Aus dem Italienischen von Trude Fein
Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift ›Letteratura‹ als Fortsetzungsroman in den Jahren 1938, 1939, dann 1941 unter dem Titel Nome e lacrime bei Parenti, Florenz, und im gleichen Jahr bei Bompiani, Mailand, unter dem Titel Conversazione in Sicilia.
E-Book Ausgabe 2016
© 1941 The estate of Elio Vittorini
© 1999, 2007, 2011 für diese Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emserstr. 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Photographie von Enzo Sellerio/getty images. Reihenkonzept: Rainer Groothuis. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt
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ISBN 3 8031 4214 6
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2671 9
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Gespräch in Sizilien erschien 1941 unter dem Titel Nome e lacrime im Verlag Parenti in Florenz und im gleichen Jahr, unter dem Titel Conversazione in Sicilia, im Mailänder Verlag Bompiani. Die Tatsache, daß das ruhige und nachdenkliche Buch des Sizilianers Elio Vittorini mitten im Krieg erscheinen konnte, sogar in zwei Ausgaben, weckte sofort Neugierde und Interesse im ganzen Land. Es wurde zu einem literarischen Manifest der Freiheit, und als solches zu einem der wichtigsten Bücher der vierziger Jahre in Italien.
Das italienische Geistesleben während des Faschismus war bei weitem nicht so »gleichgeschaltet« wie im Dritten Reich – wie der Historiker Brunello Mantelli in seiner Kurzen Geschichte des italienischen Faschismus (Wagenbach 1998), ausführlich erklärt. Trotzdem mußte Elio Vittorinis Gespräch in Sizilien die faschistische Zensur passieren. Der Ich-Erzähler, der mit dem Zug in sein sizilianisches Heimatdorf reist, um seine Mutter zu besuchen, nimmt bereits am Anfang eine »gestaltlose Wut«, »astratti furori«, bei seinen Landsleuten wahr: ein Ausdruck, der in die Literaturgeschichte eingegangen ist, als sprachliche Möglichkeit, Unbehagen und Kritik an der faschistischen Diktatur auszudrücken. Zur Tarnung vor der Zensur haben manche Gestalten, die dem Reisenden begegnen, einen märchenhaften, allegorischen Charakter; wobei allerdings die Symbolik und Verschlüsselung nicht sehr weit geht: die Menschen, die der Protagonist im Zug trifft, und die entweder unter dem Regime leiden oder ihm dienen, tragen leicht wiedererkennbare Züge. Die beiden Polizeispitzel Mit- und Ohne-Schnurrbart etwa sind nahezu authentisch beschrieben. Der Agent aus dem Süden, in Armut aufgewachsen und daher besonders anfällig für eine »sichere« Staatsstelle, war damals eine sprichwörtliche Erscheinung. Der Große Lombarde erinnert unverblümt an die weiterbestehenden nordischen Gemeinden in Sizilien, deren Bewohner ihre angestammte Mundart nie ablegten; er verkörpert den gerechten und freien Menschen. Auch die anderen Inselbewohner, mit denen der Ich-Erzähler ins Gespräch kommt, sind zwar in Anklängen allegorisch, aber letztlich doch sehr real geschildert: der Scherenschleifer, der nach Messern und Kanonen ruft; oder sein gefallener Bruder, der nicht den Heldentod, sondern das Leben preist. Ein deutliches Zugeständnis an die Zensur hingegen ist die Anmerkung, mit der Vittorini seinen Text beschließt: »Um Fehldeutungen oder Mißverständnisse auszuschließen, möchte ich betonen: So wie die Hauptgestalt dieses Gesprächs nicht autobiographisch ist, ist auch das Sizilien, das sie umgibt und begleitet, nur zufällig Sizilien; bloß weil mir der Name Sizilien besser klingt als der Name Persien oder Venezuela. Im übrigen nehme ich an, daß sämtliche Manuskripte in einer Flasche gefunden werden.« Damit sollten Bedenken, es könnte sich bei dem Buch um eine subversive Kritik an heimatlichen Zuständen handeln, zerstreut werden – ein oberflächliches und leicht durchschaubares Zugeständnis.
