Inhalt
Cover & Impressum
Dank
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Kleines Wörterbuch der Routinologie
Raphaëlle Giordano
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Ta deuxième vie commence quand tu comprends que tu n’en as qu’une« bei Éditions Eyrolles in Paris.
Übersetzung aus dem Französischen von Anja Rüdiger
ISBN 978-3-492-97493-6
© Groupe Eyrolles, Paris, France 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2016
Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin
unter Verwendung einer Illustration von Raphaëlle Giordano und einem Motiv von VallarieE/Getty Images
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen
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Ein riesiges Dankeschön an Stéphanie Ricordel und Élodie Dusseaux, beide Lektorinnen bei Eyrolles, dafür, dass sie an mein Projekt geglaubt und mir die Möglichkeit gegeben haben, es zu verwirklichen.
Ebenfalls großen Dank an Stéphanie, meine Zwillingsschwester, und an meine Mutter, die mir in der Entstehungszeit dieses Buches enorm geholfen und mich mit ihrer wohlwollenden Meinung und konstruktiven Kritik unterstützt haben.
Vielen Dank an Régis, meinen kreativen Liebsten, der den Titel des Buches beigesteuert hat.
Und danke auch an meinen Sohn Vadim, dafür, dass er so ist, wie er ist, und mir so viel Glück schenkt.
Mein großer Traum ist es, dass sich jeder seiner Talente und der Verantwortung für sein Glück bewusst wird.
Denn es gibt nichts Wichtigeres, als sein Leben so zu leben, wie man es sich als Kind erträumt hat.
Gute Reise
Raphaëlle
Die Regentropfen, die auf meiner Windschutzscheibe zerplatzten, wurden immer dicker. Die Scheibenwischer quietschten, und ich, die Hände fest ans Steuer geklammert, quietschte innerlich auch … Die Wassermenge, die vom Himmel fiel, hatte schon bald einen derart besorgniserregenden Pegel erreicht, dass ich instinktiv den Fuß vom Gaspedal nahm. Fehlte nur noch, dass ich einen Unfall baute! Ob die Elemente sich gegen mich verschworen hatten? Hallo, Noah? Ist das eine neue Sintflut?
Um den Freitagabendstau zu umfahren, hatte ich beschlossen, den Umweg über die Landstraßen zu nehmen. Besser, als sich die überfüllten großen Verkehrsadern und das quälende Stop-and-go anzutun! Vergeblich bemühte ich mich, die Schilder zu erkennen. Die Götterbande über mir machte sich offenbar einen Spaß daraus, die Scheiben mit ihrem feuchten Atem anzuhauchen, damit sie möglichst heftig beschlugen. Ich war nahe daran zu verzweifeln. Und als wäre das alles noch nicht genug, traf mein Navi irgendwo mitten in der Pampa plötzlich die Entscheidung, mich im Stich zu lassen. Eine technische Trennung mit sofortiger Wirkung: Während ich stur weiterfuhr, drehte das Navi durch. Um genau zu sein, gab es überhaupt keinen Mucks mehr von sich.
Ehrlicherweise muss man anmerken, dass da, wo ich unterwegs war, das Navi im Grunde von Anfang an keine Chance hatte. Das konnte nur schiefgehen. Denn ich befand mich in einer jener Gegenden, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind, wortwörtlich am Ende der Welt. Und dennoch … Irgendwo hier musste doch intelligentes Leben existieren, eine unvermutete Zusammenrottung von GmbHs (Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung), die nach der Ansicht meines Chefs über ausreichend kommerzielles Potenzial verfügten, um mich hierherzuschicken. Möglicherweise gab es dafür aber auch einen weniger rationalen Grund. Denn seit er mir zugestanden hatte, meine Arbeitszeit zu reduzieren, hatte ich das unangenehme Gefühl, dass er mich für dieses Entgegenkommen bezahlen ließ, indem er mir allerlei unliebsame Aufgaben übertrug. Was eine plausible Erklärung dafür wäre, warum ich nun in meinem Boot auf Rädern durch die Pariser Vororte kreuzte und meine Angel nach den kleinen Fischen auswarf …
Komm, Camille … Hör auf, Trübsal zu blasen, und konzentrier dich auf die Straße!
