C. Bernd Sucher
WIE ES EUCH GEFÄLLT
Der kleine Theaterversteher
Alles, was auf, vor und hinter
der Bühne geschieht
VERLAG C.H.BECK
Wer zu einem eigenen Urteil über einen Theaterabend oder eine Opernaufführung gelangen und eine fundierte eigene Kritik dessen formulieren möchte, was er erlebt hat, muss gleichsam ein kleines Puzzle zusammensetzen. Es ist ein Spiel aus Elementen des Wissens und der Wahrnehmung. Dieses Buch bietet eine ebenso unterhaltsame wie informative kleine Einführung in diese Kunst, indem es zeigt, wie man sich entsprechend auf eine Aufführung vorbereitet und die eigene Wahrnehmung schult. Es beginnt mit einer kurzen Einführung in Geschichte und Inhalt der Arbeitsfelder jener, die traditionell hinter dem Vorhang wirken, aber doch wesentlichen Anteil am Ergebnis einer Theaterproduktion haben. Der zweite Schritt führt auf die Bühne selbst, wo sich das Resultat der Probenarbeit zeigt – die Inszenierung. Sodann rücken die Wahrnehmung und ihre Objekte in den Fokus – das Zusammenspiel, aus dem sich schließlich das Erlebnis eines Theaterbesuchs zusammensetzt. Dabei wird deutlich, dass das, was man bereits kennt bzw. was man erwartet, erhofft oder gar befürchtet hat, eine wichtige Rolle beim Erleben des Bühnengeschehens spielt. Nach dieser Tour d’horizon durch die objektiven und subjektiven Voraussetzungen eines Theaterabends wird man in die Lage versetzt, das eigene Urteil zu formulieren und zu begründen.
C. Bernd Sucher, seit 1997 Professor für Theater und Filmkritik an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und der Bayerischen Theaterakademie August Everding, gehört zu den profiliertesten deutschsprachigen Publizisten auf dem Gebiet des Theater- und Operngeschehens.
VORWORT
1. DER ZUSCHAUER IST DER MITSCHÖPFER
2. THEATERBERUFE
Der Regisseur
Der Dramaturg
Der Bühnenbildner
Der Kostümbildner
Der Medienkünstler
Der Lightdesigner
Der Bühnenmusiker
Der Maskenbildner
3. DIE INSZENIERUNG – ERGEBNIS KOMPLEXER PROZESSE
4. WAHRNEHMEN
Wie bereite ich mich vor?
Wahrnehmung von Licht, Symbolen, Bewegungsabläufen – und Sprache
Sonderfall Musiktheater
Organisation der Wahrnehmungen
Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis
Wahrnehmung und Bildung
5. WERTUNGEN
6. ÄSTHETISCHE REIZE
Wie man poetischen Geist erlangt
Vermischte Empfindungen
Interesse verdirbt das Urteil
Interessant ist das Ungewöhnliche
Die Langeweile als Pein und Chance
Zum Weinen schön
Nichts ist spannender als ein Cliffhanger
Zweckmäßig ohne Zweck: Schönheit
Direktheit, die schockiert
Kreativität zwischen Akkumulation und Askese
7. DIE KRITIK: EIN PUZZLE VON WISSEN UND WAHRNEHMUNG
LITERATUR
REGISTER
PERSONENREGISTER
WERKREGISTER
BILDNACHWEIS
Für A. –
again and again:
«I would not wish any companion in the world but you!»
William Shakespeare: The Tempest
encore et encore:
«L’amour, toujours, n’attend pas la raison.»
Jean Racine: Britannicus
Die Idee zu diesem Buch schenkten mir empörte Zuschauer. Sie, die in den Pausen einer Aufführung schon eine Meinung hatten, meist eine abwertende, und die nicht verstehen wollten, dass ich mich sowohl mit Tadel als auch mit Lob zurückhielt, weckten in mir die Lust zu erklären, dass ein ästhetisches Urteil durch präzise und differenzierte Wahrnehmung begründet werden und nicht von Vorurteilen und diffusen persönlichen Vorlieben abhängen sollte. In den Pausengesprächen gelang mir dieses Vorhaben nie, selbst bei meinen Freunden nicht. Deshalb versuchte ich zunächst einen anderen Weg.
