Die Autorin
Ich wurde 1966 in Budapest geboren, wo ich auch aufwuchs und Bibliothekswissenschaft und Pädagogik studierte. Nach meinem Studium arbeitete ich als Lehrerin. 1996 zog ich nach Deutschland, wo ich mit meiner Familie lebe und seit 2008 als freie Autorin tätig bin.
Das Buch
Sommer, Sonne, Meer und Morde
Die erfolgreiche Krimiautorin Francesca hat die Nase voll. Ihr Freund hat sie wegen einer Jüngeren verlassen und Ideen für ein neues Buch wollen ihr auch nicht kommen. Sie braucht dringend eine Auszeit.
Da kommt ihr ein überraschender Anruf der italienischen Verwandtschaft gerade recht: Sie soll in das idyllische Städtchen San Vincenzo fahren und in dem familieneigenen Hotel aushelfen. Francesca sieht sich schon im perfekten Urlaub: Erholung am Strand, auf der Terrasse Spaghetti essen und mit einem Glas Wein den Tag ausklingen lassen. Doch dann erschüttern mehrere Morde den kleinen Ort. Und statt ihre Auszeit zu genießen, kann Francesca es nicht lassen, ihre Nase in die Ermittlungen zu stecken. Das passt dem gut aussehenden Commissario Monte gar nicht, doch Francesca lässt sich nicht so leicht abschütteln.
Eine liebenswürdige Protagonistin, ihre chaotische, aber charmante Familie und Romantik vor der traumhaften Kulisse Italiens.
Edina Stratmann
Mord in San Vincenzo
Ein Italien-Krimi
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
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Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2016 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titellabbildung: © Finepic®
Autorenfoto: © Edina Stratmann
ISBN: 978-3-95819-084-9
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»Als ich mich über die Leiche beugte, wurde mir übel. Ich bin eine Mörderin, dachte ich, während ich mich auf eine Obstkiste setzte. Warum ist sie nicht weggelaufen? Sie wusste doch, dass ich sie nicht leiden kann! Ich schrie sie oft an, fand die Vorstellung, mit ihr unter einem Dach zu leben, unerträglich. Ich drohte ihr des Öfteren, aber sie nahm mich nicht ernst. Ich musste sie vergiften, mich aus dieser Zwangsgemeinschaft befreien. Eine andere Wahl hatte ich nicht.
Ich stand langsam auf, zog Gummihandschuhe an und legte das leblose Vieh in die Mülltonne. Mir ging es richtig schlecht.«
Meine Nachbarin schüttelte sich, als sie mir den Vorfall mit der Ratte in ihrer Küche erzählte. Lorena hatte gestern Abend, als wir uns im Garten begegnet waren, völlig verzweifelt ausgesehen.
»Wie schaffen Sie es nur, mörderische Geschichten zu schreiben?«, fragte sie mich stirnrunzelnd. »Sie sehen so harmlos aus!«
»Ich finde Krimis einfach faszinierend«, antwortete ich. »Agatha Christies Bücher inspirieren mich. Wenn ich könnte, würde ich Poirot und Miss Marple adoptieren. Die beiden sind doch genial, finden Sie nicht?«, fragte ich mit funkelnden Augen.
»Ich weiß nicht.« Meine Nachbarin schüttelte skeptisch den Kopf. »Ich lese lieber zuckersüße Liebesromane. Wenn ich mich in den Bücherläden umschaue, sehe ich überall Cover mit Blutstropfen und Messern. Wer bitte schön liest denn so etwas?«
»Es gibt viele Menschen, die es regelrecht genießen, sich beim Lesen zu gruseln und Gänsehaut zu bekommen«, schmunzelte ich. »Es gibt aber auch genug harmlose Geschichten zu kaufen.«
»Die Märchen von den Grimm-Brüdern habe ich als Kind auch nicht gemocht«, erinnerte sich Lorena. »Besonders schlimm fand ich die Erzählung von Schneewittchen. Ich stelle mir heute noch vor, was wohl passiert wäre, wenn der Jäger nicht so einen guten Charakter gehabt hätte. Ich male mir aus, wie er seinen Auftrag letztendlich doch erfüllt, das Herz des Mädchens herausschneidet und es der Königin auf einem Silbertablett präsentiert. Diese öffnet eine Flasche Chianti und genießt den Abend in vollen Zügen.«
»Sie haben eine lebhafte Fantasie«, lachte ich. »Sie könnten doch wunderbare Horrorgeschichten schreiben!«
Nach meiner Unterhaltung mit Lorena war die Nacht alles andere als erholsam. Ich träumte von Hänsel und Gretel, zwei süßen Kindern mit Kulleraugen, und davon, wie die beiden, ein Liedchen pfeifend, die Hexe in den Ofen schoben. Kurz bevor der Braten fertig war, erschienen einige Zwerge, diesmal ohne weibliche Begleitung. Die gut gelaunten Minenarbeiter versammelten sich rasch um einen hübsch gedeckten Gartentisch herum. Die kleinen Männer begrüßten einen Koch, der plötzlich aus dem Knusperhäuschen zum Vorschein kam, die Kinder zum Händewaschen schickte und wie mein Ex, Giovanni, aussah, mit einem lauten »Hi ho, hi ho!«. Alle freuten sich auf die leckere Mahlzeit. Der Koch erklärte seinen Gästen kurz, dass Kochen Männerarbeit sei, und holte die dampfende Hexe aus der Röhre. Es roch unangenehm nach verbranntem Fleisch, aber die gute Frau schien den Backprozess fast unbeschadet überstanden zu haben. Sie kreischte laut, während sie aufgekratzt hin und her hüpfte und schließlich meinen Exfreund in den Ofen schubsen wollte. Ich hörte, wie Giovanni mich laut um Hilfe anflehte, stand aber wie angewurzelt in der Küchentür.
Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Herz klopfte so laut, dass ich mir ernsthaft überlegte, an die Tür zu gehen. Im Halbschlaf wanderten meine Gedanken zu all meinen Protagonisten, zu den Helden der Verbrecherbekämpfung, und ich dachte an die Recherchen, die ich einst für meine Bücher betrieben hatte. Ich spürte, dass ich von Morden und Mördern erst einmal genug hatte. Wenn ich schon von einem Kindermärchen Alpträume bekam, sollte ich wohl besser die Finger von der dunklen Seite des Lebens lassen. Ich brauchte eine neue Herausforderung, neue Inspirationen. Obwohl sich meine vorherigen Bücher (ich hatte bis jetzt ausschließlich Krimis geschrieben) gut verkauft hatten, fühlte ich mich plötzlich leer und vollkommen unfähig, meine Gedanken zu ordnen, geschweige denn literarische Spuren in der Welt zu hinterlassen …
Vielleicht sollte ich mich eine Zeit lang ausschließlich den schönen Dingen des Lebens widmen, überlegte ich, nachdem ich mich aus dem Bett gequält hatte. Ich entschloss mich, eine Auszeit zu nehmen und die nächsten Wochen mit Gartenarbeit, langen Spaziergängen und Museumsbesuchen zu verbringen, und hoffte darauf, dass mir neue Ideen wie von allein »zufliegen« würden. Mein Plan gefiel mir, und ich dachte im Traum nicht daran, dass mir das Leben einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Natürlich kam alles anders als geplant …
Lieber Giovanni,
wie versprochen habe ich Deine Sachen in eine Kiste gepackt. Leider bin ich in meinem Eifer ungünstig gestolpert, die wertvolle Plattensammlung ist hin. Deine weiße Lieblingsjeans habe ich aus Versehen mit meinem roten BH gewaschen. Hoffentlich findest Du die Hose, die jetzt einen pinken Touch hat, immer noch hübsch. Dein Laptop funktioniert womöglich nicht mehr, die blöde Kaffeetasse ist schon wieder umgekippt, als ich das Gerät aufgeklappt habe. Mein Computer arbeitet inzwischen einwandfrei, Du kannst Deinen elektrischen Schatz wiederhaben. Deine alten Socken und die Unterhosen sind in Ordnung, die habe ich natürlich mit eingepackt. Nachdem Du Deine Sachen abgeholt hast, wirf bitte den Schlüssel in meinen Briefkasten!
Ich wünsche Dir viel Glück mit Deiner neuen Flamme. Hoffentlich ist sie nicht so tollpatschig wie ich!
Viele liebe Grüße
Francesca
Bevor ich es mir noch anders überlegte, drückte ich auf Enter. Meine Nachricht würde meinen Exfreund wahrscheinlich kurz nach dem Aufstehen erreichen, er schlief oft bis zum Mittag. Seine Sachen warteten in einwandfreiem Zustand auf ihn, den Kellerschlüssel hatte ich ihm noch nicht abgenommen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er nachher schweißgebadet seine Kisten durchwühlen würde. Ich gönnte ihm den Spaß.
Ich schaltete den Computer aus, meine E-Mails wollte ich später beantworten, und rief meine Verlegerin Allegra an, die schon seit einiger Zeit eng mit mir zusammenarbeitete. Ich erzählte ihr von meiner Schaffenskrise, aber sie schien mein Dilemma überhaupt nicht ernst zu nehmen.
»Natürlich schaffst du es, ein neues Buch zu schreiben!«, sagte Allegra. »Ich helfe dir auch dabei.«
»Ich bin völlig ausgebrannt«, stöhnte ich. »Von Krimis habe ich die Nase voll und für etwas anderes fällt mir nichts ein!«
»Wie wäre es, wenn deine Protagonistin mal eine Untote wäre und Liebeskummer hätte?«, fragte mich Allegra. »Schreib doch eine gefühlvolle Erzählung, die zum Beispiel im Mittelalter spielt. Solche Geschichten nehmen wir immer wieder gerne, und du kennst dich mit dem Thema bestens aus. Ein bisschen Herzschmerz, Tränen, eine neue Liebe, Konflikt mit dem Neuen, Versöhnung und Happy End. Du inszenierst die Geschichte in einer romantischen Umgebung, viel mehr brauchst du nicht. Diesmal müsstest du auch keinen unter die Erde bringen. Lass dich einfach von deinem Trennungsschmerz inspirieren!«
»Du hast mir nicht zugehört«, sagte ich vorwurfsvoll. »Ich bin momentan keineswegs in der Lage, eine Liebesgeschichte zu schreiben.« Ich fragte mich, woher Allegra von meiner Trennung wusste. Ich hatte ihr bis jetzt nichts davon erzählt. »Obwohl, wenn ich es mir überlege: einen Krimi würde ich vielleicht noch hinkriegen, zum Beispiel mit dem Titel Die Rache der Frau. Ein bisschen Gift oder ein Messer im Rücken, eine schöne Geschichte, in der am Ende die Frau ungestraft davonkommt. Sie begeht den perfekten Mord und erbt das Haus, den Porsche und die Jacht des Mannes. Das nenne ich doch ein Happy End ‒ was meinst du?«
Allegra lachte laut auf.
»Francesca, ruf mich an, wenn du wieder klar denken kannst, und putze dir endlich die Nase! Ach, und noch was: Ich habe dich damals gewarnt!«
Während ich mir überlegte, wie ich den Tag verbringen sollte, wühlte ich in meiner Schreibtischschublade. Vor einigen Wochen hatte mir meine Tante Sofia einen Gutschein für einen Kosmetikbesuch geschenkt – mit den Worten »Kind, in deinem Alter sollte man regelmäßig etwas für seine Haut tun«. Den endlich einzulösen, schien mir angesichts meiner Lage eine gute Idee. Die Trennung von Giovanni, den ich vor einem Jahr in einem Bücherladen kennengelernt hatte und der sich plötzlich für junges Gemüse um die zwanzig interessierte, hinterließ deutliche Spuren an mir: dunkle Augenringe und überall rote Flecken im Gesicht ‒ da konnten eine ausgiebige Massage und eine fachgerechte Behandlung bestimmt nicht schaden. Ich suchte vergeblich nach dem Gutschein … vielleicht war er immer noch in meiner Handtasche … und stieß stattdessen auf einen gefüllten Briefumschlag von meinem Onkel Pepe.
Mein Onkel schrieb kurzweilige Geschichten, seit ich mich an ihn erinnern konnte: inspiriert von seinem eigenen Leben, Geschichten, die ihm jemand erzählt hatte, oder einfach geleitet von seiner regen Fantasie. Seine schönsten Texte schenkte er mir, und ich hatte die handbeschriebenen Karten alle behutsam aufgehoben.
