Thomas Kaufmann
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Eine Geschichte der Reformation
C.H.BECK
Die Reformation hat die Welt so tiefgreifend verwandelt wie kein anderes Ereignis seit dem Ende der Antike – auch der Katholizismus war danach nicht mehr der gleiche. Thomas Kaufmann erzählt souverän und auf dem neuesten Forschungsstand die Geschichte dieser religiösen Revolution in einem Zeitraum von mehr als hundert Jahren. Seine meisterhafte Darstellung lässt die Dramatik des erbitterten Kampfes um himmlische Erlösung und irdische Macht für heutige Leser lebendig werden.
Die Reformation entstand fernab der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Europas, und doch hat sie den gesamten Kontinent in Aufruhr versetzt. Viel ist darüber spekuliert worden, welche politischen und sozialen Faktoren für diese Revolution verantwortlich waren. Thomas Kaufmann, einer der besten Kenner der Reformation, sieht die wichtigsten Beweggründe in der Religion selbst. Den Reformatoren ging es um das Seelenheil. Als der Papst Luther und seine Lehre verdammte, hätte dies das Ende sein können. Doch Luther sah den Papst selbst in ewiger Verdammnis. So nahm die Kirchenspaltung ihren Lauf. Hass auf die Verdammten ließ Menschen in den Krieg ziehen, in der Hoffnung auf Erlösung verließen unzählige ihre Heimat und trugen die Reformation in die letzten Winkel der Welt. Thomas Kaufmann zeigt eindrucksvoll, wie ganz Europa durch das Beben der Reformation umgestaltet wurde und welche Nachbeben die Reformation bis heute auslöst.
Thomas Kaufmann ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen, Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte und Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bei C.H.Beck erschien von ihm bereits „Martin Luther“ (4. Aufl. 2016).
I. LUTHER UND DIE REFORMATION
1. Ein europäisches Ereignis
2. Erhoffte und gewordene Reformation
3. Am Anfang war Luther
II. DIE EUROPÄISCHE CHRISTENHEIT UM 1500
1. Konstruktion eines Kontinents
Neue Horizonte
Neue ökonomische Räume
2. Ordnungen
Ständische Gesellschaften
Politische Strukturen
3. Nationen und Mächte in Europa
4. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation
5. Geistige und geistliche Gemeinsamkeiten
Formen der Frömmigkeit
Der Ablass
6. Kulturelle Aufbrüche
Die Revolution des Buchdrucks
Die Mobilität der Humanisten
III. DIE FRÜHE REFORMATION IM REICH BIS 1530
1. Dreizehn stürmische Jahre
2. Martin Luther – ein Porträt
3. Aussteiger: Der junge Augustinermönch
Weltliche Karrierepläne
Eiferndes Mönchtum
4. Der Wittenberger Exeget
Gnade und Rechtfertigung
95 Thesen gegen den Ablass
5. Luthers Bruch mit dem Papst
Streitschriften und Kontroversen
Luther schreibt um sein Leben
6. Wormser Reichstag, Aufruhr und Umbruch
Verweigerung des Widerrufs
Agitation, Protest, Tumult
Veränderungen in den Städten
7. Zwingli und die Zürcher Stadtreformation
Der Leutpriester am Großmünster
Ein evangelisches Stadtkirchenwesen
8. Innerreformatorische Zerwürfnisse
Sickingens Ritterschaftsbewegung
Der Bauernkrieg und Thomas Müntzer
Luthers Distanzierung von Karlstadt
Der Abendmahlsstreit
Die ersten Täufergemeinden
Luthers Streit mit Erasmus
9. Territorial- und kirchenpolitische Entscheidungen
Konfessionelle Lager im Reich
Die Errichtung evangelischer Kirchentümer
Augsburg: Evangelisches Bekenntnis und kaiserliche Reichsacht
IV. DAS REFORMATORISCHE EUROPA BIS 1600
1. Sprache, Bildung, Recht: Die religionskulturelle Neuordnung
2. Die frühreformatorischen Bewegungen außerhalb des Reichs
Die Niederlande
Frankreich und England
Skandinavien
Italien und Spanien
Östliches Europa
3. Johannes Calvin und die reformierte Internationale
Calvins intellektueller Hintergrund
Kirchenordnung und Gemeindedisziplin
Der Flammentod des Michael Servet
Schulterschluss mit Heinrich Bullinger und der Zürcher Reformation
Die Internationalisierung des reformierten Protestantismus
Von der Pariser Bluthochzeit zum Edikt von Nantes
Politische Befreiung in den Niederlanden
John Knox und die schottische Reformation
4. Die Königsreformationen in Skandinavien und England
Das lutherische Nordeuropa
Die Anglikanische Kirche und die Puritaner
5. Das befriedete, das ruhelose Reich
Schmalkaldischer Bund und Schmalkaldischer Krieg
Augsburger Interim und das Vakuum nach Luthers Tod
Widerständiges Magdeburg
Der Augsburger Religionsfrieden
Lutherischer Theologenstreit
6. Die Transformation des römischen Katholizismus
Das Konzil von Trient
Neue Orden, neue Ordnungen
7. Dissenter und Nonkonformisten
Die Täufer und das Experiment von Münster
Mystiker und Spiritualisten
Antitrinitarier
8. Lateineuropa nach der Reformation
V. DIE REFORMATION UND DIE NEUE ZEIT
1. Die beschleunigte Zeit: Umbruch oder Apokalypse?
2. Impulse für die westliche Moderne
Konfessionskulturen und die Rolle der Laien
Wirtschaft und Recht
Rationalität und Individualität
3. Der globale Protestantismus
VI. DIE WAHRNEHMUNG DER REFORMATION IN DER NEUZEIT
1. Die Reformationsjubiläen: 1617 bis 2017
2. Deutung und Debatte
Orientierung an der Biographie Luthers
Aufklärung und Französische Revolution
Anfänge der wissenschaftlichen Historiographie
Deutsche Aneignung
Abschiebung ins Mittelalter und Lutherrenaissance
Angloamerikanische Perspektiven
Reformationsgeschichte in der DDR und in der BRD bis 1990
Aktuelle wissenschaftliche Herausforderungen
EPILOG – DER ZAUBER DES ANFANGS
ANHANG
Zeittafel
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Geographisches Register
Wittenberg, «am Rande der Zivilisation».[1] Von diesem traditionslosen deutschen Universitätsstädtchen ausgehend wurde die Reformation binnen kürzester Zeit zu einem europäischen Ereignis. Dies war nicht zuletzt durch die politischen Strukturen und Konstellationen in Europa bedingt: Karl V., der jugendliche Kaiser aus der habsburgischen Dynastie, der die Geschicke des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation seit 1520/21 lenkte, stand einem vielgestaltigen, transnationalen Herrschaftsgebilde vor. Neben weitläufigem europäischem Territorialbesitz in den Niederlanden, Österreich, Lothringen, auf der Iberischen und der Apenninhalbinsel umfasste es riesige außereuropäische Gebiete auf dem neu entdeckten amerikanischen Kontinent. Die Konflikte, die Karl V. innerhalb und außerhalb Europas austrug, insbesondere mit Frankreich und dem Osmanischen Reich, wirkten seit den frühen 1520er Jahren direkt auf die politischen Handlungsspielräume in seinem Reich und gegenüber jenen politischen Kräften, die sich für Luther und die Reformation einsetzten. Die engen Verbindungen innerhalb der europäischen Staatenwelt und die globalen Strukturen der lateineuropäischen Kirche bestimmten die kulturellen, rechtlichen, mentalen und religiösen Verhältnisse in Europa. Sie sorgten ebenfalls dafür, dass die Krise der überkommenen Lehr- und Lebensformen der Kirche, ausgelöst zunächst in Deutschland durch den thüringischen Augustinermönch Martin Luther, weitreichende Folgen hatte. Auch die gemeinsame Erfahrung einer Bedrohung der Europäer durch die geheimnisvolle und allenthalben gefürchtete türkische Supermacht und ihre fremde Religion trug wesentlich dazu bei, dass die religiösen Veränderungen, zu denen es infolge der Reformation kam, umgehend europäische, ja globale Dimensionen annahmen.
