Die Zeichnungen in Kapitel 4, basierend auf den Originalen von Meister Kuo-an, stammen von Hugh Rance.
Die Texte dieses Bandes erschienen von 1980 bis 1984 in Fortsetzungen in Zen Traces, dem Vierteljahresheft des Zen Centre London. Copyright © The Zen Trust, London 1984.
Deutsche Rechte: Copyright © Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg 2015. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen Verwertung bleiben vorbehalten. Umschlagfoto: YuriZap / Shutterstock.
ISBN (eBook) 978-3-932337-76-5
ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-932337-62-8
www.kristkeitz.de
Vorwort
1. Einleitung – Die Suche nach Ganzheit
2. Betrachtungen
3. Zen-Buddhismus
4. Die Reihe der Bullenbilder
5. Die Analytische Psychologie C. G. Jungs
6. Rundgang
7. Das Kreuz und der Kreis
8. Das Wechselspiel zwischen hell und dunkel
9. Der Weg nach Hause
10. Darüber hinausgehen
11. Das Bedürfnis nach Transformation
12. Weg-Weiser für die Reise
13. Sila, Dhyana, Prajna
14. Auf dem Weg
15. Immer und immer wieder
16. Zazen – Sitzmeditation
17. Übung und Studium
18. Die Lehren und die Praxis
19. Einsicht / Weisheit
Dieses Buch ist recht kurz, ein Text von nur rund zweihundert Seiten, und doch umfasst der Inhalt unsere tiefsinnigsten Angelegenheiten – Dinge, die über uns hinausreichen, aber gleichzeitig uns am vertrautesten sind. In den Worten der Autorin ist «uns eine Sehnsucht, ein Verlangen angeboren, das nicht abzuleugnen ist. Wohin oder auf was es gerichtet ist, können wir nicht wissen.» Hier wird uns ein Führer, ein Handbuch gegeben, das uns anhand verschiedener Quellen zurückbringt zu der «Stelle, wo unsere eigenen Füße stehen», von wo aus unsere Reise beginnt und wo sie endet. Die Autorin widmete einen Großteil ihres Lebens dem Studium und der Unterweisung des Zen-Buddhismus, sowohl in Japan als auch in England, wo sie zwei Trainingsklöster gründete. Das Buch beschränkt sich aber nicht auf die buddhistische Glaubenslehre, sondern umfasst in einer großen Reichweite sowohl die Mythologie und große Religionen des Ostens und des Westens als auch die Einsichten hervorragender Denker des 20. Jahrhunderts wie C. G. Jung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Buddhismus dabei vernachlässigt würde; im Gegenteil werden sein Geheimnis und seine Einsichten durch die Linse unserer universellen und gemeinsamen mythologischen und religiösen Geschichte verlebendigt. Obwohl der Buddhismus Kette und Schuss des Textes ist, wird durch diese Perspektive auch das Zen-Training, und insbesondere das Rinzai-Training, klar herausgestellt.
Das Buch kann jedoch von jedem gelesen werden, unabhängig von Glaube, Religion oder Kultur, wenn ein Interesse vorhanden ist und ein echtes Verlangen, wissen zu wollen, was unter der oberflächlichen Fassade des Bewusstseins liegt. Erkennt man dieses Verlangen, dient das Buch hoffentlich als Auslöser, weiter und tiefer zu suchen. Dieser Gesichtspunkt des Buches verweist auf die universelle Erkenntnis, die wir alle besitzen, derer wir uns jedoch nicht bewusst sind. Diese Einsicht führt auch weit über die engen Grenzen von Rasse, Religion und Nation hinaus und verweist auf das, was uns als Menschen vereint – auf unser gemeinsames menschliches Herz, das Schmerz und Verlust, Freude und Leid empfindet und dennoch gleichzeitig seine eigene individuelle Begrenzung überschreiten kann, und in dieser Transzendenz vereint es uns alle.
Das Buch gibt den Lehrstil und das Empfinden der Ehrw. Myokyo-ni wieder, sowie auch ihre Interessen und Anliegen, immer mit dem Hinweis darauf, «wo unsere eigenen Füße stehen».
Dr. Desmond Biddulph,
Präsident der Buddhist Society London, 2013
Die Erde, auf der wir leben und von der wir ein Teil sind, ist selbst Teil des Sonnensystems. Und dies ist wiederum nur ein Fleck in den äußeren Bereichen der Milchstraße. Auf den nächtlichen Himmel aufgetupft durchquert die Milchstraße das Himmelszelt, das wie ein Fenster unseren Blick begrenzt. Ihr Anfang und Ende befinden sich außerhalb unserer Sichtweite, und die Ausdehnung des Universums können wir uns nicht vorstellen. Dennoch sind wir ein Teil davon; dieselben Gesetze prägten uns, sind auch in uns vorhanden, und wir sind ihnen unterworfen. Das Verlangen danach, uns selbst zu finden, ist die Sehnsucht, uns der Bezogenheit bewusst zu werden.
Die Wanderung der Erde um die Sonne markiert für uns eine Zeiteinheit, unser Jahr mit dem Wechsel der Jahreszeiten, und vermittelt uns ein Zeitgefühl, ein Bewusstsein von «Erscheinen und Vergehen» und Erneuerung, die auch Evolution und Entwicklung ist. Die Drehung der Erde bei ihrem Lauf um die Sonne lässt uns Hell und Dunkel, Schlafen und Wachen, Arbeit und Ausruhen erleben, ferner das Gewahrsein des hellen Tages und das Träumen in der Dunkelheit des Schlafes. Bei Licht sehen wir so weit, wie es unsere Augen zulassen. Aber in der Dunkelheit gibt es an dem von Sternen übersäten Himmel ein Raunen über Dinge jenseits unseres Wissens, außerhalb unserer bewussten Wahrnehmungen und Grenzen, und erweckt in uns etwas, von dem wir keine Kenntnis haben und zu dem wir ganz natürlich eine Neigung verspüren.