Elio Vittorini hat das Gespräch in Sizilien 1937 begonnen, unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs. 1937 – 38 erschien es als Vorabdruck in der Zeitschrift Letteratura, um die sich ein Kreis von gegen das faschistische Regime eingestellten Literaten scharte, darunter auch der Dichter und spätere Nobelpreisträger Eugenio Montale. Seiner einfachen Herkunft – er war Sohn eines Bahnangestellten – und autodidaktischen Bildung entsprechend gehörte Elio Vittorini zum Kreis um die Zeitschrift Letteratura, vormals Solaria, und nicht um den, ebenfalls oppositionellen, bürgerlich liberalen Kreis um Benedetto Croce und seine Zeitschrift La Critica. 1937 hatte das faschistische Italien, verbündet mit dem nationalsozialistischen Deutschland, ein Expeditionskorps von Schwarzhemden zur Unterstützung von General Franco entsandt. Gleichzeitig sympathisierten viele Intellektuelle mit den spanischen Republikanern oder unterstützten sie sogar aktiv.
1937 war Elio Vittorini 29 Jahre alt, hatte bereits journalistische Erfahrung bei der damals von Curzio Malaparte geleiteten Tageszeitung La Stampa gesammelt, einen Roman von D. H. Lawrence ins Italienische übersetzt und mehrere Erzählungen und Romane geschrieben, darunter Die rote Nelke. 1942 wurde er Mitglied der verbotenen kommunistischen Partei. 1943 betätigte er sich aktiv an der Resistenza und wurde noch nach der Entmachtung Mussolinis für zwei Monate inhaftiert. Nach Kriegsende leitete er die Zeitung L’Unità und gab von 1945 – 47 die von ihm gegründete Zeitschrift Il Politecnico heraus, in der er einen heftigen Streit mit der kommunistischen Partei über den verengenden Begriff des >sozialistischen Realismus< entfachte. In der Folge trat er – wie auch Italo Calvino – aus der Partei aus. 1959 gründete er gemeinsam mit Italo Calvino die Zeitschrift Il menabò. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein enger Mitarbeiter der beiden großen italienischen Verlage Mondadori und Einaudi und ein angesehener Schriftsteller. Elio Vittorini starb am 12. Februar 1966.
Margit Knapp
In jenem Winter war ich von einer gestaltlosen Wut gepackt. Ich werde nicht sagen, welcher Art, nicht davon will ich erzählen. Nur muß ich sagen, daß sie gestaltlos war, nicht heldenhaft, nicht feurig; irgendwie galt sie der verlorenen Menschheit. Seit langem schon, und ich ließ den Kopf hängen. Ich sah brüllende Zeitungsschlagzeilen und ließ den Kopf hängen; ich besuchte Freunde, eine Stunde, zwei Stunden lang, und saß mit ihnen, ohne ein Wort zu sprechen, ich ließ den Kopf hängen; und ich hatte ein Mädchen oder eine eigene Frau, die auf mich wartete, aber auch mit ihr sprach ich kein Wort, auch mit ihr ließ ich den Kopf hängen. Unterdessen regnete es, und die Tage vergingen, die Monate, und meine Schuhe waren zerrissen, das Wasser lief mir in die Schuhe, und es gab nichts anderes mehr als dies: Regen, Metzeleien in den Zeitungsschlagzeilen und Wasser in meinen zerrissenen Schuhen, stumme Freunde, das Leben in mir wie ein dumpfer Traum und keine Hoffnung, Ruhe.