An einigen eher assoziativ verbundenen Sachverhalten sei die frühzeitig offenkundig werdende Europäizität der Reformation einleitend illustriert:
Der Basler Drucker Johannes Froben freute sich zu Jahresbeginn 1519 über die Verbreitung seiner ersten Gesamtausgabe Luther’scher Schriften in Frankreich, Italien, Spanien und England und berichtete, dass er noch kein Buch besser verkauft habe als dieses.[2] Der englische König Heinrich VIII. engagierte sich unmittelbar nach dem Erscheinen von Luthers radikalster Sakramentsschrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (De captivitate Babylonica) im Jahr 1520 literarisch gegen den deutschen Theologieprofessor und wurde dafür vom Papst mit der Goldenen Tugendrose und dem Ehrentitel eines «Verteidigers des Glaubens» (Defensor Fidei) ausgezeichnet. Im Mai 1521 wurde nahe der Londoner St. Paul’s Cathedral ein Tribunal über Luther und seine Anhänger abgehalten. Nach den Lehrverurteilungen durch die Universitäten Köln und Löwen schloss sich ihnen im Frühjahr 1521 die ehrwürdigste Universität des Abendlandes, die Sorbonne in Paris, an. Im Sommer 1521 reiste der aus Zwickau vertriebene reformatorische Prediger und Agitator Thomas Müntzer nach Prag, um Kontakt mit Repräsentanten der hussitischen Bewegung aufzunehmen. Der 1523 vom Adel seines Landes verdrängte dänische König Christian II. verbrachte einen Teil seines Exils in Wittenberg; in dieser Zeit fertigte Lukas Cranach der Ältere ein Porträt von ihm an, das der wenig später erscheinenden dänischen Übersetzung des Neuen Testaments beigegeben wurde. Die späteren Exponenten reformatorischer Entwicklungen in Frankreich, England und Dänemark, François Lambert von Avignon, William Tyndal und Hans Tausen, studierten in den frühen 1520er Jahren in Wittenberg. Der jüdische Gelehrte Eliezer Ha Levi in Jerusalem sah in einem Brief des Jahres 1525 die endzeitliche Erwartung eines Zerfalls der Christenheit und des Beginns der Erlösung Israels «im Auftreten Martin Luthers bestätigt».[3] Der türkische Sultan Süleyman, genannt der Prächtige (1520–1566), erkundigte sich 1532 bei einem Gesandten aus dem Reich, wie alt Luther sei; als er, wohl mit Bedauern, vernahm, dass der Reformator damals schon neunundvierzig Jahre zählte, ließ er diesem gleichwohl versichern, dass er «einen gnedigen herrn» an ihm habe. Seit den frühen 1520er Jahren wurden Ideen Luthers und anderer Reformatoren in Kreisen um den Bischof von Meaux, Guillaume Briçonnet, und den humanistischen Gelehrten Lefèvre d’Étaples rezipiert. Die sogenannte Plakataffäre von 1534, als evangelische Flugblätter bis in die Gemächer des französischen Königs Franz I. vordrangen, bildete den Wendepunkt hin zu einer entschieden antireformatorischen Politik des Monarchen.
Auch in der Reformationsgeschichte des Gothaer Superintendenten Friedrich Myconius werden die europäischen beziehungsweise die auf die ganze Christenheit bezogenen Dimensionen des Auf- oder Umbruchs deutlich, der mit Luthers 95 Thesen wider den Ablass begann. Sie hätten, so Myconius, in vierzehn Tagen Deutschland «und in vier Wochen schier die ganze Christenheit durchlaufen, als wären die Engel selbst Botenläufer [vgl. Psalm 103,20] und trügen’s vor aller Menschen Augen.»[4] Auch in Bezug auf die Universitäten, die mit dem Fall Luther befasst waren, die Orte der Verbrennung seiner Schriften, die Verbindungen zu einzelnen Personen aus England, Frankreich, Ungarn und Schottland und die Herausforderungen durch das Osmanische Reich standen dem Reformator Myconius die europäischen Dimensionen der Reformation deutlich vor Augen. Nicht anders sahen es in ihren Reformationsdarstellungen etwa der Schotte John Knox, der Schweizer Heinrich Bullinger und der Franzose Theodor Beza.
Nach diesen Schlaglichtern ist evident: Die Reformation war von ihren ersten Anfängen an ein internationales Ereignis. Die Behauptung, erst Johannes Calvin (1509–1564), dessen früheste reformatorische Äußerung vielleicht in den November 1533 datiert werden kann,[5] habe «die Internationalität der Reformation durch seine Einbindung von französischen und anderen europäischen Traditionen»[6] begründet, ist unzutreffend, ja irreführend. Auch die kulturelle Revolution, die der Buchdruck mit beweglichen Lettern in den Jahrzehnten vor 1500 auslöste, hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Wittenberger Bewegung umgehend politische Bedeutung und europäische Dimensionen erlangte. Und nicht zuletzt begünstigte die Landes- und Sprachgrenzen überschreitende Europäizität der in der Regel auf Latein kommunizierenden römischen Kirche die Formierung eines transnationalen Aufstandes gegen sie. Eine in nationalgeschichtlichen Perspektiven befangene Reformationshistoriographie wird dem langen Schatten des 19. Jahrhunderts nicht entrinnen und dem Zeitalter der Reformation und seiner spezifischen Europäizität nicht gerecht werden.
