cover

Verlagstext

Seit über sechzig Jahren leben Frank und Wendell zusammen – nach außen hin als Brüder, das Versteckspiel ist ihnen längst in Fleisch und Blut übergegangen. Nach dem Ende seiner Militärzeit war Frank irgendwann in Wendells Laden aufgetaucht, und von da an kam er jeden Tag wieder. Wie flirtet man mit einem Mann? In den 1940er Jahren wusste man das nicht so genau. Doch die beiden finden zueinander und suchen sich schließlich ein Häuschen, weit abgelegen von jeder Nachbarschaft, ohne Kontakt zu Freunden und Familie. Rückblickend gesteht Frank seinem Freund: «Manchmal habe ich mir so sehr gewünscht, ein Teil dieser Welt zu sein.»

Mit zurückgenommener, ungemein eindringlicher Sprache erzählt Matthew Griffin von dieser lebenslangen Liebe. Emanzipation, Schwulendiscos und CSD-Paraden haben für Frank und Wendell nie eine Rolle gespielt, ihr Leben fand fern jeder menschlichen Gesellschaft statt – und deshalb sind beide dem Anderen das «Ein und Alles»: stur, verbockt, schrullig und zärtlich. Ein unvergessliches Buch.

Über den Autor

Matthew Griffin (Jg. 1984) wurde in North Carolina geboren; er lebt mit seinem Ehemann und vielen Haustieren in New Orleans. «Im Versteck» ist sein erster Roman.

Matthew Griffin

Im Versteck

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von
Joachim Bartholomae

Männerschwarm Verlag

Hamburg 2016

Für meine Großeltern

Eins

Gott weiß, wie lange er da draußen schon gelegen hat: lang ausgestreckt mitten im Gemüsegarten. Als ich die Einkäufe in die Küche trage, sehe ich ihn durch das Fenster über der Spüle in der prallen Sonne liegen. Ich bin nicht mehr als eine Stunde fort gewesen. Ich stelle die Tüten hin und gehe schnell zur Hintertür. Zwei weitere Tüten liegen noch im Wagen.

«Frank», rufe ich, «alles in Ordnung mit dir?»

Er sagt kein Wort, bis ich mich über ihn beuge und mein Schatten sich auf ihn legt, seine Brust, das karierte Hemd und den Boden. Ohne zu blinzeln, schaut er hoch, direkt in die Sonne. Er hat drei oder vier Tomatenpflanzen unter sich zerdrückt, und ihre silbern-pelzigen Ranken ringeln sich um seine Arme und Knie, als versuchten sie ihn ins Erdreich hineinzuziehen. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, hat er einen der Pflanzstöcke zerbrochen und zwei weitere aus dem Boden gerissen.

«Mir geht’s gut», sagt er. «Musste mich nur mal ein Weilchen hinlegen.»

«Mitten ins Tomatenbeet?»

«War wohl zu lange in der Sonne», sagt er. Er nuschelt undeutlich wie ein Betrunkener.

«Lächle mal», sage ich. Ein Mundwinkel wandert nach oben, doch der andere bewegt sich nicht; er verzerrt das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.

«Kannst du die Arme heben?»

Er hebt beide an, doch einer sackt sofort wieder hinunter, vom Lehmboden angezogen wie von einer energischen, unsichtbaren Hand. Ich greife nach der anderen und drücke sie. Seine Finger riechen nach grünen Tomaten.

«Du bleibst schön liegen», sage ich und gehe so schnell wie möglich zurück in die Küche; von dort rufe ich den Krankenwagen. Die Frau in der Telefonzentrale macht nicht den Eindruck, als würde sie sich beeilen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie Doughnuts isst. Alles, was sie sagt, klingt fettig. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie Franks Namen und Adresse notiert hat.

«Und bitte kommen Sie schnell», sage ich. «Es ist ein Notfall.»

«Das sagen sie alle, Sir.»

Das Telefon ist an der Wand befestigt. Ich lege nicht auf, lasse den Hörer am Kabel über dem Fußboden pendeln, falls sie den Anruf nachverfolgen wollen, um uns zu finden – es würde mich nicht besonders wundern, wenn sie unsere Adresse falsch notiert hätte –, und bringe Frank ein Glas Wasser nach draußen. Ich führe es an seine Lippen, aber dann fällt mir ein, dass er vielleicht nicht richtig schlucken kann, wenn nur noch eine Seite von ihm funktioniert. Er könnte ersticken, bevor sie kommen, um ihn abzuholen, denn er ist so schwer, dass ich ihn alleine kaum auf den Bauch drehen könnte. Schnell ziehe ich das Glas von seinen Lippen zurück, bevor er einen Schluck nehmen kann, aber ihm scheint das ohnehin egal zu sein, er sieht mich nur mit diesem leicht benebelten Gesichtsausdruck an. Seine alte blaue Baseball-Mütze ist weit nach hinten gerutscht und ihm fast ganz vom Kopf gefallen. Er setzt sie so locker auf, dass sie ihm jeder Windstoß vom Kopf pusten kann, und oft passiert das auch, weshalb er dauernd damit beschäftigt ist, seiner Mütze hinterherzulaufen. Aber er kann es nicht leiden, dass etwas seinen Schädel einengt.

«Nun ja», sagt er, wie um nach einer längeren Pause einen abgerissenen Gesprächsfaden wiederaufzunehmen.

«Hast du Schmerzen?»

Er zieht die Augenbraue, die er bewegen kann, in die Höhe. Dabei verschiebt sich auch seine Mütze. «Die eine Hälfte fühlt sich komisch an. Als ob sie gar nicht richtig da wäre.»

Ich nehme ihm die Mütze vom Kopf. Das innere Hutband ist schweißdurchtränkt und der Stoff an manchen Stellen blassgrün verfärbt. Mir kommt es wie zwei Stunden vor, dass ich neben ihm in der prallen Sonne stehe und ihm mit der Mütze Luft zufächere, die stickige Luft zu einer ziemlich armseligen Brise verquirle, die kaum stark genug ist, dass seine weißen Haare sich ein wenig bewegen. Die ganze Zeit lächelt er mit einem schiefen Grinsen zu mir herauf, von dem ich eine Gänsehaut kriege.

«Hör auf zu lächeln», sage ich. «Ich kriege davon eine Gänsehaut.»

Der emporgezogene Mundwinkel rutscht langsam wieder nach unten, in Richtung Kinn.

«Draußen ist es jetzt viel zu warm. Du hättest hier überhaupt nicht arbeiten sollen.» Er ist dreiundachtzig, verdammt noch mal. Ein Dreiundachtzigjähriger hat an einem solchen Tag in der Mittagszeit draußen nichts zu suchen. Ich bin sicher, es hat eine Hitzewarnung gegeben, damit die Leute ihre Haustiere und älteren Angehörigen im Haus behalten, im Schutz der Klimaanlagen. Und natürlich hat er seine Hemdsärmel nur bis zur Hälfte des Unterarms aufgekrempelt: niemals einen Zentimeter höher, auch nicht in der prallen Sommerhitze.