Mit den Dramaturgen der Bayerischen Staatsoper startete ich eine Diskussionsreihe. Sie hieß «Schule der Wahrnehmung». Zwanzig Zuschauer, die zuvor alle die Aufführung gesehen hatten, die wir danach besprachen, trafen sich mit dem jeweiligen Produktionsdramaturgen und mir. Es gab nur eine Verabredung: Niemand durfte sagen, was ihm an der Inszenierung gefiel oder missfiel. Es sollte beschrieben werden, was gesehen und gehört worden war. Wir arbeiteten nie mit DVD-Zuspielungen, um zu überprüfen, ob die Wahrnehmung sich mit den Vorgängen auf der Bühne deckte, sondern allein mit Fotografien. Da die Gruppe mit wenigen Ausnahmen zumindest für eine Spielzeit zusammenblieb, ließ sich beobachten, wie sich in diesem Zeitraum ein waches Bewusstsein für Bühnenvorgänge entwickelte; zugleich nahm die Freude am Dechiffrieren von Räumen und Aktionen zu. Die Zuschauer benahmen sich wie akribische und ehrgeizige Kritiker. Sie bereiteten sich vor, lasen Libretti, hörten Einspielungen, sahen sich Aufzeichnungen anderer Inszenierungen an, und sie schrieben während der Aufführungen Notizblöcke voll. Sie zählten die Komparsen, die Stühle, die Scheinwerfer. Sie merkten sich die Farben der Kleider und Hosen. Sie malten mit Pfeilen die Bewegungen der Protagonisten. Und sie waren – alle – froh über ihre Entdeckungen und enttäuscht über vieles, was sie nicht bemerkt hatten. Einige Beispiele aus diesen Seminaren habe ich in meine Ausführungen aufgenommen.
So entstand dieses Buch, zu dem mein Lektor Stefan von der Lahr, dem ich herzlich danke, mich ermutigte. Ich hoffe, dass meine Publikation den Lesern zu einer Schule der Wahrnehmung wird; dass sie Aufführungen nach der Lektüre anders begegnen werden, als es ihnen zuvor möglich war. Dabei geht es mir nicht darum, einfältige Regisseure und geistesschlichte Inszenierungen zu verteidigen. Das Ziel ist vielmehr, Zuschauer zu einer besonderen Aufmerksamkeit zu verführen; zu einer Offenheit, die es ermöglicht, das ungewohnt Neue, auch das womöglich Ärgerliche, nicht gleich als missglückt abzutun.
Zuerst möchte ich mich bei den Zuschauern bedanken, die mich durch ihren Missmut motivierten, diese Unternehmung zu wagen. Ich bedanke mich zudem bei Nikolaus Bachler, Miron Hakenbeck, Olaf A. Schmitt, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Daniel Menne und Benedikt Stampfli dafür, dass sie mir die «Schule der Wahrnehmung» an der Bayerischen Staatsoper ermöglichten. Mein Dank gilt auch Wolfgang A. Rehmann, der die Arbeit an diesem Buch begleitete – vom Besuch der Aufführungen bis zur (strengen) Lektüre des Manuskriptes.
München/Seeon, im Sommer 2016 |
C. Bernd Sucher |
Was ist Wahrnehmung? Das Wort leitet sich her aus dem Althochdeutschen: wara neman. Und das bedeutet: einer Sache Aufmerksamkeit schenken. Es geht also nicht um Wahrheit oder Wahrheiten. Der Brockhaus, die Ausgabe von 1994 erklärt: Wahrnehmung sei die «psychophysische Verarbeitung von in physikalischen und chemischen Reizen enthaltenen Informationen durch Sinnessysteme und Gedächtnis. Die Verbindung zur Umwelt stellen die Sinnesorgane dar». Wahrnehmung ist also gewiss die Voraussetzung für Orientierung und Handeln in der Welt.
Wenn wir die Sache nicht unnötig verkomplizieren und die diversen Meinungen der Wahrnehmungspsychologen beiseitelassen, dann sind an der Wahrnehmung die fünf Sinne – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten – sowie der Gleichgewichtssinn beteiligt. Wahrnehmen ist Informationsgewinnung. Reize werden gefiltert, bewusst oder unbewusst. Informationen werden zu einem subjektiven, sinnhaften oder sinnvollen Gesamteindruck zusammengeführt. Was als Eindruck oder Erfahrung gewonnen wird, wird abgeglichen mit bereits zuvor gewonnenen Eindrücken. Es wird in Beziehung gesetzt. Wahrnehmen ist somit auch ein Lernprozess. Und natürlich kann jeder gesunde Mensch seine Aufmerksamkeit steuern und beeinflussen, also gezielt einsetzen oder eben nicht.