Das war das Furchtbare: die Ruhe in der Nichthoffnung. Daß ich die Menschheit für verloren hielt und nicht danach fieberte, etwas dagegen zu tun, nicht danach verlangte, mit ihr zum Beispiel zugrunde zu gehen. Ich war von gestaltloser Wut geschüttelt, nicht im Blut, und ich war ruhig, ich verlangte nach nichts. Es lag mir nichts daran, daß mein Mädchen auf mich wartete; ob ich zu ihr ging oder nicht, oder in einem Wörterbuch blätterte, das war mir gleich; ob ich ausging, um die Freunde, die anderen zu besuchen, oder zu Hause blieb, das war mir gleich.
Ich war ruhig; es war, als wenn ich keinen Tag Leben gehabt hätte, nie gewußt, was Glücklichsein heißt, als hätte ich nichts zu sagen, zu behaupten, zu verneinen, nichts von mir aufs Spiel zu setzen und nichts anzuhören, zu geben, und keine Neigung, zu empfangen; als hätte ich in all den Jahren meines Daseins nie Brot gegessen, Wein getrunken oder Kaffee getrunken, nie mit einem Mädchen geschlafen, nie Kinder gehabt, nie mit jemandem gerauft, als hielte ich das alles gar nicht für möglich, als hätte ich nie eine Kindheit in Sizilien gehabt, zwischen den Feigenkakteen und dem Schwefel, in den Bergen; doch innerlich war ich von einer gestaltlosen Wut geschüttelt und hielt die Menschheit für verloren, ich ließ den Kopf hängen, und es regnete, ich sprach kein Wort mit den Freunden, und das Wasser lief mir in die Schuhe.
Dann kam ein Brief von meinem Vater.
Ich erkannte seine Schrift auf dem Umschlag und öffnete ihn nicht sofort, ich verweilte bei diesem Erkennen und erkannte, daß ich ein Kind gewesen war, daß ich doch irgendwie eine Kindheit gehabt hatte. Ich öffnete den Brief, und im Brief stand:
Mein lieber Junge,
Du weißt und Ihr wißt alle, daß ich immer ein guter Vater und Eurer Mutter ein guter Mann war, kurz ein guter Mensch, aber jetzt ist mir etwas passiert, und ich bin weggegangen, aber Ihr dürft nicht schlecht von mir denken, ich bin derselbe gute Mensch geblieben, der ich war, und Euch allen derselbe gute Vater, ein guter Freund für Eure Mutter, und außerdem werde ich auch noch ein guter Mann für meine, sagen wir neue Frau sein, mit der ich weg bin. Liebe Kinder, ich spreche mit Euch, ohne mich zu schämen, von Mann zu Mann, und bitte Euch nicht um Verzeihung. Ich weiß, daß ich niemandem etwas Böses tue. Euch nicht, die Ihr alle vor mir weggegangen seid, und Eurer Mutter nicht, die ich im Grunde nur von meiner störenden Gesellschaft befreie. Ihr ist es gleich, sie wird mit mir oder ohne mich weiterhin in ihrem Hause singen und pfeifen. Ich gehe also ohne Reue meinen neuen Weg. Macht Euch keine Sorgen um Geld oder sonst etwas. Eurer Mutter wird es an nichts fehlen; sie wird jeden Monat meine ganze Eisenbahnerpension bekommen. Ich werde von Privatstunden leben und auf diese Art sogar einen alten Traum von mir verwirklichen, woran mich Eure Mutter immer gehindert hatte. Dafür bitte ich Euch, jetzt, wo Eure Mutter allein ist, besucht sie manchmal. Du, Silvestro, warst fünfzehn Jahre alt, als Du uns verlassen hast, und seither hast Du Dich nicht mehr blicken lassen. Warum steigst Du am 8. Dezember nicht in den Zug und fährst zu ihr hinunter, anstatt ihr die übliche Glückwunschkarte zu ihrem Namenstag zu schicken? Grüße und Küsse Dir, Deiner lieben Frau und den Kindern. Dein Dich liebender Papa
Costantino
Ich sah, daß der Brief aus Venedig kam, und begriff, daß er uns fünf Söhnen, die wir in der Welt verstreut waren, allen genau gleichlautend geschrieben hatte, ein Rundschreiben. Es war sonderbar; und ich las den Brief nochmals und erkannte meinen Vater, sein Gesicht, seine Stimme, seine blauen Augen und seine ganze Art, ich war einen Moment lang wieder ein Kind und klatschte ihm Beifall, während er im Wartesaal einer kleinen Bahnstation für die Eisenbahner der Strecke San Cataldo – Racalmuto den Macbeth aufführte.
