Alexandra Schöler-Haring
Drei segeln um die Welt
Impressum
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Aequator Verlag GmbH, München
© 2016 Aequator Verlag
ISBN 978-3-95737-015-0
Als ich den Kapitän versenkte
Peters Traum
Sind wir von Sinnen?
Aller Anfang ist schwer
Der Atlantik ruft
Was haben Hunde mit Fahrtenseglern zu tun
Eierspeisen, Eieruhren und arme Schweine
Die Menschen von Mindelo
Ich, Frau Lehmann und der Spinnaker
Finnische Betrachtungen
Tobago – Die Märcheninsel
Die Karibik in zwei Wochen und was es braucht, um auf dem Schiff zu entspannen
Martinique und der E-Day
Antigua – Zeit für Klassiker oder „Wo ist Eric Clapton?“
Ich trau mich
Kurzes, aber notwendiges Intermezzo: Nachtfahrten
Die Zeugen
Traumstand gefällig?
Dosenwürstel a la carte
Cappuccino im Sklavenviertel
Break, Break, Break – Landratten-Alarm
Breakfast in America!
Marina-Tage – Hundetage
Jedem Kap sein Horn
Shakiras Mutter
Das Christkind kommt
Kurzes, aber notwendiges Intermezzo: Clodmilldos
Finnische Betrachtungen
Immer kommt es anders
Furzende Robben, einsame Singles und neue Freunde
Die Herausforderung oder: Mein Mann, der Held
Von Missionaren und Marienfeiertagen
Mythos, Alm und Menschenfresser
Tuao – Valo und Gaston
Nicht wie im Reiseführer
Gesellschaft auf den Gesellschaftsinseln
Raiatea – und noch mehr Familie
Tahaa – endlich die Vanilleinsel
Bora Bora – Was kriegt man für 3.000 Dollar die Nacht?
Suwarow und Harfenklänge
Schnell zwischen zwei Wetterfenstern
Ein Blauwassersegler-Crash-Kurs
Seefrauen sind von der Venus, Seemänner vom Mars
Von Kiwis, Millionären und – schon wieder – dem Christkind
Gone Sailing!
Café
Frau der Fliegen
Heimweh nach Neuseeland
Tanna am Rande des brodelnden Vulkans
Was passiert, wenn man in Vanuatu den Erzherzog-Johann-Jodler anstimmt
Wo ist das Louisiade-Archipel
Ein Skipper auf Abwegen
Australien oder das, was wir davon sahen
Warum der Bauch so wichtig ist
Die Nacht auf dem Riff
Finnische Betrachtungen
Wer will schon ein Moskito sein?
Kleines Intermezzo: Wenn Segler verreisen
Die Löwenstadt
Kurzes Intermezzo: Was berühmte Fahrtensegler tun, wenn keiner zuschaut
Malaysien – am Rande!
Lankawi, Ferrari, Schoko und Seulbahnen
Phuket im Dezember
Auf einem anderen Planeten
Red-Sea-Konvoi
Sri Lanka: Chaos und Schönheit
Ein Durchgangsparadies
Wer ist der Pirat?
Jemen
Freundschaft ist stärker als Südwind
Pyramiden, Bakschisch und viele Tränen
Wanderer, lass dich überraschen ...
Ferienseglen in Griechenland
So wie Gott sie schuf ...
Der große Tag ...
Der Kapitän und sein Schiff!
Einige Daten zum Katamaran und der Ausrüstung
Wie alles begann? Mit einer Liebesgeschichte! Und wann? An einem windigen, kalten Tag in den Fluten der Alten Donau in Wien. Von einer Weltumsegelung war damals noch keine Rede. Oder sagen wir so: Mein Peter hatte mir seinen Traum noch nicht so richtig gebeichtet. Er war ja damals auch noch nicht mein Mann, sondern nur mein boyfriend und das auch erst seit ein paar Wochen.
Er hatte mir natürlich von seinem Schiff Risho Maru erzählt, einem Wharram-Katamaran. Das sagte mir rein gar nichts, außer dass ein Katamaran zwei Rümpfe hat. Er stand in einer Marina in Griechenland und Peter bewegte ihn drei Monate im Jahr. Ein Foto hatte ich auch. Peter, braungebrannt mit blitzblauen Augen am Steuer seiner Rishu Maru. Ich hasse Sonnenbäder und werde auch nicht braun. Mhm, das irritierte mich etwas, aber ich dachte mir, was solls, der Sommer war noch einige Monate entfernt. Und so beschlossen wir, es mal mit dem Segeln im Kleinen zu probieren.
Die Alte Donau in Wien war und ist ein begehrtes Wochenendsegelrevier. Ich weiß nicht mehr warum, aber mein Bruder Stefan schloss sich uns an. Er hat es bereut. Aber dazu später.
Wir mieteten eine nette kleine und schwere Jolle aus Holz und legten ab. Ich hielt in einer Hand die Großschot, in der anderen die Steuerpinne. Wow! Die Gischt spritzte über uns hinweg, die Jolle jagte dahin, wir segelten!
„Fieren“, klang es zärtlich von den Lippen meines Kapitäns.
Eine dicke graue Gewitterwolke schob sich über die Sonne.
„Fieren“, sagte mein Geliebter erneut und zwinkerte mir freundlich zu. Ich fror doch nicht. Mein Bruder schien etwas unlocker. Fror er? Ach Brüder! Freiheit! Luft! Liebe! Und dieser stürmisch leidenschaftliche Wind!
„Fieren! Mach die Großschot auf!“ Irgendwas irritierte mich am Ton meines Freundes. Frechheit, es klang wie ein Befehl.
So ein bisschen jedenfalls. Ach ja, unsere nette Jolle hatte eine etwas eigenartige Lage eingenommen. On the heel – sollte ich einige Jahre später lernen – auf Stöckeln sozusagen. Schräglage.
Meine neuen Leinenturnschuhe (ohne Stöckel) schienen irgendwie dem Wasser sehr nahe gekommen zu sein.
„Mach das Segel auf. Leine los!“
Was? Ich zog doch schon die ganze Zeit daran und jetzt noch fester. Oder war das etwa wie bei rechts und links, was ich auch immer verwechselte?
Ja, es war. Langsam versank die Jolle im gar nicht so blauen Donauwasser. Neben mir mein Bruder, der sein Bauchtäschlein mit Handy und sämtlichen Kreditkarten verzweifelt in die Luft hielt. Peter stand mit einem Fuß am Rand der Jolle, mit dem anderen am Schwert und versuchte sie wieder aufzurichten.
Vergiss es. Vollholzjolle aus den 60er Jahren ohne Schwimmkörper. Immerhin verließ Peter als letzter das Schiff und seinen, trotz vorhersehbarem Untergang, festen und entschlossen Blick, werde ich nie vergessen. Das Wasser kroch langsam meine Leinenturnschuhe hoch, die Jeans entlang bis zum Frühlingsjäckchen. Schließlich erreichte es meinen Hals und ich wimmerte prustend:
„Was soll ich tun?“
Kapitän Peter: „Schwimmen!“
Und so versanken wir vor den Augen der neugierigen Sonntagsspaziergänger in der Alten Donau.