Bei unserer kleinen täglichen Runde zwischen dem Sichaufraffen und dem Wieder-müde-Werden verlieren wir diese Bezogenheit aus den Augen, in der wir unser Sein haben und ohne die der Saft des Lebens in uns austrocknet. So nahmen wir von alters her Zuflucht zu Symbolen, die uns an unsere Bezogenheit und unseren Daseinsgrund erinnern und sie immer wieder in uns ins Leben rufen. Wir kennen diese Symbole als Attribute des Göttlichen; und sie vermitteln uns zumindest eine Ahnung von ihm. Welchen Namen wir dem Göttlichen auch immer geben mögen, sei es dem Göttlichen selbst, seiner Essenz oder seinem Wesen, so kennen wir es doch nicht und können es auch nicht kennen, denn es ist nichts von uns Abgetrenntes und liegt nicht außerhalb von uns. Wir sind nicht davon geschieden, obwohl wir es nicht sehen können. Ebenso können wir das Leben selbst nicht kennen; nur indem wir es leben, wird dies möglich.
Worte wie «Leben» oder «das Göttliche» sind lediglich Namen und Abstraktionen, die uns eine Ahnung und ein innewohnendes Empfinden begrifflich nahebringen, die die Kraft besitzen, uns zu berühren. Der Teil von uns oder in uns, der auf diese Weise berührt wird, wird ebenfalls unterschiedlich bezeichnet. Aber wenn wir uns bewusst sind, dass wir bewegt werden und darauf antworten, haben wir es nicht mehr nötig, uns auf Worte zu verlassen, sondern erkennen es unter all seinen Namen. Das Wort «Geist» für das, was bewegt, und «Seele» für das, was bewegt wird, dies sind bekannte Worte von alters her. Wir müssen aber vorsichtig sein, denn sie haben für uns christliche Konnotationen, die nicht zwangsläufig zutreffend sind.
Die Seele ist von Natur aus religiös. Aber wenn der lebendige Geist verloren geht, bleibt eine tote Schale zurück und Worte werden bedeutungslos. Der Geist, der sich bewegt, wie er will, ist woandershin gegangen. Der lebendige Geist muss sich bewegen. Wenn seine ihm eigentümlichen Wege blockiert werden, versanden seine Quellen, und dann müht sich der Geist in der Einöde ab. Er beginnt wie eine Flutwelle anzusteigen, zwängt sich in Strombetten hinein und erfüllt Formen, die für seine Natur ungeeignet sind. Dann scheinen eine politische Überzeugung oder ein neuer Trend, wie naiv, gewöhnlich oder reißerisch sie auch formuliert werden, plötzlich mit allen Attributen des Göttlichen durchtränkt zu sein, mit der überwältigenden Faszination des Geistes. Oder, neutraler ausgedrückt, wenn geeignete Formen fehlen, dann drapiert sich die Intensität des Geistes wie ein leuchtender Schleier über das minderwertige und unpassende Objekt und täuscht uns auf diese Art und Weise. Wie kann der Geist täuschen? Oder täuschen wir uns selbst, weil wir nicht das Numinose des erschienenen Geistes von dem banalen Gegenstand differenzieren können, in den er sich notgedrungen hineinprojiziert hat, da passende Wege und Symbole fehlten. So werden wir verwirrt und geblendet. Dann lebt der Geist nicht auf, sondern führt zu Chaos und Verwirrung wie ein Irrlicht über einem Sumpf oder eine Fata Morgana in der Wüste.
Diese verlockenden Umwege sind besonders in den Zeiten verführerisch und einladend, in denen traditionelle Werte verloren gegangen sind, wo Unruhe und Verwirrung herrschen sowie ein Mangel an Demut. Eben solche Zeiten, in denen wir jetzt leben.
Irrlichter und Fata Morganas sind nichts Neues; sie sind gut dokumentierte Phänomene, deren Ursachen man kennt. Dennoch sind wir ihnen unterworfen, wie auch den wohlbekannten und bestätigten innerlichen oder spirituellen Umwegen; so sehr sie auch ihre Formen verändern und unter neuen Namen auftauchen, sind sie nichts eigentlich Neues.
Wie das Wasser zum Fließen nach einem Gefälle sucht, so sucht die Seele den Geist. «Seele» ist heutzutage ein problematischer Begriff. Seele ist keine bekannte Einheit, sie besitzt keine Form; ihre Existenz kann rational abgestritten werden. Die vertraute christliche Konnotation ist verschieden von dem, was die Römer unter «anima» verstanden, dem beseelten oder wesentlichen Teil, dem, was belebt. Sie reicht über die engen Grenzen des abgetrennten Individuums hinaus, sie ist der Atem des Lebens und eröffnet die Beziehung zu dem, was ist. Dies ist gleichbedeutend mit dem Herauskommen aus der Entfremdung eines einsamen, abgetrennten Ichs.