Ich erkannte ihn wieder und daß ich ein Kind gewesen war, und dachte an Sizilien, Berge darin. Aber mein Gedächtnis tat sich nur so weit auf, daß ich ihn erkannte und mich wieder als Kind sah, das ihm Beifall klatschte, ihm und seinem roten Gewand in Macbeth, seiner Stimme, seinen blauen Augen, als stünde er jetzt wieder auf einer Bühne namens Venedig und es ginge wieder darum, ihm Beifall zu klatschen. Kaum so weit tat sich mein Gedächtnis auf, dann verschloß es sich wieder, und ich war ruhig in meiner Nichthoffnung, als hätte ich nie fünfzehn Jahre Kindheit gehabt und Sizilien, Feigenkakteen, Schwefel, Macbeth, in den Bergen. Weitere fünfzehn Jahre waren seither vergangen, tausend Kilometer von dort, von Sizilien und der Kindheit entfernt, und ich war fast dreißig Jahre alt, und es war, als hätte ich nichts gehabt, weder die ersten fünfzehn Jahre noch die zweiten, als hätte ich nie Brot gegessen und wäre in dieser ganzen Zeit nicht um zahllose Dinge, Klänge, Empfindungen reicher geworden, als wäre ich nie lebendig gewesen und wäre leer, so war ich, als wäre ich leer, und hielt die Menschheit für verloren und war ruhig in der Nichthoffnung.
Ich hatte kein Verlangen mehr, meinem Mädchen ins Gesicht zu sehen, ich blätterte in meinem Wörterbuch, dem einzigen Buch, das ich noch zu lesen imstande war, und begann Klagelaute in mir zu hören, als spielte einer klagend auf der Querpfeife. Jeden Morgen ging ich zur Arbeit, als Setzer, ich arbeitete sieben Stunden täglich an der Setzmaschine, in der fettigen Hitze des Bleis, hinter der Brille, die meine Augen schützte, und in mir spielte einer auf der Querpfeife und brachte in mir Mäuse, Scharen von Mäusen in Bewegung, die nicht eigentlich Erinnerungen waren.
Es waren nur Mäuse, dunkel, formlos, dreihundertfünfundsechzig und wieder dreihundertfünfundsechzig dunkle Mäuse meiner Jahre, aber bloß meiner Jahre in Sizilien, in den Bergen, und ich spürte, wie sie sich in mir bewegten, Mäuse und wieder Mäuse bis zu fünfzehnmal dreihundertfünfundsechzig, und der Pfeifer spielte in mir, und so überkam mich eine dunkle Sehnsucht, als wollte ich meine Kindheit in mir wiederfinden. Ich nahm wieder den Brief meines Vaters und las ihn wieder und schaute auf den Kalender; es war der 6. Dezember; ich hätte zum 8. die übliche Glückwunschkarte an meine Mutter schreiben müssen, es wäre unverzeihlich gewesen, wenn ich es jetzt, da meine Mutter allein zu Hause war, vergessen hätte.
