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Werner Johannes Neuner
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ISBN: 978-3-903034-16-7
eISBN: 978-3-903034-259
Auflage Dezember 2015
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Fotos: Danila Amodeo Photography – www.danilamodeo.com, bearbeitet von Werner Neuner
Gestaltung: Luna Design KG
Lektorat: Alexandra Krenn
Ich widme dieses Buch dir, Lilith,
die du in jeder Frau lebst.
Ich widme dieses Buch all jenen Frauen,
die es wagen,
ihre wunderbar lustvolle Natur
frei zu leben.
Es war gegen 5 Uhr in der Früh. In der Nacht hatte es geregnet und nun beschenkte uns die Erde mit ihrem regenfrischen Atem. Das erste zaghafte Licht hatte die Dunkelheit der Nacht ein wenig gehoben. Wir standen an der magischen Schwelle. Es war nicht mehr Nacht und es war noch nicht Tag. Das war der mystische Moment zwischen Dunkelheit und Licht, mit all seinem geheimnisvollen, feuchten und sinnlichen Zauber.
Ich trug mir die Flugsalbe auf, die wir in der Nacht zuvor am Beltanefeuer gebraut hatten und spürte sofort deren Wirkung. Meine Wahrnehmung veränderte sich, wurde weiter und intensiver. Die Blätter der frischen Salbeisträucher neben mir zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Jedes einzelne Blatt war mit einer nebelartig weißen Aura umgeben. Die Farben der Blätter verwandelten sich. Sie zeigten nicht mehr bloß das erwartete Grün, sondern ein helles Grün und ein dahinter liegendes leicht flackerndes Rot zugleich.
Die Flugsalbe und die Magie des Schwellenmoments hatten mich ergriffen und in einen mystischen Zustand versetzt. Mich umgab zwar die bekannte Welt, doch aus ihrem Inneren drang ein anderes Licht empor, das mir fremd erschien und gleichzeitig sehr vertraut war. Ich bewegte mich entlang jener Grenze, welche diese Welt und die Anderswelt für gewöhnlich trennt. Die Namen der ganz einfachen Dinge, wie Haus, Türe, Fenster oder Baum, entglitten mir. Das, was mich umgab, war namenlos neu und begeisterte all meine Sinne.
Ich ging weiter, wahrscheinlich sehr langsam. Doch die Fülle der Eindrücke überschwemmte mein Bewusstsein. Allein die Wassertropfen, die von der Regenrinne des Holzschuppens in die Regentonne fielen, ihr gleichbleibender Rhythmus und ihr Aufplatschen im Wasser, hatten eine enorme Intensität. All die vielstimmigen Tropfgeräusche, die kurz nach einem Regen überall zugegen sind, vereinigten sich zu einer kraftvollen Klangkulisse.
„Geh weiter“, so klang es.
Wer diese Worte gesprochen hatte, konnte ich nicht sagen. Obwohl ich sie ganz deutlich vernommen hatte, war ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt menschlich waren. Ich schrieb sie der Magie dieses Moments zu. Ich bewegte mich langsam am Kräutergarten vorbei und blickte in die Gesichter hunderter Gräser und Blätter. Alles war beseelt und wesenhaft, all diese Kräuter, die hier prächtig gediehen und deren Namen mir in diesem Augenblick allesamt entfallen waren. Ihre Gesichter sprachen, erzählten, waren unvorstellbar gegenwärtig und lebendig. Sie waren alle miteinander verwoben und verbunden durch eine sichtbar gewordene allgegenwärtige Weisheit, die seit jeher existent war.
„Geh weiter!“
Ich betrat die Wiese, auf der das Beltanefeuer noch gloste. Von einem kraftvoll dicken, verkohlten Ast stieg Rauch auf und ich sah die Glut in seinem Inneren. Der Rauch vermengte sich mit der nebelfeuchten Schwellenluft zu einem lebendigen Gewebe, das vom Blattwerk des dahinter stehenden alten Kirschbaumes eingeatmet wurde. Der Kirschbaum atmete, sog das Rauchgewebe tief in sich ein, und verschmolz es mit den Säften aus seinem Wurzelreich zu neuer Kraft in seinem Stamm.
„Geh weiter!“
Ich wandelte über die kniehohe, feuchte Wiese und stieg über einen Weidezaun. Dort, wo die offene Wiese in den dunkleren Wald überging, hielt ich einen Augenblick inne. Genau hier stand ein mächtiger Baum, an dessen glattem Stamm sich ein einzelner Efeustrang empor rankte. Auch diese Efeublätter sah ich in jenem hellen, frischen Grün und dem zugleich dahinter flackernden Rot. Bereits das faszinierte mich, doch da war noch mehr!
Es war die schlangenartige Bewegung des Efeus. So, wie dieser Efeustrang sich am Stamm entlang bewegte, so sah es auch innerhalb dieses Baumes aus. Ich konnte durch die Oberfläche des Stammes hindurch sehen und war fasziniert vom Fließen der Säfte in seinem Inneren.
Das war Leben!
Hier vollzog sich das Leben in der Fülle seiner Kraft!
Dieses schlangenförmige Fließen der Lebenssäfte erschien mir wie ein fantastisches Netzwerk aus leuchtenden und pulsierenden Fäden.
„Bleib nicht stehen, geh weiter!“
Die Stimme hatte einen dringlicheren Ton angeschlagen. Ich nahm sie nun erstmals personifizierter und eindeutig weiblich wahr. Eine volle, weibliche Stimme mit nahezu betörender Tiefe!
Ich überschritt die Schwelle zwischen der offenen Wiese und dem Inneren des Waldes. Hier drinnen war es wesentlich dunkler und meine Konzentration ließ ein wenig nach. Ich irrte einige Momente ziellos umher und hatte vergessen, wonach ich eigentlich suchte.
Suchte ich überhaupt nach irgendetwas?
Oder war hier etwas zugegen, was nach mir suchte?
Ich hielt einen Moment lang inne und schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, wusste ich wieder, wo es weiter ging. Hier, im Inneren des dunklen Waldes, hatte sich etwas Entscheidendes verändert. Ich spürte recht eindeutig die Anwesenheit einer dunklen Frau. Sie war es, von der diese Stimme ausging, dessen war ich mir jetzt sicher.
