Die Originalausgabe erschien 1963 unter dem Titel Lessico famigliare bei Giulio Einaudi Editore in Turin.

E-Book Ausgabe 2020

© 1963 Giulio Einaudi Editore, Torino

© 1993, 2007 für die durchgesehene und veränderte Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emserstr. 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung des Bildes Der Fremde oder Konversation von Felice Casorati © VG Bildkunst, Bonn 2016. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

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ISBN 978 3 8031 4210 8

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN: 978 3 8031 2563 7

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Wenn bei uns zu Hause, als ich noch ein Kind war, meine Geschwister oder ich bei Tisch ein Glas umstießen oder ein Messer fallen ließen, dann donnerte die Stimme meines Vaters: Benehmt euch nicht rüpelhaft!

Wenn wir die Sauce mit Brot auftunkten, rief er: Schleckt die Teller nicht aus! Macht kein Geschmier! Macht keine Sudeleien!

Geschmier und Sudeleien waren für meinen Vater auch die modernen Bilder, die er nicht leiden konnte.

Er sagte: Ihr wißt euch bei Tisch nicht zu benehmen! Mit euch kann man nicht ausgehen!

Er sagte: An einer Table d’hôte in England würde man euch sofort wegschicken.

Er hatte vor England die höchste Achtung. Es war für ihn von allen Ländern der Welt das beste Beispiel eines zivilisierten Landes.

Er pflegte bei Tisch die Leute, die er während des Tages gesehen hatte, zu kommentieren. Er war sehr streng in seinen Urteilen und bezeichnete fast alle als Dummköpfe. Ein Dummkopf war für ihn wie »ein Simpel«. Der scheint mir ein schöner Simpel, sagte er von einem neuen Bekannten. Neben den »Simpeln« gab es auch die »Neger«. Ein »Neger« war für meinen Vater, wer sich linkisch, ungeschickt und schüchtern benahm, wer sich unpassend kleidete, wer nicht bergsteigen konnte und wer keine Fremdsprachen kannte.

Jede Handlung oder Gebärde, die ihm unpassend erschien, bezeichnete er als »eine Negerei«. Seid keine Neger! Macht keine Negereien! rief er ständig. Die Stufenleiter der Negereien war groß: Bergsteigen mit Stadtschuhen, ein Gespräch anfangen mit einem Reisegefährten im Zug oder einem Passanten auf der Straße, vom Fenster aus mit den Nachbarn schwatzen, die Schuhe im Wohnzimmer ausziehen, um sich die Füße am Heizkörper zu wärmen, sich beim Bergsteigen über Durst, Müdigkeit oder Blasen an den Füßen beklagen, auf die Wanderungen gekochte und ölige Speisen mitnehmen oder Servietten, um die Hände abzuwischen.

Auf die Bergwanderungen durfte man zum Essen nur Fontinakäse, Marmelade, Birnen und hartgekochte Eier mitnehmen und nur Tee trinken, den mein Vater selber auf dem Spirituskocher zubereitete. Mit gerunzelter Stirn beugte er seinen langen Kopf mit den roten Haaren im Bürstenschnitt über den Kocher und schützte die Flamme mit den Schößen seiner Jacke vor dem Wind, einer rostfarbenen Wolljacke, die er während der Ferien im Gebirge immer trug und die um die Taschen ganz abgenützt und versengt war.

Auf die Bergwanderungen durfte man weder Cognac noch Würfelzucker mitnehmen: denn das war, sagte er, »Negerzeug«; man durfte auch nicht zum Imbiß in die Chalets gehen; denn auch das war eine Negerei. Eine Negerei war es, wenn man den Kopf mit einem Taschentuch oder einem Strohhut vor der Sonne schützte, Regenkapuzen trug oder Schals um den Hals schlang: alles Kleidungsstücke, die meiner Mutter lieb waren und die sie am Morgen vor dem Aufbruch für uns und sich in den Rucksack einzuschmuggeln versuchte, die mein Vater aber, wenn sie ihm in die Hände gerieten, zornig wegwarf.

Wenn wir auf den Wanderungen unsere harten, genagelten Bergschuhe, die so schwer wie Blei waren, unsere wollenen Socken, Mützen und Gletscherbrillen auf der Stirn trugen, wenn die Sonne senkrecht auf unsere schweißbedeckten Köpfe brannte, dann betrachteten wir neidisch »die Neger«, die in leichten Tennisschuhen aufstiegen oder an den Tischen des Chalets Schlagsahne verzehrten.

Meine Mutter nannte das Bergsteigen »das Vergnügen, das der Teufel seinen Kindern macht«, und versuchte immer, daheimzubleiben, vor allem, wenn man außer Haus essen ging: denn nach dem Essen las sie gern die Zeitung und schlief ein wenig auf dem Sofa.

Wir verbrachten jeden Sommer im Gebirge. Wir mieteten ein Haus für drei Monate, vom Juli bis zum September. Zumeist waren es Häuser weit weg vom Dorf, und mein Vater und meine Brüder gingen jeden Tag mit dem Rucksack Einkäufe machen. Es gab keine Unterhaltung, keine Vergnügungen. Wir, das heißt wir Geschwister und meine Mutter, verbrachten die Abende zu Hause, rund um den Tisch. Mein Vater las in einem weit entfernten Zimmer, und von Zeit zu Zeit erschien er in der Tür des Zimmers, in dem wir schwatzten und spielten. Er runzelte argwöhnisch die Stirn und beklagte sich bei der Mutter über unser Dienstmädchen Natalina, das ihm gewisse Bücher in Unordnung gebracht hatte. Deine liebe Natalina, sagte er, eine Schwachsinnige, ohne sich darum zu kümmern, daß Natalina in der Küche ihn hören konnte. Natalina war im übrigen daran gewöhnt, daß mein Vater sie als schwachsinnig bezeichnete, und war deswegen nicht beleidigt.

Manchmal war mein Vater abends mit den Vorbereitungen für seine Bergtouren beschäftigt. Er kniete auf dem Boden und schmierte seine Schuhe und diejenigen meiner Brüder mit Walfischfett ein; er glaubte, er allein könne das richtig machen. Dann war im ganzen Haus ein großes Geklirr von Eisenzeug zu hören: er suchte die Steigeisen, die Kletterhaken, die Pickel. Wo habt ihr meinen Pickel hingeräumt? donnerte er. Lidia! Lidia! Wo habt ihr meinen Pickel hingeräumt?