Der Begriff der Reformation ist schillernd und vielfältig; er erfordert eine Vorverständigung. In der heute allgemein üblichen und verbreiteten Verwendung bezeichnet er ein bestimmtes historisches Phänomen, eine spezifische geschichtliche Epoche der lateineuropäischen Geschichte, nämlich die mit Luthers Ablasskritik im Herbst 1517 einsetzenden kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, in deren Folge auf städtischer, territorialer oder nationaler Ebene von Rom unabhängige evangelische Gemeinden und Kirchentümer entstanden und die römisch-katholische Kirche in unterschiedliche Konfessionen auseinanderbrach. Dass dieser vielschichtige Prozess unter der Bezeichnung «Reformation» zusammengefasst und das ganze Zeitalter mit diesem Terminus benannt wurde, ist im Wesentlichen eine Folge der protestantisch dominierten deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts, die in Leopold von Rankes Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839–1847) ihre für über ein Jahrhundert maßgebliche Darstellung fand.
Die Bezeichnung der kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungen als Reformation ist jedoch älter. Bereits im 15. Jahrhundert war der Ruf nach einer grundlegenden Reform erschallt, hatte die lateinische Kirche aufgewühlt, bestimmt und belastet. Die «Reformation» (causa reformationis) war eines der großen Themen des Konstanzer Konzils (1414–1418) gewesen: Um die kontinuierliche «Pflege des Ackers des Herrn» zu gewährleisten und die «Sträucher, die Dornen und das Unkraut der Häresien, der Irrtümer und Spaltungen» auszureißen, «Ausschreitungen zu korrigieren» und, was «deformiert ist, zu reformieren»,[7] hatte diese Generalsynode der lateinischen Christenheit die regelmäßige Abhaltung allgemeiner Konzilien in einem festgelegten Rhythmus verfügt. Das erste sollte innerhalb von fünf, das zweite nach weiteren sieben Jahren stattfinden, später dann sollte die im Generalkonzil repräsentierte Kirche alle zehn Jahre zusammentreten. Das Konstanzer Konzil definierte sich in allen den Glauben, die Einheit der Kirche und ihre «Reform an Haupt und Gliedern»[8] betreffenden Fragen als höchste Instanz, auch gegenüber dem Papsttum. Die «Reformation» galt demnach als eine grundsätzliche, alle Christen betreffende und unabschließbare, permanent neu zu beginnende Aufgabe der Kirche. Entgegen anderslautenden Behauptungen[9] ist der Grundsatz, dass die Kirche immerzu zu reformieren sei (ecclesia semper reformanda), keine genuin reformatorische Erkenntnis.
Indem sich das Papsttum nach dem Ende des Konstanzer Konzils sukzessive konsolidierte, zu seiner alten und auch zu neuer Machtfülle aufstieg, verloren der Konziliarismus und sein Konzept einer permanenten Reformation nach und nach an Boden. In den Jahrzehnten um 1500 nahm die Skepsis gegenüber den Chancen einer allgemeinen Reformation zu. Geiler von Kaysersberg, einer der einflussreichsten Prediger des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, nahm in allen Ständen der zeitgenössischen Christenheit, dem weltlichen, dem klerikalen und dem monastischen Stand, tiefgreifende Mängel wahr. Der klerikale, also weltpriesterliche Stand sei «full und sol nüt»; er sei durch «hoffart, übermut» gekennzeichnet; er häufe «ein pfrun [Pfründe] uff die ander» und lebe in «unkeuscheit», dass er sich «südel [suhle] in der katlachen [Kotlache] und in dem unflat». Die Ordensleute seien ganz «zerrissen», in «aller leckerei fornendran» und so in «hoffart», «geytzigkeit» und «unkeuscheit» gefangen, dass man «inen nicht mer kann zehilff kummen». Auch der weltliche, politische Stand war nach Geiler tiefgreifend «verderbt», da die Fürsten immerzu gegeneinander fochten und stritten – «wie wolt man die reformieren?», fragte der Straßburger Münsterprediger.[10]
Das Konzil von Basel (1431–1437/49), so Geiler weiter, habe sechs Jahre lang ergebnislos darüber beraten, wie man «kund ein gantze reformation machen in der cristenheit, und ward dennocht nüt darauß».[11] Da der Weg zu einer allgemeinen und umfassenden Reformation nicht gangbar schien, blieb nach Geiler nur noch der Weg vieler kleiner Reformen im Rahmen der konkreten Zuständigkeiten der einzelnen Stände.[12] «Ein bischoff in sein bistumb. Ein apt in seinem closter. Ein rat sein stat. Ein bürger sein hauß, dz wer leicht. Aber ein gemein reformation der gantzen cristenheit, das ist hart und schwer, und kein consilium [Konzil] hat es mögen betrachten und weg mögen finden.»[13] Von den jeweiligen Obrigkeiten in den drei Ständen, Kirche, Kloster und Welt, bis hinab zum «Hausvater» sollten demnach alle innerhalb ihrer Zuständigkeiten auf eine Besserung der bestehenden Missstände, eben eine «Reformation», dringen. Geilers Reformationskonzept basierte auf einem für seine Zeit charakteristischen Frömmigkeitsmodell: Gott werde ein strebendes Bemühen belohnen und auch ein unvollkommenes Reformwerk wegen des guten Willens anerkennen.
Der Augustinereremit Martin Luther dachte über die Möglichkeiten einer Reformation in theologischer Hinsicht anders. Während seines im Herbst 1517 einsetzenden Kampfes gegen den Ablass stellte er fest: «Die Kirche bedarf einer Reformation, was nicht das Werk eines einzelnen Menschen, etwa eines Papstes oder vieler Kardinäle ist, was beides das allerjüngste Konzil [das V. Laterankonzil von 1512–1517] bewiesen hat, sondern des ganzen Erdkreises, ja allein Gottes. Die Zeit dieser Reformation aber weiß allein der, der die Zeiten geschaffen hat.»[14]
Angesichts der fundamentalen Missstände, die Luther in Kirche und Gesellschaft seiner Zeit wahrnahm, schienen menschliche Akteure zum Scheitern verurteilt. Gott selbst musste seine Kirche reformieren. Dass sich Gott dabei allerdings der Köpfe und Hände genau jener Obrigkeiten in allen Ständen bediente, die auch Geiler angesprochen hatte, war für Luther wohl selbstverständlich. In seiner großen reformatorischen Programmschrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung aus dem Sommer 1520 jedenfalls suchte er genau diese Kräfte für seine Reformation zu mobilisieren. Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde es unter seinen Anhängern und Mitreformatoren üblich, die herbeigeführten Veränderungen in Kirche und Gesellschaft als «Reformation» zu bezeichnen.