Plötzlich ein Knall. Ein schreckliches Geräusch, das mein Herz rasen ließ und mich zu einem unkontrollierten Fahrmanöver zwang. Mein Kopf schnellte in Richtung Windschutzscheibe, und kurioserweise stellte ich in diesem Bruchteil einer Sekunde fest, dass mein Leben, das wie ein Film vor meinem inneren Auge ablief, nicht gerade märchenhaft war. Kurz war ich wie benommen, dann bekam ich wieder einen klaren Kopf und fasste mir an die Stirn … Nein, keine größeren Ausfälle zu verzeichnen. Glücklicherweise war der Schock größer als der eigentliche Unfall.
In meinen Regenmantel gehüllt, stieg ich aus dem Wagen, um den Schaden zu begutachten. Ein kaputter Reifen und ein zerbeulter Kotflügel. Nachdem der erste Schreck überwunden war, verwandelte sich meine Angst in Wut. Verflixt und zugenäht! Wie konnte man an einem einzigen Tag so viel Pech haben! Ich griff nach meinem Handy wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsring. Natürlich kein Empfang! Beinah hatte ich damit gerechnet, denn irgendwie hatte ich mich bereits in mein unglückliches Schicksal ergeben.
Die Minuten vergingen. Nichts. Niemand. Einsam und allein stand ich in dieser menschenleeren Einöde. Die Angst in mir wuchs; gnadenlos griff sie nach meiner trockenen Kehle.
Tu was, anstatt in Panik auszubrechen! Sicher sind hier irgendwo Häuser in der Nähe.
Ich verließ das schützende Gefährt, um mich mutig den Elementen zu stellen, natürlich nicht, ohne die todschicke neongelbe Warnweste anzulegen. Nur die Harten kommen in den Garten! Wobei mir, ehrlich gesagt, unter diesen Umständen völlig egal war, wie glamourös ich aussah.
Etwa zehn Minuten später, es kam mir vor wie eine Ewigkeit, stieß ich auf ein Gittertor. Mit einer Dringlichkeit, als wollte ich den Notdienst rufen, drückte ich auf die Klingel an der Videosprechanlage.
Ein Mann meldete sich, er klang leicht genervt, vermutlich wegen meiner penetranten Klingelei.
»Ja? Worum geht’s?«
Ich betete, dass die Bewohner dieser einsamen Gegend einigermaßen gastfreundlich und hilfsbereit waren!
»Guten Abend, Monsieur … Entschuldigen Sie die Störung, aber ich hatte einen Autounfall hier ganz in der Nähe … Einer meiner Reifen ist geplatzt, und mein Handy hat keinen Empfang. Deshalb konnte ich niemanden zu Hilfe ruf–«
Das metallische Klicken des Tors ließ mich zusammenzucken. Lag es an meinem traurigen Hundeblick oder an dem bemitleidenswerten Gesamtbild, das ich bot, dass dieser barmherzige Anwohner mir Asyl gewährte? Völlig egal. Ich schlüpfte durch das geöffnete Tor, ohne den Satz, den ich begonnen hatte, zu vollenden, und sah mich einem prachtvollen Landhaus gegenüber, umgeben von einem liebevoll angelegten, gepflegten Garten. Ein echtes Schmuckstück, auf das ich da gestoßen war!