Für seine Bergtouren brach er morgens um vier Uhr auf, manchmal allein, manchmal mit befreundeten Bergführern, manchmal mit meinen Brüdern, und am folgenden Tag war er aus Müdigkeit sehr mürrisch, hatte von der Sonnenreflexion auf dem Gletscher ein rotes, aufgeschwollenes Gesicht, rissige und blutige Lippen, und seine Nase war mit einer gelben Pomade bestrichen, die wie Butter aussah. Er las mit finsterem Blick und gerunzelter Stirn die Zeitung, ohne ein Wort zu sprechen, und eine Kleinigkeit genügte, daß er in einen fürchterlichen Zorn ausbrach. Wenn er mit meinen Brüdern auf einer Bergtour gewesen war, sagte mein Vater, meine Brüder seien »Salami« und »Neger«, und keines von seinen Kindern habe seine Bergleidenschaft geerbt, ausgenommen Gino, der älteste von uns, der ein ausgezeichneter Bergsteiger war und zusammen mit einem Freund sehr schwierige Gipfel bestieg. Von Gino und diesem Freund sprach mein Vater mit einer Mischung aus Stolz und Neid und sagte, er selber werde älter und habe nicht mehr so viel Atem.

Gino war auch sonst sein Liebling, der ihn in jeder Beziehung befriedigte; er interessierte sich für Naturgeschichte, sammelte Insekten, Kristalle und andere Minerale und war sehr fleißig. Er studierte später Ingenieurwesen, und wenn er nach einem Examen nach Hause kam und sagte, er habe dreißig Punkte gemacht, fragte mein Vater: Warum hast du dreißig gemacht? Warum nicht dreißig mit Auszeichnung?

Und wenn er dreißig mit Auszeichnung erhalten hatte, sagte mein Vater: Das war aber ein einfaches Examen.

Wenn mein Vater keine Hochtouren oder Wanderungen machte, die bis zum Abend dauerten, ging er dennoch jeden Tag »marschieren«; er ging frühmorgens weg, wie für eine Hochtour gekleidet, nur ohne Seil, Steigeisen und Pickel; er ging häufig allein, weil meine Mutter und wir, wie er sagte, »Faulenzer, Salami und Neger«, waren; er ging allein, die Hände auf dem Rücken, mit dem schweren Schritt seiner genagelten Schuhe, die Pfeife zwischen den Zähnen. Manchmal bestand er darauf, daß meine Mutter ihn begleitete. Lidia! Lidia! donnerte er morgens früh, wir gehen marschieren! Du wirst apathisch, wenn du immer auf der Wiese bleibst! Dann folgte ihm meine Mutter gehorsam, ein paar Schritte hinter ihm, mit ihrem Stöckchen, dem um die Hüften geschlungenen Wolljäckchen und den lockigen grauen Haaren, die sie immer kurz geschnitten trug, obwohl mein Vater die Mode der kurzen Haare nicht leiden konnte und an dem Tag, an dem sie sich die Haare hatte schneiden lassen, einen so heftigen Wutausbruch hatte, daß beinahe das Haus eingestürzt wäre. Jetzt hast du schon wieder die Haare geschnitten! Was du für eine Eselin bist! sagte mein Vater jedesmal, wenn sie vom Friseur nach Hause kam. »Esel« bezeichnete im Sprachgebrauch meines Vaters nicht einen Dummkopf, sondern jemanden, der sich ungeschickt oder unhöflich benahm; wir, seine Kinder, waren »Esel«, wenn wir wenig sprachen oder ungezogene Antworten gaben.

Du hast dich von der Frances anstecken lassen! sagte mein Vater, wenn er sah, daß sie sich die Haare wieder geschnitten hatte. Eigentlich wurde diese Frances, eine Freundin meiner Mutter, von meinem Vater sehr geschätzt und geliebt, unter anderem, weil sie die Gattin eines Jugendfreunds und Studienkollegen von ihm war; ihr einziger Fehler war in den Augen meines Vaters, daß sie meine Mutter zur Mode der kurzen Haare bekehrt hatte; denn Frances ging häufig nach Paris, weil sie dort Verwandte hatte, und in einem Winter war sie von Paris zurückgekehrt und hatte gesagt: In Paris trägt man die Haare kurz. In Paris ist die Mode sportlich. In Paris ist die Mode sportlich, hatten meine Schwester und meine Mutter den ganzen Winter hindurch wiederholt, indem sie das Kehlkopf-r von Frances nachahmten; sie machten sich alle Kleider kürzer, und meine Mutter ließ sich das Haar schneiden; meine Schwester nicht, weil sie sehr schönes blondes Haar hatte, das über den ganzen Rücken fiel, und auch weil sie zuviel Angst vor meinem Vater hatte.

Meistens kam auch meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, mit uns in die Berge. Sie wohnte aber nicht bei uns, sondern in einem Hotel im Dorf.