Der Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Ich hasse Schweiß.

Schließlich ist von der Straße das Jaulen der Sirene zu hören, und auf dem Kiesweg, der zwischen den Bäumen hindurch zum Haus führt, knirschen die Reifen des Krankenwagens. Die Sonne blendet so stark, dass ich nicht einmal das rotierende Blaulicht erkennen kann; unsichtbar gleitet es über das Laub und die weißen Vinylpaneele der Hauswand. Ich öffne das Holztürchen zum Garten und führe die Sanitäter zu ihm. Panik zuckt über seine gelähmten Gesichtszüge, als sie sich über ihn beugen.

«Mit mir ist alles in Ordnung», sagt er, «hab nur zu viel Sonne abgekriegt», bevor sie auch nur das Stethoskop auf seine Brust setzen und ihn nach seinen Symptomen fragen können.

«Sie können wieder gehen», sagt er.

Erst nach längerem Hin-und-hergezerre gelingt es den beiden, ihn vom Boden aufzuheben und auf eine Trage zu betten. Die Tomaten an seinem Rücken bluten wie Schusswunden. Ich leere das Wasserglas über den zerdrückten Pflanzen; der Boden färbt sich dunkel, bis das Wasser nach und nach versickert.

«Kommen Sie mit?», brummt einer der Sanitäter, als sie die Trage in den Krankenwagen schieben. Ihr Anblick ist mir unangenehm, diese dicken, schmierigen Schnauzbärte über den feuchten Mündern, und wenn möglich meide ich enge, geschlossene Räume wie diesen Krankenwagen. Alles ist voller Keime, und wer weiß, was für Schleim und nässende Wunden sie schon berührt haben.

Als sie ihm die Sauerstoffmaske über Mund und Nase ziehen, starrt Frank mich verängstigt mit aufgerissenen Augen an.

«Warten Sie einen Moment», sage ich.

Die Wagentür steht noch weit offen und das Alarmsignal piept; auf der Rückbank liegen zwei Einkaufstüten, die hineingetragen werden müssen. Ich schließe die Tür, gehe zurück zum Krankenwagen und lasse mir von einem der Sanitäter beim Einsteigen helfen. Frank und ich vermeiden, uns zu oft anzuschauen. Sie schließen die Tür und fahren schnell den Weg hinunter. Zischend graben die Reifen Furchen in den Kies, und das Heulen der Sirene folgt uns; als das Haus schon längst hinter den Bäumen verschwunden ist, scheint sie noch immer in unserem Garten zu jaulen.

Im Krankenhaus erzähle ich der erschöpften Frau am Empfang, dass ich sein Bruder bin. Erspart uns die Hässlichkeit gewisser Auseinandersetzungen. Die ersten Male, als ich das gemacht habe, war ich ganz unruhig und nervös und dachte, dass sie mich durchschauen, aber inzwischen denke ich kaum noch darüber nach. Manchmal macht es mir sogar ein wenig Spaß.

«Würden Sie sich bitte ausweisen», sagt sie. Ihr Kittel ist über und über mit tanzenden Bären bedruckt.

Ich greife zur Gesäßtasche und tue so, als merkte ich gerade, dass meine Brieftasche nicht da ist. Mein Nachname steht klar und deutlich in meinem Führerschein, wie es üblich ist, seit so viele Menschen auf dieser Welt leben, dass wir fotografische Beweise dafür verlangen, dass man seine Identität nicht erfunden oder jemand anderem gestohlen hat. Und Brüder müssen den gleichen Nachnamen haben. Zumindest war das so, bevor Frauen mit so vielen Männern sie wollten Kinder bekommen konnten, ohne dass ihre Familie sie rauswarf.

«Ach herrje», sage ich, klopfe auf die anderen Taschen meiner Hose und wühle darin herum. «Herrje, tut mir leid, ich fürchte, ich habe … in der Aufregung …»

Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. «Wir sagen Bescheid, wenn Sie zu ihm können», sagt sie. Die Verwirrten-Nummer funktioniert meistens. Frauen, die so unhöflich sind, einen älteren Herrn nach seinem Ausweis zu fragen, fehlt meistens auch die Geduld, seine nachlassenden Fähigkeiten zu ertragen. Sie zeigt mir den Weg zum Wartezimmer, wo ich zwischen hustenden, besorgten und leise weinenden Menschen Platz nehme. Eine Familie hat einen großen Kreis gebildet. Sie halten sich an den Händen, und einer nach dem anderen spricht demonstrativ eine Art von Rundgebet. Ich hasse Krankenhäuser. Sie sind so voller Pietät und Geflüster, die Luft ist kalt und schal, und allein der Geruch des Jods, das sie auf all die gelblich-welken Handgelenke schmieren, würde ausreichen, dass einem übel wird, wenn man nicht schon krank wäre. Um in Frieden zu Hause sterben zu können, muss man Opfer eines Gewaltverbrechens werden.

Ich blättere ein wenig in den zerknickten Zeitschriften, die auf dem Tisch liegen, aber die Seiten fühlen sich vom Schweiß vieler Hände und anderen Ausscheidungen so schmierig an, dass ich mich davor ekle, sie anzufassen. Nach einer ganzen Weile kommt ein Arzt in den Raum geschlendert. So wie er aussieht –, helle, funkelnde Augen und glänzendes Haar, das bestimmt stundenlang gestylt wurde, damit es so zerzaust wirkt –, ist er höchstens zwanzig Jahre alt. Jeder im Raum hält ein mit dem, was er gerade tut, und sieht ihn an, voller Hoffnung oder Furcht, dass der eigene Name aufgerufen wird. Der Gebetskreis hebt seine multiplen Gesichter in verzückter Erwartung.

«Mr Clifton?»

Ich nicke und stemme mich aus dem Stuhl in die Höhe. Das geht nicht mehr so schnell, wenn ich lange gesessen habe.

«Hallo», sagt er, etwas zu enthusiastisch für meinen Geschmack, und streckt mir die Hand entgegen. Er sieht wie einer von diesen Typen aus, die gewohnt sind, von allen gemocht zu werden. «Ich …»

«Wie geht’s ihm?»

«Na ja», sagt der Arzt, «er hatte einen leichten Schlaganfall.»

«Das weiß ich. Wie geht’s ihm?»

«Sein Zustand ist stabil, aber wir …»

«Lag’s an der Hitze? Ich hab ihm gesagt, er soll bei dieser Hitze nicht rausgehen.»

«Die Hitze hat wahrscheinlich dazu beigetragen. Aber soweit ich sehe, war es nur eine Frage der Zeit, bis eine der Arterien schlappmachte.» Er sagt das alles so nett und freundlich, als würde er mit einem Kind reden. «Wir haben ihn jedenfalls erst einmal an den Tropf gehängt und pumpen ihn voll mit Abflussreiniger, also müsste bald wieder alles in Ordnung sein. Doch eine Weile wird er noch im Krankenhaus bleiben müssen.»

«Aber er wird wieder gesund?»

