Titel der Originalausgabe: «Gentling The Bull. The Ten Bull Pictures. A Spiritual Journey». Copyright © 1988 by The Zen Centre, London. Deutsche Rechte: Copyright © Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen Verwertung bleiben vorbehalten.
ISBN 978-3-932337-74-1 (eBook)
ISBN 978-3-932337-24-6 (gedruckte Ausgabe)
www.kristkeitz.de
Vorwort zur deutschen Übersetzung
Vorwort
Die Bullenbilder
I – Die Suche nach dem Bullen
II – Das Entdecken der Spuren
III – Der Bulle wird gefunden
IV – Der Bulle wird gefangen
V – Die sanfte Wandlung des Bullen
VI – Die Heimkehr auf dem Rücken des Bullen
VII – Der Bulle ist vergessen, der Hirte bleibt zurück
VIII – Bulle und Hirte sind vergessen
IX – Die Rückkehr zum Ursprung, zurück zur Quelle
X – Das Betreten des Marktplatzes mit Segen spendenden Händen
Schlusswort
Die Autorin
Die zehn Bilder zur Umwandlung des Bullen sind eine beliebte Zen-Analogie. Eine deutsche Übersetzung der Bilder mit Kommentar von Zen-Meister Otsu an seine Mönche wurde von Buchner und Tsujimura verfasst und beim Neske-Verlag Pfullingen herausgegeben. Obwohl es eine englische Übersetzung dieses Textes und der Kommentare gibt, der den Zen-Weg vom Anfang bis zum Ende beschreibt, so ist er doch an Mönche im Kloster gerichtet und spricht uns nicht völlig an.
Ich habe über viele Jahre die Bullenbilder immer wieder als Lehrbeispiel benutzt. Daraus ist die englische Ausgabe Gentling the Bull entstanden. Diese wurde von Beck und Bromley ganz ausgezeichnet ins Deutsche übersetzt. Wenn diese Sie anspricht und zum Beschreiten des Weges ermuntert, ist ihr Zweck erfüllt.
In unserer rastlosen mit Angst erfüllten Zeit ist Friede nicht möglich, außer er wird zuerst im eigenen Herzen kultiviert. Wir haben den Weg zum eigenen Herzen vergessen – aber er ist nicht neu. Walther von der Vogelweide sagte schon:
Wer zwingt den Löwen,
Wer zwingt den Riesen,
Wer überwindet jenen und diesen?
Das tut der, der sich selber bezwingt.
«Der sich selber bezwingt», nicht mit Gewalt und Unterdrückung, sondern durch ständige andauernde Übung, die zur wirklichen Umwandlung führt.
Myōkyō-ni (Irmgard Schlögl)
Der mittelhochdeutsche Text des zitierten Gedichtes lautet:
Wer sleht den lewen? Wer sleht den risen?
Wer überwindet jenen und disen?
Daz tuot einer, der sich selber twinget.
Chi-Yuan verfasste das folgende Vorwort zu Meister Kuo-ans (Kakuans) zehn Bullenbildern.
Die wahre Herkunft aller Buddhas ist der ursprünglichen Natur aller Lebewesen gleich. Durch Irrtum fallen wir in die Drei Welten hinein, durch Erwachen springen wir befreit aus den Vier Entstehungsarten heraus. Deshalb haben die Buddhas etwas zu vollbringen, und für die Menschen gibt es etwas auszuführen. Aus Mitgefühl ersann der alte Weise für seine Schüler verschiedene Wege, um ihnen die Wahrheit manchmal vollständig oder auch nur teilweise zu vermitteln, wobei er sie gelegentlich plötzlich oder auch allmählich vom Seichten bis in die Tiefe und vom Groben zum Feinen hinführte. Schließlich antwortete ihm einer seiner Schüler mit einem Lächeln. Die Augen dieses Schülers waren blau wie eine Lotusblume, und er war in der Übung des Loslassens am weitesten fortgeschritten. Seit dieser Zeit hat sich der Schatz des wahren Dharma-Auges überallhin verbreitet und sogar auch unser Land erreicht.