Der Philosoph Martin Seel formulierte in seiner Studie zur Ästhetik des Erscheinens: «Prinzipiell kann alles, was sensitiv wahrgenommen werden kann, auch ästhetisch wahrgenommen werden. Zu den möglichen ästhetischen Objekten zählen dabei nicht allein die wahrnehmbaren Dinge und ihre Konstellationen, sondern auch Ereignisse und ihre Sequenzen, kurzum alle Zustände oder Geschehnisse, von denen wir sagen können, wir hätten sie gesehen, gehört, gefühlt oder sonst wie verspürt. Dennoch fällt der Begriff des ästhetischen Objekts nicht mit dem allgemeinen Begriff des Wahrnehmungsgegenstands zusammen. Denn was sensitiv wahrnehmbar ist und somit Anlass einer ästhetischen Wahrnehmung werden kann, ist nicht darum bereits ein ästhetisches Objekt. Alle ästhetischen Objekte sind Objekte der Anschauung, aber nicht alle Objekte der Anschauung sind ästhetische Objekte.» Ästhetische Objekte – eben auch Theater- und Opernvorstellungen – sind Objekte des Erscheinens, sie sind Darbietungen.
Der Kunsthistoriker Rudolf Arnheim schrieb in seinem bereits 1954 publizierten und längst zum Standardwerk avancierten Buch «Art and Visual Perception – A psychology of the creative eye», das Sehen und das Hören seien keineswegs nur ein mechanisches Aufzeichnen von Sinneseindrücken. Wahrnehmen habe sich vielmehr erwiesen «als ein echt schöpferisches Begreifen der Wirklichkeit – fantasievoll, erfinderisch, gescheit und schön. Es stellte sich heraus, dass die Eigenschaften, die den Denker und den Künstler auszeichnen, allen geistigen Tätigkeiten innewohnen, Psychologen erkannten dann auch, dass diese Tatsache kein Zufall war. Dieselben Grundsätze gelten für all die verschiedenen geistigen Fähigkeiten, da der Geist immer als eine Ganzheit arbeitet. Alles Wahrnehmen ist auch Denken, alles Denken ist auch Intuition, alles Beobachten ist auch Erfinden. Die Bedeutung dieser Erkenntnisse für die Theorie und Praxis der Kunst ist offensichtlich. Wir können im künstlerischen Schaffen keine eigenständige Tätigkeit sehen, auf geheimnisvolle Weise von oben inspiriert, mit anderen menschlichen Tätigkeiten nicht in Beziehung stehend und nicht in Beziehung zu bringen. Stattdessen erkennen wir im verfeinerten Sehen, das zur Schöpfung großer Kunstwerke führt, eine Weiterentwicklung der bescheideneren und allgemeineren Sehtätigkeit im täglichen Leben. Wie das alltägliche Sich-Zurechtfinden ‹künstlerisch› ist, weil es mit dem Geben und Finden von Form und Bedeutung zu tun hat, ist das schöpferische Tun des Künstlers ein Instrument des Lebens, eine verfeinerte Art des Verstehens, wer und wo wir sind.»
Wenn dem so ist, dann hat der Rezipient entscheidenden Anteil am Kunstwerk. Für das Theater bedeutet dies, dass der Zuschauer in einem Theater oder Opernhaus durch seine subjektive Wahrnehmung an der Gestaltung einer Inszenierung, einer Choreographie, eines performativen Akts oder, allgemeiner formuliert, jedweder theatraler Schöpfung teilnimmt. Er soll, er muss daran Anteil haben! Schon Richard Wagner forderte in seiner 1852 erschienenen Schrift «Oper und Drama» nicht bloß den «organisch mitwirkenden Zeugen», sondern er wünschte sich den «notwendigen Mitschöpfer». Und Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, Regisseur, Schauspieler und Theatertheoretiker, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine radikal antirealistische Theaterästhetik anstrebte, sah im Zuschauer den «vierten Schöpfer» neben Autor, Regisseur und Schauspieler, der «mit seiner Vorstellungskraft» schöpferisch beenden müsse, was auf der Bühne nur angedeutet werde. Im Kapitel «Kritik» werden wir auf diese Reihenfolge, die eine Werteordnung darstellt, nochmals eingehen.