Zwei Weltumsegler in spe und der Bruder einer Weltumseglerin! Wer hätte das gedacht!
Vor allem, als man diese Gestalten später, gerettet vom Motorboot des Yachtclubs, in alten Jogginghosen und peinlich gestreiften 70er-Jahre-Pullis am Strand sitzen sah. Genau aus der Klamottenkiste, über die ich mich im Bootshaus lustig gemacht hatte.
„Nie wieder“, fauchte das weibliche Crewmitglied und die zukünftige Weltumseglerin.
Tja; never say never!
So vergingen die Jahre in Wien. Mein boyfriend kniete eines Valentintages in unserem Vorzimmer vor der grünen Sitzbank und hielt um meine Hand an. Mir war schlecht.
Natürlich sagte ich „Ja“. Ich wollte diesen Traummann auf jeden Fall heiraten. Ich hatte mit ihm bereits zwei Sommer auf seiner Risho Maru verbracht. Den ersten Sommer im Ionischen Meer, an der Westküste Griechenlands. Ich kannte jetzt die Unterschiede zwischen Großsegel, Fock, Spinnaker und Co. Am Wind, gegen den Wind, im Wind, ohne Wind! Erst im zweiten Sommer erlebte ich ordentlich Wind und für mich hohe Wellen, ja sogar Sturm um den Peleponnes, das Tor zum Hades.
Ich erinnere mich an meine Gedanken, als wir unter Segeln ablegten: Ich fühlte mich in dieser Stille des Augenblicks wirklich um einige tausend Jahre zurückversetzt. Wie Odysseus oder einer dieser großen Seehelden. Mein Mann, der Kapitän, war souverän; segelte er sein Schiff doch schon zwanzig Jahre von Griechenland, über Kroatien und Italien, bis nach Tunesien.
Er liebte sein Schiff, das war mir klar. Risho Maru war und ist etwas ganz Besonderes. Ein Eigenbau aus Holz und Epoxid, die Kabinen sehr individuell gestaltet. Lange gab es keine Toilette, nur eine Klobrille an einem toilettentechnisch praktischen Ort über dem Wasser. Man setze sich im Sarong drauf und Plumps! Erstaunlicherweise hielt das kaum jemand davon ab, seine Sommerferien auf Risho Maru zu verbringen. Ich war aber doch froh, dass es irgendwann ein nettes Klokabinchen gab!
Risho Maru wurde gerne in den kleinen engen griechischen Häfen als Fotomodell eingesetzt. Sie stach mit ihrer eigenwilligen Form heraus: zwei markant schräge Masten, ohne Deckshaus, irgendwie hippiemäßig und doch elegant – vor allem unter Segeln. Eine Ketsch: zwei Masten, zwei Vorsegel, ein Diesel-Außenborder, den der Kapitän nur für Hafenmanöver verwendete. Es wurde vor allem gesegelt.
Mulmig war mir schon manchmal. Beispielsweise wenn in der Nacht der Wind über Deck fegte und der Kapitän mit seinem Dinghi einen zweiten Anker ausbrachte. Ich fand das Segeln schön, aber nach dem Sommer freute ich mich dann doch wieder auf unsere Wohnung in Wien.
Inzwischen wusste ich, dass es Peters Traum war, um die Welt zu segeln. Seine Freunde Wolf und Doris, die Seenomaden, waren gerade von ihrer Weltumsegelung zurück. Weltumsegler. Was sind das für Typen? Eigentlich sahen sie ganz normal aus. Und doch war da irgendwas, das einen unruhig werden ließ. Dieses Flackern in den Augen, eine ureigene Sicherheit, ihre unglaublichen Geschichten, ihre hohe Flexibilität. Sie waren anders als alle, die ich bisher kennengelernt hatte. Ich fragte mich immer: Warum macht man sowas? Dann besann ich mich. Auch ich war einige Jahre zuvor für zwei Jahre ausgestiegen und nach Amerika gereist. Und diese Zeit war wunderbar gewesen; hart, aber für immer prägend.
Aber mit einem Segelboot?
„Nein.“ Dazu sagte ich „Nein“. Peter war nicht böse, drängte nie, träumte weiter.
Die Segelmagazine häuften sich in unserer Wohnung. Irgendwann begann ich auch zu lesen, sah Bilder von braungebrannten Menschen auf Segelyachten, die vor weißen Stränden ankerten. Südsee, Karibik, ich las natürlich vor allem die Berichte, in denen Segler in Stürme gerieten, Riesenwellen und Zyklone Strände verwüsteten, Piraten raubten und mordeten. Aber ich las auch über Tanja Aebi. Eine 18-Jährige, die das schafft? Ich sah „Der Sturm“ mit dem schönen George Clooney in Seenot! Ich verschlang Björn Larsson und sah den verzaubernden Diavortrag unserer Seenomaden. Und erst an diesem Valentinstag hatte ich gelesen, dass es Leute gab, die auf so eine Reise sogar ihre Kinder mitnahmen!
Apropos Kinder. Mir war schlecht. Und ich sagte gerührt „Ja“ zu dem Mann auf Knien vor mir.
Ich wusste, dass ich mit ihm durch dick und dünn gehen wollte. Mit ihm wollte ich immer zusammen sein. Mit ihm war es auch auf dem Schiff nie zu eng. Er sagte, er würde mir die Welt zu Füßen legen. Was ich damals nicht wusste: Er meinte das wörtlich!
Neun Monate später war mir nicht mehr schlecht. Ich war durch dick und dünn gegangen und auf dem Schiff war es eineSpur enger geworden. Finn war da. Fast an Bord geboren, verbrachte er seine Kleinkindjahre jeden Sommer auf unserer Risho Maru. Sein erstes Wort war Fischernetz.
Ich arbeitete als Schauspielerin am Theater und nach einer unglaublich mühsamen, von Eitelkeiten und Zierereien geprägten Probe, fragte ich mich wieder mal:
Wo ist der Sinn? Wofür das alles? Vielleicht ist es Zeit für eine Auszeit? Ich rief Peter noch am Bühnenausgang an und sagte: „Lass uns nach Hawaii segeln.“
Damit war der Bann gebrochen und auch in meinem Hirn begann sich die Idee einer Weltumsegelung zu spinnen. Die Welt sehen! Andere Menschen! Ein anderes Leben! Neues erleben!
„Aber warum gerade mit einer Segelyacht?“, fragte ich mich. Warum den Launen der Natur so ausgesetzt? Wenn was passiert? Und was, wenn wir heimkommen? Das Danach? Es läuft ja eigentlich alles gut zurzeit. Eigentlich. Das Unwort.
Ich druckste in den folgenden zwei Jahren manchmal noch herum, aber Peter blieb standhaft. Ihm ist es letztendlich zu verdanken, dass wir diesen Schritt wagten. Ja, und natürlich einer kleinen Erbschaft, viel zu klein, um damit eine Eigentumswohnung zu kaufen, aber groß genug, um eine Basis für diese Reise zu haben.