«Oh, na klar. Ganz bestimmt wird’s ihm wieder besser gehen. Es ist noch etwas zu früh, um zu sagen, wie viel besser. Aber Sie haben ihn ja sehr schnell hergebracht, also …»

Ich warte, dass er den Satz zu Ende spricht. Er lächelt mich freundlich an.

«Wie lange praktizieren Sie schon?», frage ich.

«Wir machen uns auch ein wenig Sorgen wegen seines Herzens.»

«Sein Herz? Sein Herz ist tipptopp. Er hat erst vor ein paar Jahren eine neue Klappe bekommen.»

Er schreibt etwas auf seinem Klemmbrett, als wäre ihm das neu, obwohl Frank ein Silberarmband am Handgelenk trägt, auf dem das eingraviert ist, und obwohl dieses Krankenhaus eine Akte über ihn führt, die so dick ist wie sein Handgelenk.

«Hat er früher schon Probleme mit dem Herzen gehabt?»

«Natürlich hat er das. Er hatte einen Herzinfarkt. Warum sollte man ihm sonst eine neue Herzklappe einsetzen?»

Auch das notiert er sich, den Kopf tief über sein Klemmbrett gebeugt. Als er ihn wieder hebt, sagt er, «Das erklärt so manches. Wirklich so manches. Wir müssen noch ein paar Untersuchungen machen, um ganz …»

«Sie können untersuchen, was Sie wollen», sage ich, «aber sein Herz funktioniert bestens. Es wurde schon behandelt. Über sein Gehirn sollten Sie sich Gedanken machen.»

«Alles klar», sagt er und lächelt in sich hinein, höchst amüsiert über meine Dummheit, und tippt dann zweimal mit dem Stift auf sein Klemmbrett, als wollte er mit diesen Schlägen das offizielle Ende der Besprechung verkünden. «Sie können jetzt zu ihm gehen. Zimmer 214, den Gang hinunter und um die Ecke.» Konkret bedeutet das, den Gang hinunter, um die Ecke und durch ein Labyrinth von Türen und Abzweigungen; ich brauche zehn Minuten und die herablassende Hilfe von zwei Krankenschwestern, um ans Ziel zu kommen. Überall an den Wänden der Flure stehen leere Betten und elektrische Apparate, deren tote Monitore nichts mehr überwachen.

Wie er da im Bett liegt, wirkt er so faltig und dünn, die Haut farblos wie die verschlissenen Krankenhauslaken, in die man ihn gewickelt hat, dass ich mich erst einmal am Türrahmen festhalten muss. Seine Wangen sind eingesunken, als würden die Knochen ihnen keinen Halt geben, und alle paar Sekunden flattern sie leicht mit dem Atem. Seine Hand hängt kraftlos über der Bettkante, und am Handrücken sind Schläuche angebracht – direkt in den knotigen purpurfarbenen Venen – wie Verlängerungskabel, die man durch kleine Schlitze aus seiner Haut herausgezogen hat.

Ich setze mich neben dem Bett auf einen Stuhl und lege die Hand auf seinen Unterarm. Die Haare darauf fühlen sich staubig und trocken an. Auf der anderen Seite des tristen rosa Vorhangs, der den Raum trennt, hört man jemanden wimmern.

«Da bin ich», sage ich, aber Frank hört mich nicht. Er schläft und schläft.

Ich sitze neben dem Bett und schaue ihn an, während das letzte Sonnenlicht dahinschwindet, das von der anderen Seite auf den Vorhang scheint, und die grauen, fluoreszierenden Lichter scheinbar immer heller werden und den Raum sterilisieren. Im Fernsehen kommt Win, Lose, or Paw, eine Gameshow, in der es darum geht, wie gut sich Haustiere und ihre Eigentümer verstehen. Es ist seine Lieblingssendung. Doch er rührt sich nicht, dreht nicht einmal den Kopf, und seine Hand baumelt leblos hinab.

Eine schwarze Krankenschwester kommt herein, um nach ihm zu sehen; sie ist groß und dünn. «Möchten Sie etwas zu essen?», fragt sie mit einem Blick auf den Pegelstand der Kochsalzlösung im Infusionsbeutel.

«Nein, vielen Dank.» Ich esse nichts, was aus einem Krankenhaus kommt, vor allem nicht das pürierte Zeug, das die Kranken bekommen. Sie nimmt sein Handgelenk und drückt zwei Finger dagegen. Ihre Lippen zählen leise mit, während sie den Wirrwarr der Tattoos betrachtet, die sich von seiner Schulter bis zum Unterarm ranken. Im wachen Zustand hätte er sofort versucht den Arm unter dem Bettlaken zu verstecken.

«Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen», sagt sie. «Sie sehen schon fast so erschöpft aus wie er.»

«Mir geht’s gut», sage ich. «Ich muss hier sein, wenn er aufwacht.»

«Die haben ihm ordentlich was verpasst», sagt sie. «Er wird die ganze Nacht schlafen.»

Ich weiß nicht, wie sie es schafft, zur selben Zeit zu zählen und zu reden, aber sie scheint der erste Mensch zu sein, den ich heute treffe, der wirklich weiß, was er tut. Ich deute mit dem Kopf auf ihre Finger an seinem Handgelenk. «Kann das nicht auch die Maschine machen?»

«Es gibt Sachen, die merkt die Maschine nicht.»

Ich hatte gedacht, die Maschinen würden alles merken. Ich dachte, die Welt der Zukunft würde aus lauter Robotern bestehen, wohin man auch blickt, und sie würden sämtliche Arbeiten übernehmen, damit man sich nie wieder Sorgen zu machen braucht, weil man auf etwas so Schlampiges und Fehlbares angewiesen ist wie das menschliche Wesen.

Sie sieht auf die Uhr, lässt sein Handgelenk los und schreibt seinen Puls und ein paar Hieroglyphen mit rotem Filzstift auf ein Whiteboard an der Wand.

«Ich bleibe noch ein wenig», sage ich. «Für alle Fälle.»

Sie nickt. «Aber übernehmen Sie sich bloß nicht schon gleich zu Anfang, okay? Sie werden in den nächsten Wochen noch oft genug hier sein.»

«Wochen?»

Sie nimmt seine andere Hand, die bisher über die Bettkante gehangen hatte, und legt sie neben seinem Körper auf das Laken.

«Danke», sage ich. Etwas rumort in meiner Brust und steigt mir in den Hals.

«Sagen Sie Bescheid, wenn Sie was brauchen», sagt sie sanft und verschwindet hinter dem Vorhang.

Ich erwache um acht Uhr morgens auf der Liege neben seinem Bett. Der Nacken tut mir weh, und alles um mich her sieht hell aus, als läge es in sonnigem Dunst. Frank liegt noch genauso da wie am Abend, nicht einmal den Arm hat er bewegt.

Eine andere Schwester kommt herein, um nach ihm zu sehen. Diese hat ein rotes Gesicht und ist in Eile.

«Er hat sich nicht bewegt», sage ich.

«Er ruht sich aus», sagt sie.

«Liegt er im Koma?»

«Nein», sagt sie. «Er liegt bestimmt nicht im Koma.»