Da kein Gegenstand und kein Mensch allein und isoliert wahrgenommen werden kann, sondern alles und jeder im Gefüge und Verlauf des Ganzen gesehen (und gehört) wird, ist das Seh- (und Hör-)Erlebnis stets ein dynamisches und mehrschichtiges – in vielen postdramatischen Aufführungen auch ein extrem verwirrendes. Und, keine Frage, das Wissen des Rezipienten, also seine Bildung und seine Erfahrungen mit künstlerischen Hervorbringungen welcher Art auch immer, beeinflussen die Wahrnehmung und die Beurteilung des Wahrgenommenen, denn sie werden in Beziehung(en) gesetzt. Assoziationen werden gestiftet: «Alle Wahrnehmung ist Differenzwahrnehmung», behauptet zu Recht Hans-Thies Lehmann in seinem Buch «Postdramatisches Theater».
Es gibt einen wunderbaren Brief von Denis Diderot an die Schauspielerin Marie-Jeanne Riccoboni, datiert am 27. November 1758. Sie hatte behauptet, die Bühne sei ein lebendes Bild, «bei dem man keine Zeit hat, auf Einzelheiten achtzugeben». Diderot antwortet: «Freilich nicht gleich, wenn sich der Vorhang hebt. Später jedoch, wenn die Darsteller gerade einmal schweigen, wird sich mein Blick auf ihre Bewegungen konzentrieren, und nichts wird mir entgehen. In Gesellschaft bleibt nichts unbemerkt. Mitten in einer lebhaften Unterhaltung sind oft eine mehrdeutige Bemerkung, eine Geste, ein Blick verräterisch. Ist man denn im Theater weniger hellsichtig und aufmerksam? Das wäre schlimm, und es läge an einem großen Dichter, die Nation von diesem Übel zu heilen. Ist aber einmal das Schweigen auf der Bühne beendet und kann man nicht mehr auf die Einzelheiten des Bildes achten, dann müssen große Massen und kraftvolle Gruppierungen umso stärker zur Wirkung gelangen. Kurz, ist die Bühne ein Bild, dann möchte ich Euch so auf ihr sehen, wie ein Maler seine Figuren auf der Leinwand verteilt. Stellt Euch also nicht mehr schön symmetrisch, steif, wie abgezirkelt und angewurzelt im Kreis auf. Denkt einmal an Eure allerstürmischsten Szenen und sagt mir dann, ob Boucher auch nur von einer einzigen ein halbwegs erträgliches Bild gemacht hätte.» Gemeint ist der Maler François Boucher (1703–1770), gegen dessen Kunst sich Diderot mit Vorliebe wandte.
Sie behauptet: «Auf der Bühne unterscheidet man keine Einzelheiten.» Diderot widerspricht: «Was ist denn das für eine Idee! Schreiben wir etwa für Idioten? Spielt Ihr etwa für Idioten? Aber nehmen wir einmal an, meine gute Freundin – Sie haben mir erlaubt, Sie so zu nennen –, nehmen wir an, ein gewisser Salon, den wir beide gut kennen, wäre so eingerichtet, wie ich es mir wünsche; nehmen wir an, Fanny spielt gerade eine Partie mit dem Speisemeister Ihrer Hoheit, ich stehe hinter dem Herrn Speisemeister, und während Fanny ganz mit ihrem Spiel beschäftigt ist und ich mit meinen Gefühlen, entgleitet mir die Broschüre, die ich in Händen halte, ich lasse langsam meine Arme sinken, zärtlich wendet sich ihr mein Kopf zu und alle meine Handlungen sind auf sie gerichtet. Wie weit müsste ein Zuschauer entfernt sein, um sich täuschen zu können? Dergestalt muss die Gestik auf der Bühne sein: kraftvoll und echt. Es darf nicht nur mit dem Gesicht gespielt werden, sondern mit dem gesamten Körper. Hält man sich peinlich genau an bestimmte Stellungen, dann opfert man das Gesamtbild der Darsteller und den Gesamteindruck, den sie vermitteln sollen, einem kleinen und vorübergehenden Vorteil. Stellen Sie sich einen Vater vor, der inmitten seiner Kinder stirbt, oder eine beliebige andere Szene dieser Art. Was spielt sich um sein Bett herum ab? Jeder ist ganz in seinen Schmerz versunken, einer aber, von dem ich nur ein paar Bewegungen erhaschen kann, die meine Phantasie beflügeln, fesselt, trifft und erschüttert mich womöglich stärker als ein andrer, von dem ich jede einzelne Geste verfolgen kann.»