Die Suppe war versalzen und roch stark nach Spülwasser. Die Brühe hatte eine undefinierbare Farbe, einige Haare blieben an dem Suppenlöffel hängen. Das Fleisch war zäh, ich machte mir Sorgen um Opas Gebiss. Das Kartoffelpüree hatte eine wässrige Konsistenz, die zugefügte Butter glänzte in kleinen Stücken auf der Oberfläche. Der Boden des Erdbeerkuchens schien sich aufgelöst zu haben und das Eierlikörchen zum Schluss roch nach faulen Eiern.
Da mein Weihnachtsmenü bei der Familie offenbar nicht gut angekommen war ‒ meinem Freund ging es ein wenig schlecht ‒, lud ich alle in ein Schnellrestaurant ein. Opa saß als Erster im Auto.
Obwohl mich Onkel Pepes Geschichten oft zum Schmunzeln brachten, schloss ich wieder die Schublade. Es steckte viel Wahrheit in seinen Texten, aber ich war nicht zur Ironie aufgelegt ‒ nicht jetzt! Ob Giovannis Neue kochen konnte? Zugegeben, ich war keine gute Köchin und mein Exfreund aß für sein Leben gern, aber mein Versagen in der Küche konnte doch kein Grund sein, mich zu verlassen!
Vielleicht sollte ich mir doch noch ein Kochbuch zulegen (für den Anfang würde eine Ausgabe für Kinder reichen) und mich langsam an die Zubereitung einfacher Gerichte herantasten. Ein selbst gekochtes Abendessen bei Kerzenlicht ließ die meisten Männerherzen höher schlagen (über dieses Thema hatte ich letztens beim Zahnarzt einen Artikel gelesen), und wenn man erst einmal Kinder bekam (irgendwann würde es hoffentlich auch bei mir so weit sein) war es wohl von Vorteil, wenn die Mutter kochen konnte. Gerade wollte ich den Computer wieder anschalten und für meine Zukunftsinvestition die passende Lektüre aussuchen, als ich ein lautes Geräusch aus dem Schlafzimmer hörte.
»Was war das denn?«, flüsterte ich ängstlich. Mir schien, als hätte jemand die große Vase umgestoßen, die direkt neben der Tür auf dem Boden stand. Kalter Schweiß lief mir den Rücken herunter. Ich wohnte im Erdgeschoss und ließ die große Terrassentür, durch die ich direkt in den Garten gelangte, oft offen. Bis jetzt war unsere Gegend von Hauseinbrüchen verschont geblieben. Es gab also keinen Grund, Türen und Fenster zuzuschließen, wenn ich mich zu Hause aufhielt.
Während ich versuchte, keinen Mucks von mir zu geben, und Richtung Schlafzimmer horchte, überlegte ich fieberhaft, ob meine Nachbarn mich hören würden, wenn ich nur laut genug schrie.
Vor kurzem war ein englisches Pärchen bei uns im Haus eingezogen. Die beiden Hippies wohnten direkt neben mir. Der junge Mann, der sich als John vorstellte, war groß gewachsen, sehr dürr und trug eine runde Brille; seine Frau hatte lange schwarze Haare und falsche Wimpern. Die beiden machten sich kurz nach ihrem Einzug mit mir bekannt – im Partnerlook. John und Mary standen die Schlaghosen und die Halsketten mit dem Peace-Zeichen ausgesprochen gut. Auf der Terrasse der Briten herrschte eine richtige Flower-Power-Stimmung. Neben diversen Blumentöpfen standen auch einige Kräutergefäße auf der Fensterbank, das Grünzeug benutzten die beiden gerne als Backzutat. John und Mary buken oft spezielle Kräuterkekse und luden mich zum Tee ein. Nach dem Verzehr ihres Gebäcks lösten sich bei mir jegliche Sprachbarrikaden, und wir unterhielten uns gut gelaunt und kichernd auf Englisch.
Vielleicht hatten sich meine netten Nachbarn ja in der Tür geirrt. Die beiden hatten sich vorhin im Garten gesonnt und standen jetzt bestimmt ratlos in meinem Schlafzimmer. Womöglich schämten sie sich wegen der kaputten Vase ‒ ich sollte die beiden wohl besser beruhigen.
Ich stand auf, schlich zur Tür und spähte durch das Schlüsselloch. Erschrocken wich ich zurück. Schlagartig wurde mir klar, dass ich eine Waffe brauchen würde. Ich ging in die Küche und rüstete mich. Nachdem ich mir Mut angetrunken hatte (ich hatte noch einen Schluck Espresso übrig gehabt), ging ich todesmutig zu meinem Schlafzimmer. Ich riss Tür und Augen auf, schlug mehrmals mit einem übergroßen Kochlöffel laut schreiend auf den Türrahmen ein. Ich blickte mich um. Nirgends war ein Einbrecher zu sehen. Und dann sah ich den Übeltäter in der Ecke, direkt neben den Scherben der guten Vase. Ein schwarzer Kater, fast so groß wie ein Babypanther …
Ich sprang in die Luft, wedelte wild mit den Armen und mit Hilfe meiner Mimik – ich machte ein ganz böses Gesicht – vermittelte ich dem wilden Tier unmissverständlich, wer die Chefin im Haus war. Der Kater warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und ergriff die Flucht. Rasch schloss ich die Terrassentür und öffnete eine Flasche Rotwein. Ich würde meinen Sieg über den Furcht einflößenden schwarzen Kater von nebenan feiern und nahm mir vor, dies zugleich als Anlass zu nehmen, meine Traurigkeit über meine Einsamkeit in edlen Tropfen zu ertränken.
Wäre Giovanni jetzt hier gewesen, hätte ich ihn dazu verdonnert, auf Katerjagd zu gehen, und zusammen hätten wir über den Vorfall herzhaft gelacht.
Plötzlich klingelte das Telefon. Ich überlegte kurz, ob ich drangehen sollte, denn ich hätte gerne noch etwas weiter in Selbstmitleid gebadet. Das Weinglas, das immer noch unberührt auf dem Tisch stand, wollte geleert werden ‒ leider hatte ich Alkohol noch nie besonders gemocht. Liebeskummer nüchtern durchzustehen, war selbst dann eine Kunst, wenn man keine Absicht hatte, später zu heiraten. Die Tatsache, dass ich betrogen worden war, machte alles noch schlimmer.