Am anderen Ende der Allee, die durch den Garten führte, ging über der Treppe zum Haus das Licht an, und die Eingangstür wurde geöffnet. Eine stattliche männliche Gestalt unter einem riesigen Regenschirm kam auf mich zu. Als der Mann zu mir trat, fiel mir gleich sein längliches, ebenmäßiges Gesicht mit den einprägsamen Zügen auf. Er war einer jener Männer, die mit dem Alter immer attraktiver werden. Ein französischer Sean Connery. Zwei Grübchen, die sich beim Lächeln neben seinen Mundwinkeln zeigten, unterstrichen den sympathischen ersten Eindruck. Man bekam sofort Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Er hatte die sechzig erreicht und die Ziellinie als strahlender Sieger überschritten. Die schönen graublauen Augen glänzten wie zwei frisch polierte Murmeln, und das grau melierte Haar war für sein Alter erstaunlich füllig und nur an der Stirn ein wenig zurückgegangen, die es fein geschwungen umgab. Der kurze Bart, der genauso sorgsam gestutzt war wie die Pflanzen in seinem Garten, war gewissermaßen ein Symbol für seine gesamte gepflegte Erscheinung.
Er lud mich ein, ihm ins Haus zu folgen, auf das ich nach meiner stummen Musterung äußerst gespannt war.
»Kommen Sie nur! Sie sind ja nass bis auf die Haut!«
»D… Danke! Das ist wirklich nett von Ihnen. Bitte entschuldigen Sie noch einmal die Störung.«
»Machen Sie sich keine Gedanken. Das ist kein Problem. Bitte setzen Sie sich, ich hole Ihnen ein Handtuch, damit Sie sich abtrocknen können.«
In diesem Moment stieß eine elegante Dame zu uns, wahrscheinlich seine Frau. Sie runzelte leicht die Brauen angesichts meines Eindringens in ihr Reich. Doch auch das konnte den Zauber ihres schönen Gesichts nicht stören.
»Chéri, ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens. Die junge Dame hatte einen Autounfall, und ihr Handy hat draußen keinen Empfang. Sie möchte nur kurz telefonieren und sich ein wenig erholen.«
»Ach so, natürlich …«
Sie bedachte mich mit einem kühlen Blick und bot mir eine Tasse Tee an, was ich dankbar annahm.
Während sie in der Küche verschwand, kam ihr Mann mit einem Handtuch die Treppe herunter.
»Danke, Monsieur, das sie sehr nett.«
»Claude. Mein Name ist Claude.«
»Ah … Ich heiße Camille.«
»Bitte, Camille. Das Telefon ist dort drüben, wenn Sie möchten.«
»Perfekt. Es wird nicht lange dauern.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Ich ging zu dem Telefon hinüber, das auf einem hübschen Möbelstück aus Edelholz stand; darüber prangte ein zeitgenössisches Kunstwerk. Diese Leute hatten eindeutig Geschmack und waren alles andere als arm. Was für ein Glück, dass ich bei ihnen gelandet war (und nicht in der Höhle eines Menschenfressers mit besonderer Vorliebe für Desperate-Housewives-in-Not)!
Ich nahm den Hörer ab und tippte die Nummer des Pannendienstes meiner Versicherung ein. Da ich nicht in der Lage war, den genauen Standort meines Autos anzugeben, schlug ich vor, dass der Abschleppwagen mich, das Einverständnis meiner Gastgeber vorausgesetzt, bei ihnen abholen sollte. Wie ich erfuhr, würde in etwa einer Stunde jemand kommen. Ich atmete auf: Die Rettung nahte.
Anschließend rief ich zu Hause an. Claude griff diskret zum Schürhaken und kümmerte sich um das Feuer, das im offenen Kamin am anderen Ende des Raumes zu verlöschen drohte. Nach dem achten Klingeln ging mein Mann endlich ans Telefon. An seiner Stimme hörte ich, dass er dösend vor dem Fernseher gesessen hatte. Dennoch schien er von meinem Anruf weder überrascht noch beunruhigt. Er war es gewohnt, dass ich oft erst sehr spät nach Hause kam. Ich erklärte ihm, was mir passiert war, wobei er meinen Redeschwall mit genervten Lautäußerungen und verärgertem Zungenschnalzen untermalte und anschließend ein paar organisatorische Fragen stellte. Wann würde der Abschleppwagen kommen? Was würde die Sache kosten? Ich war immer noch aufgeregt und musste mich angesichts seines Verhaltens zurückhalten, nicht in den Hörer zu brüllen. Konnte er nicht einmal ein wenig verständnisvoller reagieren? Nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich schon klarkäme und er nicht auf mich warten solle, legte ich wütend auf.