Ich lenkte meine Schritte nach Westen, bergab, in eine Art Mulde hinein. Dort ließ ich mich, gegenüber einer kraftvollen Buche, auf dem feuchten Waldboden nieder.
Mein Blick wanderte dem Stamm der Buche entlang empor.
Das Blätterwerk ihrer mächtigen Krone atmete das noch zaghafte Schwellenlicht ein. Und ihr Astwerk berührte den Himmel, oder genauer gesagt den Großen Geist über ihr. Die dicht verzweigte Baumkrone erschien mir wie ein Ebenbild jenes mächtigen, kollektiven Bewusstseins, das wir alle sind. Dieses Astwerk war verwoben mit dem großen, allumfassenden Gedächtnis unserer Welt, denn es reichte über seine physisch sichtbare Erscheinungsform weit hinaus!
Das Atmen des Blätterwerks war die eine Ebene. Die Verbundenheit der Baumkrone mit dem allumfassenden Wissen die andere. All das, was diese schöne Buche durch ihre Krone empfing, floss über ihr Astwerk in ihren Stamm ein. Ich konnte in das Innere ihres Stammes blicken und sah, wie all das, was diese Buche aus dem Großen Geist empfing, sich in Myriaden von fluoreszierenden Fäden in ihrem Inneren verwob.
Mein Blick wanderte vom Stamm der Buche in die Tiefe hinab.
Ich sah durch den Waldboden hindurch und ich erkannte dort, in der Dunkelheit der Tiefe, das Wurzelwerk der Buche. Mächtig und kraftvoll waren die Verzweigungen ihrer Wurzeln, ein Ebenbild ihrer Krone. Wurzeln und Astwerk hatten dieselbe Gestalt, dasselbe Aussehen und sowohl ebenbürtige, als auch gegenpolare Aufgaben. Während das Astwerk nach dem Licht und dem Geist suchte, strebte das Wurzelwerk in die Dunkelheit und in die Geborgenheit des Urgrundes hinab.
Dort, aus der Tiefe des Inneren, zog die Buche die Lebenskraft des Wassers in sich empor. Das war aber wieder nur die eine Ebene, auch hier gab es eine zweite, eine weiterreichende. An der Stelle, an der die feinsten und am tiefsten liegenden Wurzeln zu enden schienen, dort liefen sie weiter und waren verbunden mit dem allumfassend nährenden Prinzip des Lebens. Das Wurzelwerk dieses faszinierenden Baumes war verwoben mit der nährenden Allgegenwärtigkeit der Urmutter. Über das Wurzelwerk stieg der Lebenssaft in ihr hoch und strömte in den Stamm ein, in Myriaden von saftigen, dunklen Fäden.
Und dort, im Inneren des Stammes, vollzog sich ein alchemistischer Prozess, die kymische Hochzeit, das eigentliche Wunder des Lebens. Die dunklen Fäden aus dem nährenden Urgrund umspielten und umtanzten verführerisch die leuchtenden Fäden aus der Krone. Sie vollzogen den erotischen Tanz der Gegensätzlichkeit und der Anziehung. Dann gab sich das Dunkle dem Lichten hin und das Licht ergoss sich lustvoll in der dunklen, feuchten Tiefe. Das Spiel dieser Vereinigung war rhythmisch, pulsierend, aufbrausend, abklingend und mit neuer Lust wiederkehrend. Eine neue, frisch entfaltete Lebenskraft nahm Raum ein und ließ den Stamm dieser Buche in einer faszinierenden Lebendigkeit erscheinen.
Hier und jetzt, in diesem Moment vollzog sich der erotische Akt des Beltanefestes, unter dem Einfluss des sinnlichen Mai-Vollmondes, direkt vor meinen geweiteten Augen. Das Mysterium des erblühenden Lebens, die Vereinigung der weiblichen Urtiefe der Dunkelheit mit der starken männlichen Lichtkraft. Das Mysterium der polaren Kräfte, deren gegenseitige Faszination und deren lustvolle erotische Entladung.
Dann war es still geworden. Eine wohlige, freudige Stille. Auch die vielstimmigen Gesänge der erwachenden Singvögel hielten einen Moment lang inne.
Doch nicht lange. Der Stamm der Buche geriet in eine sonderbare Bewegung. Anstelle der miteinander tanzenden Fäden blickte ich auf einmal in einen tiefen Raum, in einen Innenraum, der einer von höhlenartigen Rundungen geprägten Wohnstätte glich. Die Baumrinde der Buche öffnete sich wie eine Tür, von innen nach außen, in einer eleganten Bewegung.
Aus diesem Innenraum trat eine sinnliche Frauengestalt hervor, in einem langen, roten Kleid mit einem grünen Umhang. Sie hatte die Kapuze ihres Umhangs übergezogen, sodass ich zwar ihr schulterlanges, dunkles Haar, nicht aber ihre Augen sehen konnte.
Ich war ganz einfach verblüfft!
Ihre erotische Ausstrahlung betörte mich und so wusste ich nichts weiter als aus Verlegenheit zu fragen:
„Wer bist du?“
„Du kennst mich sehr wohl!“, war ihre tadelnde Antwort mit ihrer tiefen, sinnlichen und gleichzeitig sehr klaren Stimme.
Ich schüttelte meine Unsicherheit ab, erinnerte mich an die Kraft, an den mythischen Wolf, dem ich zwei Tage zuvor erstmals begegnet war und der mich seitdem begleitete. Ja, natürlich wusste ich, wer sie war. Sie war Lilith!
Sie hatte wohl meine Gedanken gelesen und meinte:
„So lautet einer meiner Namen. Du kannst mich von nun an mit diesem Namen ansprechen!“
Dieses „von nun an“ klang ziemlich gut, denn das bedeutete, dass sie wohl für einige Zeit zugegen sein würde. Mein Herz schlug höher!
„Das, was du gesehen hast, ist so nicht!“, fuhr sie fort. Sie trat dabei ein paar Schritte auf mich zu und blieb etwa zwei Meter vor mir stehen. Typisch Lilith, dachte ich mir. Will sie mich verwirren, will sie mich herausfordern?
„Ich weiß aber, was ich gesehen habe! Und das, was ich gesehen habe, ist sehr wohl real!“, entgegnete ich ihr.