Wenn die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Religion in ihrer vorchristlichen Konnotation von religio betrachtet wird, dann wird ihre Funktion als Wiederverbindung eines individuellen abgetrennten Ichs mit seinem Daseinsgrund angesehen, mit der Matrix, aus der man entsteht und zu der man zurückkehrt. Dies ist nicht als Auslöschung zu verstehen, sondern als Erfüllung, ebenso wie sich das Wasser aus dem Meer erhebt, dann aber unwiderstehlich seinen Heimweg sucht. Ein entfremdetes Ich fürchtet diese Heimkehr nach Hause und verkörpert eigentlich diese Angst. Die Wiederverbindung durch einen religiösen Weg beseitigt diese Angst, die Ich-Entfremdung, und stellt so für das Individuum sein Geburtsrecht wieder her. Wenn man das wirklich versteht, sind die meisten Probleme gelöst. Dies ist das Versprechen, das eine solche Wiederverbindung beinhaltet.
Es stellt sich die Frage, wie man heutzutage eine solche Wiederverbindung herstellt, wenn spirituelle und kulturelle Werte nicht vorhanden sind, ohne dabei einer modischen Strömung zum Opfer zu fallen, die zu Abwegen und einer falschen Spiritualität führt. Wie trifft man die Wahl? Eine echte Marke besitzt stets ein Gütezeichen. Gute Qualität verrät sich dem anspruchsvollen Auge von selbst; was verführerisch verpackt ist – nun, das ist gute Verkaufstechnik –, muss nicht unbedingt gute Qualität haben. Ob wir es zugeben wollen oder nicht: Gute Qualität ist mit Zeitaufwand und Anstrengung verbunden. Irgendetwas Unaussprechliches, aber seltsam Heimisches haftet daran, eine unspektakuläre Einfachheit, die einfach dazugehört und die nicht gekünstelt oder gestellt, sondern natürlich ist.
Versuche, den lebendigen Geist zu fassen und zu besitzen, sind stets mit minderwertigen, unpassenden Gefäßen verbunden und schlagen zwangsläufig fehl. Der Geist gehört niemandem. Darüber hinaus deuten die Attribute des Göttlichen, die so gewaltig, Ehrfurcht gebietend und überwältigend sein können, zweifelsohne auf ihr enormes Energiepotenzial hin, das blenden, verbrennen oder zerschmettern, aber auch wärmen und stärken kann. Die Folgen hängen vom Empfänger ab – nämlich von uns. Es scheint ein Gesetz zu wirken, wobei je unpassender das aufnehmende Gefäß ist – das nicht nur von meinen groben Bedürfnissen, sondern noch viel mehr von meinen Vorstellungen, Ansichten und Idealen bestimmt wird –, desto größer ist die Täuschung durch den Geist, der dann zerstörerisch wirkt.
Beim genaueren Hinschauen mag dann die Funktion der Religion darin gesehen werden, uns so vorzubereiten, dass eine Wiederverbindung ohne größere Zwischenfälle stattfinden kann. Je mehr ich, der Empfänger aller Folgen, entfremdet bin, desto mehr Vorbereitung, d. h. Zeit und Anstrengung, ist erforderlich.
In einem Zeitalter wie dem unsrigen, in dem echte religiöse Werte ihre Bedeutung eingebüßt haben, ist es wahrscheinlich schwierig, zu erkennen, dass diese Vorbereitung eine zweifache Funktion besitzt oder mit den zwei möglichen Erfordernissen eines Individuums zu tun hat. Zuerst verbindet und verknüpft sie das Individuum mit seinem Platz als verantwortliches Mitglied seiner Gemeinschaft samt der spirituellen Werte, zu denen sie sich bekennt. Auf diese Weise «wieder»-bezogen und «wieder»-vereint haben das individuelle Leben und das individuelle Schicksal Bedeutung und Zweck in einem größeren Kontext, sowohl in der weltlichen als auch in der religiösen Sphäre, und so erlebt das Herz sogar inmitten von Zwist und Kampf eine Zufriedenheit, denn es ist nicht mehr von seiner heimischen Grundlage entfremdet. Ich bin nicht mehr ausgeschlossen wie ein Vertriebener in einer mir fremden und bedeutungslosen Umgebung, zu der ich weder Bezug habe noch sie zu mir. So ähnlich scheint der Schritt zu sein, den wir alle tun müssen, und worauf wir hinarbeiten und uns vorbereiten müssen – nicht nur zu unserem eigenen Wohl, sondern zum Wohl aller.
Es gab aber schon immer Menschen, und es wird sie immer geben, die sich nicht nur damit zufriedengeben. Bei einigen Individuen gibt es etwas, was sie zu weiterer Entfaltung drängt, nicht gegen, sondern über die Gemeinsamkeiten mit ihrer Verbundenheit hinaus. Dieser zweite Schritt, der von Seiten der Gemeinschaft wie eine Befreiung aus ihrem Kreis heraus gesehen wird, ist keine Auflehnung gegen sie, wie es so leicht missverstanden wird, wenn die Anstrengung der Einbindung niemals geleistet wurde. Diese Anstrengung scheint jedoch die Vorbedingung zu sein, der «Qualitätsfaktor», der das Individuum dazu befähigt, seine Nacktheit der Geistesnähe auszusetzen. Der einzige Sicherheitsfaktor bei diesem hochgradig gefährlichen Unternehmen ist vollständige Nacktheit, ein von allen Attributen und Anhäufungen entblößtes Ich, die Unschuld eines kleinen Kindes. «Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein» – was sehr verschieden davon ist, lediglich kindlich zu sein! Ich tue mich natürlich schwer damit, diese Nacktheit zu erlangen, und so ist die befreiende Funktion der Religion ein Weg, dem Individuum zu helfen, diese Attribute wieder loszulassen, um deren Erwerb er sich so hart abmühen musste. Wenn diese Attribute abgestreift werden, ist es jetzt ihre Kraft, die bei ihrem Erwerb erarbeitet wurde, die als Durchhaltevermögen benötigt wird. Alle Traditionen zeigen diesen Weg des Abstreifens als einen tatsächlich sehr schwierigen. Wenn vom Ich nichts mehr verbleibt außer Durchhaltekraft, kann man sich dem lebendigen Geist nähern, und es kann eine Verschmelzung stattfinden, die die Persönlichkeit neu strukturiert, erneut bestärkt und erweitert. In buddhistischer Sprache ist dies der Weg, der beim trügerischen Ich beginnt, durch das Nicht-Ich hindurchführt, was als Tod erlebt wird, als Großer Tod hin zum Leben, bis zum bewussten Gewahrsein des lebendigen Netzes der Gesamtheit, d. h. der Buddha-Natur, dem wahren Gesicht, bevor Vater und Mutter geboren waren, wo die einzelne Welle sich ihrer Ozean-Natur bewusst wird, dessen, dass sie Ozean ist. In der christlichen Symbolik wird Christus sowohl als der Sohn Gottes als auch als Menschensohn betrachtet. Das jungsche Konzept der Individuation zeigt dies als den Wechsel vom Ich zum Selbst.