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Hände zitterten und mir Tränen in die Augen stiegen. Dabei hörte ich nicht, dass Claude zu mir trat, und zuckte zusammen, als ich seine Hand auf meiner Schulter spürte.
»Alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?«, fragte er freundlich, so wie ich es mir kurz zuvor von meinem Mann gewünscht hätte.
Claude beugte sich zu mir herunter und wiederholte: »Geht es Ihnen gut?«
In diesem Moment konnte ich nicht länger an mich halten. Meine Lippen begannen zu zittern, und die Tränen, die sich unter meinen Lidern angesammelt hatten, strömten über mein Gesicht. Während die zerlaufende Wimperntusche Muster auf meine Wangen zeichnete, brach eine Flut geballter Frustration der letzten Stunden, der letzten Wochen, sogar der letzten Monate aus mir heraus …
Zunächst sagte er nichts. Er verharrte neben mir, die warme Hand auf meiner Schulter zum Zeichen seines Mitgefühls.
Als mein Tränenfluss allmählich versiegte, brachte seine Frau, die inzwischen eine dampfende Tasse Tee vor mir abgestellt hatte, noch ein paar Taschentücher und verschwand dann in die obere Etage. Möglicherweise ahnte sie, dass ihre Anwesenheit mich von einem heilsamen Geständnis abhalten könnte.
»Ent… Entschuldigen Sie, das ist wirklich lächerlich! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich bin derzeit ein wenig empfindlich, und nach diesem furchtbaren Tag … Es war einfach zu viel!«
Claude hatte sich mir gegenüber auf einem Sessel niedergelassen und hörte mir aufmerksam zu. Irgendetwas an ihm flößte mir Vertrauen ein. Er sah mich eindringlich an, wobei sein Blick weder prüfend noch aufdringlich war. Es war ein auffordernder, offener Blick. Seine Herzlichkeit wirkte auf mich wie zwei weit geöffnete Arme.
Die Augen fest auf die seinen gerichtet, spürte ich, dass ich ihm nichts vorspielen musste. Dass ich mich ihm ohne schützende Maske ausliefern konnte. Meine inneren Sperren sprangen eine nach der anderen auf. Leider. Oder zum Glück?
Ich erzählte ihm in groben Zügen von meiner generellen Traurigkeit, erklärte ihm, wie sich die kleinen täglichen Enttäuschungen angestaut und schließlich meine Lebensfreude erstickt hatten, zu der Zeit als ich, zumindest auf den ersten Blick, noch allen Grund hatte, glücklich zu sein …
»Wissen Sie, es ist nicht so, dass ich unglücklich bin, aber ich bin auch nicht wirklich glücklich … Und das Gefühl, dass mir das Glück zwischen den Fingern zerrinnt, ist furchtbar! Zu einem Arzt möchte ich nicht gehen, denn der würde wahrscheinlich sagen, dass ich depressiv bin, und mich mit Medikamenten vollstopfen! Dabei ist es nur eine Art Niedergeschlagenheit … Nichts Schlimmes, aber dennoch … Es ist, als wäre mein Herz auf einmal nicht mehr da. Ich weiß nicht, ob all das irgendeinen Sinn ergibt!«
Meine Worte schienen ihn zu bewegen, so tief, dass ich mich fragte, ob sie ihm vielleicht eine persönliche Erfahrung in Erinnerung riefen. Jedenfalls hatte sich zwischen uns beiden dafür, dass wir uns noch nicht einmal eine Stunde lang kannten, ein überraschendes Gefühl des Einvernehmens eingestellt. War ich kurz zuvor noch eine Fremde gewesen, hatte ich mit meinem Geständnis mehrere Etappen der Annäherung übersprungen und zwischen unseren Geschichten eine Brücke geschlagen.