Wir nannten unser Vorhaben eine Segelreise – eine Weltumsegelung war nicht vorrangig.
Erstes Ziel: Karibik. Danach würden wir – oder sagen wir ehrlicherweise ich – den weiteren Verlauf der Reise bestimmen. Ich sagte also „Ja“. Zweimal. Zuerst zum Mann, dann zur Reise. Beides habe ich nicht bereut!
Nein, bereut habe ich unsere Reise nie. Aber manchmal verwünscht. Zum Beispiel als wir in das Sturmtief vor Neuseeland segelten. Oder als der Autopilot mitten auf dem Pazifik seinen Geist aufgab. Oder als wir in Indonesien auf einem Riff saßen. Oder auf Bali, als Finn furchtbar hohes Fieber hatte. Dann dachte ich: Wir sind von Sinnen! Warum tun wir das? Warum sitze ich jetzt nicht in Wien auf der Couch vor dem Kamin.
Gut, dass ich kurz vor der Abreise Ingrid getroffen hatte. Ingrid war mit ihrem Mann Robert und der achtjährigen Anna gerade von ihrer vierjährigen Weltumsegelung zurückgekehrt. Anna schien ganz normal zu sein. Viele Leute hatten uns gefragt, ob wir sicher seien, dass wir Finn nicht unglücklich machen würden. Allein auf dem Schiff, ohne andere Kinder, immer eingesperrt. Nur eine Freundin hatte gemeint: „Was könnt ihr ihm mehr geben als immer für ihn da zu sein?“ Wie Recht sie hatte!
Anna sprach fließend Englisch, schien fröhlich und nicht asozial. Ingrid beäugte mich über einem Glas Rotwein und meinte: „Manchmal ist es zum Kotzen, da willst du sofort aussteigen, aber das geht eben nicht auf der windigen, welligen Strecke zwischen den Marquesas und den Tuamotus. Du schwörst aber deinem Mann, im nächsten Hafen sofort Flugtickets für dich und das Kind zu kaufen und abzuhauen. Aber dann kommst du an und sitzt bei einem fruchtigen Tropendrink. Dein Geliebter fragt dich nach dem Abflugtermin und du antwortest: „Was? Wieso? Wie kommst du darauf?“ Wie Recht sie hatte!
Ach Ingrid, wie sehr dachte ich in diesen Sch...momenten, die man in vier Jahren wohl höchstens an vier Händen abzählen konnte, an dich! Ich kniete auf dem Atlantik an Deck und heulte in den zerfetzten Spinnaker, ich brüllte meine Verzweiflung in die kalte neuseeländische Luft hinaus, ich schwor mir: Das wars, Schluss, ich gebe auf. Kaum im Hafen: glückliche Umarmungen mit anderen Seglern, glitzernde Atolle mit freundlichen Menschen, mit bunten Blüten im Haar, mit fremdem Duft in der Nase. Ja, ein bisschen von Sinnen muss man wohl sein.
Finns Kindergärtnerin schaute mich mit feuchten Augen an und sagte: „Erfüllen sie sich diesen Traum! Ich wollte immer Entwicklungshelferin in Afrika werden und hab es nie gewagt. Meine Mutter, ergo Finns Oma, umarmte mich und meinte: „Nehmt mich mit!“ Ein alter Bekannter starrte mich an und fauchte: „Das hast du dem Peter eingeredet!“ Ich?
Meine Musicalstudenten weinten bittere Tränen, der Volksoperdirektor beneidete mich.
Peters Geschäftspartnerin Barbara beschloss, ebenfalls einen Sprung ins kalte Wasser zu wagen – nämlich Geschäftsführerin zu sein. Sie bewies damit ebenso viel Mut wie wir!
Viele redeten plötzlich nur noch von sich und ihren nicht erfüllten Träumen. Einige sorgten sich um Finns soziale Kontakte und um seine Schulbildung. Die Direktorin einer Volkschule schaute mich auf die Frage, was ich für Möglichkeiten hätte, mein Kind auf der Weltreise privat zu unterrichten, verwirrt an „Weltreise?“, fragte sie und verwies mich an das Bezirksamt, wo ich Unterlagen für den häuslichen Unterricht erhielt.
Schauspielkollegin Dagmar meinte auf meinen Einwand, dass ich natürlich sämtliche Kontakte zur Szene verlieren würde: „Na und? Ich tät gleich fahren.“ Meine Friseurin argwöhnte: „Nach einem Jahr seid ihr wieder da!“
Es gab ein rauschendes Abschiedsfest und irgendwie konnte ich noch immer nicht glauben, dass ich wirklich diese Reise antreten würde. Und dann lag ich in der Koje, das Schiff auf dem Weg nach Kroatien, Aufbruch zur Weltreise, ich verschnupft, verheult, verzweifelt. Peter, nach dem wirklich traurigen Abschiedsfest selbst nicht in bester Verfassung, nahm mich in die Arme und weinte mit.
Finn spielte Lego und dachte wahrscheinlich: Seltsam die Alten, jetzt treten sie eine Traumreise an und heulen.
Die sind von Sinnen!
Ja, ich gebe es zu, ich habe Rotz und Wasser geheult. Warum? Ja, es ist der Aufbruch zu einer Traumreise. Weg von allen Zwängen, Konventionen, Terminen, Stadtverkehr. Auf ins Abenteuer. Auf zu fremden Ländern, zu fremden Menschen. Auf zum immerblauen Himmel und Sonnenschein! Das klingt ja sooo toll! Und ist es auch. Aber ich brauchte einfach Zeit für den Perspektivwechsel, zum Kapieren, zum Schlucken. Wir waren nicht aus Wien geflüchtet, unser Leben war wunderbar gewesen. Alles da: Friede, Freude, Palatschinken. Und das hatten wir hinter uns gelassen. Eingetauscht gegen eine große Unsicherheit; die Unsicherheit, die eben jedes Abenteuer begleitet.
Keiner kann vorher sagen, wie es wird. Aber wer sagt einem, wie es zu Hause wird? Zu Hause glaubt man, zu wissen, was kommt, oder zumindest mit dem, was kommt, umgehen zu können.
Aber wie ist es, drei Tage auf See zu sein? Oder viel länger? Was macht man, wenn der große Sturm kommt, einer eine Blindarmentzündung im nowhere kriegt? Oder einer über Bord geht? Den Atlantik blendete ich ganz aus, sonst wäre ich wohl nicht mal bis Spanien mitgesegelt.
Peter ging es wohl ähnlich. Oder noch schlimmer. Sah er sich doch als Hauptverantwortlichen. Er, der Frau und Kind ins Abenteuer lockte und für alles Kommende geradezustehen hatte. Aber rückblickend muss ich sagen, wirkte er sehr cool. Dass er es nicht war, gestand er mir erst viel später, auf jedem Fall nach der Atlantiküberquerung! Gut für ihn!
Und nun war ich also unterwegs, lag in meiner Koje, trauerte unserem alten Leben nach, fürchtete mich vor dem neuen.