Da die Schwierigkeiten ganz offensichtlich sind, muss dann noch betont werden, dass es selten in seiner Fülle verwirklicht wird. Gestalten wie der Buddha oder Jesus ragen heraus wie Leuchtfeuer über Jahrtausende hinweg. Wir müssen Unterschiede anerkennen. Wenn doch alles das Gleiche wäre, warum sollten wir uns dann aufraffen? Wenn wir alles auf unserer eigenen Ebene haben wollen, dann müssen wir alles herunterziehen, was mehr ist. Eine Massengesellschaft beraubt das Individuum seiner Würde; aber die Demut ist mit Würde verbunden wie die Vorder- und Rückseite einer Münze. Heutzutage herrscht ihr Gegenteil vor, nämlich der Mangel an Identität und übersteigerte Ansprüche. Ahnen wir denn nicht, dass unsere areligiöse Massengesellschaft, in flagrantem Widerspruch zur christlichen Botschaft und Ethik, sich nicht nur zur klassischen Antike hin zurückentwickelt, wo zumindest ein freier Hausherr eine Seele mit der Würde eines Individuums besaß, sondern hin zu reiner Barbarei unter einem Despoten, dessen Untergebene nichts als Verbrauchsmaterial sind? Wundern wir uns, dass das Christentum, das jedem Mann, jeder Frau und jedem Sklaven eine Seele, die Würde und Einzigartigkeit eines Individuums gab, sich wie ein Lauffeuer zu einer Zeit ohne Massenmedien ausbreitete, ohne Fernsehen, Radio, Zeitungen, wo sich Nachrichten mit der Höchstgeschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes verbreiten konnten? Haben wir jemals die Religion verstanden, die unsere Kultur geprägt hat und zu der sich unsere Vorfahren über Generationen hinweg zumindest bekannten? Haben wir noch nie eine Ahnung davon gehabt, dass die Botschaft lautete, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst – und dass dies weniger mit unserem Nächsten als mit uns selbst zu tun hat? Haben wir es gelernt, uns wirklich in dem Sinn selbst zu lieben, dass wir uns zumindest akzeptieren und ertragen, anstatt achtlos einem Idol zu dienen, einem Bild von dem, was «ich» zu sein glaube und wünsche?
Dies sind wichtige Fragen, denn Mildtätigkeit beginnt zu Hause. Ein chinesisches Sprichwort sagt, dass sogar eine Reise von tausend Meilen direkt unter den eigenen Füßen beginnt. Wie kann ich mich sicher auf eine Reise mit einer festgelegten Richtung begeben, wenn ich nicht einmal weiß, wo meine eigenen Füße stehen? Wir möchten den zweiten Schritt vor dem ersten tun, und wir neigen zu der großen Geste, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Aber der Weg zum Geist hin, der der Weg des Geistes ist, besteht nicht in der großen Geste, sondern ist ein geduldiger, gewissenhafter Weg, Schritt für Schritt; ein Weg des Ablegens, kein Weg des Ansammelns.
Obwohl dieser Weg viele Namen hat, ist es nur ein Weg. Erfahren und von Wanderern unterschiedlich mit Markierungen und Stadien in verschiedenen Traditionen beschrieben, bleibt er doch letztlich derselbe Weg, und das Begehen des Weges konfrontiert alle Pilger mit denselben Schwierigkeiten und eröffnet allen Reisenden die gleichen Aussichten.
Es gibt einen Zenspruch, der besagt: «Im Spurlosen kommt der Weg zu einem Ende!» Zum Spurlosen hin gibt es viele Pfade. Wie unterschiedlich diese auch zu sein scheinen, so finden die eigentlichen Wanderer doch viel gemeinsamen Boden und bekannte Stadien auf diesen gut ausgetretenen Pfaden vor. Diesseits der großen Kluft ist das Gebiet gut erforscht und kann beschrieben werden. Keine echte Überlieferung über den Weg kann «das andere Ufer» beschreiben; sie wird nur in einfachen Analogien darauf hindeuten und es dabei belassen. Sicherheitshalber wird auch davor gewarnt, nicht den auf den Mond weisenden Finger für den Mond selbst zu halten. Aber gerade die Existenz dieser Überlieferungen ist ein Versuch, mit anderen Interessierten gesammelte Berichte über eine Essenz, einen Geist oder ein Prinzip zu teilen, das alles durchdringt.