Und ich schrieb die Glückwunschkarte, ich steckte sie in die Tasche, es war Samstag, vierzehntägiger Zahltag, und ich erhielt meinen Lohn. Ich ging zum Bahnhof, um die Karte einzuwerfen, ich kam an der Bahnhofshalle vorbei, sie war hell erleuchtet, und draußen regnete es, das Wasser lief mir in die Schuhe. Ich stieg im hellen Licht die Treppe zur Bahnhofshalle hinauf, mir war es gleich, ob ich im Regen nach Hause ging oder die Treppe hinaufstieg, und so stieg ich im hellen Licht hinauf und sah zwei Plakate. Das eine war von einer Zeitung und brüllte von neuen Metzeleien, das andere war von der italienischen Tourismus-Gesellschaft: »Besucht Sizilien! Dezember bis Juni fünfzig Prozent Ermäßigung. Syrakus und zurück, dritte Klasse. Lire 250,–.«
Einen Augenblick lang stand ich wie vor zwei Straßen: die eine führte nach Hause, in die Abstraktheit dieser niedergemetzelten Menschenmengen und in die stetige Ruhe, in die Nichthoffnung zurück, die andere führte nach Sizilien, in die Berge, zu den pfeifenden Klagetönen in mir und zu etwas, das vielleicht eine nicht so dunkle Ruhe und eine nicht so dumpfe Nichthoffnung sein mochte. Mir war es eigentlich egal, die eine oder die andere zu nehmen, die Menschheit war ohnehin verloren, und ich erfuhr, daß um sieben, von jetzt ab in zehn Minuten, ein Zug in den Süden ging.
Der Pfeifer in mir spielte schrill, und mir war es gleich, ob ich fuhr oder nicht fuhr, ich löste eine Fahrkarte, zweihundertfünfzig Lire, und von dem vierzehntägigen Lohn, den ich gerade bezogen hatte, blieben mir noch hundert Lire in der Tasche. Ich betrat den Bahnhof, ging zwischen die Lichter, zwischen die hohen Lokomotiven und die herumschreienden Gepäckträger, und nun brach eine lange Nachtfahrt an, die für mich das gleiche war wie zu Hause sein, an meinem Tisch im Wörterbuch blättern oder mit meiner Mädchen-Frau im Bett liegen.
Ich war auf der Reise, und gegen Mitternacht stieg ich in Florenz um, gegen sechs Uhr früh stieg ich in Roma Termini noch einmal um, und gegen Mittag kam ich in Neapel an, wo es nicht regnete, und überwies meiner Frau telegraphisch fünfzig Lire. »Komme Donnerstag zurück«, telegraphierte ich ihr.
Dann fuhr ich im Zug durch Kalabrien, es begann wieder zu regnen, Nacht zu werden, und ich erkannte die Fahrt wieder, mich als Kind auf meinen zehn Fluchtversuchen von zu Hause und von Sizilien, hin und her durch dieses Land voll Rauch und Tunnels und unbeschreiblichen Pfiffen des Zuges, der nachts im Schlund eines Berges hält, am Meer, mit Namen aus uralten Träumen, Amantea, Maratea, Gioia Tauro. So war auf einmal eine Maus in mir keine Maus mehr, sondern Geruch, Geschmack, Himmel, und der Pfeifer spielte einen Augenblick lang wohllautend, nicht mehr klagend. Ich schlief ein, ich erwachte und schlief wieder ein, um aufs neue zu erwachen, bis ich schließlich an Bord des Fährboots nach Sizilien war.
Das Meer war schwarz, winterlich, und auf der Hochebene des oberen Decks stehend, erkannte ich mich als Knaben wieder, in regnerischer Morgenfrühe dem Winde trotzend und das Meer verschlingend, auf die eine oder die andere der beiden Küsten zu, mit ihren Trümmerhaufen, Städten, Dörfchen, zu seinen Füßen zusammengedrängt. Es war kalt, und ich erkannte mich als Knaben wieder, der frierend, aber trotzig auf der hohen Plattform im Winde ausharrte, senkrecht über der Fahrt und dem Meer.