»Hallo Schätzchen, wie geht es dir?« Die fröhliche Stimme meines Onkels passte gerade so gar nicht zu meiner Stimmung. Ich bereute es, dass ich den Hörer abgehoben hatte.
»Es geht mir gar nicht gut«, sagte ich mit düsterer Stimme. »Ich wurde belogen, betrogen und weggeworfen.«
»Das sind doch gute Nachrichten«, flötete mein Onkel, der selbstverständlich über meine Beziehung bestens Bescheid wusste. »Dann kannst du dich endlich auf die Suche nach dem Richtigen machen!«
Meine Familie war sehr besorgt, was meine Zukunft betraf: Ich sollte mir mit Mitte dreißig ernsthaft Gedanken über ein geregeltes Leben und eine Familie machen. Am besten mit zwei, drei Bambini, es könnten aber auch gern vier werden. Die meisten Menschen um mich herum übten nur sanften Druck auf mich aus, meine Mutter und ihre ältere Schwester Sofia hingegen gaben mir klar zu verstehen, dass meine biologische Uhr nicht nur tickte, sondern auch bald wie eine Bombe hochgehen würde. »Bumm!« würde sie machen, und das wär’s dann gewesen.
»Wenn du nicht Gas gibst, kriegst du keinen mehr ab!«, sagte mir meine Mutter immer wieder und wies auf die Nachbarstochter mit der Hornbrille hin. »Die ließ sich auch Zeit und bastelte erst einmal an ihrer Karriere«, wiederholte sie zum hundertsten Mal. »Und jetzt ist es zu spät für sie. Zugegeben, sie macht nicht besonders viel aus sich und sie wollte auch keinen haben.«
»Mama, sie hat eine Vorliebe für Frauen, was sollte sie da mit einem Mann?«, wandte ich ein, wie jedes Mal, und war mir sicher, auch diesmal würde meine Mutter nicht verstehen, dass unsere Nachbarin einfach keinen Mann wollte.
Tante Sofia ging noch einen Schritt weiter. Sie lud immer wieder ledige, junge Männer zu uns nach Hause ein, meistens zum Abendessen, und stellte die potentiellen Heiratskandidaten mit unschuldiger Miene, aber breitem Grinsen vor.
So lernte ich zum Beispiel Giorgio, den aufstrebenden Rechtsanwalt, kennen, der dringend eine Frau fürs Leben suchte und klare Vorstellungen davon hatte, wo der Platz einer Frau sei. Da ich nicht einmal anständig Eier kochen konnte, fiel sein Besuch kurz aus: nach einer Stunde suchte er das Weite.
Der nächste Kandidat war Mario, ein umwerfend aussehender Mann. Ich fand ihn anziehend, nur leider erfüllte ich nicht die Voraussetzungen. Mit meinen schulterlangen, braunen Haaren und der wohlgeformten weiblichen Figur erinnerte ich ihn nicht an seine Mutter. Er verließ unser Haus noch schneller als Giorgio. Ich verabschiedete Mario mit schwerem Herzen und einem etwas zurückhaltenden Lächeln und wünschte ihm viel Glück bei der Suche nach einer blonden Frau mit blauen Augen und schlanker Figur.
Für Paolo, den Restaurantbesitzer, legte sich meine Tante richtig ins Zeug: Sie kochte ihm ein Drei-Gänge-Menü. Als Vorspeise gab es Insalata di Panzanella. Der Salat, der aus klein geschnittenen, aromatischen Tomaten, Gurken, Zwiebeln und Brotwürfeln bestand, verfeinert mit frischem Basilikum, Essig und Olivenöl, war einfach, aber genau das Richtige, um den Magen auf weitere Köstlichkeiten einzustimmen. Als Hauptgang bereitete Sofia Paolos Lieblingsgericht, Bistecca alla Fiorentina, zu. Auch die Panna cotta, die wir als Dessert bekamen, war himmlisch und rundete das Essen perfekt ab. Paolo verplapperte sich erst nach dem Espresso ‒ ich schickte ihn kurzerhand zu seiner Frau zurück.
Nachdem meine Tante alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte (sie hatte ihren kompletten Freundes- und Bekanntenkreis abgeklappert), gab sie entnervt auf.
»Kind, du bist unmöglich!«, sagte sie, unberührt von der Tatsache, dass ich nicht an allem schuld war. Sofia war sich absolut sicher, dass jemand, dem es nicht gelang, zumindest einen aus ihrer erlesenen Sammlung herauszupicken, verrückt oder vollkommen dumm sein musste. Oder beides gleichzeitig. Ich hätte mir schon vor Jahren mehr Mühe geben und die Sache mit der Emanzipation sein lassen müssen. Mich schon längst wie eine richtige Frau benehmen sollen: mir einen Mann angeln und, wenn es sein musste, dabei irgendwelche Tricks anwenden, heiraten, Kinder kriegen und etwas Fett am Hintern ansetzen. So gehöre sich das, daran sei nicht zu rütteln.
Als ich Giovanni kennenlernte, wurde prompt der Familienrat zusammengetrommelt. Meine Mutter und mein Vater waren der Meinung, dass mein neuer Freund nicht der Richtige für mich sei. Sie waren sich einig, dass er faul und nicht besonders schlau sei. Ihre Informationen bezogen die beiden von unserer Nachbarin Lucia, die im Erdgeschoss wohnte und den ganzen Tag auf die Fensterbank gelehnt verbrachte. Lucia kannte Giovanni von klein auf, und seitdem mein Exfreund mit zehn Jahren einen Fußball durch ihr geschlossenes Fenster geschleudert hatte, herrschte Krieg zwischen den beiden. Meine Tante Sofia fand Giovanni knuddelig ‒ und erziehbar. »Wenn du es richtig anstellst, wird ein anständiger Familienvater aus ihm! Ich habe dir vorgemacht, wie es geht!«, sagte sie und blickte kurz zu ihrem Mann. »Du kommst endlich unter die Haube und wir haben ein Problem weniger.« Onkel Adalberto, der Mann meiner Tante, bemerkte leise, dass es besser wäre, die Entscheidung über meine Beziehungen mir zu überlassen, aber seine Meinung wurde von dem Trio einfach überhört. Ich hingegen sagte einfach gar nichts ‒ jede Art des Widerstandes wäre ohnehin zwecklos gewesen.