Wenn einer bis zum Innersten dieser Wahrheit vorgedrungen ist, erhebt er sich wie ein Vogel spurlos über alle Gesetze und Normen. Hält er sich aber an den mannigfachen Dingen fest, verfängt er sich in Reden und wird durch Worte irregeführt. Dann gleicht er der schlauen Schildkröte, wie sie versucht die eigenen Spuren mit ihrem Schwanz zu verwischen, wobei sie nur noch deutlicher sichtbar werden.
Schon vor langer Zeit erkannte Meister Ching-chu (Seikyō) die unterschiedlichen Begabungen der Menschen und lehrte folglich gemäß den jeweiligen Fähigkeiten seiner Schüler, wobei er wirksame Heilmittel für die entsprechenden Krankheiten verordnete. Seine Belehrungen stellte er bildlich mit der Wandlung des Bullen dar. In aufeinanderfolgenden Bildern zeigt er mit dem allmählichen Hellerwerden des Bullen die schrittweise Entwicklung des Schülers. Auf der Stufe der unbefleckten Reinheit des Bullen veranschaulicht er dann, wie weit die Fähigkeiten des Schülers herangereift sind. Schließlich deutet er mit dem Verschwinden des Menschen und Bullen auf das Vergessen von Herz und Umwelt (von Ich und Dingen) hin.
Obgleich auf dieser Stufe die Einsicht schon bis zur Wurzel vorgedrungen ist, bleibt immer noch ein Rest von Unklarheit im Verhalten äußeren Umständen gegenüber zurück. Daher beginnen nur schwach begabte Schüler verwirrt zu zweifeln, während andere mit geringem oder mittlerem Verständnis wankelmütig werden und nicht wissen, ob sie in leeres Nichts stürzten oder im Glauben an eine scheinbare Ewigkeit gefangen sind.
Kuo-an (Kakuan) hat zu jedem Bild ein passendes Gedicht verfasst. Wie schon vor ihm Meister Ching-chu (Seikyō) legte er in die Ausführung dieser bildlichen Darstellungen sein ganzes Herz hinein. Die schönen Gedichte spiegeln sich ineinander in hellem Licht.
Kuo-ans (Kakuans) Bullenbilder beginnen mit dem Vermissen des Bullen und führen bis zur Rückkehr in den Ursprung. Die Bilder und Gedichte passen zu den jeweiligen unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Übenden, ähnlich wie Essen und Trinken Hunger und Durst stillen. Auf der Suche nach dem tieferen Sinn und beim Aufdecken der verborgenen Feinheiten habe ich, Chi-yuan, mich stets von diesen Bildern leiten lassen – so wie eine Qualle die Augen von den kleinen Krabben borgt, die unter ihr Schutz suchen.
Von der «Suche nach dem Bullen» bis zum «Betreten des Marktplatzes» beabsichtigen meine Vorbemerkungen das Unbeschreibliche zu beschreiben, was genauso zwecklos ist wie der Versuch, einen viereckigen Kreis zu zeichnen. Hierdurch wird der Frieden der Menschen nur unnötigerweise gestört. Es gibt kein Herz, nach dem man suchen müsste, noch weniger einen Bullen. Welch seltsames Wesen betritt hier den Marktplatz! Wenn das Herz nicht dem der alten Meister bis ins Allertiefste hinein gleicht, dann geht das daraus folgende Falsche auf die Nachkommen über. Wahrlich, meine Vorrede kommt aus der Tiefe meines Herzens.
Vor der Betrachtung der Bullenbilder ist es empfehlenswert, sich mit der Landschaft vertraut zu machen, in der wir diesem Bullen begegnen. Unser Kommentar verwendet, wie traditionell üblich, immer wieder Hinweise auf den Originaltext, wobei auch Analogien und häufige Wiederholungen auftauchen, um verschiedene Aspekte und Entwicklungen in ihrer Tiefe und Feinheit zu veranschaulichen.
Die buddhistischen Lehren, besonders diejenigen des Mahāyāna-Buddhismus, gestalten die Landschaft, in welcher dieser Bulle herumstreift.