Übrigens konnte man sich nicht rühren, das Schiff war voll kleiner Sizilianer aus der dritten Klasse, die hungrig und sanftmütig froren, ohne Mantel, die Hände in den Hosentaschen, den Rockkragen aufgestellt. Ich hatte in Villa San Giovanni etwas zu essen gekauft, Brot und Käse, und aß auf dem Deck mit Lust und Appetit, Brot, rauhe Luft, Käse, weil ich in diesem Käse den alten Geschmack meiner Berge erkannte und sogar ihre Gerüche, Ziegenherden, Rauch von Wermutstauden. Die kleinen Sizilianer sahen mir, die Schultern unterm Wind gebeugt und die Hände in den Taschen, beim Essen zu, sie waren dunkel im Gesicht, aber sanftmütig, mit einem Viertagebart, Arbeiter, Taglöhner aus den Orangenpflanzungen und Eisenbahner mit den grauen, rotbordierten Mützen der Streckenarbeiter. Ich lächelte ihnen beim Essen zu, und sie sahen mich ohne Lächeln an.
»Es geht doch nichts über unseren Käse«, sagte ich.
Niemand antwortete mir, alle sahen mich an, die Frauen von umfangreicher Weiblichkeit auf großen Säcken mit ihren Habseligkeiten sitzend, die Männer stehend, klein und wie versengt vom Wind, die Hände in den Taschen.
Und ich sagte wieder: »Es geht doch nichts über unseren Käse.«
Weil ich plötzlich begeistert war von etwas, von diesem Käse, ihn im Mund zu spüren, zwischen dem Brot und der scharfen Luft, den weißen und dennoch herben Geschmack von einst, mit Pfefferkörnern wie jähen Feuerfunken in jedem Bissen.
»Es geht doch nichts über unseren Käse«, sagte ich zum drittenmal.
Da fragte mich einer der Sizilianer, der kleinste und sanftmütigste, der gleichzeitig am dunkelsten im Gesicht und am meisten vom Wind versengt war: »Ja, seid Ihr denn auch Sizilianer?«
»Warum nicht?« antwortete ich.
Der Mann zuckte die Schultern und sagte nichts mehr. Er hatte eine Art kleines Mädchen, das auf einem Sack zu seinen Füßen saß. Er neigte sich über sie und zog eine große rote Hand aus der Tasche und berührte sie gleichsam liebkosend, während er gleichzeitig ihren Schal zurechtzog, damit ihr nicht kalt würde.
An dieser Bewegung merkte ich irgendwie, daß das kleine Mädchen nicht seine Tochter, sondern seine Frau war, und unterdessen näherte sich Messina, es war nicht mehr ein Trümmerhaufen am Meeresrand, sondern Häuser und Molen und weiße Straßenbahnen und Reihen von schwarzen Waggons auf weiten Terrains voller Schienen. Der Morgen war regnerisch, aber es regnete nicht, auf dem Verdeck war alles naß, und der Wind wehte naß, und die Pfiffe der Dampfschiffe klangen naß, und wie wässerige Pfiffe klangen die Pfiffe der Lokomotiven vom Land herüber, aber es regnete nicht, und auf einmal sah man hinter dem Schornstein mitten im winterlichen Meer den hohen Leuchtturm auf der Fahrt nach Villa San Giovanni vorbeiziehen.
»Es geht doch nichts über unseren Käse«, sagte ich.
Alle stehenden Sizilianer hatten sich der Reling zugewandt, um zur Stadt hinüberzuschauen, und auch die Frauen, die auf den Säcken saßen, hatten den Kopf gewandt, um hinzuschauen. Doch niemand rührte sich, um auf das untere Deck zu gehen und sich zur Ausschiffung bereitzumachen; es war noch Zeit. Ich erinnerte mich gut, daß es vom Leuchtturm zum Landungsplatz fünfzehn Minuten und mehr dauerte.
»Es geht doch nichts über unseren Käse«, sagte ich.
