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Begegnungen mit dem Leibhaftigen

Reportagen aus der heilen Schweiz

Lukas Fierz

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978-3-7345-3982-4 (Hardcover)
978-3-7345-3983-1 (e-Book)

Begegnungen mit
dem Leibhaftigen

Reportagen aus der heilen Schweiz

Lukas Fierz

Inhalt

Vorbemerkung

Im Führerstand

Bei mir gibts keine Geheimnisse

Immer am Sonntag

Der Fisch

Ein paradoxes Geschenk

Der Experte

Der Taucher

Der vermutete Teufel

Eine jämmerliche Scharade

Nicht sein Tod

Die Sumpfweid

Alle heissen Hase

Die Militärmaschinen warten

Der Bär

Jawoll, Herr Doktor

Die dritte Front

Der Turm

Die Falschspieler

Die Gräfin

Der Untergang des weissen Mannes

Wahrlich, ich sage Euch

Der Leibhaftige

Nachbemerkung

Faktencheck

Vorbemerkung

Es empfiehlt sich, die Geschichten in der Reihenfolge, wie sie im Buch sind, durchzulesen. Zwar sind sie einzeln verständlich, aber sie beziehen sich aufeinander und erst zusammen ergeben sie Sinn.

 

Palmström

… Und er kommt zu dem Ergebnis:

»Nur ein Traum war das Erlebnis.

Weil«, so schließt er messerscharf,

»nicht sein kann, was nicht sein darf!«

(Christian Morgenstern 1871-1914)

Im Führerstand

Einmal wurde ein Lokführer in die Sprechstunde geschickt, zugewiesen vom bahnärztlichen Dienst wegen Arbeitsunfähigkeit.

Offenbar hatte ein Selbstmörder sich ihm vor die fahrende Lokomotive geworfen. Vom Selbstmörder blieben nur Stücke.

Ich rief den Lokführer aus dem Wartezimmer. Zögernd erhob sich ein eher feingliedriger Mann mit sensiblem Gesicht, eher Geistesarbeiter oder Poet als Handwerker, kam scheu, etwas geduckt durch die Wartezimmertüre, schaute im Korridor wachsam nach rechts und links, wie wenn von überall Gefahr drohe, blieb auf der Schwelle zum Sprechzimmer stehen, rettete sich dann zum Stuhl, auf dessen Vorderkante er sich etwas schräg setzte, wie einer, der nicht wirklich auf diesem Stuhl sitzt und der ergeben ein Unheil erwartet.

Im Schreiben des Bahnarztes stand, dass er sechs Wochen nach dem Bahnunfall immer noch nicht arbeiten könne. Fahrversuche auf Nebenstrecken in Begleitung eines erfahrenen Kollegen seien an Angstzuständen, Schweissausbrüchen und Zittern gescheitert.

Ich erwähne diese Aussagen im Schreiben und frage vorsichtig, woran dies liege.

Nie werde ich die angstvoll aufgesperrten Augen dieses Lokführers vergessen, der langsam und leise berichtet, wie wenn er ein Geheimnis verrate »Es ist wegen der Toten«. Auf die Frage, was mit den Toten sei, stockt er wieder, blickt in eine Ecke und dann »Die Toten fahren mit«. Auf die Frage, wo und wie sie denn mitführen, schaut er sichernd um sich, wie wenn er etwas suche, dann leise: »Sie sind im Führerstand«. Auf die Frage, ob sie denn neben ihm stünden, »… Nein, sie sind in Stücken … im Führerstand, … da ein Bein … dort ein Arm … einmal ist ein Kopf auf meiner Schulter gesessen«. Seit Wochen sei das so. Er könne ihnen nicht entkommen. Er traue sich nicht mehr in die Lokomotive …

Die armen Selbstmörder. Sie mögen ja ihre Gründe haben. Aber wer sich vor den Zug wirft, sollte wissen, was er dem armen Lokführer antut. Die meisten Lokführer sind nach so einem Erlebnis schwer belastet. Viele sind nie mehr in der Lage, eine Lok zu führen. Wie dieser Lokführer.