Auf dem Mittelmeer – von Italien nach Spanien mit den Ferieninseln Mallorca, Ibiza und Menorca – das waren alles noch Monate der Feriengefühle. Es war irgendwie noch wie Sommerurlaub und dann geht es nach Hause. Ging es aber nicht. Mein Bruder kam mit Frau während ihrer Flitterwochen zu Besuch und es folgte wieder ein trauriger Abschied mit vielen Tränen. Heul heul...
In meine Panik mischten sich allmählich positive Gefühle, als wir in Spanien die ersten Fahrtensegler trafen. Kanadier! Mit zwei Buben. Ich starrte die vier an wie Popstars. Sie waren aus Amerika hierher gesegelt!!! Die Jungs schleuderten sich wie Tarzan an Leinen durch das Rigg. Rina erzählte, sie wären gerade drei Nächte durchgesegelt, weil alles so gut lief. Allerdings hätten sie sich leider irgendwo Kakerlaken eingefangen, wahrscheinlich in Portugal.
Drei Tage durchgesegelt. Wahnsinn! Mein Anfängerfahrtenseglerhirn arbeitete wie verrückt. Ohne dabei eine Sekunde lang darüber nachzudenken, dass wir in einigen Wochen über den Atlantik segeln würden und drei Tage dafür wohl nicht ausreichen würden.
Die letzte Nachtfahrt saß mir noch in den Knochen. Ich konnte nicht schlafen. Drei Nächte ohne Schlaf, wie sollte ich das je schaffen? Rina blickte in meine schreckgeweiteten Pupillen und grinste. Derek, ihr Mann, Mischung aus Surferboy und Indiana Jones, führte Peter seine Schleppangelsammlung vor. Die Jungs hüpften mit Finn auf den Steg und fingen für ihn eine Krabbe. Die vier waren so cool! Und ich fühlte mich irgendwie gar nicht lässig. Aber nach einem gemütlichen Abend in ihrem Cockpit ging es mir besser.
Die vier waren so anders, so verrückt, so erfrischend, so weit weg von den meisten Menschen, die einem im Alltag über den Weg laufen. Das tat gut. Ich fühlte, wie ich über die Urlaubsseglerin in mir hinauswuchs. Ich begriff an diesem Abend die Tragweite unserer Reise; dass alles, was wir bisher erlebt hatten, mit dem was kommen würde, nicht zu vergleichen sein würde. Denn an diesem Abend sah ich wieder dieses Funkeln in den Augen von Menschen, die es gewagt haben, den sicheren Hafen zu verlassen und den Wind in ihren Segel einzufangen!
Und das mit den Kakerlaken nahm ich mir auch zu Herzen. Schon am nächsten Tag war Risho Maru mit Fallen und Giftspritzen gepflastert. Denn dieses Schiff war nun mein Heim und ich war bereit, es bis aufs Blut zu verteidigen und zu beschützen! Tod den Kakerlaken!
Liebes Tagebuch, Menorca,
wir sind in Menorca. Ich habe geglaubt, ich müsste auf der Überfahrt sterben. Schirokko, Wind von hinten, Monsterwellen, Gewitter und Regen. Das darf ich Mama nicht schreiben. Sie würde mich umbringen, wenn sie wüsste, was ich mit ihrem Enkel anstelle. Wenn die wüsste. Habe zirka 200 Legofähren in 35 Stunden gebaut. Ich hasse Lego. Hallo??? Ich bin auf einer Traumreise!!! Bei den Monsterwellen kaum vorstellbar und dann sagt am Steg diese blöde, supertoughe schwedische Skipperin: „Great sailing, don‘t you think?” „Ja“, hab ich gesagt, und wegen der kühlen Witterung hab ich in meinen Ruhezeiten so gut wie schon lange nicht mehr geschlafen. Bin jetzt noch todmüde...
Liebes Tagebuch, Cartagena,
bin 37 geworden, nicht besonders aufregend. Hab mir einen Sunblocker für das Gesicht gekauft, nachdem wir das fröhliche französische Seglerpärchen Regine und Gerald getroffen haben. Regine hat eine Haut wie eine Schildkröte. Die sind schon einmal um die Wett gesegelt. Ibiza war übrigens grauenhaft. Sind jetzt am Festland, Cartagena heißt die Stadt, sehr schräg. Als Wahrzeichen haben die ein U-Boot in einem Springbrunnen stehen. Olé!
Liebes Tagebuch, Sotogrande, kurz vor The Rock,
diese spanische Küste ist sowas von hässlich. Wer will denn in all diesen Bungalows wohnen, die hier gebaut werden? Liegen hier in einer Marina. Draußen Gegenwind. Ich krieg bald den Koller bei den vielen MotorYachten mit ihrer Jet-Set-Klientel. Sind gestern aus dem Resort raus spaziert, um Abenteuer im Hinterland zu erleben – volle Pampa wie in Mexiko: Staub, Junk, Dreck, Pferde. Sind gleich wieder in unser Resort zurück: Bitte einmal Kaffee und Kuchen.
Was sind wir doch für heiße Abenteurer!
Gibraltar war lässig. Da hatten wir Gewürze beim Inder gekauft und hatten dann 5-o‘clock-tea mit butterscones. Abends hatten wir fish and chips gegessen. Nette Abwechslung zu den spanischen Tapas-Orgien, wobei wir ja immer noch in Spanien waren. Dieser Ort, The Rock, The Europe Point ist mir unvergesslich. Denn neben allen Annehmlichkeiten war immer ein Gefühl in meiner Magengrube: Jetzt wird es ernst, der Atlantik ruft.
Ohne Peter würde ich jetzt noch die Affen am Affenberg füttern. War doch wunderbar dort! Und wenn man so den alteingesessenen Seglern in der Marina zuhörte, gab es keinen besseren Ort und absolut keinen Grund hinauszufahren. Seeungeheuer lauerten in der Straße von Gibraltar. Nicht mal der Odysseus war da durchgefahren, also warum ich? Riesenwellen, Monsterströmungen, versenkte Schiffe, vielleicht war die Erde doch eine Scheibe und bei Tarifa, am Ausgang der Straße, zu Ende?
Peter war nicht zur Umkehr bereit. Einige Segler in der Marina schienen ebenfalls gewillt, dieses Abenteuer auf sich zu nehmen. Beim Hafenkapitän gab es sogar Listen mit empfohlenen Terminen zum Lossegeln.
Die Kanaren waren unser Ziel. Vier Tage Segeln. Ich konnte mir ehrlich gesagt kaum vorstellen, dort jemals anzukommen. Wenn wir nicht untergehen würden, würde ich vom Schlafmangel ohnmächtig werden oder beim Segelsetzen über Bord gehen. Meine Horrorszenarien erzählte ich natürlich niemanden. Nein, ich versuchte cool zu bleiben, jawohl ich freute mich auf das große Blau! Schluck.