»Bist du noch dran?«, die Stimme meines Onkels klang ungeduldig. »Kommst du oder kommst du nicht?«
»Entschuldigung, Onkel Pepe, könntest du bitte alles wiederholen, was du in den letzten fünf Minuten erzählt hast?«
»Kind, du bist unmöglich!«, stöhnte mein Onkel. »Jetzt hör mir endlich zu! Wir waren vorgestern auf dem Dorffest. Deine Tante wollte unbedingt mit dem Bürgermeister tanzen. Er tat ihr leid, weil er so einsam an einem Tisch in der Ecke saß. Der Bürgermeister wehrte sich mit Händen und Füßen, willigte aber schließlich ein. Du kennst ja Maria. Wenn es ums Feiern geht, duldet sie keine Widerrede, besonders nicht, wenn sie schon einige Gläschen Amaretto intus hat. ›Auf eigene Verantwortung‹, sagte der gute Mann zu deiner Tante, die nichts ahnend mit ihm ging. Kurze Zeit später war der Spaß auch schon vorbei. Maria führte den Bürgermeister zurück zu seinem Platz, während er ganz schuldbewusst schaute. So, und deine Tante wollte sich gerade eine Limonade holen, sie war ja vom Tanzen ganz verschwitzt, als sie stolperte und hinfiel. Bei dem Sturz riss sie die Tischdecke vom Nachbartisch herunter, samt Weingläsern, Tellern mit Pasta-Resten und Blumenvasen, und verstauchte sich den Knöchel. Den Rest kannst du dir vorstellen. Unser Hausarzt verordnete Maria einige Tage Bettruhe, sie soll ihren Fuß schonen und hochlegen.«
»Die arme Maria, sie hat bestimmt fürchterliche Schmerzen gehabt!«, erwiderte ich mitfühlend.
»Du solltest mit mir Mitleid haben!«, rief Onkel Pepe aufgebracht in den Hörer. »Deine Tante hört auf niemanden und humpelt hier die ganze Zeit herum. Die Frau macht mich noch wahnsinnig, sie kann einfach nicht ruhig sitzen!«, sagte er verzweifelt.
»Ich nehme an, du brauchst meine Hilfe mit dem Hotel«, meinte ich und spürte, wie sich meine Laune von Minute zu Minute verbesserte.
»So ist es«, antwortete Onkel Pepe. »Komm so schnell, wie es nur geht!«
Das kleine Hotel in San Vincenzo, das Tante Maria und Onkel Pepe seit zwanzig Jahren mit ununterbrochener Leidenschaft führten, war wie ein zweites Zuhause für mich. Ich hatte viele Sommerferien in der Villa al mare bei den beiden verbracht und ihnen gerne geholfen, wenn es in der Hochsaison turbulent zuging. Das Hotel war im Sommer immer ausgebucht, Maria und Onkel Pepe verzauberten die Gäste mit ihrer fröhlichen und liebevollen Art. »Für unsere Gäste nur das Beste« war nicht nur ein gut klingendes Motto auf dem Werbezettel. Meine Tante und mein Onkel lebten für das Hotel, zu dem auch ein kleines Restaurant gehörte. Meine Tante kochte leidenschaftlich gerne und stellte sich des Öfteren in die Küche, während Onkel Pepe jeden Morgen zum Markt fuhr, um frische regionale Zutaten für die angebotenen Gerichte zu besorgen.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie die sonst so turbulente Maria unter ihrer kurzzeitigen Behinderung litt. Die Vorstellung, den beiden unter die Arme greifen zu können, machte mich glücklich. Ich wollte von meiner gescheiterten Beziehung Abstand nehmen, etwas Zeit mit meinen Lieben verbringen und die Auszeit in der Sonne nutzen, um meinen Kopf wieder frei zu bekommen.
Kurz dachte ich daran, wie schön es doch wäre, diese Zeit mit Giovanni in San Vincenzo zu verbringen. Ich wischte eine kleine Träne weg, packte eilig meinen Koffer und setzte mich in meinen kleinen Fiat. Wenn ich Glück habe und zügig vorankomme, bin ich vor dem Abendessen am Meer, dachte ich, während ich die Wohnungstür hinter mir zuzog.
»Herzlich willkommen, mein Sonnenschein!« Onkel Pepe strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Du bist aber groß geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!«
Ich umarmte den kleinen, rundlichen Mann und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Stimmt, Onkel«, grinste ich ihn an. »Seitdem wir uns vor zwei Monaten getroffen haben, bin ich ein großes Stück gewachsen!«
»Lass uns reingehen, deine Tante wartet schon auf dich. Ich muss dich aber warnen, sie ist etwas schlecht gelaunt!«
Ich holte meinen Koffer aus dem Auto. Bevor ich Onkel Pepe folgte, blieb ich vor dem Hoteleingang stehen. Das Gebäude war umgeben von einem gepflegten Rasen, kleinen Palmen und wunderschönen Blumenbeeten. In dieser Oase der Ruhe ging es einem sofort besser. Für die Gartenarbeiten war mein Cousin, der Sohn von Maria und Onkel Pepe, zuständig. Fazio hatte schon als Kind ein Händchen fürs Gärtnern gehabt. Der von ihm angelegte Kräutergarten war immer größer geworden und versorgte inzwischen nicht nur die Hotelküche, seine Kräutermischungen fanden auch auf dem wöchentlichen Markt begeisterte Abnehmer.
Bevor ich in die Küche ging, in der sich Maria am liebsten aufhielt, schaute ich mich im Foyer um. Das erst vor kurzem renovierte Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert strahlte mit seinen stilvollen Möbeln ein luxuriöses Ambiente aus. Neben der Rezeption befand sich eine kleine hoteleigene Bar, die bis spät in die Nacht geöffnet und gut besucht war. Durch eine große Glastür gelangte man direkt in das Restaurant. Der stattliche Raum, der den Gästen auch als Frühstückssaal zur Verfügung stand, sah mit seiner gemütlichen Einrichtung im mediterranen Stil einladend und hübsch aus. Die großen Fenster gaben den Blick auf einen wunderschönen Park frei, der sich in unmittelbarer Nähe des Hotels befand. Außerdem gehörte eine weitläufige Sommerterrasse zu dem Restaurant.