Wir alle begegnen in unserem Leben Gespenstern. Nicht alle werden wir wieder los. Ein paar davon kommen in diesem Büchlein vor.

Bei mir gibts keine Geheimnisse

Diese Patientin war zu einer Unfallbegutachtung gekommen. Wir waren fertig. Zum Schluss meinte ich: Es gehe mich als Gutachter zwar wirklich rein nichts an, aber es interessiere mich privat. Ob sie mir erklären könne, wie man zu so einer Karriere als Edelprostituierte komme. Darauf sie, das könne sie schon. Ich ergänzte schnell, sie müsse wissen, dass ich wirklich keinerlei persönliche Erfahrung mit dieser Branche habe. Und sie mit einem nachsichtigen, ganz leise spöttischen Lächeln: Das sehe ich Ihnen an … Ich fühlte mich durchschaut und klein wie ein Oberstufen- oder sogar Unterstufenschüler.

Sie begann ihren Bericht in präzisem Schweizer Dialekt, sehr geordnet, mit differenzierter Wortwahl, ohne den geringsten ordinären Beiklang, eine Dame aus gutem Hause eben.

Ihre Eltern seien beide Musiker gewesen. Beide spielten in einem Symphonieorchester und hatten auch Dienste in der städtischen Oper. Beide waren Anthroposophen. Ihr Vater sei Geiger gewesen und habe sich früh für Barockinstrumente und historische Aufführungspraxis interessiert. Er habe Solokonzerte gegeben, zum Beispiel mehrmals das sehr schwierige und zwei Abende füllende Gesamtwerk für Violine solo von Johann Sebastian Bach aufgeführt.

Als sie Kind gewesen sei, hätten die Eltern oft am Nachmittag Probe für Opernaufführungen im Theater gehabt. Und wenn niemand zuhause war, sei sie an diesen Nachmittagen nach der Schule ins Theater gegangen. Sie habe ganz hinten im Orchestergraben ein Plätzchen mit einem Tischchen gehabt, neben dem Pauker. Dort habe sie die Hausaufgaben gemacht. Und dazwischen und danach habe sie mitverfolgt, was auf der Bühne geschah, viele grosse Opern, den fliegenden Holländer, den Falstaff, Othello, Figaro und Entführung.

Sie sah nicht mehr mich an, sie sah über mich hinweg leicht nach oben in die Ferne, immer noch das kleine Mädchen neben der Pauke, blickte auf ihre Bühne mit verklärtem Lächeln: Dort sei ihre Welt gewesen. Und immer habe sie sich als kleines und als heranwachsendes Mädchen gefragt, welche Frauenrolle sie dereinst im Welttheater zu übernehmen gedenke: Unglückliche Liebende? Opfer? Königin? Sie habe nicht zwischen Theater und Wirklichkeit unterscheiden können, sie suchte die Rolle ihres Lebens. Sie habe sich mit den Figuren identifiziert, innerlich mitgespielt und immer mehr habe sich ihr die Gewissheit verdichtet, dass ihre Rolle diejenige der Kokotte sein werde: Das schöne Leben des leichten Mädchens, welches alle lieben, welches jeden lieben kann, dabei viel Geld verdient und lebt in Saus und Braus.

Dieser Lebensentwurf sei für sie seit etwa dem fünfzehnten Lebensjahr festgestanden. Immerhin, sie habe die Matura gemacht. Und dann wolle man ja die Eltern nicht enttäuschen, sie habe auch eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen, wie es sich gehöre, damit die Eltern keine Sorgen haben müssten.

Aber mit dem Tag des Diploms habe sie aufgehört mit der bürgerlichen Existenz. Sie habe mit Hilfe von Freunden und der Bank ein schönes Haus in einer Vorstadt gekauft, alles wunderbar eingerichtet, ein richtiges kleines Edelpüffchen.

Die Frauen, die für sie gearbeitet hätten, seien oft gutbürgerlich verheiratet gewesen, seien am Nachmittag mit dem Handtäschchen gekommen, hätten sich aus- und umgezogen, ein paar Stunden gearbeitet und seien wieder gegangen.