«Warum hat er sich dann nicht bewegt?»

«Er ruht sich aus.»

«Ich glaube, er liegt im Koma. Sie müssen jemand holen, der ihn untersucht. Leuchten Sie mit der Taschenlampe in seine Augen.»

Sie sticht mit einer Spritze in seinen Infusionsschlauch. Ich beuge mich so weit vor, dass ich sehen kann, ob sie auch keine Luftblasen hineinpumpt.

Auf der anderen Seite des rosa Vorhangs stöhnt jemand.

«Der Mann braucht Ihre Hilfe», sage ich, aber sie fummelt nur an der Plastikklammer herum, die sie auf Franks Mittelfinger gesteckt haben. «Das hört sich ernst an.» Um sein Stöhnen zu übertönen, schalte ich den Fernseher an, der hoch oben an der Wand angebracht ist und aussieht, als würde er jeden Augenblick auf uns herunterkrachen. Schließlich trottet sie hinter den Vorhang. In den Morgennachrichten wird eine Suchmeldung nach einem acht Monate alten Jungen durchgegeben, der in Virginia vermisst wird, nur ein paar Stunden von hier entfernt. Seine Mutter hatte ihn in die Wiege gelegt, um ein Bad für ihn einzulassen, und als sie zurückkam, war er verschwunden. Sie blenden immer wieder die Textzeile Haben Sie den kleinen Larry gesehen? ein, schwarz auf gelbem Grund, wie das Plastikband, das die Polizei benutzt, um einen Tatort abzusperren; darüber ein Bild des Jungen, eingewickelt in eine blaue Decke, er sieht aus wie jedes andere Kind auf dieser Welt.

Der Nachrichtensprecher sagt, die Wiege habe sich noch bewegt.

Eine Hand legt sich schwer auf meinen Arm. Ich drehe mich um, und Franks Augen sind offen, trübe, aber bei Bewusstsein; er blickt sich im Raum um.

«Wo sind wir?», fragt er, sehr langsam.

«Im Krankenhaus», sage ich.

«Was? Das ist doch Unsinn.»

«Schau dich um. Was meinst du denn …»

«Wie lange bin ich schon hier?»

«Seit gestern Nachmittag.»

«Hast du den Garten gewässert?»

«Natürlich», lüge ich.

«Gut. Pass auf, dass das Unkraut nicht überhandnimmt.» Er tätschelt kraftlos meine Hand und lächelt, der eine Mundwinkel bewegt sich schnell, der andere folgt ihm langsam. Er holt tief Luft und dämmert wieder weg.

Ich ziehe meine Hand zurück.

«Schwester», rufe ich. «Schwester.»

Seit zwei Tagen ist er hier, und schon wird er zappelig. Sie haben noch eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt und ihn in ein Einzelzimmer verlegt; kaum kann er aufrecht sitzen, das Essenstablett vor der Brust, da fragt er schon, «Wann kann ich nach Hause?»

«Du kommst ja nicht mal alleine aus dem Bett», sage ich.

«Mir geht’s gut.»

«Das hast du vorgestern auch gesagt. Als dein Gehirn nicht mehr durchblutet wurde.»

«Tu mir den Gefallen», sagt er und schaut böse. Er lallt noch immer ein wenig, die Worte klingen irgendwie aufgequollen. Dass er in aller Öffentlichkeit so mit mir redet, muss an den Medikamenten liegen. Nach seiner Herzoperation war ich mir beinah wie ein furchterregendes Monster vorgekommen, so beharrlich hatte er vermieden mich auch nur anzublicken.

«Hier sind zu viele alte Leute», sagt er und lugt argwöhnisch aus der Tür. «Die ganze Nacht lang haben sie sie vor meiner Tür hin und her geschoben.»

«Wie willst du das wissen? Du warst die ganze Zeit durch die Schlafmittel bewusstlos.»

«Das Quietschen der Räder hört man noch im Traum», sagt er.

Aus Angst vor der Nutzlosigkeit zittern seine Hände auf dem Laken und sein Kiefer kaut unsichtbare Speisen. Er selbst scheint das nicht zu merken.

«Der Arzt wird gleich für einen Moment vorbeikommen», sage ich. «Du musst dein Mittagessen aufessen.»

«Ich weiß nicht einmal, woraus mein Mittagessen besteht.» Jedes Fach auf seinem Plastiktablett ist mit einem andersfarbigen Mus gefüllt. «Ernähren sie mich denn nicht schon damit?» Er greift nach dem Bündel Schläuche, die vom Tropf hängen. Die farbige Krankenschwester hatte sie mit einem Klettband zusammengebunden, damit er sich nicht darin verheddert.

«Das ist nur Zuckerwasser», sage ich. «Iss. Du musst zu Kräften kommen. Je schneller das geht, desto eher können wir nach Hause. Mein Hintern ist schon ganz wund, weil ich den ganzen Tag auf diesem Stuhl sitze.»

Er sieht mutlos aus, nimmt aber den Löffel. Seine Finger zittern so sehr, dass sie ihn kaum halten können. Und das ist die gesunde Hand. Die andere kann er noch nicht einmal zur Faust ballen.

«Wovor hast du Angst?», sage ich. «Dem Apfelmus?»

Er blickt zornig auf seine Finger, als könnte er sie mit einem strengen Blick zur Ruhe zwingen, und schließt sie, entschlossen und fest, um den Griff des Löffels. Er bekommt sie unter Kontrolle, aber es sieht aus, als hätte er das Zittern hinauf ins Handgelenk gepresst: Seine ganze Hand zuckt so heftig vor und zurück, dass die Hälfte in seinem Schoß liegt, bevor er mit dem Löffel den Mund erreicht. Er wird wohl eine Zeit lang einen Latz tragen müssen.

Ich habe die Polizeinachrichten eingeschaltet; die Mutter des kleinen Larry gibt eine Pressekonferenz und zeigt Phantomzeichnungen eines fremden Mannes, den sie an den Tagen, bevor ihr Baby verschwand, mehrmals gesehen hat – als er so tat, als würde er auf dem Parkplatz ihres Wohnhauses einen Busch beschneiden, am Getränkeautomaten im Waschcenter, in einem Fenster im dritten Stock der verlassenen Zigarettenfabrik gegenüber von ihrem Schlafzimmer.

«Oh», sagt Frank. Er richtet sich aus eigener Kraft im Bett auf, um besser sehen zu können. Morde, Entführungen und solche Sachen begeistern ihn. Der Verdächtige hat dunkle Augen und ist glatt rasiert, sein schwarzes Haar ist mit Haaröl sorgfältig aus der blassen Stirn nach hinten gekämmt und hängt an der einen Seite gerade herunter, so wie ich sie früher auch getragen habe.

«Sie hat es getan», sagt Frank.

«Glaubst du?»