Die wirkliche Herkunft aller Buddhas ist dasselbe wie die ursprüngliche Natur, die uns allen innewohnt; sie findet sich in allem, was lebt und wieder vergeht. Demnach ist sie in den veränderlichen und somit unbeständigen Formen enthalten, welche erscheinen, für eine Weile fortbestehen und dann wieder verschwinden. Dies gilt nicht nur für Lebewesen; auch Stühle, Tische, Löffel, Blumen oder Bäume haben Buddha-Natur. Und weil das wahre Wesen von jedwedem Existierenden auch die ursprüngliche Natur aller Buddhas ist, kann unser wirklicher Ursprung nicht von dem der Buddhas verschieden sein. Aber: «durch Irrtum sind wir in die Drei Welten hineingefallen», nur «durch Erwachen springen wir befreit aus den Vier Entstehungsarten heraus».
Hiermit befinden wir uns schon inmitten der buddhistischen Landschaft. Was bedeuten diese Drei Welten eigentlich? In buddhistischen Texten begegnen wir ihnen immer wieder; es sind die Welt der Begierden, die Welt der Formen und der formlose Bereich. Alles in diesen Drei Welten Befindliche ist entstanden, verändert sich und wird früher oder später wieder vergehen. Das zeigt auch das Bild vom «Rad des Wechsels» mit seinen Sechs Bereichen und den ständigen Veränderungen. Dieses Rad des Wechsels wird auch als Rad des Werdens, oder von uns aus gesehen, als Lebensrad bezeichnet. Es ist eine Stätte des fortdauernden und immer wieder neu entstehenden Leidens. Daher streben Buddhisten nach Befreiung von dem Rad, nach Erlösung von dieser ununterbrochenen und jammervollen Daseinsrunde. Zumindest erhoffen sie sich durch «gute Lebensführung» eine Wiedergeburt in einem der drei besseren Bereiche.
Durch Verblendung sind wir also irrtümlich in diese Drei Welten hineingelangt, in denen die Existenz gelegentlich angenehm sein kann, aber doch größtenteils von Leiden geprägt ist. Obwohl unsere wahre Natur nicht an diese Drei Welten gebunden und somit auch frei von Leiden ist, sind wir durch Verblendung – durch unser «klebriges Anhaften» – in sie hineingefallen und daher den Leiden und Konflikten, dem Streit und dem Kummer und allen möglichen Problemen ausgesetzt. Wer unter uns wäre davon nicht betroffen?
Durch Erwachen entkommen wir beinahe sprunghaft den Vier Entstehungsarten. Nach buddhistischer Lehre entsprechen sie dem Mutterleib, dem Ei, der Feuchtigkeit, oder sie entstehen durch Umwandlung (auf dem Rad des Wechsels). Die buddhistische Bühne, auf der sich das ganze Drama abspielt, besteht also aus den Drei Welten und dem Rad mit seinen Sechs Bereichen. Die Aussicht auf ein endloses Kreisen auf diesem Rad mit der stetigen durch Verblendung hervorgerufenen Leidensrunde ist für einen Buddhisten kaum erträglich. Er sehnt sich daher nach Erlösung vom Rad und nach Erwachen zur wahren Natur, zu dem also, was wir wirklich sind.
Die Vier Entstehungsarten bestimmen die Art und Weise, wie alles Existierende hervorgebracht wurde. Begriffe wie Mutterleib und Ei sind eindeutig, die Vorstellung von Feuchtigkeit ist in diesem Zusammenhang schwieriger zu verstehen. Wenn man sich aber einmal während der Regenzeit in einem tropischen Land aufgehalten hat und beobachten konnte, wie innerhalb eines Tages aus einer kleinen Pfütze eine grüne Masse sich schlängelnderLebewesen wird, dann wird auch dieser Begriff klar verständlich.