Und die Männer? – Ja, die Männer. Also erstens habe sie kaum Kundschaft aus der Stadt selber gehabt. Männer schätzten es nicht, im Puff Arbeitskollegen zu treffen. Ihre Kundschaft sei hauptsächlich aus den übrigen grossen Schweizer Städten gekommen und auch aus Süddeutschland.

Die Männer, wissen Sie – jetzt schaute sie mich direkt und überzeugt an – und fuhr mit dem unvergesslichen Satz weiter: Wissen sie, die Frauen sind ja so blöd, die interessieren sich gar nicht für die Fantasien ihrer Männer. Ich darauf, was das denn für Fantasien seien? … Das sei eben die Aufgabe, das müsse man in jedem einzelnen Fall herausfinden.

Sie habe zum Beispiel einen Staatsanwalt als Kunden, der könne nur zum Höhepunkt kommen, wenn er zum Tode verurteilt sei. Ich konnte nicht ganz folgen: Wie, zum Tode verurteilt? Sie darauf: Ja zum Tode verurteilt mit Gerichtsverhandlung und Exekution. Ich darauf, wie denn das gehe? Sie fährt weiter: Wir haben die Gerichtsverhandlung inszeniert, ich war Anklägerin. Ich wieder, aber wofür hat man ihn denn angeklagt? Sie weiter: Das spiele eigentlich gar keine Rolle, irgendwas, zum Beispiel, dass er eine Wurst gestohlen habe. Es gab das Plädoyer der Anklage und das Plädoyer der Verteidigung, dafür habe sie eine sprachgewandte Mitarbeiterin eingesetzt. Danach habe er Gelegenheit für das Schlusswort des Angeklagten erhalten. Dann habe sich das Gericht zurückgezogen, sei nach einer gewissen Weile wieder erschienen und sie habe das Urteil verlesen: »Verurteilung wegen Diebstahls einer Wurst, zum Tode. Vollstreckung sofort«. Daraufhin habe die Scharfrichterin ihm den Kopf in eine eigens aufgebaute Guillotine eingespannt und die Veranstaltung zu Ende gebracht.

Ich war beeindruckt. Sie hätte wohl noch viele Geschichten auspacken können. Aber ich sagte ihr nur, da habe sie aber viel herausgefunden. Und sie spricht darauf, selbstgewiss und mehr für sich, den anderen unvergesslichen Satz: Ja, bei mir gibts keine Geheimnisse. Diese Frau war eigentlich wie eine analytische Psychiaterin. Sie nahm die Männer auseinander, sie riss Fassaden auf, sie inszenierte Träume. Und mit welchem Engagement, welcher Fantasie. Und die vorgespielten Oberflächen, die verlogenen Konventionen, mit Verachtung blickte sie durch diese hindurch, wie mit einem Röntgenblick, direkt auf die Wahrheit. Ich muss gestehen, ich entwickelte die gleiche Hochachtung vor ihr, wie ich sie auch für einen erfahrenen Psychiater oder einen virtuosen Chirurgen habe.

Das Kapital in diesem Beruf sei der eigene Körper. Der müsse topfit und schön sein. Sie habe deshalb immer Sport betrieben, regelmässig Reitsport, Springreiten und Dressur, in jüngeren Jahren sei sie dreimal hintereinander Schweizer Meisterin im Wildwasserfahren gewesen, im Kajak zwischen Felsen und durch Wasserfälle, manchmal habe es einen überschlagen, das sei was gewesen, kopfunter im reissenden, eiskalten Wasser.

Natürlich halte Schönheit nicht ewig. Wenn man in diesem Beruf älter werde, so wechsle man das Fach, da ziehe man sich nicht mehr aus. Das brauche eine feste Stimme, da trete man als Domina auf, in Leder und mit Reitpeitsche. Und die Direktoren müssten einem die Stiefel küssen.

Sie hält inne, wird ein wenig nachdenklich. Ihr jetziger Zustand sei nicht schön. Zugenommen habe sie, weil sie wegen der Schmerzen keinen Sport mehr machen könne. Sie möge sich nicht mehr im Spiegel anschauen. Aber – sie kramt in ihrer Handtasche – das müssen Sie sich ansehen, sie habe da ein Bild von sich, kurz vor dem Unfall. Ganz rührend war das, wie sie mir beweisen wollte, dass sie wirklich einmal schön gewesen war.