Und dann segelten wir gemütlich unter Spinnaker aus dem Mittelmeer in den Atlantik. Dass der Wind ein paar Stunden später drehte, war Pech. Die Franzosen funkten uns an „Äs iest niescht sähr comfortable, mais c‘est ça!“
C‘est ça! Haha. Mit meinem reichen Erfahrungsschatz heute würde ich sagen: Es war ein bisschen ruppig. Und leider blies der Wind auf die Nase, aber mit günstiger Wettervorhersage, dass sich dies in vierundzwanzig Stunden ändern würde. Damals ging es mir ein bisschen anders. Die Wellen schienen mir riesig, der Atlantik war rau und grau, der Himmel bleiern und bedrohlich. Weltuntergang und ich mitten drin, auf einem Boot.
Als dann der Wind tatsächlich drehte, war ich heilfroh, ja beinahe beseelt. Meine Gefühle hatten in wenigen Tagen so an Sprunghaftigkeit zugelegt, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Zu Tode betrübt, himmelhoch jauchzend.
Auch mit den Nachtwachen ging es irgendwie. Jeder schläft irgendwann vor Erschöpfung ein.
Als Lanzarote nach vier Tagen auf See im Morgenlicht aufleuchtete, glaubte ich vor Stolz und Begeisterung platzen zu müssen. Peter ging es ähnlich und Finn hatte bewiesen, dass Legospielen auch nach vier Tagen auf See keinerlei Langeweile aufkommen lässt. Und dann ging noch der erste Thunfisch an die ausgetüftelte Schleppangel. Peter erschlug ihn noch etwas unfachmännisch mit der Winschkurbel. Das Deck war nach dem Massaker voller Blut. Aber als er den Fisch (oder was davon übrig war) am Schwanz hochhielt, flammte in seinen Augen erstmals das Funkeln des Abenteurers auf: „Ich kämpfe gegen die See und ernähre meine Familie!“, schienen sie zu sagen.
„Wir sind äschte Seglähr“, jubelten auch unsere wettergegerbten Franzosen und bei Fisch a la Lanzarote und Schokoladentorte feierten wir uns in der Marina der Kanareninsel, in der wunderschönen Marina Rubicon.
Wir hatten es geschafft! Ohne Seeungeheuer! Ohne Monsterwellen! Ohne Seenotruf!
Liebes Tagebuch, Lanzarote,
ich will auch in einem Lavahaus wohnen.
Lloyds Mastfuß leckt. Alles fließt, auch im Wohnzimmer. Das ist gelebtes Feng Shui auf dem Schiff. Dass hat Lloyd alten Ernstes unserem Franzosenpärchen erzählt und gerade hat Regine bewundernd geflötet: ”Dieser Lloyd iest sähr ésothérique. Feng Shui sur le bâteau! Formidable!” Peter hilft ihm beim Abdichten.
Irgendwann – ich denke, es war auf Curçao – trafen wir ein holländisches Paar, Anse und Joop.
Wie oft unter Seglern, hatten wir uns mehrmals gesehen, erkannt, gegrüßt, aber nie miteinander gesprochen. Nicht so an diesem Tag auf den holländischen Antillen. Ich stand vor Anse in Dreckhose, mit Mundschutz und einer Malerrolle in der Hand, mein Haar klebte schweißnass an meiner farbbesprenkelten Stirn. Anse strahlte mich an. Sie wirkte wie einem Wellness-Wochenende entsprungen, kurz vor dem Vogue-Foto-Shooting mit dem Life-Style-Thema Segeln.
„Ihr seid doch die, die in Teneriffa von den Kindern an der Leine geführt, auf allen Vieren über den Steg gelaufen seid und Schlager gebellt habt.“ Aha, unser Ruf war uns also vorausgeeilt.
Später, als wir gute Freundinnen geworden waren, gestand mir Anse, dass sie damals schon etwas verwundert gewesen sei. Besonders als einer der Segler – ich denke es war Lloyd – gemeinsam mit dem Marina-Hund (der war echt) gemeinsam aus einer Schüssel Cornflakes gegessen hatte. Lloyds Tochter Jessica, damals vier Jahre alt, spricht heute noch lebhaft davon.
Teneriffa, Santa Cruz, war für uns der pralle Einstieg ins Fahrtenseglerdasein.
Alle in der Marina warteten auf das passende Wetter, um den Atlantik zu queren, alle wollten los und alle wollten lieber bleiben. Denn Teneriffa bot Einiges: Erstens ein Bluesund Jazzfestival mit täglichen Straßenkonzerten, zweitens fantastisches Essen, drittens den Steg mit den wahnsinnigen Kinderschiffen. Da waren eben der Brite Lloyd mit dreiköpfiger Familie; die Franzosen Anabel und Fabien mit dem roten Katamaran und ihren vier Kindern; Olli und Beate aus Berlin mit ihrer Villa Kunterbunt; Stahlkarosse Bess plus Pipi Langstrumpf Elaisa; Gidi mit seinem Aluminium-Wharram-Katamaran plus lockerer Crew mit Kinderbesuch aus Wiesbaden; Yannik mit Lübecker Eltern und noch ein kleiner Vietnamese mit Eltern aus Toulouse. Dazu hatte sich unser Franzosenpärchen gesellt sowie ein freundliches Paar aus Amerika, dessen Name mir entfallen ist. Und Anse und Joop, die sich aber offensichtlich im Hintergrund hielten.
Dass die Eltern Hunde spielen, war übrigens eine Idee von Peter gewesen, um Finns Geburtstagsparty etwas aufzulockern. Höchst empfehlenswert!
Es war wie in einem Schrebergarten. Durch das Schicksal zusammengeschweißt; auf ungewisse Zeit und deswegen umso intensiver. Wir fühlten uns in diesem Kreis der Erwählten wohl; erwählt, die Karibik zu erreichen, aber zuvor natürlich den Atlantik zu bezwingen.
Keiner von uns hatte dies zuvor gemacht. Und dann passierte es: Eine Segelyacht legte an; ganz neu, die Sitzbänke noch mit Plastikhüllen geschützt. Der Skipper, göttlich cool, erklärte uns, er müsse das Schiff in die Karibik überführen. Morgen gehe es los Richtung Martinique. Er müsse ja los, denn in einem Monat warte in Kroatien die nächste Yacht. Wie bitte? In einem Monat? Nächsten Termin auf Kroatien? Der Typ redete, als würde er morgen mit der österreichischen Bundesbahn nach Laa an der Thaya fahren.
Seit drei Wochen studierten wir Wetterkarten, planten Routen, verglichen Gribfiles, verproviantierten uns immer wieder neu und dann kommt Mr. Cool und fährt gleich los?
Das brachte den Stein ins Rollen. Der große Aufbruch. Tränenreich winkten wir uns gegenseitig zu und mit Lloyd und Gidi gründeten wir die Tobago-Gogo-Rallye.
Weihnachten in der Karibik. Gemeinsam. Und dort würden wir auch eine Party in Gidis Haus schmeißen, das Haus, das er schon jahrelang aufsuchte und in dem er immer geschworen hatte, einmal auf eigenem Kiel hinzusegeln.