Uns ist eine Sehnsucht, ein Verlangen angeboren, das nicht abzuleugnen ist. Wohin oder auf was es gerichtet ist, können wir nicht wissen. Aber es drängt uns, ein Bild oder eine Vorstellung davon zu machen, und zwingt uns geradezu, darauf hinzustreben. Dieses vorgestellte «Ziel» kann zwischen einem himmlischen Königreich und einem neuen Auto variieren, ist aber eigentlich ein falsch verstandenes Bild dieses Verlangens, wie es sich in uns reflektiert. Der Energiegehalt des Verlangens scheint dann in dem Bild stecken zu bleiben, das uns jetzt auf schicksalhafte Weise anzieht. «Wenn wir das nur bekommen könnten, dann wären wir glücklich – d. h. erfüllt – für immer!» Dieses Bild drapiert sich wie ein schimmernder Schleier über einen Träger – ein Auto, eine Person, eine Idee. Es mag kurz- oder langlebig sein, aber Erfüllung kann man durch den Besitz nicht finden. Wenn es einmal in unseren Händen ist, wird der Schleier dünner und die Anziehungskraft lässt bald nach. Wonach sich das Herz wirklich sehnt, können wir wegen des Bildschleiers nicht erkennen. Wie die Farben des Regenbogens brechen auch die Bilder das eine Licht und lassen uns nach einer Farbe aus dem Ganzen streben. Diese Jagd nach den Regenbogenfarben wird im Buddhismus als grundlegender Fehler angesehen. Die Auswahl einer Farbe und das Streben danach bedeutet Abtrennung, entfernt und nicht Teil zu sein von dem, was ist. Diejenigen, die diese Kette von Fehlern in Bewegung setzen, sind wir, mit unserem Auslesen und Wählen. Dies führt immer weiter fort in die Entfremdung. Wonach sich das Herz sehnt, ist seine eigene Vollständigkeit, Betrachtung ohne Auswahl, klares Sehen von dem, was ist, das Vielfältige, das eins ist, aber nicht dasselbe!
Wenn wir uns also fälschlicherweise für abgetrennt und allein halten, müssen wir dem Regenbogen hinterherjagen. Das Dilemma liegt darin, dass wir selbst keine Ganzheit kennen können, jedoch ist das angeborene Streben auf die Ganzheit hin ausgerichtet und erfüllt sich selbst darin. Die Korrektur, die auch das Ende unserer Entfremdung ist, ist das Ende vom Ich, so wie wir uns selbst kennen.
Unsere nach außen gerichtete Kultur scheint zunehmend unter dieser einseitigen Richtung zu leiden, und was auch immer vage als Korrekturbewegung aufgefasst wird, ist lediglich ein Umschwung in das entgegengesetzte Extrem und ebenso einseitig. Die Ganzheit ist jedoch allumfassend. Es ist auch eine enorme Kraft, die anzieht – ebendieses Verlangen und Sehnen, das uns keinen Frieden lässt. Wir kommen nicht umhin uns anzustrengen. Wenn wir aufhören können, von ihm Götzenbilder zu erstellen oder es außerhalb in Bildern zu suchen, werden wir uns seiner Wirkung in uns selbst bewusst. Im Diamantsutra warnt der Buddha: «Wer mich in Bildern sucht, nach mir im Klang forscht, dessen Schritte geraten auf Abwege, und er kann den Tathagata nicht sehen.»
Jedoch leiden wir, wenn wir keine Bilder herstellen, unter dem Mangel an Erfüllung, unter einer allgemeinen Unzufriedenheit; wir werden uns der Unruhe in uns und unserer Zeit bewusst, oder wir wachen in den frühen Morgenstunden durch ein leises Stimmchen auf, das uns zuflüstert, dass etwas fehlt, und uns zur Entfaltung drängt, auf innerliches Wachstum zu.
Wir sind westliche Menschen und unser Zeitalter ist areligiös. Wir verstehen die religiöse Sprache nicht mehr, nicht einmal unsere eigene – noch weniger, wenn sie durch Symbole und Begriffe ausgedrückt wird, die unserer Mentalität fremd sind. Deshalb ist eine behutsame und sensible Annäherung ratsam. Hierfür kann die Analytische Psychologie C. G. Jungs äußerst hilfreich sein, was in einem späteren Kapitel ausführlicher behandelt wird. Sie dient wie ein reflektierender Spiegel unserer eigenen Mentalität mit deren grundlegenden Annahmen, befasst sich mit unseren eigenen alltäglichen Problemen und Schwierigkeiten und weist einen Weg von dort heraus. Sie bietet dabei ein Mittel an, eine fremde Sprache zu dekodieren in das, was bekannt und in der menschlichen Erfahrung konstant vorkommt, daher auch in unserer eigenen, und übersetzt es aus der Verwunderung des Exotischen und Seltsamen in gebräuchliche heimische Vertrautheit.