Mit Ausnahme des formlosen Bereiches ist die Vierte Entstehungsart als Vorgang einer Umwandlung oder Transformation aufzufassen, als karmisches Kreisen auf dem Rad des Wechsels, als Werden im Samsāra, wodurch unsere Welt von Unzufriedenheit und Leiden geprägt wird. Lebewesen kreisen auf diesem Rad und tauchen endlos im Meer von Geburt und Tod auf und nieder. In den Sechs Bereichen des Rades sieht man zunächst die Himmelswesen, die eher als «begriffliche» geistige Kräfte und nicht als «Götter» zu verstehen sind; dann gibt es die Bereiche der kämpfenden Dämonen, der hungrigen Geister, der elenden oder Höllenwesen, diejenigen der Tiere und letztlich den menschlichen Bereich. Nirgendwo ist der Aufenthalt von Dauer; die Zeit des Verweilens hängt von karmischen Faktoren ab. Das bedeutet, dass wir selbst die Gestalter unseres eigenen «Schicksals» sind, weil unsere Aktionen und Reaktionen sowohl über die Dauer als auch den Bestimmungsort entscheiden. Immer wieder kreisen wir durch diese Sechs Bereiche – was auch oft als ein Wandern «von Leben zu Leben» verstanden wird. Doch das wissen wir eigentlich nicht. Sicher ist dagegen, dass wir mehrfach täglich diese Bereiche durchstreifen und daher mit unserem Umherkreisen sehr vertraut sind. Morgens beim Aufwachen geht es schon los: «Ach, wenn ich doch nicht aufstehen müsste»; damit befinden wir uns bereits in dem unglücklichen Bereich der elenden Wesen. Beim Frühstück ist mein Ei nicht so gekocht, wie ich es mir vorstellte, so kommt es zum Streit mit meiner Frau – jetzt bin ich bei den kämpfenden Dämonen angelangt. Dann verpasse ich den Bus: «Ach, wäre nur der öffentliche Verkehrsbetrieb besser organisiert, wenn ich nur ein Auto hätte, wenn es nur Parkgelegenheiten beim Büro gäbe, wenn nur…», und an dieser Stelle befinde ich mich bei den hungrigen Geistern. Nur sporadisch erreichen wir im Tagesablauf für kurze Zeit den menschlichen Bereich. Für uns ist er ein seltener Aufenthaltsort, obwohl wir alle menschliche Körper besitzen.
Nach buddhistischer Lehre ist Befreiung von dem Rad nur aus dem menschlichen Bereich heraus möglich. Diese ewig kreisende Daseinsrunde wird durch die Drei Feuer in Bewegung gehalten. Diese Drei Feuer sind erstens Begierde, Verlangen, unaufhörliches und ungestümes Habenwollen; zweitens Jähzorn und drittens Verblendung. Wenn man bedenkt, wie viele Milliarden von Lebewesen es gibt, dann wird ersichtlich, wie außergewöhnlich selten es rein zufällig dazu kommt, in einem menschlichen Körper geboren zu werden. Hierfür gibt es eine traditionelle Analogie, welche dieses Ereignis veranschaulicht: Auf dem Weltmeer treibt ein Brett umher, welches in seiner Mitte ein Loch aufweist. Im Meer lebt auch eine blinde Schildkröte, die einmal in hundert Jahren zum Atemholen an die Oberfläche auftauchen muss. Die Wahrscheinlichkeit, beim Hochkommen mit ihrem Kopf durch das Loch in diesem Brett zu stoßen, ist äußerst gering. Vergleichbar gering ist auch der Glücksfall, in einem menschlichen Körper geboren zu werden.
Selbst wenn wir in dieser glücklichen Lage sind, bedeutet das noch lange nicht, dass wir auch Bewohner des Bereiches der Menschen sind, denn wir durchwandern täglich alle Bereiche auf dem Rad und sind folglich nur für kurze Zeitabschnitte wahrhaft menschlich. Erlösung ist aber nur aus dem menschlichen Bereich heraus möglich. Daher müssen wir uns darum bemühen, Menschen zu werden, ständige Bewohner des menschlichen Bereichs und nicht nur vorübergehende Besucher oder heimatlose Vagabunde.