Sie klaubte das Foto hervor, eine kleine Sofortaufnahme aus einer Polaroidkamera. Da war sie, lässig an eine Theke gelehnt, schlank und rank, sah einen mit selbstbewusstem Blick an, mit ihrem schwarzen Bubikopf, engem schwarzen Lederanzug, high Heels und hochrot geschminkten Lippen. Das hatte Schmiss und Stil.

Ja, ein schönes Leben habe man als Kokotte. Sie sei oft in New York Kleider einkaufen gegangen, mit Freundinnen natürlich, die sie alle eingeladen habe. Mit der Concorde sei man geflogen, am Morgen hin und gleichentags zurück.

Ich wage mich an privatere Fragen: Ob man denn neben diesen Kunden auch echte Liebe kenne, also einen richtigen Freund habe? Selbstverständlich meint sie, aber nur einen wirklichen Freund, einen Zuhälter habe sie nie brauchen können. Für sie sei wichtig, dass ein Mann physisch schön sei, wie ein Tier. Sportler habe sie gehabt.

Und ich fragte weiter aus medizinisch biologischem Interesse: Man könne ja sicher mit vielen Männern ins Bett gehen, aber wirklich von Herzen lieben und im Herzen bewahren könne man doch nur einen? Sie darauf fast aufgebracht und von oben herab: Haben Sie eine Ahnung! Also, sie habe oft zwei gleichzeitig geliebt, oder auch drei aufs Mal. Das gehe ausgezeichnet! Bei mir entstand wieder das Gefühl, ein Unterstufenschüler zu sein.

Weil ihre Eltern Musiker waren und Musik einer meiner Lebensinhalte ist, frage ich sie auch noch danach. Sie liebt Musik, kennt Mozarts Jupitersymphonie und die wichtigsten Geiger. Irgendwie kam man auf einen grossen Musikmäzen und Dirigenten zu sprechen, den seinerzeit reichsten Schweizer. Sie darauf bedeutsam, „Ja der Paul, der hat einen tiefen Keller …“ Was immer das heissen mochte. Mehr sagte sie nicht. Da konnte noch viel verborgen sein, aber auch in diesem Beruf gilt Diskretion.

Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. Ich gestand ihr, dass ich ab und zu Geschichten schreibe. Und ihre Geschichte sei es vielleicht einmal wert, aufgeschrieben zu werden. Darauf sie in ihrem spitzen Dialekt: Wissen Sie, in meinem Beruf braucht man einen gewissen exhibitionistischen Zug, das stört mich gar nicht. Im Gegenteil. Schreiben Sie nur!

Ich habe dann ein Gutachten erstellt. Sie war durch einen unverschuldeten Unfall in einem Taxi schwer geschädigt und arbeitsunfähig. Die Versicherung zahlte ihr eine Million Franken Entschädigung. Sie zog in ein Häuschen nach Spanien, weil sie dort in der Wärme weniger Schmerzen hatte. Ich war stolz, dass es gelungen war, auch einer Aussenseiterin dieser Gesellschaft eine faire Abgeltung zu verschaffen. Das ist nicht selbstverständlich.

Ja stolz. Michel de Montaigne hat vor über vierhundert Jahren festgestellt, dass man nie wissen könne, ob etwas, das man für sich oder jemand anderen tue, am Schluss wirklich gut oder schlecht herauskomme. Er gibt dazu verschiedene Beispiele.

Und jetzt haben wir ein Beispiel mehr: Nach einigen Jahren erhielt ich den Anruf eines Freundes, dem ich die ganze verrückte Geschichte einmal erzählt hatte. Er sei heute mit der Eisenbahn von Luzern nach Hause gefahren. Ihm gegenüber habe einer den BLICK gelesen, das ist die Schweizerische Variante der BILD-Zeitung, gross gedruckt.