„Das, was du gesehen hast, ist zwar real. Aber dennoch, so ist es nicht!“, beharrte sie und machte mit ihrem linken Arm eine kreisförmige Bewegung. Ihre geöffnete Handinnenfläche berührte dabei beinahe meine Stirn. In diesem Moment blickte ich erstmals in ihre dunklen, tiefen Augen. Ich erkannte darin eine abgründige Trauer und die Feuchte in ihren Augen deutete ich als ungeweinte Tränen.
Die Bewegung ihres Armes erzeugte einen magischen Windhauch über meiner Stirn, der unvermittelt einen Bilderreigen auslöste.
Ich sah eine schöne, dunkelhaarige Frau. Auf ihrem Arm trug sie ihren knapp einjährigen Sohn. Sie stand im Essraum einer Wohnküche und blickte sich betroffen um. Die Bilder, die noch vor wenigen Tagen die Wände geschmückt hatten, waren in Kisten verstaut, auch die Bücher aus jenen Bücherregalen, die abgebaut, zerlegt und zum Abtransport bereit am Boden lagen. Obwohl da und dort Gläser und gebrauchte Teller auf einem Esstisch und dem Fenstersims unmotiviert herumstanden, sowie etliche voll geräumte Kisten den Raum bevölkerten, machte sich eine karge Leere breit.
Die junge Frau mit ihrem Sohn auf dem Arm blickte zur Tür, als diese sich öffnete. Ein junger Mann kam herein, begrüßte kurz seinen kleinen Sohn, beachtete sie aber kaum. Er ging geradewegs in die Küche, hantierte dort herum. Er stöpselte sich den Kopfhörer seines tragbaren CD-Players ins Ohr und drehte die Musik auf.
Er und sie hatten sich nichts mehr zu sagen.
In rasantem Tempo drehte sich die Zeit zurück und hielt dann wieder inne, wenige Monate vor der Geburt ihres Sohnes. Sie liebten sich gerade heiß, innig, zärtlich und voller Hingabe. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, was ein berührend glückliches Lächeln in ihr Gesicht zauberte. In den Armen dieser wunderschönen Frau strömte er förmlich über vor lauter Liebe, sein Herz war so offen und so weit, dass er am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.
Die Szene wechselte abermals. Ihr gemeinsamer Sohn war etwa drei Monate alt und schlief in seinem Kinderbettchen. Sie stand an der Schwelle zum Schlafzimmer und blickte in den Vorraum. Dort stand er und redete heftig auf sie ein, während er mit seinen Händen aufgeregt gestikulierte. Sie schleuderte ihm mit einer wegwerfenden Handbewegung wütende Worte entgegen, auf die er aufbrausend reagierte.
Diese Szene begann zu verschwimmen. Es überlappten sich in einem Bild eine Vielzahl von Gesprächen zwischen diesen beiden Menschen, die inzwischen zu der festen und genauso falschen Überzeugung gelangt waren, dass sie einander nicht mehr liebten.
All diese Gespräche, ob liebevoll, wohlwollend, aufbrausend oder emotional, hatten stets dasselbe Muster. Er wollte ihr eine Botschaft übermitteln, ihr etwas mitteilen. Doch diese Botschaft erreichte sie in einer fatal verfremdeten Form. Sie fühlte sich verletzt, zuerst ein wenig, dann immer mehr. Auch ihre Worte, ihre Botschaften, ihre Signale erlebten auf dem Weg zu ihm dieselbe verhängnisvolle Verzerrung. Er fühlte sich gekränkt, abgelehnt und in seiner Männlichkeit missachtet.
Nun stand diese schöne, junge Frau wieder in der halb ausgeräumten Wohnküche mit traurig enttäuschtem Blick. In Zeitraffer spielte sich dann das ab, was nun kommen würde. Sie zog in eine andere Stadt. Es dauerte nicht lange, bis ein neuer Mann in ihr Leben trat, der wieder dieses glückselige Lächeln in ihr Gesicht zauberte. Sie liebten sich, heiß, innig, sinnlich und voller Hingabe.
Doch auch in diese Liebe schlich sich nur allzu bald dasselbe Muster ein. Auf die heiße Liebe folgten die Gespräche. Und auch diesmal erreichte das, was der eine mitteilen wollte, den anderen in fortschreitend verfremdeter und verletzender Form.
Abermals stand diese schöne Frau, ein paar Jahre älter geworden, mit ihrem nun vierjährigen Sohn am Arm, betroffen in einem halb ausgeräumten Wohnraum.
„Aus, genug, das reicht!“, sagte ich mit trauriger Stimme und wischte mir die Tränen aus den Augen.
„Ich weiß, was du meinst!“
„Weißt du es wirklich?“, fragte Lilith nachdrücklich.
Sie zeigte auf die Buche hinter ihr und meinte nur: „Sieh!“
Dort sah ich ein Eichhörnchen. Von den Wurzeln der Buche nahm es irgendetwas auf und eilte geradewegs dem Stamm entlang, der Baumkrone entgegen.
Ja, natürlich, das Eichhörnchen!
Ich kannte diese Geschichte, dieses Drama. Das uralte Drama, das sich auf dem germanischen Weltenbaum Yggdrasil zugetragen hatte. Aus der Edda kannte ich diese Geschichte.
Und allmählich begriff ich, worauf Lilith mit diesem „Aber so ist es nicht“ angespielt hatte.
Diese sinnliche, erotische Vereinigung der Urfrau mit dem Urmann, diese kymische Hochzeit, die ich gerade eben im Stamm der Buche gesehen hatte, findet im germanischen Weltenbaum so ganz und gar nicht statt. Dort, in der Weltenesche, lebt im weiblichen Urgrund des Wurzelreiches der Drache Nidhöggr. In der Baumkrone hingegen, im geistigen männlichen Areal, haust der Adler.
Und hier kommt das Eichhörnchen Ratatöskr ins Spiel, mit seinem äußerst fragwürdigen Charakter. Die Aufgabe dieses Eichhörnchens bestünde darin, die Zwiesprache zwischen dem Adler in der Krone und dem Schlangendrachen im Wurzelreich aufrecht zu erhalten. Die Botschaften, welche der Adler an den Drachen sendet, nimmt das Eichhörnchen zwar auf, um damit den Stamm hinab zu eilen. Doch das, was es dort dem Drachen erzählt, ist eine gänzlich andere Geschichte. Eine Geschichte, die nicht nur verdreht dargestellt wird, sondern sogar so umgedichtet wurde, dass sie den Drachen erzürnt.