»Dein Onkel hat mich ruiniert!«, rief mir Maria zu, als sie mich erblickte. »Er hat mich einfach in einem Rollstuhl im Garten abgestellt, und als es anfing zu regnen, hat er vergessen, mich hereinzuholen! Guck mich doch mal an! Ich sehe aus wie ein begossener Pudel!«
»Ich gehe dann mal in den Weinkeller«, murmelte Onkel Pepe. »Ich muss mich dringend um die Weinbestellung kümmern!«
»Geh du nur zu deinen Weinen und lass mich hier alleine!«, nörgelte Maria und versuchte vergeblich, mit einem Handtuch ihre wunderschönen schwarzen Locken, die nass und traurig herunterhingen, trocken zu schrubben. »Wenigstens ist Francesca jetzt da, die kümmert sich schon um mich! Wie war die Fahrt? Hast du Hunger, meine Kleine?«
»Ich habe einen Bärenhunger!«, lächelte ich meine Tante an. »Schön, dich wiederzusehen!«
»Signora Catalano, es ist etwas Schreckliches passiert!«
Rebecca, das Hausmädchen des Hotels, platzte in die Küche, in der meine Tante und der Koch gerade das Menü für den nächsten Tag besprachen. Ich ließ meine Gabel sinken, schob meinen Teller zur Seite und versuchte Rebecca zu beruhigen.
»Setz dich doch erst mal hin!«, sagte ich dem Mädchen, das vor Aufregung am ganzen Leib zitterte. »Trink erst einmal ein Glas Wasser und dann erzähl, was geschehen ist!«
»Ich kann es nicht fassen!«, jammerte Rebecca, während sie einen großen Schluck Wasser nahm. »Signor Pierini, der Barbesitzer, ist tot!« Das Mädchen hielt kurz inne, bevor es weiterredete. »Er wurde ermordet!«
»Madonna«, rief Giuseppe, der Koch, entsetzt. »Bei ihm habe ich doch damals angefangen! Besonders gut hat er die jungen Leute nicht behandelt. Er ist … ich meine … er war kein freundlicher Mensch.«
»Ich wollte mit meinem Freund einen Wein trinken und eine Kleinigkeit essen.« Rebecca schüttelte sich, erzählte aber tapfer weiter. »Ich betrat die Bar und bin fast in Ohnmacht gefallen. Signor Pierini lag mit dem Gesicht in der Tomatensuppe, den Kopf zur linken Seite des Körpers gedreht, die weit aufgerissenen Augen sahen mich mit glasigem Blick an. Er musste gerade erst gestorben sein.« Das Mädchen nahm noch einen Schluck, bevor es weiterredete. »Seine Haare klebten am Kopf, die blonden Haarsträhnen glänzten hellrot und der geöffnete Mund verlieh seinem Gesicht etwas Gruseliges. Er hatte Schaum vor dem Mund ‒ er wurde vergiftet!«
»Was meint die Polizei?«, fragte Maria. »Haben die gesagt, dass es ein Mord war?«
»Commissario Monte war auch gerade da, er aß zum Mittag, als Signor Pierini starb. Er hat uns alle in die Küche geschickt, wir durften die Bar nicht verlassen. Der Gerichtsmediziner kam sofort vorbei und ein Kellner hat gehört, wie er mit dem Commissario geredet hat. Der Gerichtsmediziner meinte, dass der typische Mandelgeruch der Suppe auf eine Zyankalivergiftung hinweist.«
Das Mädchen, das sich inzwischen etwas beruhigt hatte, stand auf, nahm sich eine Portion Spaghetti und setzte sich an den Tisch.
»Wenn Sie mich fragen, war das die Ehefrau«, sagte sie mit vollem Mund. »Die Beziehung der beiden funktionierte schon lange nicht mehr. Bestimmt hat sie einen Liebhaber, sie flirtet ja bekanntlich gerne mit jungen Männern. Vielleicht brauchte sie Geld, weil sie sich absetzen wollte. Jetzt kann sie die Bar verkaufen. Ich bin mir fast sicher, dass sie es war!«
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und machte einen Spaziergang am Strand. Die Sonne lächelte mich an, die salzige Luft pustete meine traurigen Gedanken fort. Ich vermisste Giovanni immer noch, wusste aber genau, dass unsere Beziehung nie wirklich eine Perspektive gehabt hatte. Es ist gut so, wie es ist, dachte ich mir und musste plötzlich grinsen. Was hätte ich darum gegeben, den Gesichtsausdruck meines Exfreundes zu sehen, als er meine Nachricht las! Bei diesem Gedanken hatte ich nicht einmal ein schlechtes Gewissen, schließlich hatte der untreue Hund mich betrogen.
»Da bist du ja!«, hörte ich plötzlich Fazio hinter mir rufen. »Ich habe dich schon gesucht!«
»Ich habe gestern Abend auch nach dir gefragt!« Ich lächelte meinen Cousin an. »Du warst wohl beruflich unterwegs.«
»Ich habe eine Gärtnerei in Venturina besucht und Bestellungen aufgegeben. Hast du schon meinen neuen Rosengarten gesehen?«, fragte Fazio, während wir uns in den Sand setzten. »Den musst du dir unbedingt anschauen! Die Düfte und Farben werden dich verzaubern!«
Es war schön, meinen Cousin wiederzusehen. Fazios ruhige Art, seine Leidenschaft für die Natur, sein Fleiß, mit dem er ununterbrochen etwas erschuf, gefielen mir sehr. Manchmal wünschte ich mir, mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Ich vermisste die vielen gemeinsamen Stunden, die wir als Kinder zur Verfügung gehabt hatten.
»Es ist grauenvoll, was mit Signor Pierini passiert ist«, sagte Fazio plötzlich. »Die ganze Stadt redet über nichts anderes.«
»Hast du ihn gut gekannt?«, fragte ich meinen Cousin.
»Hin und wieder organisierten wir gemeinsam Hochzeiten oder andere Festivitäten«, antwortete er. »Allerdings war es nicht immer einfach, mit ihm auszukommen. Signor Pierini war immer sehr auf seine Vorteile bedacht und hatte keine Skrupel, andere über den Tisch zu ziehen.«
»Findest du es nicht eigenartig, dass Signor Pierini nicht hinter der Theke, sondern im Gästeraum gegessen hat?«
»Das hat er oft gemacht«, sagte Fazio. »So konnte er besser sehen, ob seine Gäste zufrieden waren. Gestern hat eine Frau an seinem Tisch gesessen, allerdings habe ich sie nur flüchtig von hinten gesehen.«
»Warum warst du da?«, löcherte ich meinen Cousin.