Unter denen, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf die Anfänge der Reformation zurückblickten, kam nun die Gewohnheit auf, auch das Zeitalter dieser Veränderungen, die man ja für Verbesserungen des Kirchenwesens hielt, als «Reformation» zu titulieren. Um 1600 war es üblich geworden, Luther als Reformator und die von ihm heraufgeführte heilsgeschichtliche Wende einer Offenbarung des Evangeliums und einer Befreiung vom Joch des antichristlichen Papsttums als Reformation [15] zu bezeichnen.
Im Rahmen dieses heilsgeschichtlichen Konzepts «Reformation» pflegte man den Auszug aus der «römischen Tyrannei» etwa mit der biblischen Flucht der Kinder Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft zu vergleichen. Das aus prophetischen Quellen der Heiligen Schrift und außerbiblischer Zeugen gespeiste Bewusstsein der Lutheraner, am «Ende der Zeiten» zu stehen, war noch um 1600 ausgesprochen lebendig, ja viel vitaler als in den konkurrierenden Konfessionen – dem römischen Katholizismus und dem Reformiertentum. In besonderen Zeichen, etwa Himmelserscheinungen, sprach Gott zu den Menschen; zumeist wurden sie von den lutherischen Theologen als Ruf zur Umkehr gedeutet. In Jahrhundertrückblicken, die zu Beginn des Jahres 1600 in Predigten geboten wurden, verdichtete sich die historische Erinnerung der Lutheraner zu einem kompakten heilsgeschichtlichen Bild der Reformation als einer Epoche der endzeitlichen Rettung des Christentums vor dem antichristlichen Papst. Der Rekurs auf diese Reformation diente den Lutheranern auch zur Vergewisserung, dass man im Deutungskampf um die Wahrheit des Christentums, der von blutigem Ernst geprägt war und immer auch in militärische Konflikte umschlagen konnte, auf der richtigen Seite stand. Luthers Reformation, in der sich ein kleiner David gegen den übermächtigen Papst-Goliath durchgesetzt hatte, aber auch das Überleben und der Bestand jener «evangelischen» Kirche, die sich auf ihn berief, schienen zu beweisen, dass Gott sie erwählt hatte und seine schützende Hand über sie hielt. Dieses von endzeitlichen Momenten und trotzigem Triumphalismus durchwirkte Geschichtsbild prägte Stimmung und Mentalität der Lutheraner sowie die Bedingungen, unter denen diese Reformation ins kulturelle Gedächtnis insbesondere Deutschlands einging.
Das Parhelion-Gemälde in der Stockholmer St.-Nikolai-Kirche – auch «Storkyrkan», «Große Kirche» genannt – zeigt eine «Nebensonne» (Parhelion), die am 20. April 1535 über Stockholm zu sehen war. Die Zeitgenossen deuteten die seltene Himmelserscheinung als apokalyptisches Zeichen; der Reformator Olaus Petri sah in ihr göttliche Warnungen angesichts der Übergriffe König Gustav Wasas auf das Kirchengut. Das hier gezeigte Gemälde wurde einhundert Jahre nach dem Ereignis, wohl in Erneuerung eines älteren Bildes, vom Hofmaler Jakob Elbfas hergestellt.
Die Reformation ist ein historiographisch und erinnerungskulturell allgegenwärtiges, hoch umstrittenes und zugleich diffuses Thema. Angesichts der vielfältigen und disparaten Inanspruchnahmen Luthers und der Reformation gibt es keine Alternative dazu, sie im Kontext ihrer Zeit zu betrachten, das heißt, sie zu historisieren. Ein kohärentes Geschichtsnarrativ der Reformation aber setzt die Definition eines Ausgangspunktes voraus: Luther und seine Auseinandersetzung mit der Papstkirche. Unter allen maßgeblichen Akteuren des 16. Jahrhundert war unstrittig, dass es Luthers Konflikt mit der römischen Kirche, die Ankündigung seiner Exkommunikation am 15. Juni 1520 und die sich daraus ergebenden Zuspitzungen, Kontroversen und Verwerfungen waren, die jene einzigartige Ereignissequenz in Gang setzten, in deren Folge von Rom unabhängige lokale, territoriale und nationale Kirchentümer entstanden, dass also die Reformation als Summe dieser Veränderungsprozesse im Kleinen zustande kam.
Luther an den Anfang zu stellen, kann nicht bedeuten, ihn in die Sphäre des Monumentalen zu rücken. Er steht an diesem Anfang nicht primär wegen seiner vielfältigen Besonderheiten, sondern wegen der Eigenartigkeit einer historischen Konstellation, die es möglich machte, dass aus einer nie abgehaltenen Disputation über das Ablasswesen eine grundstürzende revolutionäre Veränderung des bestehenden Kirchenwesens werden konnte. Luther an den Anfang zu stellen, bedeutet aber auch, ihn in seine Zeit, die Mentalitäten, sozialen und politischen Ordnungen, religiösen und ökonomischen Handlungsweisen, die Universität, die Ordensgemeinschaft seiner Vertrauten, aber auch in die Ängste und Aufbrüche der Zeit um 1500 hineinzustellen. In der folgenden Darstellung wird die Rolle der Publizistik besonders akzentuiert; denn Luther schrieb um sein Leben, er rettete sich durch seine Schriften, durch sein Schreiben.
Im Zuge der publizistischen Dynamik der Jahre 1518–1521 entstand eine reformatorische Bewegung, die rasch auch außerhalb des Reichs wahrgenommen wurde und zu einem europäischen Phänomen avancierte. Keine der reformatorischen Bewegungen und Veränderungsprozesse in den einzelnen europäischen Ländern – in der Schweiz, in Frankreich, den Niederlanden und England, in Dänemark und Schweden, in Polen, Ungarn, Böhmen und Mähren – ist unabhängig von Luther und den Vorgängen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation entstanden. Keine der europäischen Reformationen ist mithin primär aus einer spätmittelalterlichen Reformdynamik heraus zu erklären, so zutreffend es zweifellos ist, dass in, mit und unter der Reformation viele Traditionen des Spätmittelalters fortlebten oder ältere Prädispositionen wieder auflebten. Doch das, was sich an Reformwillen aufgebaut, an fürstlichem und königlichem Zugriffsgelüst auf das Kirchenwesen angebahnt, an antikurialem Unmut über den römischen Fiskalismus aufgestaut hatte – all das verdichtete sich erst zu einer geschichtswirksamen Veränderung, nachdem der Bettelmönch aus Wittenberg «aus Eifer für Christus oder besser: aus jugendlicher Hitze entbrannt»[16] «aus dem Winkel getrieben»[17] wurde und die Bühne der Geschichte betrat. Die universale Bedeutung des Papstes, um dessen Ablass es ging, tat das Ihre, um den Konflikt um das sächsische Mönchlein rasch eskalieren zu lassen. Erst nachdem das Rumoren im Reich eingesetzt hatte, die Texte Luthers und seiner frühen Mitstreiter ins Ausland gelangt waren, das europäische Kommunikationsnetzwerk der Humanisten «anzuschlagen» begonnen hatte, setzte jene Ereignisfolge ein, an deren Ende es zu den vielen Reformationen und somit zu der einen für die Geschichte der lateineuropäischen Christenheit epochalen Reformation gekommen ist.
