Aus dem Englischen von Fiona Weisz
Kosmos
Umschlaggestaltung: Init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
unter Verwendung eines Fotos von © fotolia / adrenalinapura und © Thinkstock, gettyimages
Text copyright © Stacy Gregg, 2013
Published by arrangement with Miles Stott Children’s Literary Agency
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel The princess and the foal bei Harper Collins Children’s Book, Great Britain.
Aus dem Englischen von Fiona Weisz
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele weitere Informationen zu unseren Büchern, Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15057-3
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Du willst wissen, ob das alles wahr ist? Und ich sage: Ja. Insbesondere die merkwürdigsten Dinge, sie sind von allen am meisten wahr.
Für Eure Königliche Hoheit Prinzessin Haya Al Hussein und all die anderen Prinzessinnen, die es zu träumen wagen.
Dieses Buch ist ein Stück Literatur, inspiriert von den ersten Lebensjahren Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Haya Bint Al Hussein. Jede historische Begebenheit, jede lebende Person und jeder reale Ort in diesem Roman wurde fiktiv geschildert. Manche Namen, Charaktere oder Ereignisse sind allein der Fantasie der Autorin entsprungen und jede Ähnlichkeit mit den tatsächlichen Geschehnissen und Orten sowie lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Mitternacht, 23. August 1986
Liebe Mama,
ich verstecke mich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke, während ich dies schreibe. Ich traue mich nicht, das Licht anzumachen, denn Frances könnte bemerken, dass ich noch wach bin. Und die Letzte, mit der ich mich jetzt rumschlagen möchte, ist Frances.
Eigentlich sollte ich schlafen, aber ich bin zu aufgeregt wegen morgen. In Santis Büro im Stall gibt es einen Kalender, und ich habe die Kästchen eins nach dem anderen durchgestrichen. Der Klumpen in meinem Magen wurde immer schwerer, je näher der Tag kam. Für eine lange Zeit schien er noch sehr weit weg gewesen zu sein. Und jetzt ist er plötzlich da. In einigen Stunden wird der Tag anbrechen, und ich werde zum Stall gehen und Bree vorbereiten. Ich werde ihren Schweif einflechten und ihre Fesseln bandagieren, dann verladen wir die Pferde auf den Hänger und fahren los durch die Wüste, begeben uns auf eine Reise, die entweder in der Niederlage oder in Ruhm und Ehre für das Königlich Jordanische Gestüt enden wird.
Ich zittere, während ich dir schreibe, und ich rede mir ein, dass das nicht von der Angst kommt, sondern von der Aufregung. In der gesamten Geschichte des King’s Cups hat noch nie eine Reiterin teilgenommen. Aber ich bin nicht einfach nur ein Mädchen. Ich bin eine Beduinin vom Stamm der Haschimiten und eine geborene Reiterin. Vor Tausenden von Jahren schon saßen die Frauen meines Stammes auf ihren Pferden und kämpften Seite an Seite mit ihren Männern. Nun ja, ich will nicht kämpfen – ich will nur gewinnen.
Tausend Gesichter werden morgen von der Zuschauertribüne aus auf mich hinabstarren. Baba wird mich – mit Ali an seiner Seite – von der königlichen Loge aus beobachten, und Frances wird sich dort zweifellos ebenfalls hineingedrängt haben. Sie wird nur darauf warten, dass ich scheitere, dass ich mich vor all diesen Leuten zum Narren mache. Die ganze Zeit über wird sie mich vor Baba schlechtmachen und ihm einreden, es gehöre sich nicht für eine Tochter des Königs von Jordanien, ihre gesamte Freizeit im Stall zu verbringen und auszumisten. Ständig will sie mich zu etwas machen, das ich gar nicht bin.
Ginge es nach Frances, wäre ich eine Prinzessin wie aus dem Märchenbuch – eingesperrt in meinen Turm, in Ballkleidern und mit einer Krone und einem gläsernen Schuh. Ganz ehrlich: Wer um Himmels willen würde je gläserne Schuhe tragen? Wenn es nach mir ginge, würde ich den ganzen Tag in meinen Reithosen herumlaufen.
„Deine Mutter hat sich immer wie eine echte Dame benommen.“ Das sind exakt Frances’ Worte. Manchmal drückt sie sich so etepetete aus, als wäre sie diejenige königlichen Geblüts und nicht nur meine Gouvernante.
Immerzu ermahnt Frances mich, mich mehr zu benehmen wie du. Das ist so nervig. Denn wenn du noch hier wärst, bräuchte ich sie ja gar nicht. Dann könnte ich einfach so sein, wie ich mag; ich müsste nie irgendwelche blöden Kleider zum Abendessen tragen oder mich an irgendeine der doofen Regeln halten, die Frances sich ständig ausdenkt.
Auf Frances’ Aufforderungen, mich mehr wie du zu verhalten, erwidere ich immer, dass du zwar eine Königin warst, aber trotzdem Jeans und T-Shirt getragen hast. Ich kann mich noch genau an deine roten Lieblingsjeans erinnern. Die, die du in Rom gekauft hast, als du noch ganz jung warst, bevor du Baba geheiratet hast.