Mit der freimütigen Art, über meine Traurigkeit zu sprechen, hatte ich bei ihm offenbar eine Saite zum Klingen gebracht, die in ihm den ehrlichen Wunsch weckte, mich aufzumuntern.
»›Genauso sehr, wie wir etwas brauchen, wovon wir leben, brauchen wir Gründe, warum wir leben‹, hat Abbé Pierre einmal gesagt. Ihr Leiden ist also durchaus nicht bedeutungslos. Im Gegenteil, es ist sehr wichtig! Seelischer Kummer ist eine ernste Sache, die man nicht unterschätzen darf. Und nachdem ich Ihnen eben zugehört habe, glaube ich sogar zu wissen, worunter Sie leiden.«
»Ja, wirklich?«, fragte ich schniefend.
»Ja.«
Er zögerte einen Moment, als überlege er, ob ich für seine Erkenntnisse wohl empfänglich sein würde … Schließlich schien er davon überzeugt, denn er fuhr in vertraulichem Ton fort: »Möglicherweise leiden Sie unter einer Art akuter Routinitis.«
»Einer was?«
»Akuten Routinitis. Das ist ein seelisches Leiden, das immer mehr Leute befällt, vor allem in der westlichen Welt. Die Symptome sind fast immer die gleichen: Motivationsschwierigkeiten, chronische Niedergeschlagenheit, Orientierungslosigkeit, das Gefühl genereller Sinnlosigkeit, die Unfähigkeit, trotz materiellen Überflusses Glück zu empfinden, Hoffnungslosigkeit, Lustlosigkeit …«
»Aber … Wieso wissen Sie das alles?«
»Ich bin Routinologe.«
»Routino-was?«
Es war surreal!
Er schien an derartige Reaktionen gewöhnt zu sein, denn er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und verharrte im Zustand seliger Gelassenheit.
In wenigen Sätzen erklärte er mir, worum es sich bei der Routinologie handelte, jenem neuen, in Frankreich völlig verkannten, in anderen Teilen der Welt jedoch äußerst angesehenen Fachgebiet. Forscher und Wissenschaftler hatten festgestellt, dass immer mehr Menschen unter dem Syndrom der Routinitis litten. Sich, ohne depressiv zu sein, plötzlich leer und melancholisch fühlten. Sie standen unter dem unangenehmen Eindruck, alles zu haben, um glücklich zu sein, ohne zu wissen, wie man davon profitieren konnte.
Ich hörte ihm mit großen Augen zu, hing an seinen Lippen, während er in so treffenden Worten von dem sprach, was ich fühlte. Derart ermutigt, fuhr er fort:
»Wissen Sie, die Routinitis scheint auf den ersten Blick ein harmloses Leiden zu sein, doch sie kann der Menschheit beträchtlichen Schaden zufügen: Pessimismus-Epidemien, Melancholie-Tsunamis, katastrophale Stimmungstiefs. Schon bald wird das Lächeln vom Aussterben bedroht sein! Lachen Sie nicht, es ist nur zu wahr! Ganz zu schweigen vom Schmetterlingseffekt! Je weiter sich dieses Phänomen ausbreitet, desto mehr Menschen sind betroffen. Eine unerkannte Routinitis kann das seelische Gleichgewicht eines ganzen Landes stören!«
Hinter seinen hochtrabenden Worten spürte ich deutlich, dass er absichtlich ein wenig dick auftrug, um mich zum Lächeln zu bringen.