Wenn wir zu ihr gingen, saß sie meist auf dem kleinen Vorplatz des Hotels unter dem großen Sonnenschirm. Sie war klein und hatte winzige Füße, die in schwarzen Knopfstiefelchen steckten; sie war stolz auf diese kleinen Füße, die unter dem Rock ein bißchen hervorkamen, und war auch stolz auf ihr schneeweißes krauses Haar, das sie zu einem Helm aufwärtsgekämmt trug. Mein Vater ging jeden Tag »ein wenig marschieren« mit ihr. Sie gingen auf Hauptstraßen, weil sie alt war und mit diesen Stiefelchen, die kleine Absätze hatten, nicht auf Fußwegen gehen konnte; sie gingen, er mit seinen langen Schritten, die Pfeife im Mund, voraus, sie hinterher mit ihrem raschelnden Rock und ihren kleinen Stöckelschritten; sie wollte immer einen anderen Weg gehen als am Vortag, sie verlangte immer neue Wege; das ist derselbe Weg wie gestern, beklagte sie sich, und mein Vater antwortete zerstreut und ohne sich umzuwenden: Nein, es ist ein anderer; aber sie fuhr fort zu wiederholen: Das ist der Weg von gestern. Das ist der Weg von gestern. Mein Husten erwürgt mich fast, sagte sie nach einer Weile zu meinem Vater, der immer weiterging, ohne rückwärts zu schauen. Mein Husten erwürgt mich fast, wiederholte sie und preßte die Hände an den Hals: Sie wiederholte dieselben Dinge immer zwei- oder dreimal. Sie sagte: Diese infame Fantecchi hat mir ein braunes Kleid gemacht, und ich wollte doch ein blaues! Ein blaues wollte ich! Und wütend klopfte sie mit ihrem Sonnenschirmchen aufs Pflaster. Mein Vater machte sie auf den Sonnenuntergang aufmerksam; aber sie war zornig auf die Fantecchi, ihre Schneiderin, und fuhr fort, mit der Spitze ihres Sonnenschirmchens wütend auf das Pflaster zu klopfen. Sie kam übrigens nur in die Berge, um mit uns zusammenzusein, da sie während des Jahres in Florenz wohnte. Wir dagegen wohnten in Turin, so daß sie uns nur im Sommer sah. Sie konnte eigentlich das Gebirge nicht leiden, und ihr Traum wäre es gewesen, den Urlaub in Fiuggi oder Salsomaggiore zu verbringen: Orte wo sie in ihrer Jugend den Sommer verbracht hatte.

Meine Großmutter war einst sehr reich gewesen und hatte ihr Vermögen im Ersten Weltkrieg verloren: Weil sie nicht glaubte, daß Italien siegen würde, und ihr ganzes Vertrauen auf Franz Josef setzte, hatte sie ihre österreichischen Wertpapiere behalten und dadurch viel Geld verloren. Mein Vater, Irredentist, hatte erfolglos versucht, sie zum Verkauf dieser Papiere zu überreden. Meine Großmutter pflegte »mein Unglück« zu sagen, wenn sie auf diesen Geldverlust anspielte, und ging deswegen morgens im Zimmer oft verzweifelt auf und ab. Sie war aber gar nicht so arm. Sie hatte in Florenz eine schöne Wohnung mit indischen und chinesischen Möbeln und türkischen Teppichen; weil ein Großvater von ihr, der Großvater Parente, ein Sammler kostbarer Gegenstände gewesen war. An den Wänden hingen die Porträts ihrer verschiedenen Ahnen: der Großvater Parente und die Vendée, eine Tante, die so genannt wurde, weil sie einen Salon für Zopfträger und Reaktionäre führte; und viele Tanten und Basen, die alle Margherita oder Regina hießen: Namen, die früher in den jüdischen Familien sehr gebräuchlich waren. Unter all diesen Porträts fehlte jedoch dasjenige des Vaters meiner Großmutter, und von ihm durfte man auch nicht sprechen: Er hatte sich als Witwer einmal mit seinen beiden schon erwachsenen Töchtern gestritten und hierauf erklärt, er werde, um sie zu ärgern, die erste Frau, die ihm auf der Straße begegne, heiraten, und das tat er auch; oder mindestens erzählt man sich in der Familie, daß er das tat; ob es in Wahrheit die erste Frau war, die er auf der Straße traf, nachdem er aus der Haustüre getreten war, weiß ich nicht. Auf jeden Fall schenkte ihm diese zweite Frau noch eine Tochter, die meine Großmutter nie kennenlernen wollte und mit Verachtung »Papas Kind« nannte. »Papas Kind« war mittlerweile eine reife und würdige Dame von fünfzig Jahren geworden, der wir während unserer Ferien manchmal begegneten, und mein Vater pflegte dann zu meiner Mutter zu sagen: Hast du gesehen? Hast du gesehen? Das war Papas Kind!

Bei euch wird alles zum Bordell. In diesem Haus wird alles zum Bordell, sagte meine Großmutter immer und meinte damit, daß uns nichts heilig war. Der Satz war berühmt in unserer Familie und wurde immer zitiert, wenn wir über Tote oder über Begräbnisse lachen mußten. Meine Großmutter hatte eine tiefe Abscheu vor den Tieren und geriet in Verzweiflung, wenn sie uns mit einer Katze spielen sah; weil sie fürchtete, daß wir Krankheiten auflesen und sie damit anstecken würden. Diese infame Bestie, sagte sie, stampfte mit den Füßen und klopfte mit der Spitze ihres Sonnenschirmchens auf den Boden. Ihr ekelte vor allem, und sie hatte eine große Angst vor Krankheiten; sie war jedoch sehr gesund und starb mit mehr als achtzig Jahren, ohne je einen Arzt oder Zahnarzt konsultiert zu haben. Sie fürchtete immer, daß jemand von uns sie, um sie zu ärgern, taufen würde, weil einer meiner Brüder einmal zum Scherz so getan hatte, als wolle er sie taufen. Sie betete jeden Tag ihre jüdischen Gebete, ohne etwas zu verstehen, weil sie nicht hebräisch konnte. Gegenüber den Leuten, die nicht Juden waren wie sie, empfand sie dieselbe Abscheu wie vor Katzen. Von dieser Abscheu war nur meine Mutter ausgenommen, der einzige nichtjüdische Mensch, zu dem sie in ihrem Leben Zuneigung gefaßt hatte. Und auch meine Mutter liebte meine Großmutter und sagte, sie sei in ihrem Egoismus so unschuldig und naiv wie ein kleines Kind.

Meine Großmutter war in ihrer Jugend, wie sie erzählte, sehr schön, das zweitschönste Mädchen von Pisa; das schönste war eine gewisse Virginia Del Vecchio, ihre Freundin. Eines Tages kam ein gewisser Herr Segre nach Pisa und wollte das schönste Mädchen von Pisa kennenlernen, um es zu heiraten. Virginia wollte ihn aber nicht zum Mann nehmen. Hierauf wurde ihm meine Großmutter vorgestellt. Aber auch meine Großmutter wies ihn ab und sagte, sie begnüge sich nicht mit Virginias Abfällen.

