 17­‐Jährige eine böse Überraschung: Einer der Täter ist sein ältester Bruder Anish ...

1

Nur noch ein Drachen steht zwischen ihm und dem Sieg. Der Drachen gehört dem großen Favoriten dieses Wettkampfs, der ihn schon beim Kite-Festival an Makar Sankranti vor vier Wochen besiegt hat.

Diesmal aber darf er nicht siegen.

Nicht heute.

Und vor allem nicht er.

Denn heute geht es um mehr als den Pokal und das Preisgeld.

Manu zieht ein wenig an der Leine. Sein Kampfdrachen schießt pfeilgerade in den Himmel hinauf, wo sein Ziel, der Drachen mit dem Büffelbild, seine Kreise dreht und bereits siegessicher auf ihn wartet.

Manus Drachen hat die Form eines riesigen Tigers, auf dem eine Frau mit sieben Armen sitzt: die Göttin Durga. Sie ist die Muttergöttin, die alles Leben schenkt und ihre Kinder beschützt – wenn es sein muss auch mit der Waffe in der Hand. Vor dem Tiger liegt der Dämon Mahishasura mit einer Büffelmaske vor seinem Gesicht. Er symbolisiert das Böse, dem die Göttin den Kampf angesagt hat.

Der Drachen ist ein Kunstwerk, für das Manu viel Geld hingeblättert hat. Es ist eine Darstellung der Göttin Durga, wie sie überall in ganz Indien in Tempeln, auf Bildern und Statuen zu sehen ist.

In Manus Familie wird die Göttin sehr verehrt. Seine kleine Schwester steht unter dem besonderen Schutz Durgas, behauptet jedenfalls seine Mutter, nachdem Sanjana vor Jahren, als sie gerade krabbeln konnte, zwischen dem Plastikmüll im Abwasserkanal hinter ihrer Hütte eine kleine bronzene Durga-Figur gefunden hat. Sie war die Vorlage für Manus Drachenbild.

Nur eines hat er geändert: Durgas Gesicht. Es wurde durch das Gesicht Babulal Paikras ersetzt, eines noch ziemlich unbekannten Politikers der BCP. Der Künstler hatte sich erst geweigert, die Göttin Durga auf diese Weise zu verändern.

»Das bringt nur Unglück!«, meinte er.

Zum Glück konnte Manu ihn doch dazu überreden – gegen eine weitere Zahlung von Rupien, die er von seinem gesparten Geld abgezweigt hat.

Babulal Paikra hat Manu für seinen Wahlkampf engagiert in der Hoffnung, dass Manu bei diesem internationalen Wettbewerb siegt und er dadurch zu einer spektakulären Werbeaktion kommt, die für ihn, mal abgesehen von den Rupien für Manus Drachen, nahezu kostenlos wäre.

Obwohl Manu beim letzten Kite-Festival nur Zweiter geworden ist, hat Babulal Paikra ihn ausgewählt und nicht den Sieger.

»Du bist viel besser als er!«, hat Babulal Paikra gesagt und ihm eine Handvoll Rupien und ein Werbeplakat mit seinem Bild in die Hand gedrückt. »Du brauchst nur das richtige Material. Kauf dir einen guten Drachen und vor allem eine bessere Schnur! Und denk dran: Mein Gesicht muss gut zu erkennen sein! Ich zähl auf dich. Wenn du gewinnst, wirst du noch einmal die doppelte Summe bekommen.«

Manu ist froh, dass Babulal sich heute Morgen verspätet hat und so erst, wenn es zu spät ist, feststellen wird, dass sein Gesicht zwar auf dem Tiger erscheint, aber im Gewand der Göttin Durga. Das wird ihm gar nicht gefallen.

Babulal Paikra hat auch die vielen Journalisten eingeladen. Sie drängeln sich hinter dem Seil, das den Strandbereich absperrt, auf dem der Wettbewerb stattfindet.

Auf die Journalisten hat Manu gehofft, und nur deshalb hat er sich auf den Deal eingelassen. Keinesfalls, um Babulal bei seinem Wahlkampf zu unterstützen. Dieser Politiker ist wie alle anderen auch. Er macht große Versprechungen vor der Wahl und danach vergisst er sie.