Wir waren nicht allein da draußen, auf dem großen Atlantik. Die Route war abgesteckt. Erste Etappe Kurs Kapverden. Gemeinsam sind wir mutig. Allein auch, natürlich, aber all diese Menschen in der Nähe zu spüren, tat mir sehr gut. Dennoch schlug mein Herz bis zum Hals, als wir Teneriffa hinter uns ließen. Adieu, Europa. Afrika, wir kommen...
Als wir die Kanaren Richtung Kapverden verließen, sah ich kurz nach Teneriffa das Einsamste, was ich je gesehen habe und wahrscheinlich je sehen werde: einen Ruderer in der hohen Atlantikdünung auf dem Weg in die Karibik. Wir hatten den Schotten Jamie in Teneriffa kennengelernt, nachdem er mit seinem Ruderboot neben uns festmacht hatte. Er wirkte verwirrt. Trockenfisch hing an Leinen quer über sein Ruderboot. Er war vor sieben Wochen in Spanien aufgebrochen und sein Wassermacher hatte nicht einwandfrei funktioniert. Am nächsten Tag wurde ein Auslegerboot ohne Mast mit sechs spindeldürren Franzosen in den Hafen geschleppt. Sie hatten keinen Schiffbruch erlitten. Sie hatten nie einen Mast gehabt. Sie segelten mit sechs Surfriggs erfolgreich über den Atlantik – wie wir Monate später erfuhren. Eigentlich fehlte in der Sammlung nur noch ein Atlantikschwimmer.
Das baute mich natürlich auf, als wir Kurs auf die Kapverden setzten. Sieben Tage Segeln. Am zweiten Morgen auf See überkam mich das Verlangen nach einer fetten salzigen Eierspeise. Früher, in meinem alten Leben als Landratte, war ich eine feurige Verfechterin des französischen Frühstücks gewesen: Milchkaffee mit knusprigem Croissant. Aber nun ließ allein die Vorstellung, Kaffee trinken zu müssen, Übelkeit in mir aufsteigen. Eierspeise, jawohl, danach stand mir der Sinn.
Übermüdet, nach zwei schlaflosen Nächten auf See, warf ich die Eier in die Pfanne und verschlang noch vor der Morgendämmerung drei Portionen. Finn und Peter wunderten sich zwar etwas über diesen abrupten Sinneswandel, aber auch sie stopften die Mischung aus Eiern, Zwiebeln, Tomaten, Chili, Pfeffer und viel Olivenöl in ihre hungrigen Seemannsmäuler.
Kurz bevor ich – wohl auf Grund dieses Eiweißschocks – in meinen ersten Tiefschlaf seit Tagen fiel, rechnete ich noch aus, ob der Eiervorrat bis Mindelo reichen würde. Er würde! Knapp, aber er würde reichen.
Das Ei-Fress-Verlangen hielt sich übrigens drei Jahre bis knapp vor Neukaledonien in der Südsee. Dort verschlang ich aus verwirrter Übermüdung, ausgelöst durch ein fettes Neuseelandtief, ein faules Ei. Ein Biss genügte. Eier? Nein danke, bis heute nicht mehr. Aber gut, jetzt bin ich ja wieder an Land und die leckeren Croissants gibt es um die Ecke.
Nicht nur die Eierspeise wurde zum täglichen Ritual auch das Aufziehen der Eieruhren. Aber nicht für die Eierspeise, nein, sondern um den jeweiligen Rudergänger wach zu halten.
Es war Folgendes passiert: Ich aß im Cockpit meine Eierspeise und konnte die Augen in der Nacht kaum offenhalten. Es ist, als wenn man gegen eine schwarze Wand segelt. Eine Vorstellung, die mir vor Monaten noch unerträglich gewesen war. Manchmal, wenn ich aus einem Zehn-Minuten-Schlaf gerissen wurde, in die laue Atlantiknacht blickte, in den mit Sternen übersäten Himmel, überkam mich ein tiefes Glücksgefühl. Ein Gefühl, ganz nah bei mir und meinem Leben zu sein. Ich zu sein. Ein komisches Ich – Eierspeise essend und löffelweise Nutella aus dem Glas verschlingend.
Auch mein Geruchsinn veränderte sich. Das liegt wohl daran, dass man sich auf das Meer und die Gerüche des Schiffs konzentriert. Wie in einem kleinen Kosmos, in einer kleinen Raumfähre irgendwo in einer fernen Galaxie. Eines Nachts roch ich plötzlich statt des üblichen Thunfisch-Salz-Geruchs Schweinemist. Das war seltsam. Ich nahm schnell einen großen Löffel Nutella, weil ich an eine Sinnestäuschung glaubte.
Aber nein, es wurde schlimmer. Ich sah Lichter!
Ich sehe gerne Lichter am Horizont, wenn ich weiß, voraus ist Land, eine Bucht, sind Menschen. Aber warum sehe ich Lichter mitten auf einem Ozean, Meilen weit weg von jeder Küste?
Es konnte sich also nur um ein Schiff handeln. Ich weckte Peter, ich musste dieses Schweinemist-Licht-Erlebnis dringend mit jemandem teilen. Es stellte sich nach einem fröhlichen Funkgespräch heraus, dass dieser Lichterhaufen am Horizont ein Cargo-Schiff mit einem koreanischen Kapitän war, der uns sein Leid klagte, dass seine Schweinefracht zum Himmel stinke. Den Schweinen war schlecht, denn das Schiff stampfe gegen den Wind und gegen die Wellen. Es war schön, mit jemandem so weit draußen auf dem Ozean zu plaudern, sich zu verbrüdern, ein bisschen zu lachen und sich alles Gute zu wünschen. Ein anderer Kosmos eben.
Und dann im Morgenlicht: Mindelo, die Kapverden, Afrika. Sieben Tage waren wir auf See gewesen.
Sieben Tage! Wow! Einen tropischen Sturm hatte es auch gegeben, aber hinter uns. Teneriffa und ihre Schwesterninseln waren betroffen gewesen, auch die Marina, in der wir noch vor einer Woche fröhliche Stegspiele gespielt hatten, hatte schwere Schäden davongetragen. Schwein gehabt, oder?
Es war wild hier. Wir ankerten vor der Hauptstadt zwischen rostigen Tankerwracks und wenigen Fahrtenseglern. Mit dem Fernglas betrachteten wir die Häuser, waren einfach noch nicht bereit hinüberzufahren. Wir brauchten noch Schlaf in unserem Nest. In der Nacht Musik, fremde Gerüche, bleiche Lichter. Fremd. Fremd. Fremd.
Zwei Kapverdianer grüßten uns am Morgen von ihrem Fischerboot aus; Grinsen, Victory-Zeichen.
Am nächsten Morgen trauten wir uns dann doch an den Strand und George, ein Kapverde, nahm sich unseren Dinghis an und versprach, darauf aufzupassen. Es war nicht schön hier. Nein, nicht schön, aber doch trashig-schön. Die Straßen waren von den alten, verfallenen Kolonialhäusern der Portugiesen gesäumt, Menschen lachten uns an, die Kinder kicherten über Finn. Ein alter Mann stellte sich uns in den Weg, zeigte stolz sein rostiges Fahrrad aus Frankreich. Die Frauen trugen Bananentürme auf ihren Köpfen. Eine Marktfrau pries drei Maniokwurzeln an. Ein seltsamer Typ rollte Zitronen auf der Straße und schleckte sie dann ab. Schulmädchen saßen in engen Internetcafés zu fünft vor einem Computer und betrachteten Heidi Klum und Co.