»Ich habe kurz einen alten Schulfreund, Paolo, besucht. Er arbeitet in der Küche.« Fazio sah mich grinsend an. »Keine Angst, Miss Marple, ich habe Pierini nicht umgebracht!«
Mein Cousin stand auf und reichte mir die Hand.
»Wir müssen zurück«, sagte er, während er mir hoch half. »Sonst kriegen wir noch Ärger mit der Chefin!«
»Stimmt, Maria versteht keinen Spaß, wenn es um die Arbeit geht. Ich möchte auf keinen Fall zu spät kommen«, lächelte ich. »Heute bin ich zuständig für den Empfang.«
»Wir haben unter dem Namen Mazzini zwei Zimmer reserviert!«
Ich sah erschrocken auf, hatte gar nicht gehört, dass jemand an den Empfangstresen getreten war. Ich studierte gerade den Dienstplan und versuchte, mir die Namen der neu eingestellten Mitarbeiter einzuprägen.
»Guten Tag, Signora und Signor Mazzini!«, begrüßte ich die gerade angekommenen Hotelgäste, nachdem ich mir die Reservierungen angesehen hatte. Das Paar vor mir hätte unterschiedlicher nicht sein können. Der Mann war groß gewachsen und sehr elegant gekleidet. Er musste in den Sechzigern sein, aber seine pechschwarzen Haare wiesen keine weißen Stellen auf. Womöglich färbte er sich die Haare, grau melierte Schläfen hätten ihn bestimmt wesentlich älter aussehen lassen.
Sein ernster, fordernder Blick und die harten Gesichtszüge deuteten darauf hin, dass er ein Mensch war, der keine Widerrede duldete. Es war bestimmt nicht einfach, mit ihm zusammenzuleben. Seine Frau wirkte neben ihm eher blass. Eine hagere Person, mit streng nach hinten gekämmten Haaren und traurigem Blick, ein Mensch, der anscheinend keinen großen Wert auf sein Aussehen legte. In ihrem schwarzen, knöchellangen Rock und der schlichten grauen Bluse sah sie unscheinbar und zurückhaltend aus.
»Ich heiße Montinari, Luigi Montinari«, sagte der Mann unfreundlich. »Das hier ist nicht meine Frau, sondern meine Sekretärin, Signora Mazzini. Sie hat reserviert.«
Deswegen also die zwei Zimmer, dachte ich und legte die Schlüssel auf den Tresen. Ich fand Signor Montinari kein bisschen sympathisch, versuchte aber, weiterhin freundlich zu bleiben. Der Mann vor mir erinnerte mich an meinen ehemaligen Sportlehrer. Dieser hatte eine ebenso kräftige Stimme gehabt, und wenn er durch die Halle brüllte, gehorchten selbst die Kinder, die normalerweise anderen Lehrern gegenüber wenig Respekt aufbrachten. »Uno, due, tre«, hatte unser Kommandant gerufen. »Keiner faulenzt!« Wenn der Mann schlechte Laune hatte (und das kam nicht selten vor), ließ er uns Extrarunden laufen und doppelt so viele Liegestützen machen als sonst. Wie wir damals sein Bootcamp überstanden hatten, war mir bis heute ein Rätsel.
»Sie können von beiden Zimmern aus auf das Meer schauen und Sie haben auch einen kleinen Balkon mit Liegestühlen«, lächelte ich die neuen Gäste an. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!«
Ich fand meine professionelle Art, mit der ich meine Abneigung gegenüber Signor Montinari überspielt hatte, beispielhaft. Sollte ich genug vom Schreiben bekommen, könnte ich direkt anfangen, in einem Hotel zu arbeiten.
»Sorgen Sie dafür, dass unsere Koffer in die Zimmer getragen werden«, blaffte mich Signor Montinari an, unbeeindruckt von meiner Höflichkeit. »Und bringen Sie mir einen Espresso! Wir setzen uns da drüben hin.«
»Was will der denn hier?« Maria humpelte auf mich zu, während sie Signor Montinari anstarrte. Meine Tante sollte eigentlich gar nicht herumlaufen, aber sie weigerte sich, sich wieder in den Rollstuhl zu setzen.
»Kennst du ihn?«, fragte ich meine Tante verwundert. »Wenn deine Blicke töten könnten, hätten wir jetzt eine weitere Leiche!«
»Sag ihm, dass wir ausgebucht sind«, sagte Maria entschlossen. »Ich will ihn hier nicht sehen!«
Ich zeigte wortlos auf das Gästebuch, in das ich vorhin die beiden Namen eingetragen hatte, und hoffte inständig, dass meine Tante keinen Herzinfarkt bekam. Alarmiert sah ich zu, wie Marias Gesicht plötzlich einen dunkelroten Farbton annahm. Sie schnappte nach Luft.
»Maria, wie schön, dich wiederzusehen!« Montinari sprang von seinem Platz auf und kam auf uns zu. Trotz der freundlichen Worte klang seine Begrüßung bedrohlich, und auch wenn ich mir nicht erklären konnte warum, überkam mich ein mulmiges Gefühl. »Ich habe meinen Espresso immer noch nicht bekommen!«, schnauzte mich der Mann an. »Müssen Sie die Kaffeebohnen erst ernten?«
Bevor ich antworten konnte, trat meine Tante vor den Tresen.
»Was willst du hier?«, fragte Maria den Mann mit düsterer Miene. »Erzähl mir nicht, dass es keine anderen Hotels in der Stadt gibt.«
»Wir haben einiges zu besprechen«, wandte sich Signor Montinari an meine Tante. »Es ist nur praktisch, wenn ich bei dir absteige! Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend im Restaurant treffen und unterhalten?«
»Lass mich einfach in Ruhe! Es gibt nichts, worüber wir sprechen könnten!« Maria drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder in die Küche. Montinari zog die Augenbrauen zusammen, und bevor er sich wieder zu seiner Sekretärin setzte, gab er ein teuflisches Lachen von sich.