Darum hat Manu beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Babulal Paikra wird seine Werbung bekommen, aber zu Manus Bedingungen.

Sein Drachen nähert sich dem Büffeldrachen, der wilde Kurven dreht, um ihm auszuweichen. Durga beginnt den Kampf gegen den Büffeldämon Mahishasura.

Manu ist sicher, dass er heute eine Chance hat, denn anders als beim letzten Wettkampf hat er seine Manjha, die Drachenschnur, nicht bei einem Händler auf dem Markt gekauft, sondern von einem Spezialisten anfertigen lassen. Sein letztes Geld hat Manu dafür ausgegeben, denn das von Babulal hatte dafür nicht mehr gereicht.

Der Glasstaub, der mit Reispulpe als Klebmasse am oberen Ende auf die letzten zwanzig Meter der Schnur gerieben worden ist, macht seinen Drachen zu einem scharfen Messer, mit dem er die Schnüre der anderen Drachen durchschneiden kann.

Das ist das Ziel dieses Wettbewerbs. Am Ende siegt der, dessen Drachen noch am Himmel schwebt, während alle anderen schnurlos zur Erde getrudelt sind.

Manus Finger sind mit schmutzigen Tuchresten umwickelt, damit er sich nicht an der scharfen Schnur schneidet. Es hat schon schwere Unfälle gegeben, wenn die abgetrennten messerscharfen Schnüre vom Himmel herunterfielen und sich um den Kopf oder andere Körperteile von Zuschauern wickelten.

Und darum ist das, was Manu für heute geplant hat, gefährlich. Wenn etwas passiert und man ihm nachweisen kann, dass es Absicht war, wird er im Gefängnis landen.

Aber das ist ihm in diesem Moment egal.

Es gibt nur diese eine Chance und die muss er nutzen.

Er lässt seinen Drachen zur Freude der Zuschauer noch einige wilde Loopings machen, bevor er zum Angriff übergeht. Er zieht die Schnur mit kurzen kräftigen Zügen an sich, der Drachen schießt vorwärts.

Aber der Büffeldrachen weicht wieder aus. Das scheint heute seine Taktik zu sein. Ausweichen und abwarten, bis der Tigerdrachen einen Fehler macht. Sie jagen sich kreuz und quer über den Strand, begleitet von den begeisterten Zurufen der Zuschauer.

Früher, vor einer gefühlten Ewigkeit, war der Lenker des Büffeldrachen sein Lehrer gewesen, der ihm den ersten Drachen baute, der ihm beibrachte, wie man die Schnur hält, den Wind berechnet und den Drachen steuert. Früher, da waren sie ein unschlagbares Team gewesen. Der andere war acht, Manu fünf gewesen, als sie das erste Mal einen Wettbewerb gewannen. Der Beginn einer ganzen Serie von Siegen. Jetzt aber sind ihre Drachen keine Verbündeten mehr, sondern Gegner.

Und nicht nur die Drachen.

Manu kneift die Augen zu. Die beiden Drachen sind nun nur noch als kleine Punkte zu sehen, die Zuschauer verfolgen sie mit ihren Ferngläsern.

Manu treibt den gegnerischen Drachen wieder näher zu sich heran, um besser sehen zu können. Dann zieht er kräftig an der Schnur, der Wind biegt seinen Drachen nach hinten. Er lockert die Schnur und sein Drachen schießt vorwärts, bis er sich unterhalb der Manjha des Büffeldrachens befindet. Mit einem scharfen Ruck zieht Manu seine Schnur an der seines Gegners entlang.

Das geschieht so schnell, dass die Zuschauer es erst mitbekommen, als der Büffeldrachen im freien Fall Richtung Erde trudelt, gefolgt von der durchtrennten Schnur.

Ein Aufschrei geht durch die Zuschauer.

Sofort rennen die Kinder vor Freude kreischend los, um den herabfallenden Drachen zu fangen.

Manu grinst zufrieden. Teil eins seines Plans ist geschafft!

Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der andere seine Rolle wütend auf den Boden wirft und seine Faust in Richtung Manu schüttelt. Sofort ist Manus Gegner von seinen Freunden umringt, die auf ihn einreden.