«Sieh doch, wie viel Make-up sie trägt.» Das Make-up ist so dick auf ihr Gesicht gespachtelt, dass am Kinn die Kante zu sehen ist, wo es aufhört; die Haut über der Kante hat eine völlig andere Farbe als die Haut darunter. Ihr blondes Haar hat sie zu Locken gedreht und mit Haarspray fixiert, als würde sie zu einer schicken Party gehen, und die oberen drei Knöpfe ihrer engen Bluse sind offen; es ist reiner Zufall, dass ihr Büstenhalter nicht zu sehen ist. Mascara läuft in wolkigen schwarzen Tränen ihre Wangen hinunter und hinterlässt tiefe Schneisen im Rouge.

«Wenn das nicht das Gesicht der Schuld höchstpersönlich ist», sagt er, «was ist es dann?»

«Bitte», sagt sie, «wenn jemand diesen Mann gesehen hat, gehen Sie zur Polizei. Und wenn dieser Mann jetzt zuschaut, bitte, bringen Sie mein Baby zurück. Bringen Sie den kleinen Larry heim, ich bitte Sie. Ich werde auch … Ich tue alles, was Sie wollen. Alles. Ich will nur meinen kleinen Jungen zurück. Das ist alles.» Ihr Gesicht verzieht sich zu einem Schluchzen. Sie muss sich am Pult festhalten, um nicht zu Boden zu sinken.

«Sieh doch, wie sie weint», sage ich.

«Willst du etwa sagen, dass du ihr glaubst?»

«Natürlich tue ich das. Niemand, der so viel Wert auf sein Aussehen legt, zeigt sich ohne Grund so verheult im landesweiten Fernsehen.»

Er seufzt. «Von solchen Sachen hast du noch nie besonders viel verstanden.»

Der Sheriff legt ihr den Arm um die Schultern und führt sie vom Podium zu einer Gruppe von Deputys, die sie gegen die Kameras abschirmen.

«Ich glaube nicht, dass sie es war», sage ich.

«Es war immer die Mutter. Wer außer einer Mutter würde ein Verbrechen an einem Baby begehen? Niemand anderes nimmt Babys so wichtig, um ihnen etwas anzutun. Bevor die Woche um ist, sitzt sie im Knast.»

«Willst du wetten?»

«Worum könnten wir schon wetten? Du hast nichts, was ich haben will.»

Noch zwei Löffel Apfelmus, und er schläft wieder ein. Im Fernsehen zeigen sie weiterhin das leere Podium. Schließlich klopft ein Arzt leise an die offene Tür. Er sieht so aus wie der andere, ist aber älter und wirkt unerklärlicherweise noch selbstzufriedener, als wären dreißig Jahre in einer Nacht an ihm vorbeigezogen und jedes von ihnen hätte ihn in seinem unerschütterlichen Glauben an seine Fähigkeit und Intelligenz bestärkt. Mein Nacken schmerzt, weil ich zu lange nach oben zum Fernseher geschaut habe.

«Wie geht es ihm?», flüstert er, lauter, als wenn er gesprochen hätte.

Ich stehe auf und gehe zur Tür, damit wir Frank nicht wecken. «Ich dachte, das würden Sie mir sagen.»

Er schenkt dem ganzen Raum ein selbstgefälliges, gutmütiges Lächeln.

«Wer sind Sie?», frage ich.

«Der Kardiologe.»

«Ich kann mich nicht an Sie erinnern. Wann haben Sie ihn untersucht?»

«Gar nicht. Das war der Radiologe.»

«Und wo ist der Radiologe?»

Er lächelt noch einmal dasselbe Lächeln, doch dieses Mal nur für mich allein.

«Wir haben eine gründliche Konsultation geführt», sagt er.

Man hat nicht mehr nur einen einzigen Arzt, einen Menschen, der alles weiß, was es zu wissen gibt. Sie teilen uns immer weiter auf, in kleine und kleinere Teile, und zugleich erfinden sie immer kleinere Apparate, um uns zu behandeln. Man hat einen Herzspezialisten, den Lungenmann, den Verdauungsmann, den Hautmann, den Gehirnmann, und am Ende ist man nichts weiter als eine Ansammlung von Organen, die sie separat an Bedürftige verteilen können, wenn man ein Organspenderformular ausfüllt. Die Frau von der Krankenkasse hat mich richtig böse angeschaut, als ich erklärte, dass ich meine Organe behalten möchte.

«Wir haben es hier mit einem Fall von Kardiomyopathie zu tun», sagt der Arzt und blättert in einem Stapel von Tabellen und Untersuchungsergebnissen. «Genauer gesagt dilatative Kardiomyopathie.» Nachdem ich ihn eine Sekunde lang angestarrt hatte, in der Hoffnung auf etwas, das man im allerweitesten Sinn als Erklärung bezeichnen könnte, fügt er hinzu, «Eine Vergrößerung des Herzens. Eine Schwächung.»

«Ich habe dem jungen Arzt schon gesagt, dass er eine neue Herzklappe bekommen hat. Wie kann sein Herz dann …»

«Einerseits ist das nicht so schlimm, wie es sich anhört», sagt er. «Im Grunde haben wir es nur mit einem abgenutzten Herzen zu tun. Einem verbrauchten Herzen.»

«Er wird älter? Ist es das, was Sie sagen wollen?»

«Einerseits», sagt er und lächelt ermutigend.

«Und was ist die andere Seite?»

Er presst die dicken, glänzenden Lippen zusammen und bläst die Backen wie ein Frosch mehrmals nacheinander auf, während er darüber nachdenkt, wie er das, was er zu sagen hat, hübsch verpacken kann. «Angesichts seines hohen Blutdrucks, des hohen Cholesterinspiegels und der verengten Arterien muss sein Herz sehr stark arbeiten und hat dadurch wahrscheinlich ein paar kleinere Schäden davongetragen. Deshalb dehnen sich die Muskeln – sie dilatieren –, und das vermindert die Fähigkeit des Herzens, sich …»

«Ich habe ihn hergebracht, damit Sie seinen Schlaganfall behandeln. Kommen Sie jetzt nicht mit hundert neuen Problemen, um die wir uns Sorgen machen müssen.»

«Nun ja», sagt er, «es hängt alles zusammen.» Er hakt die Finger beider Hände ineinander.

«Wie lange muss er noch hierbleiben?»

«Das müssen Sie mit dem Neurologen besprechen.»

«Und was ist mit seinen Händen? Es sieht aus, als hätte er eine Art Lähmung. Können Sie etwas dagegen tun?»

Er spitzt den Mund und schiebt die Lippen erst nach links, dann nach rechts. «Hier.» Er zieht die Röntgenbilder von Franks Brustkorb aus dem Ordner. In einem Käfig gespenstischer, durchsichtiger Rippen hängt vor schwarzem Hintergrund sein Herz wie eine ausgestopfte Socke am Brustbein. Damals, als Fancy noch lebte, einer unserer Beagles, nahm Frank manchmal eine alte weiße Socke, steckte ein paar andere alte Socken ganz tief hinein und spielte mit der Hündin Tauziehen. Nach ein paar Runden ließ er los, damit sie sie zerfetzen konnte. Später brauchte er eine halbe Stunde, um die Fäden herauszuziehen, die zwischen ihren Zähnen und unter der Zunge hängen geblieben waren. Sie lag einfach nur in seinem Schoß und ließ ihn machen, ohne zu knurren oder dergleichen, und die Socke hing währenddessen über der Armlehne des Stuhls, zerrissen, schlaff und vom Speichel durchnässt: So sah sein Herz in seinem Brustkorb aus.