Über dem Schreibtisch des Immigrationsbeamten hing ein Präsidentenbild. Seine Exzellenz in Blumenhemd mit Sonnenbrille. „Wo sind die Engländer, Mama?“ Als Finn das fragte, wurde mir erst klar, dass er sich wunderte, warum keine weißen Menschen mehr zu sehen waren. Wir waren in Afrika gelandet.
Die portugiesischen Klänge säuselten in unseren Ohren, die Sonne stach vom Himmel, der Wind fegte über das Ankerfeld. Im einzigen Yachtclub versammelten sich ein Häufchen Fahrtensegler. Ein Franzose organisierte eine Diashow im Centre Culturel de Mindelo. Der schöne mit Kerzen geschmückte Raum strahlte Gemütlichkeit aus. Wir tranken Bananen-Guaven-Rum, aßen frittierte Fischbällchen und scharfe Maniokfritten. Und plauderten mit der intellektuellen Oberschicht der Stadt.
Auf dem Nachhauseweg lernten wir David kennen. Er sprach uns am Strand in perfektem Englisch an. Als er hörte, dass wir aus Österreich waren, wechselte er ins Deutsche. Er habe sich die Sprachen selbst beigebracht, Segler hätten ihm Wörterbücher geschenkt, vor einem Jahr. Jetzt lerne er gerade Französisch. Er wolle nach Europa. Zurück in den Senegal könne er nicht, er sei vor einem Jahr geflüchtet. Wegen der Politik. Er fragte uns nach Visabestimmungen in Österreich, nach Chancen für ihn. Ob wir einen Weg für ihn wüssten, eine Adresse, eine Telefonnummer. Er schlief im Park und musste sich vor den Drogendealern verstecken. Sein Blouson war sauber, ebenso seine Jeans. Seine Augen klar und tapfer.
Am letzten Abend vor unserer Weiterreise fand ein großes Konzert auf dem Marktplatz statt. Kapverdische Musik, einen Mischung aus portugiesischem Fado, südamerikanischen Rhythmen, doch vor allem viel afrikanischen Klängen. Alle tanzten: Die Marktfrauen, die Schulmädchen, die Zollbeamten, die Bettler, die Drogendealer, die Flüchtlinge aus dem Senegal und wir; die Segler aus Österreich. Die Männer und Frauen wiegten sich eng umschlungen im Rhythmus dieser Nacht. Sicher noch lange, denn als wir schon in unseren Kojen lagen, hörte ich noch immer die wilden, traurigen, feurigen, sehnsuchtsvollen Lieder der Menschen von Mindelo.
Liebes Tagebuch, Mindelo,
ich sitze in meiner kuscheligen Koje. Ich habe so viel. So viel, dass es für viele hier immer unerreichbar sein wird. Drüben schläft David im Park, unter der Flutlichtanlage. Schrecklich, kein zu Hause zu haben. Ich mag nicht für immer hier bleiben, holt mich hier raus...
Whuooooooooo, morgen segeln wir in die Karibik. Gidi segelt auch los. Das hilft. Ok. Ich bin bereit!
6. Dezember
Sind unterwegs. Tropical Storm geht Ost und schwenkt dann Südwest. Gehen auf 15° Nord. 2.140 Seemeilen liegen vor uns. Habe ein gutes Gefühl, weit genug von dem Tief weg zu sein. Gute Entscheidung.
7. Dezember
8.00 Uhr: In der Nacht hat sich das Gestänge des Autopiloten gelöst. Konnte es wieder neu verschrauben. Gott sei Dank, nichts gebrochen. Spinnaker gegen Gennaker Gewechselt. Bin Nicht Sicher. Wellen Sehr Kabbelig Und Wind unbeständig. Nervt.
17.30 Uhr: Fisch an der Angel. Einen Meter lang!!!
20.00 Uhr: Herbs „Atlantik-Net" auf der Funke gehört. Gute Wetterinformationen. Wind hat etwas zugelegt, zirka 15 Knoten, zwei bis drei Meter Welle.
8. Dezember
Nähen seit vier Stunden den Spinnaker. Er ist durch den Bergeschlauch beim Aufziehen total gerissen. Das hat nie zusammengepasst.
20.20 Uhr: Starker Regen und wenig Wind. Sammeln viel Wasser. Dümpeln mit vier Knoten dahin.
9. Dezember
12.00 Uhr: Herrliches Segelwetter. Die ersten Passatwolken sind zu sehen. Haben alle geduscht.
10. Dezember
In der Nacht brach der Schäkel des Spinnakerfalls und der Spinnaker kam unters Boot. Alles geborgen. Nähen wieder.
11. Dezember
In der Nacht fünf Stunden motort! Null Wind! Nervt!
12. Dezember
12.00 Uhr: Ganzen Tag wechselnde Winde. Jetzt endlich mit 4,5 Knoten unterwegs. Gennaker gesetzt.
18.00 Uhr: Squall. In 30 Minuten 25 Liter Wasser in den Wasserbottichen.
21.00 Uhr: Gewitter ist vorbei, Nordost-Wind. Es läuft endlich! Machen sieben Knoten Fahrt.
13. Dezmber
Position: Nord 14° 11'; West 041° 51'
Bergfest!!! Der halbe Weg ist geschafft. Wir feiern mit warmem Champus und Schokotarte mit Vanillemousse!
Endlich ist der Passat stabil! Es läuft! Läuft! Läuft! 234 Seemeilen Tagesetmal! Rekord! Sind mit zehn bis elf Knoten unterwegs! Jippiiieee!
17. Dezember
Kurs: 276°. In den letzten Tagen haben Idealbedingungen geherrscht. Noch zwei Thunfische, blauer Himmel, Wind jetzt auf 20 Knoten eingependelt. Herrliches Passatsegeln.
Fühle mich etwas krank; habe Ohrenschmerzen, wahrscheinlich vom Wind.
18. Dezember
In der Nacht Squalls, Böen mit 30 Knoten, haben die Segel reduziert. Maximaler Speed 12 bis 13 Knoten! Surf! Au-Wau-Wahnsinn!!!
14.30 Uhr: Eine Goldmakrele am Haken. Konstant sieben bis acht Knoten Speed, Alex ist entspannt und macht Fischfinger!
20. Dezember
13.30 Uhr: Risho läuft in ihren Stall! Herrliches Segeln!
21.00 Uhr: Es ist noch immer hell. Karibik-Zeit!
Segeln unter Gennaker bis sechs Knoten, das Schiff hebt sich, hebt sich und dann zschschschsch rein in die Arme des Ozeans... Ich liebe das Meer!!!