Manus Drachen bleibt für wenige Sekunden am Himmel schweben, nur so lange, bis sein Sieg von den Zuschauern und den Schiedsrichtern einwandfrei registriert werden kann, dann aber lässt Manu ihn im Sturzflug nach unten sausen.

Wieder geht ein Aufschrei durch die Zuschauer. Sie kennen sich aus und ahnen, dass dies kein normaler Flug ist. Mit jedem Meter, den sein Kampfdrachen dem Boden näher kommt, verstärken sich die Rufe der Menschen.

Manu ist mindestens so gespannt wie die Zuschauer.

Wie werden sie reagieren?

Werden sie die Botschaft verstehen?

Nun ist die auf dem Tiger sitzende Figuren der Durga mit dem Dämon zu ihren Füßen auf Manus Drachen deutlich zu erkennen. Die Göttin schwingt in ihren Händen die Waffen, mit denen sie ihre Feinde besiegt: Diskus, Dreizack, Pfeil und Bogen, Schwert, Keule, Schild und Muschelhorn. Es sieht aus, als käme die Göttin direkt aus dem Himmel herabgeschwebt.

Das Böse hat beim Herbst-Navratri vor sieben Monaten gesiegt, nun beim Frühlings-Navratri wird das Gute das Böse besiegen.

Es wird still unter den Zuschauern.

Noch kann man den schwarzen Schriftzug, der auf den Körper des Tigers aufgemalt wurde, nicht lesen. Eigentlich wollte Manu die Botschaft in Hindi schreiben lassen, damit alle Zuschauer sie lesen können: »बलात्कारीयों को गिरफ्तार करे!!!«

Aber dann wäre seine Botschaft nicht dort angekommen, wo er sie haben wollte: bei den ausländischen Journalisten. Sie will er erreichen, nur dann kann sein Plan aufgehen.

»Arrest the rapists!«, steht in großen Buchstaben auf dem Körper des riesigen Tigers. »Verhaftet die Vergewaltiger!«

Die Göttin Durga saust im Sturzflug auf die Gruppe um den Büffeldrachenlenker herunter. Sie bemerken die Gefahr erst, als die messerscharfe Schnur sich um ihre Arme und Beine wickelt.

Da aber ist es schon zu spät. Beim Versuch, davonzulaufen, verheddern sie sich in der Schnur und stürzen schreiend zu Boden.

Während Helfer versuchen, sie zu befreien, drängen sich die Journalisten um Manus Kampfdrachen und machen von allen Seiten Aufnahmen.

Manu lächelt zufrieden. Teil zwei seines Plans ist auch geschafft!

Dann macht er sich langsam auf den Weg zu seinem Drachen, wobei er sorgfältig die Schnur auf seine Rolle wickelt.

Babulal Paikra kommt ihm entgegengerannt. »Bist du verrückt geworden? Mein Kopf auf dem Körper der Durga!!!«, schreit er auf Hindi. »Was ist das für ein Drachen? Wo ist der, für den ich bezahlt habe?«

Einige Journalisten, die ihm gefolgt sind, halten ihm begeistert ihre Mikrofone vor den Mund. Das ist viel besser als alles, was sie sich erhofft hatten.

»Es tut mir leid«, sagt Manu, obwohl das nicht stimmt. Er hat es ja genau so geplant. »Das Gute besiegt das Böse. Durga gegen den Dämon Mahishasura in der Gestalt eines Büffels.«

»Du bist ja irre, Junge. Auch wenn du ein verdammt guter Drachenflieger bist.« Babulal Paikra schluckt seine Wut hinunter und posiert neben Manu, während ein Blitzlichtgewitter aus den Kameras auf beide losgeht.