Was möchte dieses Buch leisten?
Ich möchte theatrale Wahrnehmung lehren. Ich weiß, das Vorhaben mag vermessen erscheinen. Und genau deshalb werde ich mich diesem Ziel maßvoll, also sehr langsam nähern. Es soll gefragt werden, was und wer die theatrale Wahrnehmung beeinflusst. Wie geschieht sie? Was macht eine Inszenierung aus oder, noch einfacher, wann können wir von einer Inszenierung sprechen? Dazu muss geklärt werden, was für eine Tätigkeit «das Inszenieren» eigentlich ist. Der Beruf des Regisseurs, übrigens eine französische Erfindung des 18. Jahrhunderts, muss definiert werden. Er muss betrachtet werden zusammen mit den anderen Theaterberufen, ohne die eine Inszenierung schwerlich möglich ist: dem Bühnenbildner, dem Medienkünstler, dem Lightdesigner, der mal Beleuchter hieß, dem Kostümbildner, dem Bühnenkomponisten, dem Maskenbildner und, in deutschsprachigen Ländern nicht wegzudenken, dem Dramaturgen. Ist eine Inszenierung also immer eine Teamarbeit? Die Arbeit eines Ensembles, eines Kollektivs, zu dem auch die Schauspieler, die Sänger und, im Falle des Musiktheaters, auch der Dirigent zählen? – Wir werden sehen.
Sodann möchte ich den Versuch unternehmen zu erklären, wie Wahrnehmen erlernt werden kann. Gewiss gehört zu diesem Lernprozess – und zwar sehr entscheidend – die Vorbereitung. Und ich meine hier nicht allgemein Bildung, sondern die konkrete Arbeit des Zuschauers im Hinblick auf die jeweilige Aufführung. Die Freude an Kunst – an der Malerei, dem Theater, der Musik – ist nicht wohlfeil zu erlangen. Ein faules Auge, ein faules Hirn hindern nicht allein, Erkenntnis(se) zu erlangen, sondern sie machen Lustempfinden unmöglich. Kurz: Wer gänzlich unvorbereitet eine Aufführung besucht, muss sich nicht sonderlich wundern, wenn er enttäuscht wird oder gar nichts versteht, nichts wahrnimmt. Andererseits machen viele postdramatische Inszenierungen, in denen sich das Performative verselbständigt, Vorbereitungen oft unmöglich. Wie sich vorbereiten – zum Beispiel – auf eine Inszenierung von «Clavigo», angekündigt «nach Goethe»?
Stephan Kimmig präsentierte eine solche im Sommer 2015 während der Salzburger Festspiele. Vom Text blieb wenig. Auch die Figurenkonstellation war aufgehoben, weil Kimmig mit den Geschlechtern spielte. Gender-Thematik. Clavigo wurde gespielt von Susanne Wolff, Carlos von Moritz Grove. Der Abend beginnt mit einem Clownsspiel, wort-, aber nicht geräuschlos. Die Schauspieler grunzen, summen, skandieren Silben. Mittendrin – nur «Clavigo»-Leser oder «Clavigo»-Kenner reimen sich die Handlung noch zusammen – wird Goethes durchaus obszönes Spiel «Hanswursts Hochzeit» aufgeführt, Popsongs werden gesungen, und einige Gutmenschentiraden gibt es auch. So ein Abend fordert den Zuschauer heraus, weil er ihn, der auf Goethe vorbereitet war, auf Unbekanntes stößt, das auf den ersten Blick mit dem Drama nichts gemein hat. Handlung, Spannung, Logik – wer danach suchte, war verloren. Doch das war kein Zufall, sondern Kimmigs postdramatische Absicht.
Theatrale Vorgänge wahrnehmen, das heißt also, das Sehen und Hören zu lernen und sich solchermaßen geschult einzulassen auf Experimente, auf die vielfältigen Ausprägungen der Ästhetik des Performativen. Wobei die Wahrnehmung durchaus Regeln gehorcht, denen auch der ungeübte Zuschauer meist unbewusst folgt.