Mit der Antwort des Drachen klettert das Eichhörnchen am Stamm wieder empor und erzählt sie dem Adler. Doch auch hier dichtet es das eine oder andere in nicht gerade vorteilhafter Weise hinzu. Das wiederum wühlt den Adler auf, weshalb er erboste Worte zurücksendet.
Dieser Zwietracht wächst sich aus.
Der Urmann in der Krone und die Urfrau in den Wurzeln haben nicht die geringste Chance, sich miteinander zu verständigen. Aus anfänglicher Liebe erwächst Enttäuschung, Verletztheit und Missgunst.
Ja, ich kannte dieses Drama.
Und ich begriff, was Lilith damit sagen wollte. Es handelt sich um das Urdrama unserer Zeit. Jenes Drama, das sich zwischen dieser schönen, jungen Frau und ihrem einst so heiß geliebten Partner abgespielt hatte, dieses Drama wiederholt sich heute, Tag für Tag, millionenfach. Der sinnliche Liebestanz, diese ekstatische lustvolle Vereinigung zwischen Mann und Frau, sie ist kurzlebig und massiv gestört.
Das ist die Realität, in der wir heute leben.
Und diese heilige erotische Vereinigung, die ich soeben im Stamm der Buche gesehen hatte, das ist die Realität, die sich verwirklichen sollte!
„Und jetzt?“, fragte ich Lilith. „Du hast mir ziemlich eindringlich das Drama gezeigt. Erzähl mir doch bitte auch, wie wir das lösen können!“
„Eine Lösung willst du? Die will ich dir nicht versprechen. Das aber, was du nun mit mir erfahren wirst, wird mehr als nur eine Lösung sein!“
Sprach diese Lilith immer so, wie ein Orakel, kryptisch und geheimnisvoll? Das war keine Antwort auf meine Frage! Gab es nun eine Lösung, oder gab es sie nicht?
Sie hatte aber zumindest angedeutet, dass ich jetzt einiges von ihr erfahren würde. Und das erfüllte mich mit einer freudigen Anspannung.
„Odin!“, sagte sie, jede Silbe lange betonend.
„Odin“, erklang nochmals mit ihrer tiefen, sinnlichen Stimme, wobei sie das O ziemlich in die Länge zog.
„Odin!“, wiederholte sie ein drittes Mal. Diesmal hatte es eine nahezu hypnotische Wirkung auf mich.
„Er hängt am Weltenbaum, neun Tage und neun Nächte lang…“
In der Baumkrone ließen sich krächzend zwei Kolkraben nieder. Das erinnerte mich unmittelbar an die beiden Raben des Odin, Hugin und Munin. Ich hörte ihre Stimmen, das Schlagen ihrer Schwingen, konnte sie aber im Astwerk der hohen Buche nicht ausmachen. Ihren Stimmen war eine erwartungsvolle Aufregung zu entnehmen.
Es war Hugin, der Rabe der Gedanken, der Erkunder des Sinns hinter den Dingen, der zu sprechen begann. Ich verstand seine Worte nicht, doch es schien, als hätte er auf seinem jüngsten Erkundungsflug um die Welt etwas Bedeutendes, etwas bislang noch kaum Gesehenes durchschaut. Munin ergänzte das eine oder andere und rundete so den Bericht Hugins ab.
Dann entstand eine kurze Pause. Die Rabensprache war mir zwar unbekannt, doch in dieser kurzen Ruhe begann ich etwas zu begreifen, oder vielmehr zu erahnen, sodass auch mich allmählich eine gewisse Aufregung ergriff.
Nun begann Munin zu erzählen. Soviel ich verstand, griff er das von Hugin Erzählte auf und er verglich das, was Hugin erkannt hatte, mit Ereignissen aus der Vergangenheit. Es war Munin, der die Erinnerungen und die Erfahrungen der Zeit kannte.
Als er geendet hatte, strich eine deutliche Windbö durch das Astwerk der Buche.
Lilith blickte nach oben, schien genau verstanden zu haben, was die beiden Kolkraben gesprochen hatten und nickte zustimmend.
Und wo blieb nun Odin?
Lilith las meine Gedanken augenblicklich. Sie vollzog mit ihrem linken Arm erneut diese kreisförmige Bewegung. Ein deutlich spürbarer Windhauch, der durch ihre offene linke Hand ausgelöst wurde, strich über meine Stirn. Es begann sich augenblicklich alles zu drehen, mein Geist glitt in einen magischen Sog. Alles drehte sich, schnell und immer schneller, sodass die Buche, Lilith, die Raben und die Mulde im Wald sich in ein einziges zusammenhängendes Gewebe verflochten.
Mit einem plötzlichen Ruck kam alles zum Stillstand und ich hatte Mühe, mich zu orientieren. Denn das, was ich nun sah, erschien aus einer gänzlich anderen Perspektive. Alles war verkehrt herum! Ich hing am Baum, an der Buche. Nein, nicht an der Buche, auch die hatte sich gewandelt. Der glatte Buchenstamm hatte eine rauere, gerippte Rinde angenommen. Aus den rundlichen Blättern waren längliche, schmälere geworden, die für eine Esche typisch waren. Die Buche hatte sich in eine Esche verwandelt! Sie war größer geworden, ja geradezu riesig, hatte enorme Ausmaße angenommen und überragte bei weitem alles, jeden Baum, jeden Hügel, das gesamte Land. Ihr Stamm hatte eine Mächtigkeit, die jeden anderen Baum wie einen dünnen Ast erschienen ließ.
Der Raum um mich herum war sonderbar kreisförmig verzerrt. Und ich selbst, verkehrt am Baum hängend, hatte eine enorme Ausdehnung angenommen. Meine Füße hingen im Astwerk fest, schienen mit der Baumkrone dieser zur Esche verwandelten Buche verwachsen zu sein, während mein Kopf das feuchte Moos des Wurzelwerks berührte.
Lilith erkannte ich rechts von mir, doch nicht mehr wie bisher von vorne. Ich sah den grünen Umhang über ihrem Rücken, unter dem das rote Kleid ihre Beine bedeckte. Und all das verkehrt herum!
Ein kurzer Schock durchfuhr mich, als ich links von Lilith meine eigene Gestalt erblickte, auf dem Boden sitzend, mit jener grünen Jacke, mit der ich in den frühen Morgenstunden losgezogen war. Mein Kopf lag auf meinen Knien und ich sah aus wie einer, der eingenickt war.