»Übertreiben Sie da nicht ein bisschen?«
»Aber nein! Sie ahnen ja gar nicht, wie viele Glücks-Analphabeten es gibt! Ganz zu schweigen von den Gefühlsautisten! Eine wahre Plage … Gibt es nicht kaum etwas Schlimmeres, als den Eindruck zu gewinnen, sein Leben zu vergeuden? Und das nur, weil man nicht den Mut aufbringt, es nach den eigenen Wünschen zu gestalten, nach den Werten, von denen man überzeugt ist? Dem Kind, das man einmal war, und seinen Träumen nicht treu zu bleiben?«
»Mhm … Sicher …«
»Dummerweise ist die Fähigkeit, glücklich zu sein, nichts, was man in der Schule lernt. Obwohl es ein paar gute Methoden gibt. Man kann reich und dabei todunglücklich sein oder, umgekehrt, nur wenig besitzen und das Leben genießen wie kaum ein anderer. Die Fähigkeit, glücklich zu sein, muss man sich erarbeiten, nach und nach aufbauen wie einen Muskel. Dabei reicht es, sich sein Wertesystem vor Augen zu führen und den Blick auf das eigene Leben und das, was um uns herum geschieht, zu korrigieren.
Er stand auf, um eine Schale mit Konfekt vom Esstisch zu holen, und bot mir davon an, während ich meinen Tee trank. Zerstreut bediente er sich auch selbst, bevor er das Gespräch wieder aufnahm. Das Thema war ihm offenbar ein Anliegen. Und je ausführlicher er davon sprach, wie wichtig es sei, zu sich selbst zu finden, sich wertzuschätzen, um in der Lage zu sein, den eigenen Weg und das Glück zu finden, um es erstrahlen zu lassen, desto mehr fragte ich mich, was er selbst wohl durchgemacht hatte, um derart mitzufühlen …
Er war geradezu in dem Bemühen entflammt, mir seine Überzeugung nahezubringen. Bis er plötzlich innehielt und mich wohlwollend musterte. Er schien in mir zu lesen, wie ein Blinder mühelos die Brailleschrift liest.
»Wissen Sie, Camille, die meisten Dinge, die uns im Leben ereilen, hängen von dem ab, was sich hier oben abspielt«, fuhr er schließlich fort, wobei er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte. »In unseren Köpfen. Unsere mentalen Fähigkeiten sorgen immer wieder für Überraschungen! Sie ahnen ja nicht, inwieweit Ihre Gedanken Ihre Realität beeinflussen. Dies ähnelt einem Phänomen, das Platon in seinem Höhlengleichnis beschreibt: Ihr ganzes Leben gefesselt in einer Höhle, erschaffen sich die Menschen ein falsches Bild der Realität. Denn sie sehen nur die verzerrten Schatten der Dinge, die der Schein eines vor dem Höhleneingang brennenden Feuers auf die Höhlenwand wirft.«
Im Stillen amüsierte ich mich über die unfreiwillige Komik der Situation. Ich hatte nun wirklich nicht erwartet, dass ich eine Stunde nach einem Verkehrsunfall in einem gemütlichen Wohnzimmer sitzen würde, um dort über Platon zu philosophieren!
»Sie sehen eine Parallele zwischen Platons Gleichnis und der Art und Weise, wie unser Bewusstsein funktioniert? Wow …«
Er lächelte angesichts meiner Reaktion.
»Durchaus! Die Parallele liegt in unseren Gedanken, die wie ein Filter zwischen uns selbst und der Realität wirken und diese gemäß unseren Überzeugungen, den apriorischen Voraussetzungen und unseren Beurteilungen verändern … Und wo geschieht das alles? In Ihrem Bewusstsein! Ausschließlich in Ihrem Bewusstsein! Die gute Nachricht ist, dass Sie die Fähigkeit besitzen, Ihre Gedanken zu verändern. Ob man alles rosarot oder schwarz sieht, ist durchaus willensabhängig. Und Sie können an Ihrem Bewusstsein arbeiten, damit es Ihnen keine Streiche mehr spielt. Dazu braucht es nur ein wenig Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen. Und die richtige Methode.«
Ich war völlig verblüfft und wusste nicht, ob ich ihn für verrückt halten oder seinen unglaublichen Worten Beifall spenden sollte. Schließlich tat ich keins von beidem und nickte nur zum Zeichen meines Einverständnisses.