Ein traditionelles Zen-Training zielt deshalb darauf ab, uns wahrhaft menschlich zu machen, sodass wir stets aus dieser Menschlichkeit heraus handeln, fühlen, sprechen und denken können und dass wir auch wirklich unter allen Umständen, seien sie nun gut, schlecht oder indifferent, wahrhaft menschlich fühlen, sprechen und denken. Es ist leicht und natürlich, volle Menschlichkeit in den seltenen Augenblicken zu zeigen, wenn alles nach «meinen» Wünschen geht; das bringt unsere besten Seiten zum Vorschein: Dann sind wir freundlich, versöhnlich, hilfsbereit, fürsorglich und glücklich. Aber wenn irgendjemand aus Versehen auf meinen Fuß tritt? Dann kommt es zu einem elementaren Ausbruch in diesem guten, liebenswürdigen Wesen – nicht nur durch den Schmerz allein!
Ein entsprechendes Training ist aufgrund dieser Reaktionsweise anzuraten. Was sich in mir in dem Augenblick zusammenbraut, wenn mir etwas in die Quere kommt oder meine Pläne durchkreuzt, und wessen ich mir normalerweise gar nicht einmal bewusst bin, wird in unserer Analogie als Bulle bezeichnet. Es ist der wilde Aspekt unseres menschlichen Herzens, das allen Menschen gemeinsam ist.
Es wäre grundfalsch, diesen Bullen als Feind zu betrachten. Zuerst wollen wir ihn loswerden, was aber zum Glück nicht möglich ist, denn der Bulle verkörpert jene ungeheure Lebensenergie, welche nicht «mir» gehört, sondern die wahre Natur und der Ursprung von allen Buddhas und von allem Existierenden ist. In ihrer Intensität übertrifft sie bei weitem die Kraft, welche ich durch einen bewussten Willensakt aufbringen könnte. Meistens bin ich mir dieser Energie nicht bewusst – oder ich habe nur Angst vor ihr.
In der Nördlichen Tradition des Buddhismus heißt es: «Die Leidenschaften sind Buddha-Natur», und umgekehrt. Diese Aussage bezieht sich direkt auf die Energie, welche als «meine» Reaktionen auflodert, aber ohne «Ich» wieder zu dem zurückkehren kann, was sie immer war. Hierüber wird später noch ausführlicher zu reden sein.
Die eben gemachte Aussage, dass die Leidenschaften die Buddha-Natur sind, darf niemals dahingehend missverstanden werden, dass ich mich jetzt nach eigenem Gutdünken ausleben könnte, um dieser «meiner» Buddha-Natur Ausdruck zu verleihen. Solange ich sie als mein Eigentum betrachte, solange «ich» noch da bin, wird der Bulle mich immer wieder davontragen.
Wer unter uns hat noch nie diese aufbrausende Bullenenergie erlebt oder wer wurde noch nicht von ihr fortgetragen? Wenn die Energie als Bulle auftaucht, verkennt man sie nur allzu leicht, und wir müssen sie sehr gründlich kennen lernen. Vor allem ist wichtig zu begreifen, dass es nicht um «meinen» Bullen geht. Wenn wir nach ihm suchen, ist er anscheinend gar nicht da. Und wenn er dann in seiner beeindruckenden Pracht auftritt (als wahres Feuerwerk der Leidenschaften), hat er mich schon fest im Griff. Nochmals ist zu betonen, dass er nicht mein Feind ist, denn die Leidenschaften sind ja Buddha-Natur. Dieselbe Energie flammt einmal ungestüm als brennende Leidenschaften auf, zum anderen «in-formiert» sie als Buddha-Natur alles Gestaltete. Wie ist das möglich?