Meine Stirn berührte das feuchte Moos im Wurzelwerk der Esche. Diese Feuchtigkeit kühlte meinen heißen Kopf, in den das Blut übermäßig einströmte. Dennoch blieb ich klar und stelltestellte eine nochmals gesteigerte Intensität meiner Wahrnehmungen fest.
Mit meinen herabhängenden Händen berührte ich das regennasse Moos, das unvermittelt einen betörenden Duft verbreitete. Es roch eindeutig nach dem feuchten Schoss einer sexuell erregten Frau!
Und jetzt?
Ich kannte die Geschichte von Odin, der neun Tage und neun Nächte lang an der Weltenesche Yggdrasil hing. Neun Tage und neun Nächte? Mich faszinierte diese verdrehte, auf den Kopf gestellte Wahrnehmung ziemlich. Dennoch konnte ich nicht unbedingt behaupten, dass ich jetzt wirklich so lange darauf Lust hätte. Dass ich gerade in die Rolle Odins geschlüpft war, war mir durchaus bewusst.
Doch was sollte dieses Rollenspiel?
Warum musste ich da jetzt mit dem Kopf nach unten herum hängen?
Lilith drehte sich zu mir um und lächelte. Es war ein schelmisches Lächeln und dahinter lag so ein „Du wirst gleich sehen, warum!“.
Der Kolkrabe Hugin löste sich aus dem Astwerk der zur Weltenesche gewordenen Buche und segelte elegant herab. Ganz nahe vor meinem Kopf setzte er sich auf eine Wurzel. Er legte seinen Kopf leicht schräge und sah mir direkt in die Augen. Hugin, der Rabe der Gedanken, der Erkunder des Sinns hinter den Dingen, hier herunten im Moos des Wurzelreiches, das betörend nach dem Schoss einer Frau roch. Ein sonderbares, schräges Bild!
In seiner Rabensprache klang ein Lied aus seinem Mund, ein berührend weicher, fast melancholischer Gesang. Und dann schaltete etwas in meinem Kopf gänzlich um. Ich sah alles um mich herum, ich nahm alles intensiv wahr, hatte aber nicht die geringste Ahnung, was ich sah und was ich wahrnahm. Nichts mehr hatte einen Namen, jeder logische Gedanke ging verloren, das Erkennen von irgendwelchen Zusammenhängen war mir plötzlich unmöglich geworden. Es gab keine Grenzen mehr zwischen mir, dem Baum, Hugin, Munin, Lilith, dem Wald, der Welt. Ich hatte keine Idee mehr, was das Wort „Ich“ überhaupt bedeuten sollte, denn Ich und Du und Esche und Lilith, alles war eins!
Irgendwo war mir ein kleiner Rest von „Verstehen“, wie ein Zufluchtsort für meinen sonst sehr analytisch denkenden Verstand, noch geblieben. Darin wusste ich so ungefähr, was geschehen war. Hugin, der Rabe des Denkens und Verstehens, hatte durch sein Zauberlied meine linke, analytische Gehirnhälfte, zum Schweigen gebracht. Ich befand mich in einem herrlichen Zustand der Grenzenlosigkeit, der Verbundenheit mit allem, in dem es das so geliebte „Ich“ ganz einfach nicht mehr gab. Ich nahm alles, wirklich alles, äußerst intensiv wahr, während gleichzeitig dieses „Ich“, das üblicherweise wahrnahm, aufgehört hatte zu existieren. Ein Paradoxon der Sonderklasse, das mein Herz höher schlagen ließ und Jubelströme in mir auslöste!
Doch nicht genug damit! Nun löste sich auch Munin aus dem Astwerk und segelte ins Moos herab. Auch dieser Rabe machte mit mir dasselbe, wie sein Zwilling. Auch er legte seinen Kopf schräg, blickte mir direkt in die Augen und sang ein Lied. Ein rhythmisches, durchaus melodiöses Lied, bei dem ich allerdings den Eindruck hatte, dass dabei irgendwas verkehrt herum liefe.
Kaum hatte er mit seinem Gesang geendet, schaltete in meinem Kopf abermals etwas um. Dort, wo ich zuvor meine Erinnerungen abgespeichert hatte, sah ich plötzlich Ereignisse, die noch gar nicht stattgefunden hatten. Ich sah Menschen, denen ich noch nie begegnet war, die mir in diesem Moment aber sehr vertraut waren und ich „erinnerte“ mich an eine Fülle von Erlebnissen mit ihnen.
Ich sah in die Zukunft und ich sah die zukünftigen Ereignisse derart, als wären sie bereits geschehen. Da mein herkömmliches Denken aber so gut wie ausgeschaltet war, verstand ich nicht, was ich da sah. Ich fühlte es lediglich, konnte aber nicht einmal ansatzweise sagen, ob es sich dabei um „gute“ oder „schlechte“ Dinge handelte. Denn alle normalen Zuordnungsmuster waren gänzlich außer Gefecht gesetzt.
Allerdings verstand ich aber eines: Nichts, absolut gar nichts, hat einen Anfang oder gar ein Ende. Alles hatte seit jeher existiert. Es veränderte lediglich immer wieder seine Form, sein Aussehen, seine Gestalt. Und diese Kraft der Veränderung, die nennen wir „Zeit“. Da wir stets nur einen schmalen Zeitausschnitt sehen, glauben wir einen Anfang und ein Ende zu erkennen. Doch dieser Eindruck trügt. In Wirklichkeit dreht sich die Zeit wie ein Rad, oder genauer gesagt wie eine Vielzahl von Rädern, die spielerisch und schöpferisch in immer neuen Variationen ineinander greifen. In diesem Augenblick erschien mir die Zeit selbst als das einzig wahre schöpferische Prinzip. In diesem sonderbaren Zustand, in dem ich mich gerade befand, war dies kein Gedanke, sondern vielmehr ein Wissen. Und dieses Wissen hatte eine schwerwiegende Konsequenz, die sämtliche bisherigen Glaubensmuster vollkommen absurd erscheinen ließ. Wenn nämlich die Zeit selbst das einzig wahre schöpferische Prinzip war, bedeutete das auch, dass es keinen „Schöpfer“ oder gar einen „Schöpfergott“ gab. Denn dann war die Stelle des Schöpfers bereits vergeben, womit ein Gott, der dich oder mich oder gar die Welt selbst gemacht hätte, völlig überflüssig geworden war!