Er spürte wohl, dass ich vorerst die Grenze meiner Aufnahmefähigkeit erreicht und einiges zu verdauen hatte.
»Entschuldigen Sie, ich will Ihnen mit meinen Theorien nicht auf die Nerven gehen.«
»Das tun Sie überhaupt nicht! Ich finde das alles sehr interessant. Leider bin ich ein wenig müde, bitte sehen Sie mir das nach …«
»Das ist vollkommen verständlich. Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gern ein anderes Mal mehr über diese Methode. Sie hat nachgewiesenermaßen schon vielen Menschen geholfen, die nun wieder einen Sinn in ihrem Leben sehen und alle Möglichkeiten nutzen, sich zu entfalten.«
Er stand auf und ging zu einem hübschen Sekretär aus Kirschholz hinüber, dem er eine Visitenkarte entnahm und sie mir überreichte.
»Kommen Sie bei Gelegenheit doch mal vorbei«, sagte er lächelnd.
Ich las:
Als ich die Karte entgegennahm, wusste ich noch nicht recht, was ich von seinem Vorschlag halten sollte. Aus Höflichkeit versicherte ich, dass ich darüber nachdenken würde. Wobei ihn meine verhaltene Reaktion nicht zu kümmern schien, denn er ermunterte mich nicht noch einmal. Als Verkaufsexpertin wunderte ich mich darüber ein wenig: Wenn dies sein Beruf war, warum zeigte er dann nicht ein wenig mehr Einsatz? Es musste ihm doch wichtig sein, eine neue Kundin zu werben. Seine Zurückhaltung in geschäftlichen Dingen schien einem Selbstvertrauen zu entspringen, wie man es nur selten erlebte. Und ebendiese Zurückhaltung überzeugte mich davon, dass, sollte ich diese Gelegenheit nicht nutzen, ich die Einzige sein würde, die etwas zu verlieren hatte.
Allerdings war ich wegen der gerade erst überstandenen Ereignisse auch noch ziemlich aufgewühlt. Der dämliche Unfall und das mindestens genauso dämliche Gewitter – das alles glich dem Anfang eines schlechten Horrorfilms … Und jetzt auch noch ein Routinologe? In fünf Minuten würde die versteckte Kamera zum Vorschein kommen, und jemand würde rufen: »Reingelegt!«
Da klingelte es. Doch im Türrahmen erschien weder eine Kamera noch ein Journalist, sondern der Mann, der den Abschleppwagen fuhr.
»Möchten Sie, dass ich Sie begleite?«, fragte Claude mich zuvorkommend.
»Nein, das ist nicht nötig, vielen Dank … Es geht schon. Sie waren schon so nett zu mir. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, ich habe es gern getan. Es ist doch selbstverständlich, dass man in so einem Fall hilft! Bitte schicken Sie uns kurz eine SMS, wenn Sie zu Hause angekommen sind.«
»Mach ich. Auf Wiedersehen und noch einmal vielen Dank!«
Ich stieg in den Abschleppwagen und setzte mich auf den Beifahrersitz, um dem Fahrer den Weg zum Unfallort zu weisen. Ein letzter Blick durch das Seitenfenster, und ich sah, wie mir das Ehepaar zum Abschied von der Freitreppe aus zuwinkte. Sie hatten zärtlich die Arme umeinandergelegt. Ein Bild von Liebe und Vertrautheit!
Noch ganz unter dem Eindruck dieses friedvollen Glücks überließ ich mich der Dunkelheit und dem Rumpeln des Wagens, der mich in die Realität und zu all meinen Problemen zurückbrachte.