Die traditionelle Form des Zentrainings ist vielleicht eine ideale Ergänzung für unseren kopflastigen, rein intellektuellen Ansatz. Es besteht darauf, dass der Körper einbezogen wird, dass man mit dem Körper im Alltag übt. Seine konkreten Trainingsanalogien führen allmählich zu einem Bewusstsein über die Trockenheit der mentalen Gymnastik und der intellektuellen Akrobatik. Damit kommt es zu einer Einsicht, dass das Abstreifen des anwachsenden Ichs Energie freisetzt– wenn wir beispielsweise unseren Willen nicht durchsetzen können und nachgeben müssen. Dies geschieht, wenn wir Konflikte mit uns herumtragen und in vollem Bewusstsein erdulden, ohne sie abzuweisen oder vor ihnen zurückzuscheuen. Dabei darf die menschliche Eigenschaft der Sanftheit nicht verloren gehen. In extremer Ausprägung zeigt sich dies in der Passion Christi. Kleinere Leidenschaften sind unsere alltägliche Übungsgelegenheit. Wenn diese immer wieder durchlitten werden, entwickelt sich eine echte Veränderung sowohl des Ichs als auch der entstandenen Energie, für die wir dasselbe Wort im Plural verwenden: «die Leidenschaften». Die Transformation der ungezügelten, leidenschaftlichen Energie ist Gegenstand der Arbeit, des Trainings: Transformation ausgehend von ihrem ursprünglichen Aspekt, wie er uns in unseren wilderen Ausbrüchen begegnet, hindurch zu den subtileren Formen wie rechthaberischem Starrsinn bis hin zu ihrer Humanisierung und von dort aus zum religiösen Pol ihrer Spiritualisierung.
Als Religion bewirkt der Buddhismus einerseits, den Einzelnen in sein kulturelles und soziales Milieu einzubinden, zum anderen macht er ihn anscheinend davon frei, wirklich aber befreit er ihn von all seinen eigenen Attributen und Errungenschaften. Mit dem ersten Aspekt sind wir nicht vertraut; er ist nicht Teil unseres kulturellen Hintergrunds; und es ist heutzutage schwierig für uns, zu begreifen, wie unsere christliche Religion, als wir noch daran glaubten, unser tägliches Leben beeinflusst und geprägt hat. Nur im gängigen Sprachgebrauch finden wir noch Spuren davon, wenn wir nur allzu häufig ausrufen: «O Gott», als ob wir immer noch Zuflucht zu ihm nähmen oder als ob die Liebe zu Gott oder die Furcht vor ihm uns daran hindern könnten, gegen seine Grundsätze zu handeln. In erster Linie ist es der befreiende Aspekt des Buddhismus, zu dem wir uns hingezogen fühlen. Obwohl dieser besonders im Zen-Buddhismus betont wird, bleiben unsere Versuche bezüglich des befreienden Aspektes vergeblich, denn ohne Stütze durch das soziokulturelle Milieu und den Aspekt der Disziplin des religiösen Lebens müssen sie fehlschlagen.
Der Weg befasst sich mit dem Einzelnen, mit dem Ich, denn so erlebt sich das Individuum zu Anfang. Seine Annäherung erfolgt durch ein klar bezeichnetes Territorium. Jedoch zeigen die entsprechenden Karten, dass es zugleich ausgetretene als auch verlockende Pfade gibt, die einfach langsam auslaufen, nirgendwohin führen und den Reisenden festsitzen lassen oder noch Schlimmeres.
Im Buddhismus ist «Ich» eine Täuschung, und diese Täuschung klammert sich an und wird auf fatale Weise angezogen – oder abgestoßen – von allem, was verlockt, verspricht oder leuchtet. In der Täuschung wird das Verlockende des imperativen Dranges zur Ganzheit im schimmernden Katzengold, dem Exotischen, Merkwürdigen, Glatten, Leichten und Schnellen gesehen. Die jungsche Psychologie bietet einem westlichen Menschen einige schlichte, nüchterne Wahrheiten an, die den geistigen Höhenflügen entgegenwirken. Wir tun gut daran, sorgsame Überlegungen anzustellen, wenn wir uns zu einem östlichen Weg wie dem Zen-Buddhismus hingezogen fühlen. Beide Wege betonen, dass Energie, Durchhaltevermögen, Mut und Beharrlichkeit für die Entwicklung erforderlich sind. Beide verfügen über Methoden, Rohmaterial zu verarbeiten und ihm dabei zu helfen, sich als ersten Schritt zu formen und das Wachstum vorzubereiten, wie es die eigene Natur verlangt. In der jungschen Terminologie werden diese beiden Schritte Anpassung und Individuation genannt. Wobei wir ganz nebenbei bemerken mögen, dass der echte Zen-Weg wie die jungsche Individuation keine Behandlung für den Neurotiker darstellen, für den die erforderliche Energie blockiert ist und der geheilt, angepasst werden und sich sammeln muss, bevor er eine weitere Entwicklung in Angriff nimmt, sollte seine Natur danach verlangen.
In weiterem Sinn ist die Anpassung die Entfaltung der Vergangenheit in der Gegenwart, von dem, was ist. Wir können nicht im Gestern leben. Und Entwicklung besteht darin, in die Zukunft hineinzuwachsen, die noch nicht ausgebildet ist – ein unbekanntes Abenteuer. Anscheinend reflektieren diese zwei Vektoren zwei Bewegungen, die unserer dualen Welt innewohnen, also auch uns. Der eine könnte nicht ohne den anderen sein. In Wirklichkeit existieren sie nicht, sind aber in uns differenziert als sowohl äußere wie innere Orientierungsgrundlagen. Eine von ihnen ist die horizontale Bewegung mit ihren zyklischen Veränderungen von «erscheinen und wieder vergehen» und Erneuerung, so wie jeder Frühling seine Blüten zurückbringt, was wir «Mutter Natur» nennen können oder genannt haben. Die andere Komponente stellen wir uns irgendwie vertikal vor; bei ihr bedeutet Erneuerung nicht das Gleiche, sondern Veränderung, keine Re-Formierung sondern Trans-Formation, Entwicklung, Evolution. Diese vertikale Komponente, Drang oder Zug, könnten wir «Vater Geist» nennen. Diese beiden, Erde und Himmel, sind unsere grundlegenden Urwahrnehmungen eines Göttlichen Paares. Oder, umgekehrt, wird das Göttliche für uns wahrnehmbar als das Urpaar.