Du hast diese roten Jeans getragen und dein langes Haar fiel dir offen über die Schultern. Meine Haare sind mittlerweile genauso lang, aber sie sind einfach nur braun. Baba sagt immer wieder, dass ich genau wie du aussehe, aber in meinen Augen sahst du immer wie ein Filmstar aus mit deinen grünen Augen und den dunkelblonden Haaren. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, kann ich dein Gesicht sehen, und dein Lachen erfüllt die Luft wie Musik den Palast von Al Nadwa.
Ich weiß noch, dass ich dich immer gefragt habe: „Werde ich eines Tags eine Königin sein?“, und du hast jedes Mal dasselbe geantwortet. Du hast gesagt: „Haya, du bist eine Jordanische Prinzessin. Vielleicht wirst du einmal eine Königin sein, Inschallah. Aber denk immer daran, dein Titel existiert nur auf irgendeinem Stück Papier, auf einer Seite im Geschichtsbuch. Mehr nicht. Nur das, was in dir steckt, ist wirklich wichtig. Du musst immer du selbst bleiben, Haya, du darfst nie nur eine Rolle spielen. Verstehst du das?“
Dann habe ich dich immer sehr ernst angesehen, aber du hast mich hochgenommen und mein Gesicht mit Küssen bedeckt, bis ich angefangen habe zu kichern. Und dann haben wir uns zusammen kaputtgelacht, während du mich ganz fest im Arm gehalten hast.
Das letzte Mal, als ich dir diese Frage stellte, waren wir in den Gärten von Al Nadwa. Es war an einem Sommertag, und ich hatte eine Decke auf dem Rasen ausgebreitet, im Schatten des großen Granatapfelbaumes. Ali war auch bei uns und hat mit seinen Spielsachen gespielt. Oder zumindest glaube ich, dass Ali auch da war. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht manche Einzelheiten dazuerfinde. Ich bin jetzt zwölf, und dieser Tag ist in meiner Erinnerung schon so verblasst wie ein altes Foto.
Ich erinnere mich an noch etwas, und dieses Bild ist gestochen scharf. Wir stehen vor Babas Arbeitszimmer, du, Ali und ich. Du kniest vor Ali auf den Marmorfliesen und hältst seine kleinen Hände, während er auf seinen speckigen Beinchen herumtapst.
Er fängt sich wieder, und dann lässt du ihn sanft und vorsichtig los. Du hältst deine Arme schützend um ihn, als Ali vor- und zurückschwankt, aber er fällt nicht hin, und du lachst vor Freude und nimmst ihn auf den Arm. „Oh, mein Ali-Schatz. Jetzt kannst du auf deinen eigenen Beinen stehen, und ich kann dich für eine Weile alleine lassen“, sagst du.
Mama, ich habe mein Bestes getan, um auf eigenen Füßen zu stehen, mich zu behaupten, obwohl du nicht da bist und meine Hand hältst. Am Anfang waren meine Beine noch nicht stark genug, aber dann kam Bree, und seitdem trägt sie uns beide mit ihren vier Beinen. Ihr Wille und ihr Mut haben mir die Kraft gegeben, die ich brauchte.
Ich wünschte so, du könntest morgen dabei sein und mich auf ihr reiten sehen. Baba sagt immer, wenn ich dir etwas Wichtiges zu sagen habe, soll ich dir schreiben. Aber das konnte ich bis jetzt nicht. Nicht bis heute Abend. Ich hätte dir so viel zu erzählen, über mich und Bree und alles, was passiert ist, seit du von uns gegangen bist. Aber es ist schon sehr spät, und ich bekomme einen Krampf in der Hand. Es ist gar nicht so leicht, auf einer Matratze zu schreiben, während man in einer Hand eine Taschenlampe hält und versucht, unter der Decke zu atmen. Wenn du jetzt hier wärst, würdest du mir raten, den Brief morgen zu beenden und lieber etwas zu schlafen.
Mama, weißt du noch, wie ich gesagt habe, ich hätte keine Angst? Na ja, vielleicht habe ich doch welche, nur ein kleines bisschen. Das ist der wichtigste Wettkampf in unserem Königreich – was, wenn Bree und ich nicht gut genug sind?
Es ist mir egal, ob Frances und ihre Gefolgschaft denken, es gehöre sich nicht für eine Prinzessin zu reiten. Aber ich weiß, wie wichtig das Turnier für unser Volk ist, und ich spüre das Gewicht der Erwartungen, die auf mir lasten. Wenn ich auf diesen Reitplatz reite, nehme ich ihre Hoffnungen mit mir, und ich bin fest entschlossen, sie nicht zu enttäuschen. Ich mache das, um Baba mit Stolz zu erfüllen, aber auch um mich zu beweisen. Um zu beweisen, dass ich – sobald ich auf einem Pferd sitze – jedem Mann ebenbürtig bin.