»Sie wollten Werbung«, flüstert Manu. »Die haben Sie nun!«

Eine Journalistin fragt Babulal begeistert: »Haben Sie den Siegerdrachen gesponsert? Ist das Ihre Botschaft? ›Verhaftet die Vergewaltiger!‹ Wollen Sie sich bei einem Wahlsieg auch im Parlament gegen die Gewalt an Frauen einsetzen?«

Manu muss grinsen. Das geschieht Babulal recht. Er hat neulich erst in einem Zeitungsinterview gesagt, dass Vergewaltigungen von Frauen nie absichtlich passieren, sie geschehen einfach so, aus dem Moment heraus, sozusagen aus Versehen. Und darum dürfe man die Täter auch nicht zu streng bestrafen.

Manu beobachtet, wie er anfangs etwas verlegen nach Worten sucht, dann aber eloquent eine Spontanrede zum Thema Gewalt an Frauen hält. »Die Vergewaltiger gehören hart bestraft. Dafür werde ich mich einsetzen!«

Am Ende applaudieren alle, Babulal Paikra wendet sich sichtlich erschöpft ab. Das Thema kam in seinem Wahlprogramm eigentlich nicht vor.

»Wir sprechen uns noch!«, zischt er Manu zu.

Als er Manu bei der Siegerehrung den Pokal und das Preisgeld überreicht, sieht Manu in seinen Augen, wie wütend er immer noch ist. Die versprochene Sonderzahlung wird er wohl nicht bekommen.

Aber das ist Manu egal.

Darum geht es ihm ja gar nicht.

Sein Gegner ist nicht zur Siegerehrung erschienen. Er hat mit seinen Freunden, sobald man ihn aus dem Schnurgewirr befreit hatte, sofort das Weite gesucht. Sogar die Hilfe der Sanitäter, die die Kratzwunden verbinden wollten, haben sie abgelehnt.

Manu ist froh, dass nichts Schlimmes passiert ist. Nur sein Gegner hat eine große blutige Wunde auf der Stirn davongetragen, bestimmt wird eine Narbe zurückbleiben, die ihn für immer an diesen Tag erinnern wird.

Und das ist gut so.

Die Blicke, die er Manu zugeworfen hat, waren voller Wut. Auch seine Freunde funkelten Manu böse an. Am liebsten hätten sie sich wohl auf ihn gestürzt und ihn verprügelt. Aber ihre Angst, dass jemand Fragen stellen könnte, war vermutlich zu groß.

Auf diese Fragen aber hatte Manu gehofft. Denn dann hätte er die Antworten geben können. Das war Teil drei seines Plans. Und der ist schiefgelaufen.

Die Journalisten ziehen langsam ab, einer nach dem anderen. Einige folgen Babulal zu seinem Auto, in der Hoffnung, noch einige Sätze exklusiv aus seinem Mund einzufangen.

Aber Babulal hat für heute genug geredet und mehr gesagt, als er wollte.

Manu schaut ihnen enttäuscht nach. Sein Plan ist nur halb aufgegangen. Sicherlich werden sie morgen in den Zeitungen, vielleicht sogar im Fernsehen über den spektakulären Absturz seines Drachens berichten. Und vielleicht werden mit Glassplittern präparierte Manjhas in Zukunft ganz verboten. Manu aber würde wohl nur in einem Satz erwähnt werden, als derjenige, der den Wettbewerb gewonnen hatte und dessen Drachen danach unglücklich auf den Zweitplatzierten abstürzte.

Die Zeitungen werden sicher auch über Babulal berichten, der eine Kehrtwendung gemacht hatte und nun bereit war, gegen Gewalt an Frauen zu kämpfen.

Das war immerhin etwas, aber weit entfernt von dem Ziel, das er sich gesetzt hatte. Er hatte gehofft, dass ihn wenigstens einer der Journalisten interviewt hätte. Dann hätte er ihnen von Sanjana erzählen können und dass Durga seinen Drachen auf seinen Gegner und dessen Freunde abstürzen ließ, um die Welt auf die Dämonen mit den Büffelmasken aufmerksam zu machen.

Das war seine einzige Chance gewesen. Eine weitere wird er wohl nicht bekommen.