Inzwischen aß ich fertig, und der Mann mit der Kleinmädchenfrau bückte sich noch einmal und kniete sich sogar hin; zu seinen Füßen stand ein Korb, und während sie ihn beobachtete, begann er etwas an dem Korb zu tun. Der war mit einem Stück Wachstuch bedeckt, das mit Bindfaden rundherum am Korbrand angenäht war, und ganz sachte fädelte er ein Stückchen auf, steckte die Hand unter das Wachstuch und holte eine Orange hervor.
Sie war weder groß noch besonders schön, nicht von leuchtender Farbe, aber es war eine Orange, und schweigend, ohne sich von den Knien zu erheben, bot er sie der Kleinmädchenfrau an. Die Kleinmädchenfrau schaute mich an, ich sah ihre Augen unter der Kapuze des Schals, und dann sah ich sie den Kopf schütteln.
Der kleine Sizilianer schien verzweifelt, er kniete vor ihr, eine Hand in der Tasche, in der anderen die Orange. Dann stand er auf und blieb so stehen, während der Wind ihm den weichen Mützenschirm gegen die Nase schlug, die Orange in der Hand, ein von der Kälte versengter kleiner Mensch ohne Mantel und ganz verzweifelt, während im Regenmorgen das Meer und die Stadt senkrecht unter uns vorbeizogen.
»Messina«, sagte eine Frau klagend; und es war ein sinnlos hingesprochenes Wort, bloß eine Art Klage; und ich sah zu, wie der kleine Sizilianer mit der Kleinmädchenfrau verzweifelt die Orange schälte und sie verzweifelt, in rasender Wut aß, wie er sie ohne Appetit und ohne zu kauen hinunterschlang, als fluchte er, die Finger in der Kälte von Orangensaft triefend, unterm Wind gebeugt, den weichen Mützenschirm auf die Nase gepreßt.
»Ein Sizilianer ißt niemals am Morgen«, sagte er plötzlich.
Er fügte hinzu: »Seid Ihr Amerikaner?«
Er sprach voller Verzweiflung, aber voller Sanftmut, wie er auch die ganze Zeit sanft geblieben war, während er die Orange verzweifelt schälte und verzweifelt aß. Die letzten drei Worte sagte er erregt, im Ton schriller Spannung, als wäre es unerläßlich für seinen Seelenfrieden, zu wissen, daß ich Amerikaner wäre.
»Ja«, sagte ich, als ich das sah. »Ich bin Amerikaner. Seit fünfzehn Jahren.«
Es regnete auf der Mole der Stazione Marittima, wo der kleine Zug, den ich nehmen sollte, wartete; und von der Schar der Sizilianer, die dem Fährboot entstiegen waren, gingen manche, den Rockkragen aufgestellt, die Hände in den Taschen, quer über den Platz im Regen davon; manche blieben und standen mit Frauen und Säcken und Körben unbeweglich unter dem Bahnsteigdach, wie vorhin an Bord.
Der Zug wartete darauf, daß man die Waggons anhängte, die auf der Fähre übers Meer gekommen waren, und das war ein langwieriges Manöver. Ich fand mich aufs neue neben dem kleinen Sizilianer mit der Kleinmädchenfrau, die wieder auf dem Sack zu seinen Füßen saß.
Diesmal lächelte er, als er mich sah, und dabei war er doch verzweifelt, die Hände in den Taschen, in der Kälte, im Wind, aber er lächelte mit dem Mund, unter dem Schirm der Stoffmütze hervor, der ihm das halbe Gesicht zudeckte.
»Ich habe Cousins in Amerika«, sagte er. »Einen Onkel und Cousins …«
»Ah, so?« sagte ich. »Wo? In New York oder in Argentinien?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Vielleicht in New York. Vielleicht in Argentinien. In Amerika.«
So sagte er und fügte hinzu: »Woher seid Ihr?«
»Ich?« sagte ich. »Ich bin in Syrakus geboren …«
Und er sagte: »Nein … Woher in Amerika seid Ihr?«
»Aus … aus New York«, sagte ich.