Wie es einem in der Eisenbahn so gehe, habe er die Zeitung von der Rückseite her angeschaut: Ein grosses Bild einer dekolletierten Frau mit schwarzer Federboa. Daneben der Titel: »Schweizer Millionärin (49) verschwunden, Freund sitzt wegen Mordverdacht«. Dazu stand im Text, dass sie nach einem Taxiunfall eine Entschädigung von einer Million erhalten habe und nach Spanien gezogen sei. Das könne doch nur die sein …

Es war sie. Ihr damaliger Partner hatte sie als vermisst gemeldet. Sie blieb ein Jahr lang verschwunden. Der Partner wurde verdächtig, als er versuchte, Geld von ihren Konten abzuheben. Bei einer Hausdurchsuchung fand man Blätter, auf denen er ihre Unterschrift geübt hatte. Er kam in Haft. Aber für eine Anklage und Verurteilung wegen Mordes brauchte es in Spanien eine Leiche. Die fehlte. Sie wurde fieberhaft gesucht.

Die Lösung erfuhr ich später, wiederum aus der Boulevardpresse: Der Mann, Theodor B., ein Chemiearbeiter aus Wesel, sei unter der Beweislast zusammengebrochen und habe gestanden. Man fand sie in einer Jauchegrube, erstochen und in einem Plastiksack verpackt. Der Täter kam ins Zuchthaus.

Den Glanz der Kameliendame, den Glanz der Traviata, diesen Glanz hatte sie gesucht und diesen Glanz hatte sie gefunden, gefunden auch deren elenden Tod. Das Schicksal der Kurtisane hatte sich vollendet.

Ja, aber eigentlich war die Ursache ihres Todes die Entschädigung, die ich ihr mit meinem Gutachten verschafft hatte. Kein Grund mehr, stolz zu sein.

Ich hatte seither immer das Gefühl, dass ich ihre Geschichte aufschreiben müsse. Sie verdiente ein Denkmal.

»… Schreiben Sie nur!«

Immer am Sonntag

Sie wurde von den Eltern in die Sprechstunde gebracht: Ein ziemlich übergewichtiger Backfisch von fünfzehn Jahren. Sie sass zusammengesunken auf ihrem Stuhl, sagte nichts und war wie abwesend.

Die Eltern erzählten: Vor drei Monaten sei sie mit dem Fahrrad gestürzt, kurz bewusstlos liegengeblieben. Sie sei mit Schürfungen an Kopf, Ellbogen und Knie nach Hause gebracht worden, hatte starke Kopfschmerzen und Übelkeit, einmal auch Erbrechen. Sie habe das Licht nicht vertragen und überhaupt meistens geschlafen. Der Hausarzt habe von einer Hirnerschütterung gesprochen.

Nach zehn Tagen sei es ihr besser gegangen. Aber seither habe sie immer wieder Kopfschmerzanfälle. Ihre früher seltene Migräne trete jetzt zwei oder drei Mal pro Woche auf, dann liege sie zuhause im Bett und erbreche. An die erfolgreiche Weiterführung des Gymnasiums sei so nicht zu denken.

Dass eine vorbestehende Migräne sich nach einem Schädeltrauma verschlimmert, ist nicht so selten. Dann braucht es eine Behandlung mit einem migränevorbeugenden Mittel. Die Eltern waren skeptisch, aber was wollte man machen? In diesem Zustand konnte das Kind nicht zur Schule gehen.

Die Behandlung wurde angefangen und richtig eingestellt. Wir hatten das Glück, dass die Migräneanfälle wieder sehr selten wurden. Das Mädchen konnte die Schule erfolgreich weiterführen. Es brauchte einfach täglich zwei Tabletten. Versuchsweises Absetzen der Behandlung führte zu Rückfällen. Deshalb brauchte es eine Dauerbehandlung und Jahreskontrollen.

So sah ich das Mädchen zu einer jungen Frau werden. Und was für eine entzückende junge Frau: Sie hatte graubraune Augen, mit denen sie so verschmitzt lächeln konnte wie eine schnurrende Katze. Sie hatte einen beschwingten Gang, rasche Bewegungen und Reaktionen und ihre kristallklare Sprache verriet eine spritzige Intelligenz. Und überhaupt, was für eine umwerfende Erscheinung: Wenn sie hereinkam ging buchstäblich die Sonne auf. Ich sah sie nur jedes Jahr für fünf Minuten. Auf diese Minuten freute ich mich allerdings immer wie ein Maikäfer. Sie absolvierte Ihre Matura und fand eine gute Stelle in einer internationalen Firma.