«Was wir hier sehen, ist sein Herz», sagt der Arzt.

«Das ist mir klar.»

«Nun, dann ist Ihnen sicher auch klar, dass der Muskel das Herz schwächt, wenn er sich so weit dehnt. Das verursacht weitere Schäden. Es ist ein schrecklicher Kreislauf. Das Herz kann das Blut nicht mehr auf die Art pumpen, wie es sollte, und das führt in der Regel zu einem dauerhaften Herzversagen.»

«Kann man ihn operieren? Ihm einen Schrittmacher oder so etwas einsetzen? Eine neue Herzklappe? Oder eine Herztransplantation?»

«In diesem Stadium ist eine Operation nicht unbedingt das Mittel der Wahl. Vor allem am offenen Herzen. Fürs Erste stellen wir seine Medikamente neu ein, erhöhen die Blutverdünnung und die Statine. Wenn er auf sich achtet, könnte er noch viele Jahre leben.»

«Könnte?»

«Ich habe Schlimmeres gesehen», sagt er, «wirklich Schlimmeres. Aber: Ich habe auch Besseres gesehen. Sie müssen wirklich darauf achten, dass er sich nicht anstrengt. Das Letzte, was Sie erleben wollen, wäre, dass er das da zu sehr belastet.» Er tippt auf das Röntgenbild. «Wir wollen natürlich, dass er aktiv bleibt; das ist sehr wichtig. Entscheidend. Achten Sie darauf, dass er so viel wie möglich herumläuft, damit sein Blut zirkuliert. Nur eben nicht zu viel. Er soll sich nicht anstrengen. Haben Sie noch Fragen?»

Bronchien ranken sich um sein Herz wie kahle Äste im Winter. Ich schüttele den Kopf.

«Also gut», sagt er und zieht eine Visitenkarte aus der Tasche, als wäre es eine verbotene Droge. «Ich sollte ihn mir in einem Monat wieder ansehen. Vereinbaren Sie am besten schon jetzt einen Termin, bevor wir ausgebucht sind.» Und damit stolziert er den Gang hinunter, um einem anderen wartenden Kunden ein paar Krümel seines Wissens zuzuwerfen.

Leise gehe ich zurück ins Zimmer. Frank liegt im Bett und schläft tief, seine Kiefer bewegen sich lautlos, und in seiner Brust verbraucht sich langsam sein Herz. Ich kann ihm keine Vorwürfe machen. Es musste hart arbeiten, um das Blut durch einen so großen Mann zu pumpen, ohne je eine Pause zu bekommen. Selbst im Moment vor der Kontraktion, wenn es sich unter meiner Hand so anfühlt, als wäre es zur Ruhe gekommen, öffnet es sich wieder für neues Blut und bereitet sich darauf vor, sich selbst auszuwringen.

Bei Einbruch der Dämmerung bringt die farbige Krankenschwester sein Abendessen und stellt das Tablett neben sein Bett. Flüsternd verspreche ich ihr, dass ich alles tun werde, damit er etwas zu sich nimmt. Draußen kommt eine Brise auf, der Wind bläst so gleichmäßig, dass sich die Blätter an den Bäumen nicht mehr bewegen und ihre silbrigen Unterseiten konstant nach oben halten, als wäre das ihre natürliche Stellung. Am Horizont ist der Himmel so rot wie die Schminke der Frau im Fernsehen. Ich öffne das Fenster, auch wenn ich nicht weiß, ob das hier drinnen erlaubt ist. Der warme Wind fühlt sich gut an. Im Krankenhaus ist es immer kühl. Als ich zurück zu seinem Bett schlurfe, hat sich Frank bereits hingesetzt. Sein Hemd flattert im Wind. Etwas verwirrt sieht er aus dem Fenster, bis ihm wieder einfällt, wo er sich befindet.

«Seemannstod», sagt er.

Sein Haar ist so dünn, dass man auf seinen blassen, fleckigen Schädel hindurchsehen kann. Oberhalb des Brustkorbs, im Ausschnitt seines eierschalenfarbenen Papier-Nachthemds, sieht man die Narbe, die blassweiße Linie, wo sie ihn das vorige Mal aufgeschnitten und wieder zugenäht haben.

Er runzelt die Stirn. «Wie war das noch mal, warum ist Abendrot des Seemanns Tod

«Ich habe keine Ahnung.»

«Warum nicht? Du bist doch mit Schiffen und so was aufgewachsen.»

«Iss etwas», sage ich und schiebe das Tablett in seine Richtung: Spinatmus, Maismus und Kartoffelmus, und ein Gelee, das so rot ist wie der Himmel, mit Stücken von Pfirsich, Birnen und geschälten, halbierten Trauben darin, die aussehen wie die Fingerspitzen von jemandem, der zu lange im Wasser gewesen ist.

«Ich hasse dies rote Zeug», sagt er.

«Das sind gemahlene Pferdehufe. Was spielt die Farbe für eine Rolle?»

«Man schmeckt die Farbstoffe, die sie verwendet haben.»

«Das schmeckt man nicht.»

«Ich schmecke sie. Ich schmecke die Chemikalien.» Er starrt auf seinen Teller, der Pudding liegt da wie der Klumpen seines alten, müden Herzens. «Sieht aus wie Morgenrot», sagt er und seufzt.

«Morgenrot bringt Schiff in Not

«Gibt es was Neues über Larry?»

«Nein. Aber sie haben es geschafft, zwei ganze Stunden darüber zu sprechen, dass es keine neuen Entwicklungen gibt.»

«Für einen so kleinen Kerl ist das ja eine ganz schön große Story», sagt er, und bei dem Wort groß wandern seine Augenbrauen fröhlich nach oben.

«Ich hätte fragen sollen, ob sie etwas gegen deinen schrecklichen Humor tun können, wo du schon mal hier bist.»

«Ich glaube, was das angeht, bin ich im finalen Stadium», sagt er kichernd. «Dafür gibt’s keine Heilung.»

Ich lege die Hand auf das Laken, gleich neben seinem Bein, doch ohne es zu berühren.

«Und du hast wirklich nie danach gefragt, was diese Redensart zu bedeuten hat?», sagt er.

«Nein», sage ich, «habe ich nicht.»

Mein offensichtlicher Mangel an Wissbegierde entlockt ihm ein enttäuschtes Grummeln. Dann konzentriert er sich und schnippt mit dem Mittelfinger gegen den Geleepudding. Die Birnen, Pfirsiche und Weintrauben im Innern schaukeln sacht.