Sie heiratete dann meinen Großvater Michele, einen Mann, der sehr sanft und freundlich gewesen sein muß. Sie war noch sehr jung, als er starb, und wir fragten sie einmal, warum sie nicht wieder geheiratet hatte. Sie antwortete mit einem schrillen Gelächter und einer Schärfe, die wir der alten Frau, die so gern klagte und jammerte, nie zugetraut hätten: Kuckuck! Um mir mein Vermögen durchbringen zu lassen?

Meine Geschwister und meine Mutter beklagten sich manchmal, daß sie sich während dieser Ferien im Gebirge langweilten und in dem einsamen Haus weder Gesellschaft noch Unterhaltung hatten. Ich war die Jüngste und vergnügte mich mit wenig und spürte in jenen Jahren noch nichts von der Langeweile der Sommerferien.

Ihr langweilt euch, weil ihr kein Innenleben habt, sagte mein Vater. In einem Sommer hatten wir besonders wenig Geld, und es schien, wir würden in der Stadt bleiben. Im letzten Augenblick wurde aber ein Haus gemietet, das wenig kostete und sich in der Nähe eines kleinen Dorfes befand, das Saint-Jacques-d’Ajas hieß; ein Haus ohne elektrisches Licht, mit Petroleumlampen. Ich glaube, es war ein sehr kleines und unbequemes Haus, denn meine Mutter sagte den ganzen Sommer: Verflixtes Haus! Scheußliches Saint-Jacques-d’Ajas! Unsere Zuflucht waren Bücher: acht oder zehn in Leder gebundene Bände irgendeiner Wochenzeitung mit Bilderrätseln und Gruselromanen. Ein Freund meines Bruders Alberto, ein gewisser Frinco, hatte sie uns geliehen. Den ganzen Sommer nährten wir uns von Frincos Büchern. Dann schloß meine Mutter Freundschaft mit einer Dame, die im Nachbarhaus wohnte. Sie begannen miteinander zu reden, als mein Vater nicht da war. Für ihn gehörte das Sprechen mit den Hausnachbarn zu den »Negereien«. Als man dann aber entdeckte, daß diese Dame, Frau Ghiran, in Turin im selben Haus wie Frances wohnte und sie vom Sehen kannte, war es auch möglich, sie meinem Vater vorzustellen, der nachher sehr nett zu ihr war. Mein Vater war fremden Leuten gegenüber immer sehr mißtrauisch, weil er fürchtete, es könnte sich um »zweideutige Leute« handeln; kaum aber entdeckte er irgendeine gemeinsame Bekanntschaft, war er beruhigt.

Meine Mutter sprach lange Zeit nur noch von der Frau Ghiran, und bei Tisch aßen wir Gerichte, deren Rezepte von Frau Ghiran stammten. Ein neuer Stern steigt auf, sagte mein Vater jedesmal, wenn von Frau Ghiran die Rede war. »Ein neuer Stern steigt auf« oder auch nur »ein neuer Stern« war stets sein ironischer Kommentar zu unseren neuen Freundschaften. Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten ohne Frincos Bücher und ohne Frau Ghiran, sagte meine Mutter am Ende dieses Sommers. Unsere Rückkehr in die Stadt endete mit folgender Episode: Nach ein paar Stunden im Postauto erreichten wir die Eisenbahnstation, stiegen in den Zug und nahmen Platz. Plötzlich entdeckten wir, daß unser ganzes Gepäck noch draußen war. Der Stationsvorsteher hob die Kelle und rief: Abfahrt! Da donnerte mein Vater: Nichts da Abfahrt! und sein Ruf hallte im ganzen Wagen wider; und der Zug setzte sich erst in Bewegung, als unser letzter Koffer eingeladen war.

In der Stadt mußten wir uns zu unserem großen Leidwesen von Frincos Büchern trennen, weil Frinco sie zurückverlangte. Und Frau Ghiran sahen wir nie wieder. Wir müssen Frau Ghiran einladen. Das ist eine Unhöflichkeit! sagte mein Vater manchmal. Aber meine Mutter war sehr unbeständig in ihren Sympathien und Freundschaften: Entweder sah sie ihre Bekannten jeden Tag oder wollte sie nie sehen. Sie war unfähig, Bekanntschaften aus reiner Höflichkeit zu pflegen. Sie hatte schreckliche Angst, »genug zu bekommen«, und sie befürchtete auch, die Leute würden sie besuchen, wenn sie selber Lust hatte, auszugehen.

Meine Mutter verkehrte immer mit denselben Freundinnen. Mit Ausnahme von Frances und einigen anderen Gattinnen von Freunden meines Vaters waren die Freundinnen meiner Mutter jung, um einiges jünger als sie: junge, arme, erst seit kurzer Zeit verheiratete Frauen: ihnen konnte sie Ratschläge geben und billige Schneiderinnen empfehlen. Ihr graue vor den »alten Frauen«, sagte sie und meinte damit Frauen, die ungefähr ihr Alter hatten. Ihr graute auch vor den Besuchen. Wenn eine ihrer alten Bekannten ihren Besuch ankündigte, erfaßte sie die Panik, und sie sagte verzweifelt: Nun kann ich heute nicht ausgehen. Ihre jungen Freundinnen dagegen konnte sie zum Spazierengehen und ins Kino mitnehmen; sie waren nachgiebig, lenkbar und bereit zu einem von keinerlei Formalitäten belasteten Verhältnis, und wenn sie kleine Kinder hatten, so war es um so besser, denn meine Mutter liebte Kinder sehr. Manchmal kam es vor, daß am Nachmittag alle diese Freundinnen miteinander zu meiner Mutter kamen. Die Freundinnen meiner Mutter hießen im Sprachgebrauch meines Vaters »Schreckschrauben«. Wenn sich die Stunde des Abendessens näherte, dann rief mein Vater mit lauter Stimme aus seinem Studierzimmer: Lidia! Lidia! Sind all diese Schreckschrauben endlich gegangen? Etwas später sah man die letzte Schreckschraube erschrocken durch den Korridor eilen und aus der Türe schlüpfen; diese jungen Freundinnen meiner Mutter hatten alle große Angst vor meinem Vater. Beim Abendessen sagte mein Vater zu meiner Mutter: Hast du nun genug geschwatzt? Hast du genug geklatscht?