Ich musste auflachen! Ich selbst war ja gerade in die Rolle des „Göttervaters“ Odin geschlüpft. Und nun glaubte ich tatsächlich zu wissen, verkehrt herum am Baum hängend, dass die Götter gar keine Schöpfer wären!
In diesem Moment kam Lilith auf mich zu. Es war sonderbar, sie so verkehrt herum zu sehen, mit meinem Kopf zu ihren Füßen. In ihrem Gesicht blitzte ein freudiges Lächeln auf. Sie sah, dass ich etwas zu verstehen begonnen hatte. Ich hatte zumindest ansatzweise erkannt, dass die Geschichte mit den Schöpfergöttern ein Betrug an der Menschheit war! Und das zauberte ein strahlendes Lächeln in ihr Gesicht.
„Das ist noch nicht alles!“. Sie sah mich herausfordernd an.
„Erinnere dich, warum du hier hängst!“
Warum?
Ach ja, da war diese Geschichte mit dem Eichhörnchen. Da war dieses ewige Missverständnis zwischen Mann und Frau. Das, was der männliche Geist wahrnimmt, kommt verzerrt und unverständlich im Urgrund an. Das sich ewig wiederholende Drama!
Und jetzt?
„Siehst du nicht, was du gerade machst?“
Nun ja, ich berühre mit meiner Stirn das feuchte Moos. Oder besser gesagt, ich berühre mit meinem Geist den Schoss der Frau.
„Das ist es! Und wie nimmst du gerade wahr?“
Ich kann gerade nicht logisch denken. Dafür spüre und empfinde ich alles mit enormer Intensität. Ich erlebe die Muster der Zeit, sehe oder spüre vielmehr, was die Zukunft bringen wird und wie die Kraft der Zeit alles verändert, alles wandelt. Ich sehe die Zeit.
„So ist es!“, sagte Lilith lächelnd.
„Das ist das Erste Bewusstsein der Urfrau! Ihr Erstes Bewusstsein liegt in ihrem Schoss und noch tiefer, in der Tiefe ihrer Gebärmutter, aus der alles Leben entspringt. Nur wenn das Licht des Mannes die Frau dort in ihrer nährenden Dunkelheit berührt, nur dann findet das Leben so statt, wie es sein soll!“
Wow, was für eine Erkenntnis!
Das trügerische Eichhörnchen hatte gerade keine Chance für seine Spielchen.
„Sieh!“
Wieder vollzog Lilith diese kreisrunde Bewegung mit ihrem linken Arm. Augenblicklich sah ich eine einfache und doch so unglaublich starke Szene. Es war bei den Huronen, lange bevor die Europäer den amerikanischen Kontinent heimgesucht hatten. Ein Hurone hatte immer wieder denselben Traum, auch in jener Nacht. Er hatte verstanden, dass dieser Traum für ihn und für seinen Stamm eine zentrale Bedeutung hatte. Er konnte diesen Traum allerdings nicht deuten. So ging er am Morgen zu seiner Frau und erzählte ihr, was er träumend gesehen und erlebt hatte.
Ich sah genau, was sich darin gerade abspielte. Der Traum entsprang dem Geist des Mannes und hatte die Gestalt eines ziemlich komplexen Gebildes. Zwischen ihm und seiner Frau spannte sich ein sehr lebendiges und liebendes Vertrauensfeld. Diese Frau nahm das geistige Traumgebilde ihres Mannes in sich auf. Sie agierte ganz anders, als wir Männer es tun. Sie dachte nicht darüber nach, sondern sog es in sich auf, durch ihren Schoss!
Dort, in ihrem Inneren, gab sie dem Traumgebilde Raum und ihre Gebärmutter, ihr primäres Bewusstsein, begann unvermittelt zu reagieren. Es entstanden nach und nach Bilder, mehrere und immer differenziertere Bilder, die sich allmählich zu einer zusammenhängenden Geschichte verwoben. Diese Bilder stiegen Schritt für Schritt in der Frau auf und sie konnte in Worte kleiden, was sie gesehen hatte.
Der Mann gab nun den Bildern seiner Frau den nötigen Raum in seinem Geist. Die Bilder der Frau und der denkende Geist des Mannes begannen miteinander zu tanzen, sich zu umspielen, einander anzunähern. Daraus formte sich ein neues, reichhaltiges Geistgebilde im Mann. Und er verstand, was er so oft geträumt hatte und was diese Träume ihm sagen wollten.
So kann es also funktionieren, wenn wir das ewige Drama durchbrechen wollen!
Die Lösung war also gefunden, meinte ich. Doch die folgenden Szenen belehrten mich leider eines Besseren!
Ich war wieder Odin und hing verkehrt am Weltenbaum. Abermals bewegte sich etwas in der Baumkrone und das war diesmal der Adler selbst. Er stieß seinen gellenden, weithin hörbaren Ruf aus, einmal, zweimal und dann ein drittes Mal. Das Rauschen seiner Schwingen verriet seine beachtliche Größe, als er abhob und sich in die Lüfte empor schwang.
Als er hoch über der Esche seine Kreise zog, sah ich ihn zum ersten Mal. Ich bewunderte sein erhabenes Erscheinungsbild und die Eleganz seines Flügelschlags. Er blickte suchend nach unten. Und dann begriff ich, was er vorhatte. Auch er wollte, Odins Kolkraben gleich, den Waldboden erreichen. Er suchte nach einem für ihn gangbaren Weg durch das Geäst des Waldes hindurch. Seine scharfen Adleraugen hatten bald entdeckt, wonach er gesucht hatte. Er legte seine Schwingen eng an seinem Körper an, stieß durch die ausgemachte Öffnung zwischen den Baumkronen hindurch, fing seinen Schwung gekonnt ab und landete majestätisch am moosigen Grund.
Mit einer offenherzigen Verbeugung begrüßte Lilith dieses herrliche Tier, dessen Kopf ihr fast bis zur Brust reichte. Ich hätte mich ebenfalls verbeugt, um meiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen, wenn ich nicht immer noch kopfüber an dieser Esche gehangen wäre.