Zwei

Als ich ihn das erste Mal sah, wischte ich mir gerade das Blut von den Händen. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, und ein verspäteter Wintersturm hatte die ganze Stadt, Häuser und Bäume und die ersten grünen Knospen des zaghaften Frühlings, mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Die Stadt sah aus wie eine zerbrechliche Kostbarkeit im Museum, die man nicht mit schmutzigen Hände berühren durfte. Das Eis lastete schwer auf den Stromkabeln, und in Erwartung des großen Knalls hielten die Bäume und Straßen und Bürgersteige den Atem an. Doch in den letzten Minuten des Nachmittags, als die Bäume sich wie dunkle, flache Schatten vor dem Himmel abzeichneten, begann das Eis zu tauen und bildete Tropfen, die so schwer und ruhig hinabhingen, dass es schien, als würden sie niemals fallen.

Ich ging gerade zum Schaufenster, um das Ladenschild von Offen auf Zu umzudrehen – obwohl in den drei Tagen, die der Sturm gewütet hatte, niemand einen Fuß in den Laden gesetzt hatte und ich aus purer Langeweile schon angefangen hatte Eichhörnchen die Haut abzuziehen –, und wischte mir mit einem alten Lappen die Finger ab, um das Schild nicht schmutzig zu machen; und da war er, mitten auf der Straße stand er zwischen den Gleisen, die zum Straßenbahndepot an der Ecke führten. Er trug einen alten Mantel, der ein paar Nummern zu klein war, sodass die Manschetten kaum bis zu den kräftigen, knorrigen Handgelenken reichten. Er war so ziemlich der größte Kerl, den ich je gesehen hatte, und die enge Jacke zwängte seine breiten Schultern arg zusammen. Er trug weder Handschuhe noch Hut, und seine Wangen waren rau und gerötet; sein blondes Haar war dünn und glatt, nur eine Stirnlocke kringelte sich wie verwelkt über der Augenbraue.

Man sah, dass er gerade erst aus dem Krieg zurückgekehrt war. Hoch aufgerichtet stand er da, als erfüllte ihn die Welt um ihn herum mit anhaltender Verwunderung, und er sah sich in der langsam tauenden Landschaft um, als suchte er nach vertrauten Dingen.

Es wurde dunkel, aber das vom Schnee reflektierte Licht leuchtete hellrosa am Himmel über den Häusern. Er hielt beide Hände vor den Mund und hauchte sie an, bevor er sie, so tief es ging, in die Manteltaschen steckte. Der Schein der Straßenlaternen sickerte kalt durch das Schaufenster, doppelt destilliert durch Eis und Glas.

Ich öffnete die Tür, und der Lärm schlug wie eine Flutwelle über mir zusammen. Von überall her hörte man Schneebretter von den Dächern krachen und das Knirschen und Stöhnen von schmelzendem Eis.

Ich rief, «Entschuldigen Sie, suchen Sie etwas?»

Überrascht drehte er sich um. «Nö, nichts Besonderes.»

«Oh.» Ich steckte den Lappen, mit dem ich das Blut abgewischt hatte, in meine Gesäßtasche. «Ich dachte, Sie hätten sich verlaufen.»

Er schüttelte den Kopf und kam ein paar Schritte auf mich zu; er musste sich bücken, um unter dem Ast einer Ulme hindurchzukommen. Unter seiner Stiefelsohle brach die dünne Eisschicht auf dem Schnee, und kleine Splitter blieben in seiner Khaki-Hose hängen und schoben sie über die Fußgelenke nach oben. Er schaute den Falken auf dem verknöcherten Ast im Schaufenster an, und die Schlange, die sich um einen Stamm schlängelte, und sie starrten gelassen zurück. Sein Mantelkragen war zur Hälfte abgerissen, und die Nähte auf seinen Schultern waren so gespannt, dass man jeden einzelnen Faden sehen konnte, der versuchte den Stoff zusammenzuhalten. Er streckte mir die Hand entgegen; sie war riesig, mit langen, kräftigen Fingern und Knöcheln so groß wie Walnüsse.

«Frank Clifton», sagte er. Von einem Eiszapfen tropfte Wasser auf einen Schneehaufen zu seinen Füßen.

«Wendell Wilson.» Ich schüttelte seine Hand kräftiger als nötig und wünschte mir, ich hätte keine schwarzen Ränder unter den Nägeln. Sein Ärmel rutschte noch weiter den Unterarm hinauf und unter der Manschette kam eine dunkle Zeichnung zum Vorschein.

«Schön, Sie kennenzulernen», sagte er mit einem so breiten und ernsten Lächeln, dass ich glaubte, ich müsste ohnmächtig zu Boden sinken, so wie Sterbliche zu Boden sanken, wenn Zeus in seiner gleißenden Göttlichkeit vor ihnen erschien und seine schmerzliche Herrlichkeit sie in ein Häufchen Asche verwandelte. Die Zweige schüttelten ihre Eislast ab, und auch die Stromkabel befreiten sich, sie reckten sich knallend und schleuderten Brocken ihrer eisigen Ummantelung über die Straße. Schneebretter rutschten von den Dächern, Eiszapfen stürzten von den Regenrinnen und zerbrachen. Das Brechen und Splittern und Prasseln machte ein Getöse, als bräche die Welt aus den Fugen.

Drei

Wir sind jetzt in der Reha-Klinik, einem Backsteingebäude im billigen Teil der Innenstadt, wo früher die Baumwollplantagen und Spinnereien waren. Den ganzen Tag sitzen bleiche Pfleger vor der Tür und rauchen, wodurch das Ganze noch mehr den Eindruck einer zwielichtigen Entzugsanstalt für obdachlose Junkies hervorruft als ohnehin schon. Frank bekommt seit zwei Wochen Physiotherapie, eher gegen die Folgen der Bettlägerigkeit als des Schlaganfalls selbst. Es ist schwer, einen Körper wieder in Bewegung zu setzen, wenn er sich erst einmal an die Ruhe gewöhnt hat: Atrophie war das Wort, das der Arzt gebrauchte. Seine Muskeln sind atrophiert.

Natürlich muss Frank es allen, die ihm helfen wollen, so schwer wie möglich machen; so wie er die Schwestern behandelt, wundere ich mich, dass sie nicht aufgeben und ihn einfach seinem Schicksal überlassen. Man merkt, dass er über den Berg ist, weil er sofort auf Distanz geht, sobald jemand hereinkommt; er behandelt mich, als wäre ich Luft. Die Schwestern setzen ihn auf die Bettkante und stellen die Gehhilfe direkt vor seine Knie. Sie versuchen ihn auf beiden Seiten an den Ellbogen zu stützen, aber er stößt sie zurück.

«Ich soll doch nur ein paar Schritte gehen», sagt er. «Dazu brauche ich keine Hilfe.»

Er beugt sich vor, nimmt die Griffe des Gestells und verlagert sein gesamtes Gewicht auf die Arme, sodass die vier Aluminiumbeine, die als Teleskopstangen konstruiert sind, um sie in der Höhe verstellen zu können, wackeln und schwanken, als würden sie unter ihm zusammenbrechen.

«Gut», säuseln die Schwestern, «sehr gut.»

«Kaum zu glauben», sagt Frank. «Ein erwachsener Mann hat es geschafft, allein aus dem Bett aufzustehen. Wirklich ein Wunder der modernen Medizin.»