Was das Göttliche eigentlich ist, können wir weder definieren, ausdrücken oder «wissen», obwohl unsere Neigung zum Bildermachen es in vielerlei Formen gebracht und alle Arten von Wohnorten dafür konzipiert hat. Was wir jedoch darüber sagen können, ist, dass es die Kraft besitzt, uns zu berühren und zu bewegen, uns aus unserer Trägheit und Selbstsucht herauszubringen und uns zu einem Streben nach Vereinigung mit ihm zu veranlassen. Diese Vereinigung hat auch zwei Aspekte, die beide das «Wieder-Vergehen» gemeinsam haben. Der eine ist der Tod, wenn die manifestierte Form nach Hause zurückkehrt, wie sich die einzelne Welle in dem verliert, was sie immer gewesen ist: Ozean. Der andere Aspekt ist die Transformation, ebenfalls eine Rückkehr nach Hause, wenn sich die einzelne Welle ihrer Ozeannatur bewusst wird, was auch passend spirituelle Wiedergeburt genannt wird, der der Tod des «Ichs» vorausgeht, der Große Tod. Das Erwachen aus der Täuschung der Ichbezogenheit wie aus einem Traum verbindet uns erneut mit dem, was wir immer gewesen sind. Wir sind auf diese Wiedervereinigung hin ausgerichtet, auch wenn wir vielmals fälschlicherweise den deutenden Finger für den Mond halten, das Verlangen mit einem von uns hergestellten Götzenbild verwechseln und eine Vorstellung als Wirklichkeit missverstehen.
Eine echte Wiedervereinigung ist ein bewusstes Gewahrwerden von und eine harmonische Zusammenarbeit mit unserem Daseinsgrund, mit den beiden in uns und um uns herum wirkenden Vektoren, in denen wir verwurzelt und zu Hause sind, deren Kinder wir sind wie auch deren Erzieher sowie Vertreter und Formgeber. Wenn das in bewusstem Gewahrsein erreicht ist, dann ist der Schleier gelüftet und das Sein ist selbst in uns bewusst geworden, kann Gebrauch von unseren Augen machen und sich selbst erblicken. Realisieren, dass «Ich und mein Vater eins sind», ist Einssein.
Dieses göttliche Paar hat viele Namen; die neutralsten sind Trägheit und Energie, Materie und Geist. Differenziert werden sie als ein Paar von Gegensätzen gesehen, die weiter als drei, vier oder viele detailliert werden können. Als zwei sind sie komplementär; tatsächlich sind sie untrennbar eins. Die Zenfrage ist bedeutsam: «Wenn alles zu dem Einen zurückkehrt, wohin kehrt dann das Eine zurück?»
Das östliche Konzept von Manifestation und Wiederaufnahme von Form hat niemals die inhärente Göttlichkeit außer Sicht gelassen. Da die menschliche Natur jedoch einseitig ist, wird dort der sich wiederholende, zyklische Prozess betont. Das lässt die Schwierigkeit auftauchen, dass, trotz der Möglichkeit individueller Befreiung von diesem wiederholten Prozess, dieser Vorgang doch im Großen und Ganzen stets unverändert bleibt und zeitlos ist. Er nimmt unendlich viele neue Formen an, ist aber selbst nicht der Transformation unterworfen.
Zusammengefasst wird dies in der buddhistischen Formulierung des Lebensrades, das eine Art von Schaubild der Aspekte der Existenz darstellt. Es zeigt uns im Griff von Unbeständigkeit oder Veränderung – bildlich wird dies als Dämon statt als Geist dargestellt, und es wird durch die drei Feuer von Verlangen, Jähzorn und Verblendung in Gang gesetzt. Doch enthält dieses Schaubild eine Einsicht, die dem flüchtigen Blick entgeht. Es bildet genau den status quo ab, nämlich die grundlegende Täuschung einer abgetrennten Einheit eines Ichs, unter der wir leiden.
Da wir uns an das Bekannte klammern und vor dem «völlig Unbekannten» Angst haben, versetzt uns eine wirkliche Veränderung im Sinn einer vollständigen Transformation in Schrecken, und daher wird vom Ich aus gesehen diese Veränderung korrekt bildlich als Dämon dargestellt. Die Erlösung von dem Rad ist möglich, jedoch nur vom menschlichen Zustand aus. Da dieser der einzige mit einem Ich-Empfinden ist, deutet es auf irgendetwas für das Ich Unbekanntes hin, zu dem aber die gesamte Existenz hinstrebt.
Die «drei Feuer» – Verlangen, Jähzorn und Verblendung –, die das Rad in Bewegung setzen, sind rohe Urenergie, und ihre echte Transformation ist das Ziel einer jeden Praxis. So ist die Befreiung von dem zyklischen Rad eine echte Änderung der Einstellung. Damit nimmt das Rad selbst eine andere Dimension an, die für das Ich nicht vorstellbar ist. Nichts wird darüber dargelegt; es gibt lediglich eine Anspielung, wobei die entscheidenden Faktoren aufgezeigt werden, das Ich und die Angst. Die Folge der echten Transformation ist menschliche Wärme, die wie von selbst ausstrahlt und aufleuchtet, wie es die Sonne tut, die keines Gegenstandes bedarf, um darauf zu scheinen, denn das Scheinen ist ihre Natur.