»Das werden wir ja noch sehen!«, rief er Maria laut nach. »Gegen meine Argumente hast du keine Chance!«
Ich hätte zu gerne erfahren, warum meine Tante bei dem Anblick von Signor Montinari so wütend geworden war und warum sie ihn nicht leiden konnte. Offensichtlich schien sie ihn ja doch zu kennen. Aber Maria zog sich für den Rest des Tages zurück.
Die Beerdigung des Mr. Graham war ein richtiges Ereignis. Viele Trauergäste kamen, keiner wollte die Show verpassen. Der Mahagonisarg des Verstorbenen glänzte in der Sonne, eine Kapelle spielte rührend traurige Musikstücke und das Buffet auf der Trauerfeier war ein Traum.
Die Witwe, die dreißig Jahre jünger war als ihr Mann, trug ein sündhaft teures Outfit. Sie spielte die Rolle der trauernden Gattin perfekt. Keiner bekam mit, wie sehr sie sich über diesen Tag freute.
Nachdem das Testament eröffnet worden war, brach Mrs. Graham in Tränen aus. Diesmal waren sie echt. Ihr Gatte hatte sein gesamtes Vermögen dem örtlichen Meerschweinchenverein vermacht …
Onkel Pepe schien von dem Zwischenfall nichts mitbekommen zu haben. Er übergab mir grinsend seine neue Geschichte, und bevor ich ihn etwas fragen konnte, eilte er geschäftig weiter. Da ich gerade nichts zu tun hatte, nahm ich ein Blatt aus der Schublade heraus und versuchte meine Gedanken zu ordnen. War die Frau von Signor Pierini tatsächlich die Täterin? Ich kannte sie zwar nicht besonders gut, aber auf mich hatte sie einen harmlosen Eindruck gemacht. Das Ehepaar Pierini lebte sehr gut von den Einnahmen der Bar, aber wenn man dem Klatsch Glauben schenken konnte, verband die beiden eine rein geschäftliche Beziehung. Ich kaute an meinem Bleistift herum und schrieb einige Fragen auf. Ich musste herausfinden, wo sich Signora Pierini zum Tatzeit aufgehalten hatte. Wollte sie wirklich mit ihrem Liebhaber irgendwo ein neues Leben anfangen? Gab es überhaupt einen Liebhaber? Wer könnte mir zuverlässige Informationen liefern? Meine Schicht am Empfang ging bis zwei Uhr nachmittags, dann würde mich Fazio ablösen.
Ich werde mich nachher in der Stadt umhören, dachte ich und spürte förmlich, wie mein Jagdinstinkt geweckt wurde. Meine Absicht, mich von kriminellen Geschichten fernzuhalten, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Ich war neugierig und wollte unbedingt das Rätsel lösen.
»Diese Frau kenne ich irgendwoher!«, hörte ich plötzlich Fazios Stimme hinter mir.
»Kannst du dich bitte nicht so anschleichen?«, raunte ich meinem Cousin zu. »Ich hätte fast meinen Bleistift verschluckt!«
Die junge Frau, die gerade durch die Eingangstür trat, zog alle Blicke auf sich. Ihre blonde Haarpracht und ihre schlanke Figur, das elegante Kostüm, ganz in Weiß, sowie die zum Kostüm und zur Handtasche passenden Schuhe mit gefährlich hohen Absätzen unterstrichen ihre sonnengebräunte Haut und die wachsamen blauen Augen perfekt. Bevor sie an die Empfangstheke trat, sah sie sich selbstbewusst um. Die Frau genoss ihren Auftritt sichtlich. Sie nickte Signor Montinari und seiner Sekretärin, die sich immer noch in der Lobby aufhielten, zu und wendete sich an Fazio.
»Vittoria Colucci«, säuselte sie mir entgegen und klimperte mit ihren langen, pechschwarzen Wimpern. »Ich hoffe, Sie haben ein Zimmer für mich!«
»Es tut mir leid, Signora«, antwortete ich und trat unter der Theke dezent gegen Fazios Fuß. »Wir sind ausgebucht!«
Mein Cousin stand wie versteinert da, die Frau schien ihn verzaubert zu haben. Ohne mich zu beachten, beugte sich Signora Colucci zu Fazio herüber.
»Ich bin auch mit einem klitzekleinen Zimmer zufrieden«, lächelte sie zuckersüß, während sie auf ihre Unterlippe biss. »Hauptsache, ich kann mich endlich meiner Kleider entledigen und unter die Dusche springen!«
»Ja, die Hitze ist unerträglich.« Der Junge konnte plötzlich doch reden. »Ich schaue mal, ob ich etwas für Sie tun kann!«
Während Fazio fieberhaft die Liste mit den Zimmerbelegungen studierte, sah ich zu Signor Montinari hinüber. Auch sein Blick sprach Bände. Es musste ihm sehr gefallen, was er sah, wohingegen Signora Mazzini scheinbar nur Verachtung für die junge Frau empfand. Montinaris Sekretärin versuchte die ganze Zeit, ihrem Chef etwas zu erklären, der jedoch hörte ihr nicht zu. Plötzlich sprang Signora Mazzini auf und lief auf uns zu.
»Mein Chef und ich brauchen für heute Abend einen Tisch in einem schönen Restaurant.« Sie drängelte sich an Signora Colucci vorbei. »Wir haben etwas zu feiern!«
Nachdem Fazio kein leer stehendes Zimmer aus dem Ärmel hatte zaubern können, was ihm sehr leidtat, wendete sich die junge Frau zum Gehen.
»Wir sehen uns noch!«, trillerte Signora Colucci, während sie auf den Ausgang zuging. Ich war mir nicht sicher, wem dieser Satz galt.
Sir Arthur Parker war »not amused«, als er erfuhr, dass seine Frau in einer Bar halb nackt auf dem Tisch getanzt hatte.
Der gute Mann hatte kein Glück mit dem weiblichen Geschlecht. Seine erste Frau hatte sein Geld mit beiden Händen ausgegeben, die Ehe hielt nicht lange. Die zweite Kandidatin machte ihn hinter seinem Rücken lächerlich. Sie erzählte überall von seinen schwachen männlichen Leistungen. Auch sie musste gehen. Die dritte Gattin, der Nackedei, wurde ebenso aus dem gemeinsamen Haus geworfen.