2

»Nicht schlecht!«, sagt auf einmal eine Stimme neben ihm. Eine junge Frau in Jeans mit langen schwarzen Haaren, die sie hinten zu einem Zopf gebunden hat, schaut ihn bewundernd an. »Das war schon Spitzenklasse, wie du den Drachen geführt hast.«

Manu ist ein wenig verlegen. »Was verstehst du denn davon?«

»’ne Menge! Wenn ich heute mitgemacht hätte, wäre das hier vielleicht anders ausgegangen.«

Manu muss lachen. Er hat noch nie ein Mädchen mit einem Drachen gesehen, das es weiter als bis zu einem Sieg über ihre Freundinnen gebracht hat. »Schade, dass du deinen Drachen heute nicht dabeihattest.«

»Ja, wirklich schade! Ich gratuliere dir zu deinem Sieg. Das Beste aber war deine Aktion mit dem Absturz. Das war Präzisionsarbeit. Ganz schön mutig von dir!«

Manu schaut sie verwundert an. Wenn sein Manöver so leicht zu durchschauen war, warum hat keiner der Journalisten es bemerkt? »Wie kommst du darauf, dass ich das mit Absicht gemacht habe? Das ist gefährlich. Ich hätte die Jungen schwer verletzen können.«

»Genau! Aber das wolltest du ja offenbar. Ich habe deinen Drachen beobachtet. Ich sagte dir doch, ich kenne mich aus. Und außerdem habe ich hier den Beweis.«

Sie hält ihr Smartphone hoch.

Manu starrt sie erschrocken an. »Du hast das aufgenommen? Wozu? Willst du mich anzeigen?«

Das Mädchen lacht. »Im Gegenteil! Du bist ein Held! Durga besiegt den bösen Dämon. Und dann lässt du deinen Drachen auf vier Männer sausen, die du wohl verdächtigst, Frauen zu vergewaltigen. Das hat Dramatik. Könnte ein Film aus Bollywood sein. In der Hauptrolle Shah Rukh Khan. Und am Ende verspricht Babulal, der Mann, der Vergewaltigungen an Frauen als Versehen bezeichnet, vor internationalen Kameras, sich gegen Gewalt an Frauen einzusetzen. Das muss man erst mal bringen. Ich bewundere dich.«

Manu ist das Mädchen unheimlich. Sie erzählt es so, als wäre sie bei der Planung dabei gewesen. Dabei hat es diesen Plan nur in seinem Kopf gegeben.

Sie zeigt ihm auf ihrem Smartphone das Video, auf dem zu sehen ist, wie er mit gezielten Zügen an der Drachenschnur den Absturz herbeiführt.

Sie kennt sich tatsächlich aus.

»Na, noch irgendwelche Fragen?«

Manu schüttelt den Kopf. Nicht jeder würde es erkennen, aber für jemanden, der sich auskennt, sind die Bilder eindeutig. »Warum hast du das aufgenommen?«

»Ich habe einen Blog über Kite-Fighting. Da findest du alles, was du schon immer darüber wissen wolltest. Wo man die besten Manjhas bekommt, die aktuellen Termine für Wettbewerbe in Indien und Videoclips über die besten Fights. Und dieses Video wird das Highlight des Jahres. Ich hab’s auch schon bei YouTube hochgeladen. Sieh mal, schon nach gerade mal dreißig Minuten wurde es vierhundert Mal aufgerufen. Du wirst ein Star!«

Manu starrt fassungslos auf den YouTube-Clip. »Sag mal, spinnst du? Du kannst das doch nicht einfach machen, ohne mich zu fragen.«

»Wieso, das war doch ’ne öffentliche Veranstaltung.«

»Und demnächst postest du es bei Facebook.«

Das Mädchen lacht. »Demnächst ist gut! Hier, schon längst passiert … Und siehst du die Likes? Wow! Ich hab auch die Rede von Babulal gepostet. Ha, der kommt aus der Nummer nicht mehr raus, wenn er gewählt wird.«

»Du hättest mich fragen müssen. Ich will nicht, dass es außer Kontrolle gerät.«

Sie lacht. »Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Aber es ist doch genau das, was du für deine Aktion möchtest: Publikum. Wenn du an die Öffentlichkeit gehst, kannst du etwas erreichen, aber du verlierst immer auch die Kontrolle. Bestes Beispiel ist der ›arme‹ Babulal.« Sie lacht spöttisch. »Der hatte bestimmt eine ganz andere Rede geplant. Geschieht ihm recht!«

Manu muss auch lachen, als er an das Gesicht von Babulal denkt. Er hofft nur, dass der sich nicht rächen wird. Er muss zu Recht glauben, dass Manu ihn in eine Falle gelockt hat. Dabei hat Manu ihn nur benutzt.