Manchmal kamen abends Freunde meines Vaters zu uns, die, wie er, Universitätsprofessoren, Biologen und Wissenschaftler waren. Beim Abendessen fragte mein Vater dann meine Mutter: Hast du eine Erfrischung bereitgestellt? Die Erfrischung bestand aus Tee und Biskuits. Liköre gab es in unserem Haus nicht. Manchmal hatte meine Mutter nicht an die Erfrischung gedacht, und mein Vater wurde zornig: Wie, es gibt keine Erfrischung? Man kann nicht Leute empfangen, ohne ihnen eine Erfrischung vorzusetzen! Man kann keine Negereien machen!

Zu den besten Freunden meiner Eltern gehörten die Lopez, das heißt Frances und ihr Gatte, und die Terni. Frances' Gatte hieß Amedeo, aber seit der Zeit, in der er zusammen mit meinem Vater Student war, wurde er Lopez genannt. Der Spitzname, den mein Vater als Student hatte, war Tom, was von Tomate kam und sich auf seine roten Haare bezog; aber mein Vater wurde wütend, wenn man ihn Tom nannte, und erlaubte nur meiner Mutter, ihn so zu nennen. Trotzdem sprachen die Lopez, wenn sie unter sich von unserer Familie redeten, von den »Tom«, so wie wir von den »Lopez« sprachen. Niemand konnte mir je den Sinn von Amedeos Spitznamen erklären, er war, glaube ich, in der Nacht der Zeit vergessen gegangen. Amedeo war dick, hatte feine, helle Locken wie ein Kind und sprach mit dem Kehlkopf-r wie seine Frau und seine drei Söhne, die unsere Spielkameraden waren. Die Lopez waren sehr viel eleganter, raffinierter und moderner als wir: Sie hatten eine schönere Wohnung, Lift und Telefon, was damals noch fast niemand hatte. Frances ging häufig nach Paris und brachte von dort die letzten Modeneuheiten mit. Einmal brachte sie ein chinesisches Spiel mit, in einer Schachtel, auf der Drachen gemalt waren, und das »Ma-jong« hieß. Ihre ganze Familie lernte Ma-jong spielen, und Lucio, der jüngste Sohn der Lopez, mein Altersgenosse, prahlte immer mit diesem Ma-jong, wollte es mich aber nie lehren: Er sagte, es sei zu kompliziert, und seine Mutter lasse ihn die Schachtel nicht berühren: und ich verging fast vor Neid, wenn ich in ihrer Wohnung die kostbare, geheimnisvolle und verbotene Schachtel sah.

Wenn meine Eltern abends zu den Lopez gingen, lobte mein Vater am andern Tag ihre Wohnung, ihre Möbel und den Tee, der auf einem Wagen in schönen Porzellantassen serviert wurde; und er sagte, Frances »verstehe zu leben«, das heißt, sie verstehe es, schöne Möbel und schöne Tassen zu finden, eine Wohnung einzurichten und den Tee zu servieren.

Ob die Lopez reicher oder ärmer waren als wir, wußte man nicht genau: Meine Mutter sagte, sie seien viel reicher; aber mein Vater sagte nein, sie hätten wie wir nicht besonders viel Geld, aber Frances »verstehe zu leben« und sei kein »Quälgeist, wie wir alle«. Mein Vater fühlte sich übrigens sehr arm, vor allem morgens früh, wenn er erwachte; dann weckte er auch meine Mutter und sagte zu ihr: »Ich weiß nicht, wie wir in Zukunft leben werden; hast du gesehen, daß die Immobilienaktien gefallen sind.« Die Immobilienaktien fielen immer und stiegen nie; diese verflixten Immobilien, sagte meine Mutter und klagte, mein Vater habe überhaupt keinen Geschäftssinn, und kaum gebe es ein schlechtes Wertpapier, so kaufte er es. Sie bat ihn häufig, sich doch an einen Bankagenten zu wenden; aber dann wurde er wütend, denn er wollte hier wie in allen anderen Dingen nach seinem eigenen Kopf handeln.

Die Terni dagegen waren sehr reich. Mary, die Gattin Ternis, führte aber ein einfaches Leben, verkehrte mit wenigen Leuten und verbrachte die Tage in der Betrachtung ihrer beiden Kinder zusammen mit dem Kindermädchen Assunta, das ganz weiß gekleidet war, und beide, sowohl Mary als auch das Kindermädchen, das sie nachahmte, säuselten ekstatisch: Ssst! Ssst! Auch Terni säuselte immer »ssst, ssst«, wenn er seine Kinder betrachtete; er säuselte aber auch »ssst, ssst«, wenn er unser Dienstmädchen Natalina, die alles andere als schön war, sah oder um gewisse alte Kleider, die meine Schwester oder meine Mutter trugen, zu bewundern. Von jeder Frau, die er sah, sagte er, sie habe ein interessantes Gesicht und erinnere ihn an irgendein berühmtes Bild; er blieb ein paar Minuten in Betrachtung versunken, nahm dann sein Monokel ab und reinigte es mit einem schneeweißen, feinen Taschentuch. Terni war Biologe, und mein Vater schätzte ihn sehr als Forscher; er sagte jedoch häufig; »dieser Simpel von einem Terni«, weil er fand, daß Terni im Leben ein Poseur sei. Terni posiert, sagte er jedesmal, wenn er ihm begegnet war. Ich glaube, er posiert, wiederholte er ein wenig später. Wenn Terni zu uns kam, setzte er sich gern zu uns in den Garten, um über Romane zu sprechen; er war sehr gebildet und hatte alle modernen Romane gelesen und war der erste, der La recherche du temps perdu in unser Haus brachte. Ich glaube sogar, wenn ich jetzt an ihn denke, daß er versuchte, Swann zu gleichen mit seinem Monokel und der Manier, in jedem von uns Ähnlichkeiten mit berühmten Bildern zu entdecken. Mein Vater rief ihn mit lauter Stimme aus dem Studierzimmer, damit er zu ihm komme, um über Zellgewebe zu sprechen. Terni! Kommen Sie! Spielen Sie nicht immer den Simpel. Machen Sie nicht den Hanswurst! donnerte er, wenn Terni mit ekstatischem Säuseln die Nase in die alten abgenützten Vorhänge unseres Eßzimmers steckte und fragte, ob sie neu seien.