Eines Tages, sie war vielleicht jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, meldete sie sich ausserhalb des Jahresrhythmus an. Sie kam rasch herein wie immer, lächelte aber nicht und sagte, es sei nicht wegen des Rezeptes, das gelte noch. Sie setzte sich, schaute mich sehr ernst an und fuhr dann bedeutungsvoll weiter, sie müsse mir etwas sagen. Pause. Ich bat sie, fortzufahren. Sie zögerte, und dann »Ich habe immer das Gefühl, ich müsse mich aufhängen«. Ich traute meinen Ohren nicht. Da sitzt dieses Geschöpf, frisch wie die Rose im Morgentau, - hatte ich wirklich richtig gehört: »aufhängen?« Ja, aufhängen. Ich frage noch, wie und wann und warum. Sie spürte diesen Trieb offenbar fast jeden Tag, aber sonst war nichts Gescheites herauszufinden.

Ich sagte ihr, dass dies erstens nach meiner Auffassung eine absolut ernste Situation sei und dass ich zweitens mit sowas überhaupt keine Erfahrung habe. Sie gehöre sofort in kompetente Hände. Ich telefonierte mit der Psychiaterin, die mich immer berät und erhielt einen baldigen Termin.

Zwei Jahre hörte ich nichts mehr. Dann meldete sie sich wieder an. Sie kam so strahlend herein wie früher und meinte sie brauche kein Rezept, sie habe noch genug Medikamente. Sie komme aus einem anderen Grund, nämlich, um zu danken, dass ich sie damals zu dieser Psychiaterin geschickt habe. Ich natürlich neugierig, fragte, ob sie sich nicht mehr aufhängen wolle. Nein, überhaupt nicht. Und was denn der Grund gewesen sei?

Ja, der Grund: Ihre Eltern und die ganze Familie seien in einer Freikirche. Da wurde viel gebetet, gefastet und in der Bibel gelesen. Jeden Sonntagmorgen habe sich die ganze Familie beim Gottesdienst getroffen und anschliessend folgte frommes und gottseliges Zusammensein mit Mittagessen, oft bei ihnen zuhause oder bei anderen Familien.

Der Bruder ihrer Mutter, also ihr Onkel habe sie jeden Sonntag nach dem Gottesdienst bei diesen Zusammenkünften beiseite genommen, in ein Nebenzimmer oder in den oberen Stock, sie ausgezogen und missbraucht. Das sei mit Wissen und Duldung ihrer Mutter geschehen seit sie ca. dreizehn Jahre alt gewesen sei. Danach habe man sich wieder zum Mittagstisch gesellt, das Tischgebet gesprochen, gegessen und manchmal religiöse Hymnen gesungen. Wegen dieser Geschichte habe sie immer ein sehr schlechtes Gewissen gehabt und gedacht, sie trage daran Schuld.

Aufgehört habe der Missbrauch erst, als sie neunzehn Jahre alt gewesen sei und einen eigenen Freund gehabt habe. Sie sei aber weiter zu den Gottesdiensten und den Mittagessen gegangen, obschon ihr Freund sie dringend davon habe abbringen wollen. Die Schuldgefühle hätten nie nachgelassen, im Gegenteil, sie seien immer schlimmer geworden und hätten sie schlussendlich zur Überzeugung geführt, dass sie den Tod durch Erhängen verdient habe. Deshalb sei sie damals zu mir gekommen.

Und was sie dann inzwischen erreicht habe? Da strahlte sie wieder und erzählte. Zuerst habe die Psychiaterin ihr befohlen, mit Freikirche und Familie sofort, ein für alle Mal, zu brechen. Sie habe ihr erklärt, dass nicht sie selber sich versündigt habe, sondern dass der Onkel und ihre Rabenmutter die Sünder seien, und was für abscheuliche, heuchlerische Sünder dazu, mit ihren Gebeten, Predigten und Hymnen. In so einer Familie und in so einer Kirche habe sie nichts verloren.