Darauf schwiegen wir einen Augenblick. Ich sah ihn auf meine Lüge hin an, und er sah mich aus seinen Augen an, die unter dem Mützenschirm verborgen waren.
Dann fragte er beinahe zärtlich: »Wie geht’s in New York? Gut?«
»Reich wird man dort nicht«, antwortete ich.
»Ist das wichtig?« sagte er. »Es kann einem ohne Reichsein gutgehen … Das ist sogar besser …«
»Vielleicht«, sagte ich. »Auch dort gibt’s Arbeitslosigkeit.«
»Und was ist mit der Arbeitslosigkeit?« sagte er. »Es ist nicht immer die Arbeitslosigkeit, die schlimm ist … Das ist es nicht … Ich, ich bin nicht arbeitslos.«
Er wies auf die anderen kleinen Sizilianer ringsum.
»Keiner von uns ist arbeitslos. Wir arbeiten … In den Orangengärten … Ja, wir arbeiten.«
Er hielt inne, änderte den Ton, setzte hinzu: »Seid Ihr wegen der Arbeitslosigkeit zurückgekommen?«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin für ein paar Tage hergekommen.«
»Eben«, sagte er. »Und Ihr eßt am Morgen … Ein Sizilianer ißt nie am Morgen.«
Und er fragte: »Essen in Amerika alle Leute am Morgen?«
Ich hätte »Nein« sagen können und daß auch ich gewöhnlich am Morgen nichts aß, und daß ich viele Leute kannte, die vielleicht nicht öfter als einmal am Tage aßen, und daß es überall in der Welt das gleiche wäre, und so weiter, doch ich durfte ihm über ein Amerika, wo ich nie gewesen war, nichts Schlechtes sagen, und es ging ja letzten Endes gar nicht um Amerika, um nichts Wirkliches, Tatsächliches, sondern um seine Idee vom Himmelreich auf Erden. Ich durfte nicht, es wäre nicht recht gewesen.
»Ich glaube schon«, antwortete ich. »Auf die eine oder andere Art.«
»Und zu Mittag?« fragte er weiter. »Essen in Amerika alle Leute zu Mittag?«
»Ich glaube schon«, sagte ich. »Auf die eine oder andere Art …«
»Und abends?« fragte er. »Essen in Amerika alle Leute zu Abend?«
»Ich glaube schon«, sagte ich. »Besser oder schlechter …«
»Brot?« fragte er. »Brot und Käse? Brot und Gemüse? Brot und Fleisch?«
Voller Hoffnung sprach er zu mir, und ich konnte ihm nicht mehr »Nein« antworten.
»Ja«, sagte ich. »Brot und andere Dinge.«
Und er, der kleine Sizilianer, blieb ein Weilchen stumm in seiner Hoffnung, dann schaute er auf die Kleinmädchenfrau, die unbeweglich, dunkel, ganz zugeschlossen auf dem Sack zu seinen Füßen saß, und wurde verzweifelt; und verzweifelt, wie vorhin an Bord, bückte er sich und schnürte den Strick am Korb ein Stückchen auf, zog eine Orange hervor und hielt sie verzweifelt, noch gebückt auf eingeknickten Knien stehend, seiner Frau hin, und als sie sie wieder wortlos zurückwies, stand er mit der Orange in der Hand verzweifelt und gedemütigt da und begann sie für sich zu schälen und selber zu essen, schlang sie hinunter, als würde er Verwünschungen hinunterschlingen.
»Man ißt sie auch als Salat«, sagte ich, »hier bei uns.«
»In Amerika?« fragte der Sizilianer.
»Nein«, sagte ich, »hier bei uns.«
»Hier bei uns?« fragte der Sizilianer. »Mit Öl angemacht?«
»Ja, mit Öl«, sagte ich. »Und eine Knoblauchzehe und Salz …«
»Und mit Brot?« fragte der Sizilianer.
»Freilich«, antwortete ich, »mit Brot. Das habe ich immer gegessen. Vor fünfzehn Jahren, als Junge …«