Die Drei Daseinsmerkmale als Fundament aller Buddha-Lehren sind Veränderung oder Vergänglichkeit, das Leiden oder die Unzufriedenheit und das Nicht-Ich. «Alles Bestehende ist vergänglich.» Das wissen wir ja schon seit langem. Aber wenn wir einmal wirklich in die Lage kommen Veränderungen hinnehmen zu müssen, z. B. vom Geliebten hin zu Ungeliebten oder vom Angenehmen zum Unangenehmen, dann leiden wir darunter, und dieses Leiden ist unser gemeinsames menschliches Schicksal. Der Leidende ist «Ich», jenes imaginäre Wesen, das lediglich aus «wählerischer Wahl» zusammengefügt ist. Das Gedicht Sōsans, des dritten chinesischen Patriarchen, mit dem Titel «Vom Vertrauen im Herzen», beginnt folgendermaßen: «Der höchste Weg ist gar nicht schwer, nur abhold wählerischer Wahl.» Bei genauerem Hinschauen stellt sich heraus, dass wählerische Wahl in der eigentlichen Natur von «Ich» ihre Wurzeln hat – «Ich» möchte dies, jenes aber nicht; der Fußboden sollte poliert werden; kein Orangensaft! Ich wollte doch Zitronensaft haben; die Sonne scheint, der Garten ist trocken, es müsste regnen! Warum kann ich nicht zielstrebig ohne die üblichen ablenkenden Gedanken meditieren? Was uns auch immer durch den Kopf gehen mag, sei es nun gut, schlecht oder einfach gleichgültig, es ist doch lediglich wählerische Wahl. Wenn wir versuchen diese wählerische Wahl loszuwerden, geraten wir in Teufels Küche, denn dieser Versuch wäre wiederum wählerische Wahl. So sind wir im Rad von Samsāra gefangen! Der Buddha wies uns den Weg zur Befreiung – nur ist sein Weg ganz anders, als ich ihn mir vorstelle.
Wir glauben in unserer Täuschung, dass es irgendetwas oder irgendjemanden gibt, der an der wählerischen Wahl beteiligt ist, weil dieser Vorgang kontinuierlich vor sich geht. Wir nennen diesen hypothetisch Handelnden «Ich» und halten ihn für wirklich existierend. Im Grunde gibt es aber nicht so etwas wie ein «Ich», sondern lediglich den ununterbrochenen Strom der wählerischen Wahl. Wenn wir dem Weg des Buddha folgen und mit einem traditionellen Training beginnen, verliert dieser Strom allmählich seine zwanghaften Züge und gleicht sich langsam aus. Deutlich ist der Unterschied der beiden folgenden möglichen Aussagen: «Es wäre schön, jetzt eine Tasse Kaffee zu trinken, wenn es aber nicht möglich ist, dann ist’s auch kein Problem.» Oder: «Ich muss jetzt unbedingt Kaffee trinken, um mich zu beruhigen, sonst kann ich einfach nicht weitermachen!» Wichtig ist, dass das Ende der wählerischen Wahl nicht ihr vollständiges Nachlassen bedeutet, wie ich irrtümlich annehmen könnte. Solange es einen Körper gibt, gibt es auch wählerische Wahl. Allein schon die Art und Weise des Gehens entspricht meinem Körperbau. Dagegen ist nichts einzuwenden, oder? Aber der Zwang, die Hitze, das Feuer, die Intensität von «Ich muss» (haben oder loswerden) quält uns und ruft Leiden und Probleme hervor. Der Buddha-Weg aus dem Leiden heraus besteht in der Umwandlung dieser Intensität oder Energie.
Aus dieser Perspektive zeigt sich «Ich» als Schöpfer all meiner Probleme und ist somit für meine Leiden verantwortlich. Die bedeutungsvolle Lehre des Buddha vom Nicht-Ich warnt eindringlich davor, alles persönlich zu nehmen und macht uns klar, wie die Dinge wirklich sind. Das bedeutet nicht, dass sie alle gleich sind. Es gibt weiße, rote und gelbe Blumen; keinesfalls stellt sich aber die Frage, ob weiße Blumen besser als rote sind. Und Bäume sind grün. Alle Dinge sind eben so, wie sie wirklich sind, und dies trifft in gleichem Maß auf rote und weiße Blumen wie auch auf grüne Bäume zu; sie treten in Erscheinung, existieren für eine Weile und vergehen dann wieder – das liegt in der Natur aller Daseinsformen. Diese Art des Sehens ist Buddha-Sehen, echte Erkenntnis. Diese Sichtweise ist für «mich» unzugänglich, weil ich durch wählerische Wahl voreingenommen bin, oder, noch deutlicher ausgedrückt, weil ich parteiisch, hitzig und für irgendetwas «entflammt» bin. Ohne Training bleibe ich in Vorurteilen stecken und unterliege der Täuschung, dass wählerische Wahl durch mich erfolgt. In Wirklichkeit gibt es aber bei gegebener Situation einen ganz neutralen Strom von wählerischer Wahl – ähnlich wie Wasser fließt oder wie die Sonne scheint.