Es ist seit langem bekannt, nämlich seit den Untersuchungen des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin, der 1915 sein Hauptwerk «Kunstgeschichtliche Grundbegriffe» publizierte, dass Bilder von links nach rechts gelesen werden. Arnheim, der sich in seinem Werk vor allem mit der bildenden Kunst beschäftigt, versucht, ausgehend von diesem Gedanken, einen Exkurs in die Welt des Theaters und behauptet, was jeder Zuschauer im Selbstversuch nun überprüfen kann: «Wenn im Theater der Vorhang aufgeht, neigt das Publikum dazu, erst nach links zu schauen und sich mit den Figuren zu identifizieren, die auf der Seite erscheinen. Deshalb gilt von den sogenannten Bühnenbereichen die linke Seite (vom Zuschauer aus) als die stärkere. In einer Gruppe von Schauspielern beherrscht derjenige die Szene, der am weitesten links steht. Der Zuschauer identifiziert sich mit ihm und sieht die anderen, von seinem Standpunkt aus, als Gegenspieler.»
Mercedes Gaffron, Kunsthistorikerin auch sie, bringt diese Erscheinung mit der Dominanz der linken Großhirnrinde in Verbindung, dem Sitz der höheren Gehirnzentren für das Sprechen, Schreiben und Lesen. Arnheim folgert – um bei diesem Beispiel zu bleiben: «Wenn diese Dominanz gleichermaßen für das linke Sehzentrum gilt, dann treffen wir beim Registrieren von Sehinformationen eine Unterscheidung zugunsten derjenigen, die innerhalb des rechten Gesichtsfeldes wahrgenommen werden. Rechts wäre dann das Sehbild schärfer, und das würde auch erklären, weshalb Gegenstände zur Rechten stärker auffallen. Eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Vorgänge zur Linken würde diese Asymmetrie aufheben; und das Auge würde sich spontan vom Ort der ersten Aufmerksamkeit zum Bereich des deutlichsten Sehens bewegen.»
Das heißt: Tritt ein Schauspieler von rechts auf, kann er sich sicher sein, dass er weniger bemerkt wird und sich erst ins Spiel bringen muss. Andererseits ist jeder Schauspieler, der in der Bühnenmitte steht oder agiert, stets im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ich werde versuchen, diese These anhand von szenischen Beispielen zu belegen. Keine Frage, große Werke der Kunst – auch in der Theaterkunst – sind vielschichtig, lassen mehrere Sichtweisen zu. Auch, weil es in der Kunst kein Richtig und kein Falsch gibt. Zugleich wissen wir, dass diese sogenannte große Kunst sich durch Einfachheit auszeichnet. Einfachheit erfordert eine Übereinstimmung von Bedeutung und sichtbarer Gestalt. Was aber, wenn Theatermacher Bedeutung überhaupt nicht interessiert? Was, wenn keine Bedeutung mehr kommuniziert wird von der Bühne zu den Zuschauern? Was, wenn, wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann formuliert, «eine Verschiebung der Hierarchie» von den Regisseuren (oder den Kollektiven) vorgenommen wird? Dann sind die Worte, sind Text und Logik ausgehebelt; und an ihre Stelle tritt das Ereignis: Schauspieler, Tänzer, Performer und/oder ein Theater der Bilder wie zum Beispiel in den Werken von Robert Wilson. Dieses Vorgehen stellt den Zuschauer vor eine besondere Herausforderung, denn performatives Theater verweigert sich explizit dem Postulat der Einfachheit.