Der majestätische Adler berührte mit seiner Stirn den moosigen Waldboden und löste damit offenbar eine Bewegung im Wurzelwerk aus. Dort unten war etwas erwacht. Das Moos hob und senkte sich wieder. Geschmeidig und fließend waren diese Bewegungen, die sich im Waldboden abzeichneten. Dort, wo zwei mächtige Wurzelstränge der Weltenesche einen höhlenartigen Raum formten, direkt neben meinem nach unten hängenden Kopf, bildete sich eine rundliche, ballgroße Öffnung. Wohlige Wärme entströmte den dunklen Räumen, die wohl hinter dieser höhlenartigen Öffnung liegen mussten.
Dann sah ich ihren Kopf und die feine, linienförmige lichte Zeichnung auf ihrem dunklen, erdbraunen Körper. Die Urschlange schlängelte sich aus der Tiefe des Wurzelreiches durch die soeben entstandene Öffnung empor. Ihr Auftreten war sinnlich, sogar erotisch durch ihre schlangenförmigen, kraftvollen und gleichzeitig unglaublich einfühlsamen Bewegungen. Auf jede Unebenheit im Boden, jede Erhebung und Vertiefung, reagierte die Urschlange mit einfühlsamen Wendungen ihres Schlangenkörpers.
Wir hielten alle inne, Odins Raben, der majestätische Adler, ich selbst mit meiner umgekehrten Wahrnehmung und im besonderen Maße Lilith. Ich nahm eine sinnliche Erregung in ihr wahr, die offenbar durch die erotisch anmutenden Windungen der Schlange entfacht wurde.
Das Ausmaß dieser Urschlange war enorm, vergleichbar mit einer Python. Sie erschien mir aufgrund ihrer außergewöhnlichen Einfühlsamkeit nahezu verletzlich und verwundbar, was aber ihrem kraftvollen Körperbau so gar nicht entsprach.
Die Urschlange bewegte sich auf den majestätischen Adler zu. Sie richtete sich vor ihm auf, sodass sich ihr Kopf auf Augenhöhe des stolzen Vogels einfand. Beide blickten einander würdevoll, achtend und wertschätzend in die Augen. Die Urschlange züngelte und nahm so den Geruch, die Aura, das Wesen des Adlers in sich auf. Der Adler beobachtete sie aufmerksam mit seinen durchdringenden, fokussierenden gelben Augen. Auf diese Weise studierte er ihr Wesen, das so diametral verschieden zu dem seinen war. Mit einem einfühlsamen Ruf, der mich durch seine Sanftheit erstaunte, beantwortete der Adler das Züngeln der Urschlange.
Die Urschlange wandte sich vom Adler ab und bewegte sich auf Lilith zu. Sie umspielte Liliths Beine mit einer unsagbaren Zärtlichkeit und Anmut. Lilith nahm diese sinnlichen Berührungen mit sichtlichem Wohlwollen in sich auf und begann, die Bewegungen der Urschlange mit ihrem Körper zu beantworten.
Lilith ließ den grünen Umhang von ihren Schultern gleiten. Als die Urschlange langsam und spielerisch Liliths Waden bis zu ihren Knien hoch zu erkunden begann, streifte sie auch ihr rotes Kleid ab. Die Schönheit ihres ästhetischen und nun nackten Körpers war erregend. Die Urschlange bewegte sich langsam an Liliths Beinen empor, liebkoste die Innenseite ihrer Oberschenkel, worauf Lilith sichtlich erregt zu reagieren begann.
Die Urschlange berührte gekonnt Liliths Geschlecht, umkreiste sie, spielte mit ihrem wohlgeformten Gesäß und bewegte sich ihrem Rücken entlang aufwärts. Liliths Bewegungen wurden stürmischer. Ihr intensiver werdender Atem brachte ihre sich steigernde Lust betörend zum Ausdruck. Als die Urschlange Liliths Hals küsste, an ihrer Wange vorbei glitt und ihre Brüste sinnlich zu umspielen begann, war Liliths erotisches Feuer vollends entfacht.
Liliths Bewegungen wurden heftiger, ohne dabei an Schönheit und Anmut zu verlieren. Der Schlangenkörper und Lilith verschmolzen förmlich ineinander in einem betörenden sinnlichen Tanz. Ein tiefer, befriedigender orgiastischer Lustschrei Liliths krönte dieses höchst erotische Liebesspiel.
Beide, Lilith und die Urschlange, hatten sich mit der stärksten Energie des Kosmos, mit der Urkraft des Lebens gegenseitig aufgeladen. Liliths dunkle Augen glänzten hinreißend und der rotbraune Körper der Urschlange schien zu glühen.
Sanft, zärtlich und liebkosend glitt die Urschlange allmählich von Liliths Körper ab. Den gesamten Raum rund um die mächtige Weltenesche erfüllte eine bezaubernde Liebesmagie. Die Urschlange umkreise dreimal die riesige Esche, behutsam und kraftvoll zugleich. Diese Umrundungen hatten einen rituellen Charakter. Die Schlange zentrierte damit anscheinend ihre eigenen Kräfte und richtete sich auf ein Ziel aus, ein Ziel, das ich noch nicht erkennen konnte.
Dann hielt sie inne.
Sie richtete sich auf, während Lilith hinter ihr stehend ihre Arme ausbreitete und in einer Sprache, die mir unbekannt war, eine Zauberformel sprach.
Der dunkle, rotbraune Körper der Urschlange wurde diffuser. Ihre gesamte Gestalt verlor ihre Umrisse und begann unscharf zu werden. Dann verwandelte sich allmählich ihre Farbe zu einem satten, dunklen Saphirblau. Ihr Körper schien sich in einem Schwarm von Myriaden von Einzelteilchen aufzulösen, ehe er eine neue Form anzunehmen begann.
Der Schlangenkörper verwandelte sich, erhielt starke, kräftige Hinterbeine, kleinere aber ebenfalls noch kraftvolle Vorderbeine, einen schuppigen und dennoch anmutigen Körper, sowie mächtige Schwingen. Die Urschlange hatte sich zu einem ansehnlichen, saphirblauen Drachen verwandelt. Sie war nun gut zwei bis dreimal so groß wie Lilith und drehte sich zu ihr um. Liebevoll neigte die zum Drachen gewordene Urschlange ihren Kopf zur Seite und ließ einen tiefen, schnurrenden Ton vernehmen. Lilith berührte streichelnd das Drachenhaupt und liebkoste es.