In jungscher Ausdrucksweise ist der Begriff für diesen Aspekt der Energie «psychische Energie» im Unterschied zur physischen Energie. Wir beobachten, wie diese beiden Kräfte in uns wirken, beispielsweise an einem dunklen, kalten Wintermorgen in unserer Reaktion auf den Wecker und den folgenden Kampf zwischen «ich muss aufstehen» und «nur noch eine Minute». Die physische Energie zum Aufstehen ist bereit, aber die psychische Energie, die sie zur Bewegung aktiviert, ist vorübergehend außer Kraft gesetzt, bis sie durch Bedarf «angefeuert» wird. Wenn wir aber mit der gewaltig geballten Kraft dieser Energie in Berührung kommen, haben wir sie stets als etwas Ehrfurcht Einflößendes und als «das gänzlich andere» empfunden, und haben ihr daher die Attribute des Göttlichen, der Gottheit, verliehen. Wie auch immer unsere Vorstellung darüber sein mag, so hat sie die Kraft, uns tief zu bewegen. Sie hat zumindest Respekt und Gehorsam von uns gefordert und bei zunehmender Nähe Ehrfurcht. Diese Reaktionsweise ist keineswegs altmodisch, vielmehr ist sie eine gesunde Antwort darauf, was uns so tief bewegen kann, dass es eine vollständige Transformation erzwingt, und es kann uns als mysterium tremendum (Rudolf Otto, Das Heilige, 1936) mit heiligem Erschauern überfallen. Obwohl religiöse Formulierungen ausnahmslos symbolisch sind, so sind sie doch sehr genau. So lesen wir in der Bibel, dass, wenn ein Engel oder ein göttlicher Bote einen Sterblichen anspricht, er stets mit den Worten «Fürchte dich nicht» beginnt.
Die geisterhafte Andersartigkeit und die immense Kraft des Geistes zerschmettern ein arrogantes Ich. Daher besteht man in allen religiösen Traditionen auf der Verbeugung, der uralten Geste der gefalteten Hände mit flehentlicher Bitte und Verehrung – nicht dafür, was ich bekommen kann, denn auch das ist eine Sünde wider den Heiligen Geist, sondern um mich nachgiebig zu machen, mich harmlos hinzugeben und die Seele für ihre eigene Heimat empfänglich zu machen. Ohne diese echte Demut ist jeder Versuch, sich dem lebendigen Geist zu nähern, zu einem unglücklichen Ende verurteilt – eine Warnung, die alle Traditionen aussprechen: «Wer nahe bei mir ist, ist dem Feuer nah.»
Den Schleier darf ich nicht lüften und kann mich nur verbeugen und verehren. Dann mag der Geist den Anstoß geben und dazu auffordern, die lange Reise der Transformation zu unternehmen, sich in das hineinzugeben, was ganz und gar Furcht erregend ist, und dadurch den Weg nach Hause zu finden. Wieder nackt, wie man geboren wurde, fällt der Schleier der Täuschung herab, von der Täuschung einer abgetrennten Einheit, abgetrennt von dem, was ist. Aber im Unterschied zu dem Zustand, in dem man geboren wurde, gibt es jetzt ein bewusstes Gewahrsein der Wiedervereinigung und des Lebens in ihr und durch sie.
Zen-Buddhismus ist ein religiöser Weg und besitzt daher wie auch andere religiöse Trainingswege das übliche grundlegende Rahmenwerk bestehend aus Disziplin, religiösen Verhaltensregeln, Kontemplation und Arbeit.
Als buddhistische Schule basiert er auf den Grundlagen der Buddhalehre. Die Drei Daseinsmerkmale sind Vergänglichkeit, Leiden und Nicht-Ich. Ich bin es, der leidet, ich leide unter der Täuschung, eine abgetrennte Einheit zu sein, meinen Willen durchzusetzen, mich der Veränderung zu widersetzen, wenn sie mir nicht zusagt etc. Das entfremdet mich von dem, was ist und von dem ich ein Teil bin, und beraubt mich der Beziehung damit. Daher leide ich unter einem Mangel an Identität, Einsamkeit, bin unerfüllt, nicht vollständig und sehne mich nach einem Ausweg. Das Sehnen ist echt, aber wonach ich mich in meiner Abgetrenntheit sehne, ist trügerisch. Ein Teil allein kann nicht das Ganze werden; allzu viel würde außerhalb bleiben. Ich kann mir nicht die Welt einverleiben.
Das Verlangen nach innerem Wachstum ist vorhanden in allem, was ist. Es ist die Tragödie und vielleicht auch die Größe des menschlichen Zustands, dass ich, aus meiner Ich-Täuschung heraus, diesem Verlangen nicht folge und versuche, seine immense Energie zu meinem eigenen Zweck und Nutzen zu verwenden anstatt zu meiner eigenen Wiederverbindung mit dem Sein, das Ganzheit ist. Deshalb betont auch die buddhistische Lehre das Nicht-Ich, um die Aufmerksamkeit in diese heilsame Richtung zu lenken.
Solange ich auf meiner Täuschung, ein Ich zu sein, beharre, verwildert diese gewaltige Energie, die sonst Wachstum und Entfaltung hervorrufen kann. Je mehr ich meinen Willen durchsetzen will, desto roher und elementarer wird sie. Im Buddhismus wird diese Energie, so wild und hitzig, wie wir sie aus unseren leidenschaftlichen Emotionen kennen, zutreffend mit einem lodernden Feuer verglichen. Hierbei werden drei Ventile unterschieden, die als die Drei Feuer von Verlangen, Jähzorn und Verblendung bezeichnet werden. Die Verblendung ist die Vorstellung eines Ichs, sie führt eher zu Widerstand, als hilfreich zu sein. So brennen also die Feuer weiterhin.