Da das Sehen eine schöpferische Tätigkeit des Geistes ist, muss dieser – will der Zuschauer/Zuhörer Gewinn, also Freude daraus erfahren – stimuliert werden. Denn, so Arnheim, «die Wahrnehmung vollbringt auf der sinnlichen Ebene, was im Bereich des Denkens Verstehen genannt wird». Sehen ist letztlich das Wahrnehmen von gerichteten Spannungen. Das heißt, dem Theaterzuschauer, dessen Sehen (und Hören) nicht wie beim Film und beim Fernsehen gelenkt wird, wird die Freiheit geschenkt auszuwählen, was er sieht und, wichtiger noch: Was er sehen möchte. Was – und deshalb das Beispiel –, was hat es damit auf sich, dass der Zuschauer immer erst nach links schaut und dann erst nach rechts, sodass die erste Wahrnehmung bereits eine Gewichtung darstellt? Ist die Größe und Kleinheit des Wahrgenommenen von Bedeutung? Es gibt, das ist unbestritten, Sehmuster. Zugleich wissen wir, dass der Mensch auch beim Wahrnehmen von Zeichen – visuellen und akustischen, von künstlerischen – immer bemüht ist, so wenig Aufwand zu betreiben wie möglich. Kurz: Er ist zufrieden mit der ersten möglichen Dechiffrierung von Zeichen, der einfachsten Deutung – oder der schlichten, ganz schnellen Ablehnung, sich mit den Zeichen überhaupt zu beschäftigen. Auch beim Erfassen wird der Weg des geringsten Widerstands gesucht. Und zuweilen ist dieser Weg die Verweigerung der Aufnahme und Auseinandersetzung überhaupt. Just deshalb machen es Aufführungen des postdramatischen Theaters den Zuschauern, die Fabel- oder Literaturtheater erleben möchten, so schwer. Die Ästhetik der Wiederholung (Christoph Marthaler), die Ästhetik der Zeitdehnung und Slow Motion (Robert Wilson), die Ästhetik der Simultaneität (Christoph Schlingensief, Frank Castorf) – all diese performativen Formate leisten bewusst nicht, was schon Aristoteles forderte, nämlich Einfachheit. Das Theater müsse Verwirrung vermeiden, war seine wichtigste Forderung. Die neuen Schau-Spiele, in denen Körper und Körperlichkeit ein neues Zeichensystem errichten, stiften indes durchaus Verwirrung. Nun bedeutet der Schauspieler nicht mehr in einer Rolle etwas, sondern der Schauspieler-Tänzer-Körper ist Bedeutung. Der Akteur wird zu einem «Mensch-Objekt», zu einer «lebenden Skulptur» (Hans-Thies Lehmann), die betrachtet und beobachtet werden muss und gedeutet werden kann.
Wenn das Sehen, das Wahrnehmen Teil des Schaffens ist, dann wird der Rezipient – nimmt er seine Aufgabe selbstbewusst und kritisch wahr – zum Mitschöpfer. Das Auge registriert dabei nur äußere Informationen. Das Innere – also der (mögliche) Bedeutungsgehalt – muss daraus erst erschlossen werden. Das ist die Aufgabe des Zuschauers, der er sich stellen muss. Was beeinflusst ihn bei diesem Wahrnehmungsprozess? Seine Bildung? Seine Erinnerungen? Sein Ordnungssinn? Seine Fähigkeit, schwierige Zeichensysteme zu vereinfachen? Wie funktioniert Kommunikation zwischen Akteuren und Zuschauern, wenn das Zeigen, also das Spielen, wichtiger wird als das Gezeigte? Wenn der Zeiger etwas zeigt, das, bedeutungslos, nichts ist als Bewegung im Raum? Diese Fragen sollen in den folgenden Kapiteln beantwortet werden.
Sicher ist, dass der Einfluss der Erinnerung – also auch des Vergleichs, des Abgleichens von Wahrnehmungsmomenten – von großer Bedeutung für das Erkennen und Deuten theatraler Vorgänge ist. Der Kunsthistoriker E.-H. Gombrich erklärte: «Je größer die biologische Bedeutung eine Objektes für uns ist, desto mehr sind wir auf Erkennen eingestellt – und desto anspruchsloser sind wir daher in Bezug auf formale Übereinstimmung.» Gewiss ist beim Prozess des Erkennens die Bildung des Rezipienten von großer Bedeutung. Wer bei Gogols sozialkritischer Komödie «Der Revisor» die Figurenwelt der Commedia dell’Arte und die Operette mitdenkt und sieht, wird auch bei einer comichaften Vereinfachung des Stoffes weiter vordringen als jemand, dem diese Welt fremd ist – und so fort.