Der Physiotherapeut, auch er ein Mann in mittleren Jahren mit noch festerem und fröhlicherem Glauben an die eigenen Fähigkeiten, stolziert in den Raum.

«Guten Tag, Mr Clifton», sagt er, doch Frank beachtet ihn nicht – überraschenderweise verachtet er die Ärzte noch mehr als ich – und schlurft durch den Raum; die Gummikappen der Gehhilfe quietschen und wetzen über die Kacheln, und er macht dazu ein finsteres Gesicht, das nicht versucht seine Abneigung zu verbergen.

«Und jetzt zeigen Sie uns bitte, wie Sie ein Buch aus dem Regal nehmen», sagt die Schwester. Frank streckt die Hand nach der welligen, ungestrichenen Spanplatte aus, die man mit Metallwinkeln an der Wand befestigt hat, nimmt einen der zerfledderten, verstaubten Liebesromane herunter und knallt ihn so heftig in ihre Hand, dass sie ihn fallen lässt.

«Soll ich es jetzt auch noch wieder aufheben?», fragt er.

«Ich glaube, Mr Clifton ist so weit, nach Hause zu gehen», sagt der Therapeut, der sich neben mich gestellt hat.

«Nach Hause?», frage ich. «Wann?»

«Schon morgen, würde ich sagen.»

«Meinen Sie nicht, dass er etwas mehr Zeit braucht? Seine Hände sind noch immer …»

«Von jetzt an wird er zu Hause schnellere Fortschritte machen, als es hier möglich wäre.»

«Ich glaube, es ist noch zu früh.»

«Ich kann mir vorstellen, dass Sie den Gedanken beunruhigend finden», sagt der Therapeut, «aber er braucht keine aufwendige Unterstützung mehr. Er ist bestimmt in guten …»

«Deswegen mache ich mir keine Sorgen. Ich glaube nur, dass er selbst noch nicht bereit ist.»

Frank schubst die Gehhilfe zurück in Richtung Bett.

«Wollen Sie vorher noch auf die Toilette?», fragt eine der Schwestern.

«Wenn ich zur Toilette muss, stehe ich auf und gehe hin», erwidert Frank.

Sie runzelt die Stirn und schaut auf ihr Klemmbrett. «Und wann hatten Sie das letzte Mal Stuhlgang?»

«Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck.»

Der Therapeut wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu.

Der rote Backsteinschornstein der Spinnerei draußen vor dem Fenster wirkt so unglaublich hoch und schmal, dass man kaum glauben kann, dass er noch immer steht und nicht schon vor hundert Jahren eingestürzt ist. Man hat mit dunklen Backsteinen das Wort Konföderation darauf geschrieben, einen riesigen Buchstaben über dem anderen. Sie hieß Konföderierte Spinnerei; Frank hat fünfunddreißig Jahre dort gearbeitet. Jetzt stehen die Gebäude leer, und die Steine am oberen Rand des Schornsteins sind abgebrochen und hineingefallen; die Fenster sind schwarz und zerbrochen. Man meint, jeden Moment könnten hinter den Glasscherben ein pomadisierter Haarschopf und dunkle Augen zum Vorschein kommen.

«Geben Sie mir noch zwei Tage», sage ich.

«Abgemacht», sagt der Therapeut. Er stolziert hinüber zu Frank, sagt, «Gut gemacht!», und hebt die Hand für ein High Five.

Frank wirft ihm einen finsteren Blick zu, dreht sich um und legt sich ins Bett.

An der Treppe zur Veranda stütze ich ihn am Ellbogen. Es ist nur eine flache Stufe, aber er muss sich mit einer Hand am Geländer und der anderen an meiner Schulter festhalten, um sich hochzuhieven; sein Gewicht drückt mich beinah zu Boden. Sie haben sein Gleichgewicht noch nicht wieder hingekriegt, er schwankt bei jedem Schritt hin und her. Ich lasse den Ellbogen kurz los, um die Haustür aufzuschließen, und er geht bis zum Ende der Veranda und beugt sich vor, um zu sehen, wie die Kamelien an der Hauswand wachsen; dabei schwankt er wie einer dieser Wolkenkratzer, die entwickelt wurden, um bei Gewitter und Erdbeben nachzugeben, und so stark vor und zurück pendeln, dass man glaubt, sie müssten im nächsten Moment einstürzen. Bereits vom Zuschauen wird mir ganz anders.

«Mach schon», sage ich und er schlurft zur Tür, ohne die Füße von den Bodendielen zu heben; dabei hält er sich am Geländer fest. «Nimm doch die Gehhilfe.» Die Schwestern haben sogar Tennisbälle aufgeschlitzt und auf die Füße gesteckt, damit sie leichter über den Boden gleiten, aber er weigert sich sie zu benutzen.

«Warum haben sie mir nicht einfach einen Stock gegeben?», sagt er. «Mit Stock macht man wenigstens noch einen halbwegs respektablen Eindruck. Mit diesem Metallgestell komme ich mir vor, als würde ich benebelt durch die Flure einer Klapsmühle torkeln.»

«Pass auf, wo du hintrittst.» Er muss sich konzentrieren, um einen Fuß nach dem anderen über die Türschwelle hinwegzuheben.

«Und das Ding ist viel zu niedrig», sagt er. «Um mich festzuhalten, muss ich mich so weit runterbeugen, dass ich beinah hinfalle.»

«Das ist nicht wahr. Das ist nachweislich nicht wahr.»

Er lässt den Türrahmen los. «Ich muss doch nur ein Stück gehen. Und das kann ich nachweislich ganz gut.»

Es ist dunkel und stickig im Bau; über jeder Tür strecken Rehe die Köpfe aus der Wand; über dem Gasofen hängt eine Wachtel im Flug, und hinter der alten Milchkanne, die wir als Schirmständer benutzen, schaut ein Waschbär hervor. Wir haben ganz schön viele Präparate, das stimmt, zu viele auf zu engem Raum, aber Sie würden sich wundern, wie viele Leute einem ein ganz wundervolles Exemplar zum Ausstopfen vorbeibringen und es dann nicht abholen. Die meisten habe ich an andere Leute verkauft, aber ein paar konnte ich einfach nicht loswerden, oder sie waren mir inzwischen ans Herz gewachsen. Zwischen all den Tieren und den holzgetäfelten Wänden kommt man sich vor, als verstecke man sich auf der Flucht vor den Gesetzeshütern im Wald. Aber Frank klopft sich auf die Schenkel und ruft, «Na, ist das die Möglichkeit!», als hätte er noch nie so etwas Schönes gesehen, und geht schnurstracks durch den Raum, um sich in seinen Lehnstuhl plumpsen zu lassen. Ich öffne alle Jalousien und lasse das träge Nachmittagslicht hereinsickern, aber die Luft scheint dadurch nur noch schwüler zu werden, es ist, als wäre das Haus komplett in Bernstein eingeschlossen. Frank sieht sich um und seufzt zufrieden.

«Na, ist das die Möglichkeit», sagt er noch einmal, dieses Mal leiser, nur für sich selbst.