Die Dinge, die mein Vater schätzte und achtete, waren: der Sozialismus, England, die Romane von Zola, die Rockefeller-Stiftung und die Bergführer des Aostatals. Die Dinge, die meine Mutter liebte, waren: der Sozialismus, die Gedichte von Paul Verlaine, die Musik und speziell Lohengrin, den sie nach dem Nachtessen für uns zu singen pflegte.

Meine Mutter war in Mailand aufgewachsen, doch auch ihre Familie stammte aus Triest, und durch die Heirat mit meinem Vater hatte sie viele triestinische Ausdrücke angenommen. Wenn sie aber von ihrer Kindheit erzählte, war ihre Rede mit Mailänder Dialekt vermischt.

Als sie noch sehr klein war, sah sie eines Tages einen steifen Herrn unbeweglich vor dem Schaufenster eines Friseurs stehen; er fixierte den Kopf einer Puppe und sagte halblaut zu sich:

Schön, schön, schön. Aber der Hals ist zu lang.

Viele ihrer Erinnerungen waren dieser Art: einfache Sätze, die sie gehört hatte. Eines Tages war sie mit den Kameradinnen und den Lehrerinnen ihres Internats draußen auf einem Spaziergang. Plötzlich löste sich eines der Mädchen aus der Reihe, lief einem Hund nach, umarmte ihn und sagte:

Das ist ja, das ist ja, das ist ja der Bruder von meinem Hund.

Sie war viele Jahre im Internat gewesen. Sie hatte es sehr schön gehabt in diesem Internat.

Sie hatte an den Schulfesten rezitiert, gesungen und getanzt; sie hatte als Affe verkleidet in einer Komödie mitgespielt und in einer Oper gesungen, die Der im Schnee verlorene Pantoffel hieß.

Sie hatte eine Oper geschrieben und komponiert. Ihre Oper begann so:

Ich bin Don Carlos Tadrid,

Bin ein Student in Madrid!

Als ich an einem Morgen

Spazierte ohne Sorgen

Schaut’ ich zu einem Fenster hin

Sah eine junge Lehrerin …

Und sie hatte ein Gedicht geschrieben, das lautete:

Heil sei der Unwissenheit,

Die Gesundheit uns verleiht!

Vom Lernen Bauchweh kriege ich,

Die Streber sollen mühen sich.

Wir denken nichts. Wir tanzen, trinken,

Bis wir in die Betten sinken.

Ach Muse, inspiriere,

Und diktiere,

Was mein Herz mir sagt:

Der Philosoph ist fade;

Wer nichts weiß, hat der Liebe Gnade.

Und Metastasio hatte sie folgendermaßen parodiert1:

Wenn des Menschen Herzensklagen,

Auf der Stirn man sähe stehen:

Manche, die zu Fuß noch gehen,

Rollten in geschloßnen Wagen!

Bis zum sechzehnten Lebensjahr blieb sie im Internat. Am Sonntag ging sie zu einem Onkel mütterlicherseits, den man Barbison nannte. Zum Mittagessen gab es Truthahn, und nach dem Essen zeigte Barbison auf die Reste des Truthahns und sagte zu seiner Frau: Das essen wir, du und ich, morgen zu Mittag.

Barbisons Frau, die Tante Celestina, nannte man Barite. Jemand hatte ihr erklärt, daß es überall Baryt gibt: und darum deutete sie beispielsweise bei Tisch auf das Brot und sagte: Siehst du das Brot da? Das ist ganz voll Baryt.

Barbison war ein schwerfälliger Mann mit einer roten Nase. Eine Nase wie Barbison, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn sie jemanden mit einer roten Nase sah. Barbison sagte zu meiner Mutter nach diesen Truthahn-Mahlzeiten: Lidia, du und ich, die wir die Chemie kennen: wonach riecht der Schwefelwasserstoff? Er riecht nach Furz. Der Schwefelwasserstoff riecht nach Furz.

Barbisons richtiger Name war Perego. Freunde hatten für ihn die folgenden Verse gemacht:

Vom Morgen bis zum Abendschein

Sind Peregos Küch’ und Keller fein.

Barbisons Schwestern nannte man »die Seligen«, weil sie sehr fromm waren.

Dann gab es noch eine andere Tante meiner Mutter, die Tante Cecilia, die durch einen Satz berühmt war. Meine Mutter hatte ihr einmal erzählt, daß sie sich Sorgen gemacht hatten, weil mein Großvater nicht heimgekommen war und sie fürchteten, es sei ihm etwas passiert. Da hatte Tante Cecilia sogleich gefragt: Und was gab es zum Nachtessen? Reis oder Makkaroni? Makkaroni, hatte meine Mutter geantwortet. Gut, daß es keinen Reis gab, wer weiß, wie pappig der geworden wäre.

Meine Großeltern mütterlicherseits starben beide vor meiner Geburt. Die Großmutter Pina war aus einer einfachen Familie und heiratete meinen Großvater, der im Nachbarhaus wohnte: einen jungen, bebrillten, distinguierten Advokaten am Anfang seiner Karriere, den sie jeden Tag an der Tür den Hauswart fragen hörte: Sind »Briffe« da für mich? Mein Großvater sagte »Briffe«, mit einem kurzen i und einem scharfen f; und diese schneidige Aussprache gefiel meiner Großmutter sehr. Darum heiratete sie ihn und auch, weil sie sich für den Winter einen Mantel aus Samt wünschte. Es war keine glückliche Ehe.

Als junges Mädchen war die Großmutter Pina blond und anmutig; und sie hatte einmal in einem dramatischen Verein Theater gespielt. Als der Vorhang aufging, saß meine Großmutter Pina mit einem Pinsel vor einer Staffelei und sagte folgende Worte:

Ich kann nicht mehr malen. Meine Seele ist der Arbeit und der Kunst müde; sie fliegt weit weg von hier und nährt sich mit schmerzlichen Gedanken.