In den Jahrzehnten vor dem Beginn der Reformation ging die massivste Infragestellung des christlichen Europa von den Flotten und Heeren des Osmanischen Reiches aus. Erst durch diese Bedrohung von seinen Rändern her ergaben sich Konstruktionen des Kontinents als Einheit. Während der hundert Jahre zwischen der Mitte des 14. und der Mitte des 15. Jahrhunderts ging die dramatischste Phase des Aufstiegs des mächtigsten Imperiums der Zeit vonstatten. Am Beginn dieses Jahrhunderts stehen die erste gegen einen christlichen Staat, nämlich Venedig, gerichtete Militärallianz der Türken mit einem anderen christlichen Staat, Genua, im Jahr 1351 sowie die Errichtung des ersten osmanischen Stützpunktes in Europa bei Gallipoli an den Dardanellen 1354. Am Ende des Jahrhunderts kam es vom 6. April bis zum 29. Mai 1453 zur Belagerung und Eroberung Konstantinopels. Die Dominanz der Osmanen auf dem Balkan – 1371 Sieg über die Serben, 1388 Unterwerfung des bulgarischen Zaren, 1389 Sieg auf dem Amselfeld – schien durch Timur Lenk (Tamerlan), den Erneuerer des mongolischen Weltreiches, zu Beginn des 15. Jahrhunderts kurzzeitig bedroht, setzte sich dann aber im gesamten Mittelmeerraum stetig fort: 1430 Einnahme von Saloniki und Westanatolien, 1444 Sieg über ein Kreuzfahrerheer bei Warna, 1460 Oberhoheit über die Peloponnes, 1516/17 Eroberung Syriens und Ägyptens sowie Fall des Mamlukenreichs. Die schnelle Expansion des Osmanischen Reichs erzeugte in Europa eine neuartige, bisweilen apokalyptische Züge annehmende Bedrohungserfahrung.
Europakarte in Gestalt einer Frauenfigur, die mit kaiserlichen Attributen ausgestattet ist. Als Grenze zwischen Europa und Afrika gilt das Mittelmeer; die Grenze zu Asien bildet das Schwarze Meer. Sebastian Münster, ‹Cosmographey›, zuerst 1550, diverse Auflagen.
Unter dem Eindruck des Falls von Konstantinopel beschwor Papst Pius II. seine Zeitgenossen, sich nach der vollständigen Eroberung der ehemals christlichen Kontinente Afrika und Asien durch den Islam der nunmehr einzig verbliebenen Restheimat der Christenheit anzunehmen. «Europa, das ist die Heimat» der Christen! (Europa id est patria),[1] rief er aus. Für Europa galt es zu kämpfen, geistig und militärisch. Dieses Europa der Zusammengehörigkeit gegen den äußeren Feind des christlichen Glaubens suchte das Oberhaupt der lateinischen Kirche zu schaffen, indem er es voraussetzte. Pius forderte die Christenheit zu einer Pilgerfahrt unter Waffen auf, einem – im Ergebnis erfolglosen – Kreuzzug, der dem unbeugsamen Erbfeind unter dem Halbmond wieder einmal Paroli bieten sollte. Die letzte Reise des entkräfteten Pius II., der jahrelange zähe Verhandlungen zur Mobilisierung für den Krieg gegen die Türken hatte führen müssen, endete am 15. August 1464: Der Papst starb im Angesicht der soeben im Hafen von Ancona eingelaufenen venezianischen Flotte, die den Kern der Streitkräfte gegen die Osmanen hatte bilden sollen. Sein Nachfolger Paul II. verhandelte dann erneut vor allem mit den italienischen Mächten, die wenig zahlungswillig, gegeneinander und gegen den Papst notorisch misstrauisch oder gar feindlich gestimmt waren und gelegentlich nicht einmal vor der Drohung zurückschreckten, sich ihrerseits mit dem Türken zu verbünden. Eine handlungswillige und -fähige Einheit gegen eine islamische Bedrohung war Europa, aller päpstlichen Beschwörung zum Trotz, auch im 15. und 16. Jahrhundert nicht.
Pinturicchio und Gehilfen, ‹Ankunft Pius’ II. in Ancona zur Einleitung des Kreuzzuges›, Fresko in der Libreria Piccolomini im Dom von Siena. Der kranke Papst auf dem Thronsessel erlebt kurz vor seinem Tod am 15. August 1464 die Ankunft der venezianischen Flotte, mit der er zum Kreuzzug aufbrechen wollte.
Die Präsenz und Dominanz der Osmanen in der Levante zeitigte Wirkungen, die weit über die Reaktivierung der vielleicht mittelalterlichsten religiös-kulturellen Praktiken, des Kreuzzuges und des Ablasses, hinausgingen. Die fieberhafte Suche nach einem Seeweg nach Indien, die zu den großen geographischen Entdeckungen mit globalen politischen und ökonomischen Folgen führen sollte, folgte aus dem Bestreben, die begehrten Handelsgüter aus dem Orient, allen voran Seide und Gewürze, zu genießen und zu vertreiben, ohne die stetig steigenden Zölle der Osmanen zahlen zu müssen. Der Hunger der Europäer nach dem Exotischen, ein vom Italien des 14. und 15. Jahrhunderts aus in die weite Welt aufbrechender frühkapitalistischer Unternehmergeist, neuartige nautische und geographische Fähigkeiten sowie der christliche Vorsatz, zu den fernen Glaubensbrüdern in Indien, den legendären Thomaschristen, vorzustoßen – all dies trieb Entwicklungen voran, die eine veränderte, globale Welt schaffen sollten.
Seit Beginn des 15. Jahrhunderts rückten die Portugiesen nach und nach an der Westküste Afrikas gen Süden vor und sicherten den neu erschlossenen Raum mit Stützpunkten. 1487 umsegelte Bartolomeo Diaz erstmals das Kap der Guten Hoffnung, die Südspitze Afrikas. Ein knappes Jahrzehnt später, 1498, erreichte Vasco da Gama von Lissabon aus mit vier Karavellen Calicut, hatte also den Seeweg nach Indien gefunden. In der Gewissheit, tatsächlich zu den gesuchten «Christen und Gewürzen»[2] gelangt zu sein, feierten die portugiesischen Seeleute ihren ersten Gottesdienst auf indischem Boden. Das Gotteshaus, in dem dies geschah, zeigte an den Wänden Bilder vieler Heiliger; «diese trugen Heiligenscheine, doch war ihre Darstellung», wie ein Augenzeuge berichtete, «fremdartig, denn die Zähne waren so groß, dass sie einen Zoll aus dem Munde hervorstanden, und jeder Heilige hatte vier oder fünf Arme».[3] Man hatte offenbar in einem Hindutempel gebetet.