Fangen wollte er andere.

Und das ist ihm nicht wirklich gelungen.

»Ich weiß immer noch nicht, warum du das gemacht hast.« Das Mädchen schaut ihn fragend an.

»Wenn ich dir das erzähle, landet es auch wieder im Netz. Ich kenne dich doch gar nicht. Warum postest du so was? Es gibt sicher spannendere Sachen!«

»Woher willst du denn wissen, was ich spannend finde? Ich bin übrigens Amba«, sagt sie nach einer kurzen Pause. »Neunzehn Jahre und Studentin der Rechtswissenschaft.«

»Du wirst Anwältin?«

»Mal sehen. Richterin gefällt mir auch. Dann werde ich dafür sorgen, dass Kerle, die sich an Frauen vergreifen, hinter Gitter kommen!« Sie sagt das mit so viel Zorn in der Stimme, dass Manu sie verwundert ansieht.

Etwas verlegen fragt sie: »Und du? Was machst du, wenn du nicht Drachen steigen lässt?«

Manu zögert. Sie sieht nicht so aus, als ob sie jemals in ihrem Leben Geld verdienen musste, und sie kennt den Slum, in dem er zu Hause ist, bestimmt nur aus dem Internet. Allenfalls hat sie ein YouTube-Video darüber gesehen und sich gefragt, ob das wirklich direkt neben ihrer Haustür oder nicht doch auf einem fernen Planeten gedreht wurde.

»Ich möchte auch studieren. Elektroingenieur«, sagt er deshalb nur. »Aber dafür fehlt mir noch das Geld. Darum nehme ich an diesen Wettbewerben teil. Diesmal bleibt aber nichts übrig. Die Drachenschnur war sehr teuer.«

»Also warum hast du es gemacht? Wer ist dieser junge Mann mit dem Büffeldrachen? Ist er ein rapist

Manu zögert. »Das ist eine lange Geschichte. Es ist wegen meiner kleinen Schwester … Ich glaube nicht, dass du es verstehen wirst.«

Ehe er noch etwas sagen kann, greift sich Amba mit einer raschen Bewegung in die Haare und zieht sie mit einem Ruck ab.

Erschrocken starrt Manu auf ihren kahl geschorenen Kopf, auf dem sich bereits wieder ein schwarzer Flaum aus Stoppelhaaren gebildet hat. Sie sieht total fremd und doch seltsam vertraut aus.

»Vor einem halben Jahr war ich auf dem Navratri-Fest«, erzählt Amba. »Vier Männer mit Büffelmasken haben mich überfallen. Sie haben mich festgehalten. Einer hat mir die Haare geschoren. Sie haben gesagt, es sei eine Opfergabe an die Göttin Durga …« Sie stockt, schluckt.

Manu hält die Luft an.

Auch das ist ihm alles sehr vertraut.

Dieselbe Geschichte.

Dieselben Büffelmänner?

»Ich hatte Glück, weil eine Gruppe Touristen vorbeikam. Sie haben mich liegen gelassen und sind weggelaufen.« Amba bricht ab.

Manu, der erschrocken zugehört hat, legt den Arm um sie. »Es ist gut. Nicht weitererzählen. Meine Schwester … Auch an Navratri, vor einem halben Jahr. Sie ist erst zwölf. Ich habe sie gefunden. Ihre Freundin ist bis heute verschwunden. Es waren vier Männer mit Büffelmasken.«

Sie sitzen schweigend da.

Dann steht Amba plötzlich auf. »Ich muss nach Hause. Ich habe immer noch Angst, sobald es dunkel wird.«

Manu nickt. Das versteht er gut. Sanjana geht es genauso. Die Haare wachsen nach, aber die Angst bleibt unverändert bestehen.

Inzwischen hat sich der Strand ziemlich geleert. Nur einige Kinder spielen noch mit ihren Drachen.