Im Training geht es um die Ausbildung einer anderen Sichtweise. Solange die Vorstellung von «Ich» fortbesteht, wird es immer etwas geben, was mir nicht behagt. In einem solchen Fall steigt die Energie plötzlich aus scheinbar eigenem Antrieb empor. Sie scheint mich förmlich zu überfluten, ich werde fast fortgerissen – oder aber es gelingt mir, die Energie abzuwehren und fernzuhalten. Wie auch immer: Ihr Auflodern als «Feuer» ist Folge meiner wählerischen Wahl. Wenn kein «Ich» da ist und auch keine beabsichtigte, vorurteilsbelastete und daher auch hitzige, Karma erzeugende wählerische Wahl – ist die Energie einfach das, was sie eben ist und immer war, nämlich Buddha-Natur. Als solche wirkt und ist sie in allem Existierenden, «in-formiert» alle Formen – eine Katze verhält sich, wie Katzen es eben tun, und ein Vogel wie ein Vogel. Wir verblendeten Menschen haben die natürliche Harmonie verloren – zeigt das vielleicht die biblische Geschichte vom Sündenfall und der daraus folgenden Vertreibung aus dem Paradies? Ein Fisch im Wasser weiß nicht, dass er darin schwimmt, ist er doch in seinem natürlichen Element und lebt in voller Übereinstimmung mit seiner Umgebung. Diese Analogie sollte nicht zu weit geführt werden. In Verbindung mit einem alten Zen-Spruch ergibt sich aber vielleicht ein weiterer Hinweis: Anfangs werden Bäume als Bäume gesehen und Wasser als Wasser; dann sind Bäume nicht mehr Bäume und Wasser ist nicht mehr Wasser (der gespaltene Zustand); und schließlich sind Bäume wieder Bäume und Wasser wieder Wasser. Nach Meister Rinzai verhält sich ein befreites Wesen «lebendig und spielerisch wie ein Fisch, der aus dem Wasser springt» – vollkommen in seinem Element und glücklich. Das ruhige Meer trägt einen guten Schwimmer; er braucht sich nicht sonderlich anzustrengen.
Diese an-geborene «In-form-ation», das «natürliche Wissen», Nicht-Ich, ist die Buddha-Natur, die allen Wesen innewohnt. In uns voreingenommenen Menschen liegt sie im Dunkel und wird verkannt. Die Folge davon ist, dass die Energie sich wie eingeengt und gleichsam blind verhält. So kann sie impulsiv, hitzig und bezwingend zum Ausbruch kommen und steht dann nicht mehr mit der Situation im Einklang – so wird sie zur Quelle des Leidens. Die Erlösung vom Leiden ist der Weg des Buddha. Sie setzt Abwesenheit von «Ich» voraus. «Ich» ist die Verblendung, die sich als ein Selbst innerhalb des Stroms der wählerischen Wahl ansieht. «Was ist das Wahre Gesicht, bevor Gedanken über Gut und Böse auftauchen?» – dies ist die Frage, die sich sogar noch vor dem Beginn der wählerischen Wahl stellt.
Hierin liegt auch die Umkehr, die wir mithilfe des Trainings herbeiführen können. Das sehr schöne buddhistische Bild von der Welle und dem Ozean bietet hierfür eine Analogie. Eine einzelne mit «Ich» vergleichbare Welle wird sich wie jedes «Ich» isoliert und abgesondert vorkommen, anstatt sich als ein Teil von allem Existierenden zu sehen. Ist man in einer solchen Haltung nicht sehr einsam und hilflos? Armes «Ich»! Kein Wunder also, dass ich leicht verängstigt und so oft verkrampft bin. Weil ich mich im Umgang mit anderen und der Außenwelt defensiv verhalte, neige ich zum Überkompensieren und kann mich dann auch aggressiv verhalten oder mich vollständig zurückziehen. Hierdurch entstehen viele Probleme und Schwierigkeiten, und ich fühle mich selten wohl.