Ohne Zweifel ist auch der Ordnungssinn von großer Bedeutung für ein Urteil über eine Aufführung. Das heißt: Der Zuschauer muss wie in einem Puzzle die einzelnen Elemente einer Inszenierung erst einmal separat wahrnehmen – sehen und hören – und dann versuchen, aus den Einzelteilen eine Gesamtstruktur zu erstellen. Er muss Ordnungsarbeit leisten. Hat er auf diese Weise eine Form entdeckt, muss er überlegen, und das ist ein ausschließlich intellektueller Vorgang, ob die Form und die (mögliche) Bedeutung zu einer Übereinstimmung gebracht werden können. Denn die szenischen Vorgänge müssen letztlich als eine Gesamtheit wahrgenommen werden. Werden sie es nicht, urteilt der Rezipient also nur innerhalb enger Grenzen, dann wird das Urteil wenn nicht falsch, so doch fehlerhaft ausfallen. Jeder Aspekt der Wahrnehmung wird dabei auch die Reflektion des Vergleichs einbeziehen, nach Ähnlichkeiten suchen.
Ein Aspekt ist bei der Beurteilung von szenischen Vergegenwärtigungen von besonderer Bedeutsamkeit: Bei jeder Aufführung und zu jedem Zeitpunkt kann nie mehr als eine einzige Teilansicht eines dreidimensionalen Objektes, eines Vorgangs im Raum gesehen und erkannt werden. Einen Moment in die falsche Richtung gesehen, die – in diesem Moment – unbedeutendere Figur in den eigenen Fokus genommen zu haben, kann erkenntnishindernde Folgen haben.
Ziel dieses Buches ist es, Zuschauer (und Leser) zu sensibilisieren für das, was sie sehen – und manchmal nicht wahrhaben wollen –, sie zu öffnen für neue Formen, auch anhand von Beispielen, also Aufführungsanalysen, die deutlich machen, dass es nicht nur eine Lesart einer Inszenierung geben kann! Theater ist nicht allein eine Informations- und Bedeutungsmaschine; es ist, im besten Fall, eine Herausforderung, die von manchen Rezipienten durchaus als Zumutung wahrgenommen werden kann (und darf). Die Bilder des zeitgenössischen Theaters sind sehr oft eben nicht mehr Illustrationen der Handlungen, verstärkende Bedeutungsträger, sondern sie haben sich emanzipiert. Die Tableaus sind Tableaus sind Tableaus – um Gertrude Stein zu paraphrasieren, die die wahnwitzigsten postdramatischen Theatertexte geschrieben hat, zum Beispiel 1934 «Four Saints in Three Acts, an Opera to Be Sung» oder 1938 «Doctor Faustus lights the lights».
Leser und Zuschauer sollen angestiftet werden zu einem feinfühligen, aufmerksamen vorurteilsfreien Sehen, dem freilich das Lesen der klassischen, modernen und postdramatischen Theatertexte und Libretti vorausgehen muss. Nur dadurch sind die Voraussetzungen gegeben für das Dechiffrieren, das Erkennen und damit für ein ästhetisches Urteil. Stets muss dabei bedacht werden, dass Irrwege zu jeder Entwicklung gehören – in der Kunst ebenso wie in den Wissenschaften. Was zunächst abwegig erscheint, kann sich überdies durchaus als Weg zur Erneuerung des Theaters erweisen. Deshalb verbietet sich der Wunsch, auf der Bühne stets abgebildete Wirklichkeit präsentiert zu bekommen. Es gilt noch immer Lessings Hinweis, dass das Kunstwerk die Regeln liefert, die angewandt werden müssen, es zu beurteilen. Zuschauer werden mit ihrem Regelwerk – Drama/Handlung/Nachahmung – deshalb eine Aufführung oft nicht beurteilen können, weil sie mit falschem Maß (be)messen.
Es gibt keine ernstzunehmende Kritik – von professionellen Rezensenten und kritischen Amateuren, also Theaterliebhabern –, die vor dem Urteil nicht abwägt, nicht misst, nicht in Beziehung setzt. Eine kritische Wahrnehmung kommt erst durch Abgleichung aller Sinnesempfindungen mit bereits vorhandenen Daten zustande, durch eine Art innere Passkontrolle. Der Zuschauer muss erinnern und vergleichen: Vorlage und inszenatorisches Ergebnis. Zuvor wahrgenommene szenische Ergebnisse und die zuletzt wahrgenommene Aufführung. Welche Gewinne? Welche Verluste? Und er muss sich fragen, ob Sinn – also sinn-voll und sinn-los – eine ästhetische Kategorie sein darf, ob Langeweile ein Bedeutungskriterium ist. Geduld ist keines.