Mein Großvater stürzte sich dann in den Sozialismus und war befreundet mit Bissolati2, Turati2 und der Kulischow2.

Meiner Großmutter Pina blieben die politischen Ideen ihres Gatten immer fremd. Da er ihr das Haus mit Sozialisten füllte, pflegte meine Großmutter Pina mit Bedauern von ihrer Tochter zu sagen: Das Mädchen wird einmal einen Gasmann heiraten. Später lebten sie getrennt. In den letzten Jahren seines Lebens löste sich mein Großvater von der Politik und übte wieder seinen Anwaltsberuf aus; aber er schlief bis um fünf Uhr nachmittags, und wenn dann Klienten kamen, sagte er:

Was wollen sie? Schickt sie weg!

Meine Großmutter Pina lebte in den letzten Jahren ihres Lebens in Florenz und besuchte manchmal meine Mutter, die unterdessen geheiratet hatte und ebenfalls in Florenz wohnte; meine Großmutter Pina hatte aber große Angst vor meinem Vater. Sie war eines Tages gekommen, um nach meinem Bruder Gino zu sehen, der ein Säugling war und ein bißchen Fieber hatte; und, um meinen Vater, der sehr aufgeregt war, zu beruhigen, sagte meine Großmutter Pina, es handle sich vielleicht um das Zahnfieber. Da wurde mein Vater wütend, weil er die Meinung vertrat, das Zahnen könne kein Fieber verursachen, und als meine Großmutter Pina beim Verlassen des Hauses meinen Onkel Silvio traf, der auch zu uns kam, flüsterte sie ihm auf der Treppe zu: Sag nicht, es seien die Zähne.

Außer »sag nicht, es seien die Zähne«, »das Mädchen wird einmal einen Gasmann heiraten« und »ich kann nicht mehr malen« weiß ich nichts von dieser Großmutter, und es sind mir keine anderen Worte von ihr überliefert worden. Das heißt, an einen Satz noch kann ich mich erinnern, der in unserem Haus oft zitiert wurde:

Man hat nie Ruhe in diesem Haus, und die Drusilla3 hat schon wieder ihre Brille zerbrochen.

Sie hatte drei Kinder gehabt, Silvio, meine Mutter und Drusilla, die kurzsichtig war und immer ihre Brille zerbrach. Die Großmutter starb sehr einsam in Florenz nach einem Leben voller Kummer und Sorge: ihr ältester Sohn, Silvio, beging mit dreißig Jahren Selbstmord, indem er sich während der Nacht in einem öffentlichen Park der Stadt Mailand in die Schläfe schoß.

Nach dem Internat verließ meine Mutter Mailand und zog nach Florenz. Sie schrieb sich in der medizinischen Fakultät ein, beendete aber ihr Studium nie, weil sie meinen Vater kennenlernte und ihn heiratete. Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, war gegen diese Heirat, weil meine Mutter nicht jüdischer Herkunft war und jemand ihr erzählt hatte, meine Mutter sei eine sehr fromme Katholikin und bekreuzige sich vor jeder Kirche. Das stimmte nicht: von der Familie meiner Mutter ging niemand in die Kirche oder bekreuzigte sich. Meine Großmutter leistete also eine gewisse Zeit Widerstand; dann willigte sie ein, meine Mutter kennenzulernen, und sie trafen sich an einem Abend im Theater, wo sie miteinander ein Stück anschauten, das von einer weißen Frau handelte, die unter die Mohren geriet, und eine eifersüchtige Mohrin knirschte mit den Zähnen und sagte mit schrecklichem Blick: Kotelett, weiße Dame! Kotelett, weiße Dame! Kotelett, weiße Dame, sagte seither meine Mutter jedesmal, wenn sie ein Kotelett aß. Sie hatten für diese Komödie Freiplätze in den vordersten Reihen des Parketts, weil der Bruder meines Vaters, Onkel Cesare, Theaterkritiker war. Dieser Onkel Cesare war sehr verschieden von meinem Vater. Er war ruhig, dick und immer fröhlich und als Theaterkritiker alles andere als streng, er wollte nie ein Stück schlecht besprechen, sondern fand in jedem etwas Gutes, und wenn meine Mutter von einem Stück sagte, es scheine ihr einfältig, wurde er böse und sagte: Versuch es doch selber einmal, ein Stück wie dieses zu schreiben. Der Onkel Cesare heiratete dann eine Schauspielerin; das war für meine Großmutter eine große Tragödie, und viele Jahre gestattete sie nicht, daß Onkel Cesare ihr seine Gattin vorstellte; denn eine Schauspielerin erschien ihr noch schlimmer als eine, die sich bekreuzigt.

Als mein Vater heiratete, arbeitete er in Florenz in der Klinik eines Onkels meiner Mutter, der den Spitznamen »der Irre« trug, weil er Arzt für Geisteskranke war. In Wirklichkeit war der Irre ein Mann von großer Intelligenz, kultiviert und ironisch, und ich weiß nicht, ob er je erfahren hat, daß man ihn in der Familie so nannte. Meine Mutter lernte im Haus meiner Großmutter väterlicherseits den vielfältigen Hof der Margheriten und Reginen kennen, alles Basen und Tanten meines Vaters, unter ihnen auch die berühmte Vendée, die damals noch lebte. Der Großvater Parente dagegen war schon seit einiger Zeit gestorben, ebenso seine Frau, die Großmutter Dolcetta, und ihr Diener Bepo. Von der Großmutter Dolcetta wußte man, daß sie klein und dick war wie eine Kugel und sich immer den Magen verdarb, weil sie zuviel aß. Es war ihr übel, sie erbrach sich und legte sich ins Bett; aber nach kurzer Zeit konnte man sie schon wieder ein Ei essend antreffen: Es ist frisch, sagte sie, um sich zu rechtfertigen.

Der Großvater Parente und die Großmutter Dolcetta hatten eine Tochter, die Rosina hieß. Dieser Rosina starb der Mann und ließ sie mit kleinen Kindern und wenig Geld zurück. Darauf kehrte sie in ihr väterliches Haus zurück. Und am Tag nach ihrer Rückkehr, als alle bei Tisch saßen, sagte die Großmutter Dolcetta mit einem Blick auf ihre Tochter: Was hat denn heute unsere Rosina, daß sie nicht so fröhlich ist wie immer?