Reiseberichte aus den fernen Weltengegenden gelangten seitdem zügig in die verschiedenen europäischen Länder, auch nach Deutschland. Die 1505 im deutschen Sprachgebiet erschienene Neue Zeitung stammte aus Portugal und berichtete über Schiffe, die soeben «aus Presilg Landt», Brasilien, zurückgekehrt waren; sie stellte die dort gepflegte Erinnerung an den Missionsapostel Thomas heraus: «Un wan sie von sant Thamas reden, so sagen sy er sey der klain got Doch es sey ain ander got d’ grösser sey.»[4] Man ordnete das Fremde also in einen christlich-europäischen Kultur- und Deutungsrahmen ein, für den es selbstverständlich war, dass das Evangelium noch zur Zeit der Apostel bis an der Welt Enden gelangt war. 1508 erschien in Nürnberg ein Reisebericht von einem gewissen Balthasar Springer, der als Emissär der Handelsgesellschaft der Welser an einer Indienreise teilgenommen hatte (s. Abb. S. 28/29). Literatur dieser Art breitete sich nicht selten in Gestalt diverser volkssprachlicher Übersetzungen in Europa aus; sie befriedigte ein beträchtliches Interesse an den fremden Welten und trug vielleicht auch zu einer gewissen kulturellen Integration Europas bei.
Der gebürtige Genueser Christoph Kolumbus, von der alten und unter Gelehrten verbreiteten Idee der Kugelgestalt der Erde inspiriert und durch den Florentiner Arzt und Geographen Paolo dal Pozzo Toccanelli für die Möglichkeit, Asien über den Westen zu erreichen, entflammt, trat nach manchen vergeblichen Versuchen in die Dienste der spanischen «katholischen Könige», Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón. Mit ihrer Unterstützung wollte er die Route nach Indien und Ostasien finden. Ähnlich wie seine Förderer und viele der übrigen Entdecker war Kolumbus von disparaten Interessen getrieben, die in ihrem unentwirrbaren Ineinander religiöser und weltlicher Motive für eine vormoderne Mentalität charakteristisch waren: Gold für den persönlichen Reichtum und für den der spanischen Krone, Ehre und Ruhm, die Verbreitung des wahren Glaubens sowie frühkapitalistisch-bürgerliche Handelsinteressen.
Die Weltkarte des Nicolaus Germanus erschien in der ersten in Deutschland gedruckten Ptolemäus-Ausgabe, Ulm 1482.
Dass Kolumbus’ großer Erfolg dank der Unterstützung durch das katholische Königspaar in das Jahr 1492 fiel, war keineswegs zufällig. Faktisch wurde seine Expedition ein Teil der großangelegten Reconquista, der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel und angrenzender Interessensphären von den Resten islamischer Herrschaft, die seit den arabischen Eroberungszügen des frühen 8. Jahrhunderts zu einer jahrhundertelangen christlich-muslimischen Koexistenz geführt hatte. Am zweiten Tag des Jahres 1492 war das Emirat von Granada als letzte Bastion an die triumphierenden Christen zurückgefallen. Wenige Monate später setzten systematische Vertreibungen taufunwilliger Juden ein, dazu ethnische Säuberungen gegenüber sogenannten Marranen und Morisken, den vermeintlich unvollkommen konvertierten «Neuchristen» aus Judentum und Islam. Kolumbus’ Entdeckungen waren somit ein Beitrag zur weltweiten Ausbreitung des Christentums unter spanischer Flagge, das abweichende religiöse Bekenntnisse und Vorstellungen nicht duldete. Die mit protorassistischen Motiven durchsetzte massive Ausgrenzungspolitik der spanischen Reconquista insgesamt war ein neuartiges Phänomen.
Das Wissen der Europäer über Afrikas Küsten hat sich nach Vasco da Gamas Entdeckung des Seewegs um das Kap der Guten Hoffnung im Jahr 1497 vervielfacht. Die um 1500 entstandene Karte des Juan de la Cosa, des Kapitäns von Kolumbus’ erster Fahrt nach Amerika, zeichnet Vasco da Gamas Route nach.
Das geistliche Haupt der europäischen Christenheit, der römische Papst, betrachtete sich selbst als Herr der Welt und hielt sich insofern für berechtigt, die Herrschaft – das Dominium – über die neu entdeckten Inseln und Länder zu verteilen. Und dies tat Papst Alexander VI. in der Bulle Inter cunctas vom 4. Mai 1493: Er übertrug den beiden Seemächten der Iberischen Halbinsel das Recht zur Aneignung aller Schätze der neu entdeckten Länder – «Gold, Gewürze und viele andere kostbare Dinge verschiedenster Art und Güte» –, aber auch die Verpflichtung, dass «die barbarischen Völker unterworfen und zum wahren Glauben bekehrt werden» [5] sollten. Die Reihenfolge der aufgetragenen Maßnahmen – Unterwerfung und Bekehrung (subiecere, reducere) – war eindeutig.
Im Vertrag von Tordesillas von 1494 teilten Spanien und Portugal die außereuropäische Welt unter sich auf, in eine östliche, portugiesische und eine westliche, spanische Hälfte. Ungeachtet aller Konkurrenzen auf den außereuropäischen Handlungsfeldern einte sie die vom Papst bestätigte und legitimierte Selbstverständlichkeit, mit der die Europäer die fremden Welten als Objekte verstanden, die ihrer materiellen und religiösen Verfügungsgewalt unterlagen. Im Wissen um die ambivalenten Folgen des Kolonialismus und der Europäisierung der Welt wird man wohl geneigt sein, das Narrativ des heroischen europäischen Entdeckertums mit Georg Christoph Lichtenbergs nicht minder europäischer Skepsis zu konterkarieren: «Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.»[6]
Die längerfristigen ökonomischen Folgen der geographischen Entdeckungen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts waren gewaltig. Hatten die europäischen Binnenmeere (Mittelmeer, Nord- und Ostsee), der Hanseraum, Oberdeutschland und Italien, auch Seestädte wie Venedig, Genua und Lübeck bisher die Bewegungszentren der Wirtschaft gebildet, so traten sie im Laufe des 16. Jahrhunderts hinter den Atlantikhandel zurück. Um 1500 aber war der Mittelmeerraum noch die Kernzone der europäischen Wirtschaft; hier kamen die wichtigsten Handelswege zwischen Nord und Süd, Ost und West zusammen. Die riesigen Importe des Fernhandels machten große Gewinne möglich, gingen aber auch mit gigantischen Risiken einher. Sie erforderten einen erhöhten Finanzbedarf und begünstigten so im Ganzen die kapitalistischen Expansionstendenzen. Aus den importierenden Ländern und Regionen flossen erhebliche Geld-, also Edelmetallmengen, ab, was dort einen ständigen Geldmangel zur Folge hatte. Ein an Luxusgütern aus Übersee orientierter Lebensstil und Verschuldung griffen um sich; dies scheint den sozialen Druck auf die einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen, den «Nährstand» (status oeconomicus), erhöht zu haben.