Danach blickte die saphirblaue Drachin mich an. Obwohl sie nicht sprach, hörte ich dennoch klar und deutlich ihre Worte in meinem Kopf:
„Bist du bereit?“
Eigentlich wusste ich nicht, worauf sie anspielte, sagte aber spontan und ohne zu zögern:
„Ja, natürlich!“
Augenblicklich vollzog sich etwas Sonderbares. Mein Geist wurde von den dunkelgrünen Augen der Drachin angesogen. Es drehte sich einen Moment lang alles rasend schnell im Kreis. Als ich jedoch wieder klar wahrnehmen konnte, erkannte ich schnell, was jetzt geschehen war. Ich blickte nun durch die Augen der Drachin hindurch, ich spürte ihren Körper. Meine gesamte Wahrnehmung hatte sich in dieser Drachin fokussiert, ohne dass ich selbst zu ihr geworden wäre. Der Fokus meiner Wahrnehmung und meines Seins hatte in einem anderen Körper, nämlich in der zur Drachin gewordenen Urschlange, nun Raum genommen!
War ich soeben zum Drachenreiter geworden?
Es war jedenfalls mehr als befreiend, die Welt und das Geschehen um mich herum nicht mehr aus der umgedrehten, mit dem Kopf nach unten hängenden Perspektive wahrnehmen zu müssen.
Und dann ging es los!
Die saphirblaue Drachin breitete ihre Flügel aus, ich spürte die Kraft ihrer Schwingen und dann den spontanen Ruck ihres Abhebens.
Ich staunte über ihre Geschicklichkeit, über ihre perfekten Flugkünste. Mit zunehmender, immer rasanter werdender Geschwindigkeit bahnte sie sich einen idealen Weg durch das dichte Astwerk der Baumkronen. Es erfüllte mich mit einer unsäglichen Freude, diese eleganten Flugbewegungen ihrer Schwingen am ganzen Körper selbst zu spüren!
Kurz darauf befanden wir uns über der gigantischen Weltenesche und ich begriff, was soeben geschehen war. Der stolze Adler, der im Astwerk der Weltenesche lebte, hatte den moosfeuchten Boden berührt. Und die Urschlange, die in den Wurzelräumen des Weltenbaumes lebte, hatte sich soeben in die Lüfte erhoben. Die Welt hatte sich auf den Kopf gestellt, damit lichter Geist und dunkler Urgrund einander wieder befruchtend begegnen konnten!
Doch das war noch lange nicht alles!
Der Flug der Drachin hatte einen noch weitaus größeren, bedeutenderen Zweck. Dieser Flug wurde zu einem heiligen Mysterium mit ungeahnter Tragweite.
Die saphirblaue Drachin begann zu singen. Und das war mehr als nur ein Gesang. Es war eine Hymne, vielstimmig, berührend, melancholisch und voller Lebensfreude zugleich. Sie erhob ihre Stimme, die immer kraftvoller wurde und auf die der Himmel zu antworten begann. Sie sang das Lied der Erde, sie, die Tochter der Mutter Gaia, sang das Lied des nährenden Urgrundes. Und sie richtete dieses Lied an das Licht, an jenes sich entäußernde Licht, welches die Erde befruchtet und den nötigen Impuls für das Gedeihen des Lebens gibt.
Und dann sah ich etwas, durch das ich die weitreichende Bedeutung dieses Liedes zu erkennen begann! Ich sah unter mir nicht nur den gigantischen Weltenbaum, nicht nur den Wald und das umliegende Land. Ich sah unter mir Mutter Erde, Gaia selbst! Ich sah ihren wunderschönen planetaren Körper, das Spiel ihrer Winde, das Spiel ihrer Meere und die Mächtigkeit ihrer Gebirge.
Sie, Gaia selbst, hatte die saphirblaue Drachin beauftragt, in Form dieses bezaubernd schönen Liedes eine Botschaft zu singen. Eine Botschaft an den Geliebten der Gaia, eine Botschaft an jenen, den sie „Sohn des Lichtes“ und „Urvater“ nannte. Dies war ein Liebeslied voller Hingabe und voller Sehnsucht zugleich, von der Urmutter an den Urvater gerichtet.
Nun sah ich nach oben.
Und ich sah, dass jenes Licht, das die Erde umgab und das die Erde befruchtet, plötzlich selbst Gestalt angenommen hatte. Ich meinte Hände in Lichtgestalt ausmachen zu können, welche den Erdenkörper so sanft, kraftvoll und lustvoll berührten, wie es ein Liebender mit seiner Geliebten tut. Das Licht umtanzte reizvoll und mit sinnlichem Genuss die sich willig hingebende Gaia. Es vollzog sich vor meinen Augen ein erotisches Liebesspiel von gigantischem Ausmaß! Das Licht hatte Gestalt angenommen. Das Licht war der Liebhaber und die Geliebte war Mutter Erde selbst!
Die saphirblaue Drachin, durch deren Augen und Sinne ich alles wahrnehmen konnte, hatte dieses Liebesspiel möglich gemacht! Sie hatte durch ihren magischen Gesang einen Raum eröffnet, in dem sich dieses planetare Liebesspiel entfalten konnte.
Doch irgendetwas stimmte auf einmal nicht mehr. Die Drachin hatte mitten in ihrem Lied schlagartig innegehalten. Auch das Liebesspiel zwischen Gaia und ihrem Geliebten war unvermittelt unterbrochen worden, ohne noch zu einem erfüllenden Höhepunkt gefunden zu haben.
Die saphirblaue Drachin hatte ihren Kopf gewendet und nun sah auch ich jene, welche den Zauber dieses wunderbaren Moments so jäh gestört hatten. Sie waren zu Zwölft. In drei Gruppen zu je Vieren hatten sie in sicherer Entfernung, in der Luft stehend wie Kampfhubschrauber, Stellung bezogen. Die Drachin fokussierte sie abschätzend und in diesem Moment wusste ich, dass wir uns in höchster Gefahr befanden. Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren, oder vielleicht wollte ich es noch gar nicht wissen. Sie waren in stahlblaue Rüstungen gekleidet und hatten durchaus drachenähnliche Schwingen, die den bekannten Darstellungen von Engelsflügeln glichen. Deren Schwingen erschienen allerdings keineswegs organisch, sondern vielmehr metallen, stählern zu sein.
Das Licht, das sich in deren Rüstungen spiegelte, strahlte nicht die geringste Wärme wider, sondern glänzte kalt und hart.