Die Geschichte vom Ei der Großmutter Dolcetta und die Geschichte von unserer Rosina wurden immer von meiner Mutter ausführlich erzählt, weil mein Vater schlecht und wirr erzählte und seine Geschichten immer wieder mit seinem donnernden Gelächter unterbrach – denn die Familien- und Kindheitserinnerungen stimmten ihn heiter –, so daß wir von diesen mit Gelächter vermischten Geschichten nicht viel begriffen.

Meine Mutter war auch fröhlich beim Geschichtenerzählen und genoß das Vergnügen des Erzählens. Sie begann bei Tisch zu erzählen, indem sie sich an einen von uns wandte: Und ob sie nun von der Familie meines Vaters oder von ihrer Familie erzählte, sie wurde ganz lebhaft vor Freude, und es war immer, als erzählte sie die Geschichte zum ersten mal. Ich hatte einen Onkel, begann sie, der wurde Barbison genannt. Und wenn dann einer sagte: Die Geschichte kenn ich! Ich hab sie schon oft gehört! dann wandte sie sich einem andern zu und erzählte mit leiser Stimme weiter. Schon hundertmal habe ich diese Geschichte gehört! donnerte mein Vater, wenn er zufällig ein paar Worte aufschnappte. Meine Mutter erzählte mit leiser Stimme weiter.

Der Irre hatte in seiner Klinik einen Verrückten, der glaubte, er sei Gott. Der Irre grüßte ihn jeden Morgen: Guten Tag, verehrter Herr Lipmann. Darauf antwortete der Verrückte jeweils: Verehrt, ja; Lipmann, nein! weil er glaubte, er sei Gott.

Und dann gab es auch den berühmten Satz eines Orchesterdirigenten, der sich auf einer Tournee in Bergamo befand und zu den zerstreuten oder undisziplinierten Sängern sagte:

Wir sind nicht nach Bergamo gekommen, um einen Ausflug zu machen, sondern um die »Carmen«, das Meisterwerk Bizets, zu dirigieren.

Wir sind fünf Geschwister. Wir wohnen in verschiedenen Städten, einige sogar im Ausland: und wir schreiben uns nicht häufig. Wenn wir uns treffen, sind wir den anderen gegenüber manchmal vielleicht zerstreut oder gleichgültig. Doch ein Wort genügt zwischen uns. Ein Wort oder ein Satz genügt: einer jener Sätze, die uns, als wir Kinder waren, unendliche Male wiederholt wurden. Es genügt uns, zu sagen: »Wir sind nicht nach Bergamo gekommen, um einen Ausflug zu machen« oder: »Wonach stinkt der Schwefelwasserstoff?«, um mit einem Schlag unsere alten Beziehungen, unsere Kindheit und unsere Jugend wiederzufinden, die untrennbar mit diesen Sätzen, mit diesen Worten verbunden sind. An einem dieser Worte würden wir uns im Dunkel einer Grotte unter Millionen von Menschen als Geschwister wiedererkennen. Diese Sätze sind unser Latein, das Vokabular unserer vergangenen Tage, sie sind wie die Hieroglyphen der Ägypter oder Assyrer und Babylonier, Zeugen einer Lebensgemeinschaft, die aufgehört hat zu sein, aber in Texten weiterlebt, die vor der Wut des Wassers und der Zerstörung der Zeit gerettet wurden. Diese Sätze sind die Grundlage unserer familiären Einheit, die solange wir leben fortbestehen wird, indem sie an den verschiedensten Punkten der Erde wieder neu entsteht, wenn einer von uns sagt: Verehrter Herr Lipmann, und sogleich wird in unserem Chor wieder die ungeduldige Stimme meines Vaters erklingen: Nun hört endlich auf mit dieser Geschichte! Hundertmal schon habe ich sie gehört.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß aus dem Geschlecht von Bankiers, das die Vorfahren und Verwandten meines Vaters bildeten, mein Vater und sein Bruder Cesare hervorgingen, denen jeglicher Geschäftssinn abging. Mein Vater widmete sein Leben der wissenschaftlichen Forschung, einem Beruf, der ihm kein Geld eintrug; und er hatte vom Geld unbestimmte und wirre Vorstellungen, deren Ursprung eine grundsätzliche Gleichgültigkeit war, so daß er, wenn er je mit Geld zu tun hatte, es meistens verlor oder sich zumindest so anstellte, daß er es verlieren mußte; und wenn er es nicht verlor und alles gut ging, so war das ein purer Zufall. Sein ganzes Leben lang begleitete ihn die Sorge, er könnte von einem Augenblick zum andern auf der Straße stehen, eine ganz irrationale Sorge, die ihn zusammen mit anderen Launen und schwarzen Vorahnungen quälte, beispielsweise der Sorge um die Zukunft seiner Kinder, die wie eine düsterschwarze Wolkenbank über Felsen und Gipfeln in ihm lastete, im tiefsten aber seine absolute und grundsätzliche Gleichgültigkeit in Geldsachen doch nicht berühren konnte. Er sagte: eine beträchtliche Summe, wenn er von fünfzig Lire oder, wie er sagte, von fünfzig Franken sprach, weil seine Geldeinheit der Franken und nicht die Lira war. Abends machte er Kontrollgänge durch die Zimmer und donnerte, weil wir das Licht brennen ließen; andererseits konnte es ihm passieren, daß er Millionen verlor, ohne es zu bemerken, indem er Wertpapiere wahllos kaufte und verkaufte oder seine Arbeiten Verlegern abtrat, ohne sich um ein angemessenes Entgelt zu kümmern.

Von Florenz zogen meine Eltern nach Sardinien, weil mein Vater in Sassari zum Professor ernannt worden war, und verbrachten dort ein paar Jahre. Dann übersiedelten sie nach Palermo, wo ich als letztes von fünf Kindern zur Welt kam. Mein Vater machte den Krieg als Sanitätsoffizier im Karstgebirge mit. Schließlich nahmen wir in Turin Wohnsitz.

D