Im Ganzen war die europäische Wirtschaft um 1500 von Merkmalen des Aufschwungs gekennzeichnet. Neben der Zunahme des Fernhandels war dies vor allem dem stetigen Bevölkerungszuwachs geschuldet. Die massiven demographischen Einbrüche infolge der europaweiten Pestepidemien seit der Mitte des 14. Jahrhunderts waren überwunden. Der spezifischen Konjunktur vorindustrieller Gesellschaften entsprechend bestimmten Mangelkrisen die wirtschaftliche Entwicklung: Überbevölkerung führte zu Nahrungsverknappung und Hungerkrisen, die die Menschen für Krankheiten anfälliger machten. Erhöhte Mortalitätsraten wiederum verbesserten die Chancen der Überlebenden, sich beruflich zu etablieren, zu heiraten und sich fortzupflanzen. Der Aufschwung des Städtewesens zu Beginn des 16. Jahrhunderts wirkte als konjunktureller Motor der gesamten Gesellschaft.
Durch die Erweiterung des Fernhandels gewannen große Handelsgesellschaften immer mehr an Bedeutung. Mit eigenem Kapital beteiligten sie sich an der Finanzierung des Transports, zum Teil auch an der Förderung und Produktion von Waren. Durch auswärtige Kontore gewährleisteten sie die Organisation des Vertriebs und eine gewinnbringende Distribution der Handelsgüter. Neue Bilanzierungs- und Kreditverfahren und die mit kurialer Duldung betriebene Aushöhlung des kanonischen Zinsverbots stärkten Großkaufleute wie die Fugger und die Welser in Augsburg, die Strozzi und die Medici in Florenz. Für die größten Unternehmer war die gleichzeitige Betätigung in allen Wachstumsbranchen der Zeit – dem Montanwesen, dem Fernhandel und dem Kreditwesen – charakteristisch. Einige wenige Großkaufleute in Italien und Oberdeutschland übten als Bankiers und Kreditgeber einen erheblichen Einfluss auf kirchliche und politische Entscheidungen aus. Das Verlagssystem als neuartige Produktionsform des Großkapitals stiftete Abhängigkeiten zwischen Unternehmern, die den Heimarbeitern Rohstoffe und Werkzeuge «vorlegten», die fertigen Produkte aber selbst vertrieben und so die Preise diktierten. Monopolisierungstendenzen im Bereich der Lebensmittelversorgung, vor allem die Praxis des sogenannten Fürkaufs, des Erwerbs von Nahrungsmitteln in Phasen des Überschusses mit dem Zweck der Preistreiberei, wurden insbesondere von den Bettelmönchen gebrandmarkt und provozierten Aktivitäten kommunaler Vorsorge, etwa durch Getreidespeicherung. Verdeckte Formen des an sich verbotenen, faktisch gelockerten Wuchers waren mit Duldung der Kirche verbreitet, insbesondere der Zinskauf, eine Art Hypothekengeschäft, bei dem ein Schuldner gegenüber einem Gläubiger als Verkäufer einer Immobilie auftrat und ihm für die Nutzung gegen bestimmte Leihsummen eine jährliche Rente übertrug. In Religion und Ökonomie gab es ähnliche Handlungsmuster und Praktiken der Akkumulation von (Heils-)Gütern und der Anlage von Gewinnen und Leistungen. Die Prosperität der einen förderte jedoch die Not der anderen. Die Schere zwischen Arm und Reich ging in den Jahren um 1500 immer weiter auf. Erste Anzeichen von Überbevölkerung, einer verstärkten Stadt-Land-Migration und bäuerlichen Hungerrevolten machten sich bemerkbar.
«Triumph des Königs von Cochin»: Niederländisches Gemälde (um 1540) nach einem Holzschnitt von Hans Burgkmair zu dem 1509 veröffentlichten Reisebericht des Balthasar Springer. Springer nahm 1505 als Agent der Handelskompanie der Welser an einer portugiesischen Expedition nach Indien teil.
Die kirchliche und kulturelle Grenze Lateineuropas zum Osmanischen Reich einerseits, zum Großfürstentum Moskau, das der Orthodoxie zugehörte, andererseits bedeutete nicht, dass keine politischen und ökonomischen Beziehungen zu diesen Staaten bestanden hätten. Gleichwohl stellt das lateinische Europa als Jurisdiktionsbereich des römischen Papstes eine historisch-kulturelle Größe eigener Art dar. In der Zeit um 1500 bildete sich in Europa eine politische Kultur heraus, die durch berechenbare Verkehrsformen, Strategien des Machtausgleichs und rationale Interessensorientierungen bestimmt war. Zuerst in Italien, bald aber auch auf dem gesamten Kontinent kamen diplomatische Vertretungen auf, die auf Gegenseitigkeit basierten und durch Kontaktpflege Konflikte zu kanalisieren versuchten. Ein Gesandtschaftswesen wurde ausgebaut; in Gestalt der Nuntiaturen bestimmte es auch die Politik der Kurie gegenüber der Staatenwelt.
Die europäische Gesellschaft jener Zeit war durchgängig ständisch strukturiert, die Formen der Herrschaftsausübung und Machtpartizipation variierten allerdings regional erheblich. Auf den Land- und Ständetagen der einzelnen europäischen Regionen bestanden für die höhere Geistlichkeit und den Adel in der Regel Möglichkeiten der Teilhabe an der Herrschaft, für Bauern und Bürger hingegen kaum. Ständegrenzen waren nicht ohne Weiteres durchlässig; man lebte und starb innerhalb des eigenen Standes, den zu verleugnen oder zu verlassen mit Argwohn und Abwehrreaktionen quittiert wurde. Die ständische Ordnung galt als gottgegeben, als durch die Schöpfung begründet. An der Spitze der Gesellschaft standen der Kaiser und der Papst, der Adel, also die regierenden Fürsten und Könige, und der sich vielfach aus diesem rekrutierende hohe Klerus: die Bischöfe, Äbte und Prälaten.