21. Dezember
10.00 Uhr: Land in Sicht!!! Position: N 11° 27,789', W 060° 10,264'
12.00 Uhr: Starke Strömung mit zirka drei Knoten um die Insel, versetzt uns ordentlich nach Nordwest.
14.30 Uhr: Noch sechs Seemeilen zum Wegepunkt.
16. 30 Uhr: Wir laufen in die Man of War Bay ein, bin sehr, sehr glücklich. Alles grün hier, so herrlich grün, Pelikane!!!
17.00 Uhr, Local Time 14.00 Uhr: Der Anker fällt in Sandgrund auf acht Metern Tiefe. Wir haben es geschafft!!!
Auf See passieren Dinge mit einem, die man nie erwartet hätte. Ich begann eifrig zu nähen, dabei hasse ich nähen. Wie kam das?
Lloyd hatte auf Teneriffa an einem der vielen illustren Abende am Kindersteg eine interessante Theorie aufgestellt. Das, was einem auf dem Schiff die größten Probleme macht, spiegelt verschlüsselt wieder, was einem im Leben – abseits der See – am meisten zu schaffen macht. Er nahm sich selbst, nachdem wir ihn etwas verständnislos angeblickt hatten, als Beispiel:
Lloyds Schiffstoilette war immer verstopft. Was bedeutet das nun für ihn laut Theorie? Er meinte, zwar leide er selbst noch nicht an Verstopfung, könne aber offensichtlich irgendetwas nicht loslassen. Vielleicht sein altes Leben als Marine- Offizier? Dass er lieber mit Atomkraft-Gegnern Tee trank, als Atom-U-Boote zu beschützen? Er meinte, die Toilette zeige ihm, woran es noch fehle. An Mut vielleicht oder Konsequenz?
Bei mir war es immer der Spinnaker. Der Spinnaker, das Leicht- und Vorwindsegel. Meist heiter bunt gestreift. Prachtvoll anzuschauen, aber sehr sensibel zu steuern, wenn man damit segelt. Bei den Vorbereitungen zu unserer Reise, traf ich auf einen alten Seebären, der meinte: „Schatzerl, tua da nix an, am Atlantik gibst den Spinnaker drauf und zwei Wochen später gibst ihn wieder runter.“ Das klang schon damals gut in meinen unschuldigen Seefrauenohren.
Am zweiten Tag Richtung Karibik, zirka 2.100 Seemeilen vor Tobago, blieb der Spinnaker im Bergesack hängen und zerriss mit einem unglaublichen „Raaaaaaaatsch!“
Sicher keine Katastrophe, wenn man bedenkt, dass zahllose Fahrtensegler nicht mal einen Spinnaker an Bord haben. Das wusste ich jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber so wie das eben in einem anderen Kosmos ist, fernab des Gewohnten, allein auf See, war genau das für mich die Katastrophe schlechthin. Laut schluchzend kniete ich auf dem Vordeck, den zerfransten Spinnaker in meinen zitternden Händen, abgrundtief verzweifelt: „Der Spi, der Spi, wir haben keinen Spi mehr. Heul heul heul...!“ Peter nahm dieses Häufchen Elend in seine Arme, tröstete mich, zählte mir geduldig unsere zahllosen anderen Segel auf. Ich war nicht zu beruhigen. Weltengram. Ich verzog mich wimmernd in meine Koje und vor meinem verdienten Seglerschlaf schwor ich mir, diesen Spinnaker wieder in Stand zu setzen.
Und hier kommt Frau Lehman ins Spiel; meine nicht sehr verehrte Handarbeitslehrerin, die meine Riesenfersenstricksocken und meine vermurksten Faltenrockversuche nie besonders geschätzt hatte. Ich musste intensiv an sie denken, als ich die darauffolgenden zwei Tage durchgehend wie besessen an dem Spinnaker nähte. Frau Lehmann wäre stolz auf mich gewesen.
Fünf Tage segelten wir mit meinem Kunstwerk. Schön war die Naht nicht, aber unter den gegebenen Umständen und für mein Anti-Nähtalent wirklich beachtlich, wie mir später auch eine Segelmacherin auf Curaçao bestätigte.
Bergesack hatten wir keinen mehr. Es kam, wie es kommen musste, als die Bergung des 80-Quadratmeter-Segels in einer heftigen Bö misslang. Der Spinnaker wurde unter das Schiff gezogen und zerriss diesmal in Längsrichtung. Vier lange Meter. Frau Lehmann musste in diesen Tagen gespürt haben, dass eine geheime Macht sie auf den Atlantik zog. Stumm, mit versteinerter Miene nähte ich los.
Irgendwann gelang es Peter, doch zu mir vorzudringen und mir klarzumachen, dass bei 30 Knoten Passat von hinten kein Spinnaker nötig wäre. Und außerdem würden wir in vier Tagen ankommen. Dann könnten wir jemanden finden, einen Segelmacher vielleicht.
Ich arbeitete wie besessen weiter. Finn und Peter warfen sich heimliche Blicke zu und wechselten das Thema. Was bedeutet nun der Spinnaker für mich? The Spi for me? Nach Lloyds Theorie, meine ich. Dass mir die Leichtigkeit fehlte, die Vielfarbigkeit, dass ich vielleicht ein bisserl Spi....nne? Me and the Spi?
Ich nähte ihn zu Ende. Um sicherzugehen, klebte ich ihn sogar zusätzlich. In Tobago trafen wir wieder Segelfreund Gidi, der uns seinen Zweit-Spinnaker mit Freuden verkaufte. Den Alten behielten wir. Ich konnte mich nicht trennen. Erst drei Jahre später im Indischen Ozean. Er ging an Segelfreund Ian, der ohne Spi unterwegs war. Er übernahm ihn auf See und bezwang damit auf seiner Afriki ohne Diesel den Indischen Ozean. „Was sagen sie nun, Frau Lehman?“
Zurück auf dem Atlantik schimmerte dann tatsächlich einige Tage später die Märcheninsel Tobago am Horizont und der Ozean grinste mich mit seinen gekräuselten Riesenwellen an und schnaufte freundlich: „Just take it easy, baby! Relax! Forget the Spi! You crossed the Atlantic sea!“
Das mit dem Atlantik war so: Viel Wasser rundherum und sonst nix. Die Oldies waren ein bisserl schräg auf dem Trip. Der Papa hat eine Verkühlung gekriegt, wie zu Hause beim Weihnachtsstress.
Stress?! Was ist das? Ob ich Lego oder Playmobil spielen soll und wer mir diesmal Asterix vorliest? Jetzt kann ich das schon selber, bin froh, denn manchmal ist Mama mitten beim Lesen eingeschlafen. Nicht sehr super.
Die Mama! Das mit dem Spinnaker war lustig. Irgendwann hat sie mich gefragt, was ich denn so über die Atlantiküberquerung erzählen kann. Man tut spielen und nähen. Das hat sie nicht witzig gefunden. Eierspeise haben wir viel gegessen. Und Fisch. Der Papa war dann einmal beleidigt, weil die Mama gesagt hat, als er einen Fisch an der Angel hatte: „Nicht schon wieder...“