Der Adel war als soziale Gruppe inhomogen; er umfasste ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher, hierarchisch gestaffelter Grade, vom kulturell dem Bauerntum nahestehenden niederen Landadel bis zum Hochadel, der territorialstaatliche Gewalt anstrebt oder ausübt. In einigen europäischen Ländern zählten sich mehr als vier Prozent der Bevölkerung zum Adel (in Spanien, Portugal, Frankreich, Ungarn, Polen); im Reich und England waren es etwa ein bis zwei Prozent. Im Ganzen gründete der Adel seinen Anspruch auf eine gesellschaftliche und politische Führungsposition, auf militärische Expertise, Landbesitz, hierarchisch strukturierte grundherrschaftliche und richterliche Verfügungsvollmachten, seine «edle» Herkunft sowie alte Rechte und Privilegien. Handelstätigkeit galt in der Regel als unvereinbar mit dem adligen Standesbewusstsein; in dem um 1500 florierenden, hoch lukrativen Montangewerbe spielte der Adel aber eine wichtige Rolle. Seine zumeist endogamen Heiratsstrategien sollten der Sicherung der Dynastie, einer Steigerung des politischen Einflusses und dem Ausbau von Netzwerken dienen. Dabei waren europaweite Heiratsverbindungen, zumal in den höheren Rängen des Adels, um 1500 selbstverständlich. Die Kirche hatte eine wichtige Versorgungsfunktion für nachgeborene männliche oder nicht verheiratete weibliche Nachkommen. Stellungen als Bischöfe, Äbte, Domherren oder Äbtissinnen boten standesgemäße Auffangpositionen für den adligen Nachwuchs.
In einem einflussreichen Modell der zeitgenössischen Sozialordnung, der sogenannten Drei-Stände-Lehre, bildete der Adel den politischen beziehungsweise den sogenannten Wehrstand (ordo/status politicus, bellatores); ihm oblag der äußere Schutz des Gemeinwesens, seine rechtlich-politische Gestaltung, die Bestrafung von Unrecht, die Herstellung von Gerechtigkeit usw. Wie der Dienst eines jeden Standes galt auch der des weltlichen als Erfüllung einer von Gott auferlegten Bestimmung.
Dem geistlichen oder Lehrstand (ordo/status ecclesiasticus, oratores) wurden zumeist der hierarchisch gegliederte Weltklerus und das Mönchtum zugerechnet; deren Aufgabe bestand darin, der ganzen Gesellschaft das ewige Heil zu verschaffen. Wegen dieser Funktion sah sich der geistliche Stand selbst als höchster von allen, denn er verwandelte Materielles in Geistliches, Nahrungsmittel und Spenden in Gebete und Gesänge, weltliche Zuwendungen in spirituelle Kapitalien. Um des Heils der Seele willen unterhielt man für den Dienst der Geistlichen riesige Kirchengebäude; zu diesem Zwecke beteten sie, praktizierten eine vorbildliche christliche Lebensführung, spendeten die Sakramente, studierten und belehrten die übrigen Christen, ja die ganze Welt. Sie waren die eigentlichen Träger der Lese- und Schreibkultur, die die kulturelle Genese Europas ermöglichte.
Durch besondere Zuwendungen materieller und finanzieller Natur, sogenannte Stiftungen, konnten Laien von einzelnen Klerikern oder geistlichen Korporationen und Institutionen spezifische religiöse Leistungen erhalten, etwa Totenmessen für Verstorbene, regelmäßige Gebetszyklen oder Predigten. Aufgrund der Parochialstruktur, die das lateinische Kirchenwesen in der Stadt und auf dem Land europaweit bestimmte, waren einzelne geistliche Personen vor Ort – Pfarrer, Priester, Pastoren oder «Leutpriester» genannte Seelsorger – für die «Seelen» ihrer Gemeinden zuständig. In der Regel bildeten die Pfarrkirchen und die sie umgebenden Friedhöfe die Kristallisationspunkte dörflicher und städtischer Siedlungen – überall in Europa. Es herrschte Pfarrzwang, das heißt, jeder Europäer war an einen bestimmten Pfarrer gebunden, um der heilswirksamen Sakramente teilhaftig zu werden, die sein Leben von der Wiege (Taufe) bis zur Bahre (Letzte Ölung) strukturierten. Hier, in seiner Pfarrkirche, hatte der europäische Christenmensch gemäß der kirchenrechtlich verbindlichen Bestimmung des IV. Laterankonzils von 1215 einmal im Jahr zu beichten und an der Messe teilzunehmen. Nur aufgrund einer besonderen Privilegierung konnte man aus dieser prägenden Bindung an seinen Pfarrer heraustreten und ein vergleichbares Verhältnis zu einem Geistlichen eigener Wahl, etwa einem Mönch, begründen. Daher konkurrierten die Mitglieder des in großer organisatorischer Vielfalt agierenden geistlichen ordo ecclesiaticus untereinander offen um die Gläubigen.
Quentin Massis, ‹Der Geldwechsler und seine Frau›, Öl auf Holz, 1514. Während der Geldwechsler mit der Waage präzise das Gewicht der Münzen misst, blättert seine Frau in einem illustrierten Erbauungsbuch. Der Spiegel im Vordergrund lässt ein Fensterkreuz erkennen, das von entscheidendem religiösen Symbolwert ist. Das lebensweltliche Ineinander von Ökonomie und Religion wird wie in einem Brennglas verdichtet.
Bartholomäus Bruyn d. Ä., ‹Die drei Stände der Christenheit›, Öl auf Holz, um 1530/40. Christus setzt die drei Stände ein: Auf der linken Seite sieht man den Hochklerus – wohl die Doctores ecclesiae – und, kniend, den Stifter, den Kölner Kanoniker und Professor Lambert Bracke. Auf der rechten Seite steht die weltliche Obrigkeit in antikisierenden römischen Rüstungen, angeführt vom Kaiser, wohl Karl dem Großen. In der Bildmitte, deutlich kleiner, befinden sich zwei arbeitende Vertreter des Nährstandes. Jedem Stand ist ein als himmlisches Gebot ausgewiesenes Spruchband zugeordnet: ‹Tu suplex ora› («du bete demütig»), ‹Tu protege› («du beschütze») und ‹Tuque labora› («und du arbeite»).
Als der unbestritten niedrigste Stand galt der Haus- oder Nährstand (ordo/status oeconomicus, laboratores). Ihm gehörten die Bauern, Handwerker, Händler und Gewerbetreibenden an, all jene also, die in der Regel weder Herrschaft ausübten noch ex officio lehrten und beteten, sondern sich von ihrer Hände Arbeit ernährten und im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot aßen. Dieser dritte Stand war der zahlenmäßig größte. Er sicherte die elementare Versorgung mit den notwendigen Gebrauchs- und Bedarfsgütern und ermöglichte den beiden höheren Ständen die geistlich-geistige und herrschaftliche Betätigung. An der Ausübung von Herrschaft waren Vertreter des Nährstandes in der Regel nicht beteiligt; im städtischen Raum gelang es den Gilden und Zünften, den ständischen Organisationen des Handwerks in der Stadt, mancherorts Partizipationsrechte an der kommunalen Herrschaft zu erringen, diese also dem Patriziat, dem bürgerlichen Adel in den Städten, abzutrotzen.
Die soziale Gruppe der Bürger