Ich bin eine Prinzessin, aber das hier ist kein Märchen. Wenn es eins wäre, wüsste ich, was auf mich zukommt – mein ganz eigenes Und-sie-lebten-glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage. Aber ich weiß noch nicht, wie die Geschichte ausgehen wird. Alles, was ich weiß, ist, dass diese Geschichte über Bree und mich anfängt, wie jedes andere Märchen auch:
Vor langer, langer Zeit in Arabien …
Zwei Löwen stehen Wache am Eingang zum königlichen Palast. Sie stehen aufrecht auf allen vieren, wachsam und zu allem bereit. Ihre kraftvollen, geschmeidigen Körper glänzen golden in der Nachmittagssonne.
Wenn sie sich umdrehen würden, auch nur um Haaresbreite, würden sie das kleine Mädchen sehen, das sich mucksmäuschenstill von hinten an sie heranschleicht. Aber sie bewegen sich nicht, ihre Augen bleiben fest auf die Stufen unterhalb gerichtet.
Das Mädchen huscht in eins, zwei, drei flinken Schritten auf Zehenspitzen heran. Sie hat ihren Löwen ausgewählt, und mit einem wagemutigen Satz schwingt sie sich auf seinen Rücken. Mit rasendem Herzen streckt sie beide Hände aus, greift in seine Mähne und drückt ihre kleinen Fersen fest in die Flanken des Löwen.
„Hüa!“, befiehlt sie. „Los jetzt, hüa!“
Sie beugt sich dicht über seine Mähne und treibt ihn vorwärts, so wie sie es bei ihrem Onkel beobachtet hat, wenn er seine Poloponys reitet. Keine zehn Meter von hier steht eine massive Mauer aus Stein, die den Palast umgibt. Wenn sie nur schnell genug darauf zu reitet, kann der Löwe über die Mauer springen, und sie werden weiter über die grünen Wiesen des Schlossgartens fliegen. Über die nächste Mauer und dann weiter, bis die rosafarbenen Sandsteinhäuser Ammans hinter ihnen liegen und vor ihnen nur noch der weiße, sonnenverbrannte Sand der Arabischen Wüste. Ein Löwe kann sich mit seinen großen Tatzen rasch über den Sand fortbewegen, aber zuerst muss er über die Mauer springen!
Sie treibt den Löwen weiter an, tief über seinen Hals gebeugt, mit strampelnden Beinen und rudernden Armen, als sie einen großen, dunklen Schatten über sich aufragen spürt.
„Eure Königliche Hoheit!“
Das kleine Mädchen schaut auf und blickt in das freundliche Gesicht von Zuhair, dem Chef des Hauspersonals.
„Prinzessin Haya“, sagt Zuhair. „Königin Alia schickt nach dir.“
Haya schwingt ihr Bein über den Rücken des Löwen und lässt sich an seiner Seite heruntergleiten. Sie landet sicher auf den Füßen und rennt an Zuhair vorbei. Sie ist drei, hat aufgeweckte braune Augen und schulterlanges dunkles Haar. Sie ist klein für ihr Alter, und ihre dünnen Ärmchen sind gerade stark genug, um die schwere Palasttür aufzudrücken. Diese ist aus massivem Teakholz und mit Messingkugeln von der Größe von Hayas Kopf besetzt.
In den Korridoren schauen die Porträts von Königen auf sie herab, während sie mit tapsenden Schritten über den kühlen Marmorboden hopst. Sie liebt es, wie die Augen ihrer Vorfahren ihr zu folgen scheinen, wenn sie an ihnen vorbeirennt. Ihr Vater ist der gegenwärtige König, aber sein Bild hängt nicht an der Wand. Wann immer jemand sein Porträt dort hinhängen wollte, hat ihr Baba dankend abgelehnt und gesagt, er habe nicht den Wunsch, den ganzen Tag von sich selbst angestarrt zu werden. Er bevorzugt Fotos von Panzern und Schiffen. Und Pferden natürlich. Ihr Baba liebt Pferde, genau wie Haya.
Ihr Vater wird „Der Löwe Jordaniens“ genannt, aber Haya hat ihn noch nie brüllen hören. Er hat eine leise, weiche Stimme und sieht sehr gut aus mit seinen kurz geschnittenen dunkeln Haaren und dem Schnurrbart. Seine Augen sprühen nur so vor Scharfsinn, und er lächelt immer sanft und freundlich.
Aber als Haya heute den Kopf zu seiner Tür hereinsteckt und in sein Arbeitszimmer lugt, lächelt ihr Baba nicht. Mit vor Sorge gerunzelter Stirn sitzt er an seinem Schreibtisch. Hayas Mutter ist auch dort, sie steht auf dem großen Bärenfell in der Mitte des Arbeitszimmers ihres Vaters. Den kleinen Ali trägt sie auf der Hüfte.
„Ich habe mit den Funktionären in Tafilah gesprochen“, sagt die Königin. „Die Bedingungen dort verschlimmern sich von Stunde zu Stunde. Flüchtlinge strömen in die Stadt, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder, und sie benötigen dringend Medikamente und Nahrung. Die Mitarbeiter des Krankenhauses sind erschöpft und überlastet. Die Patienten liegen schon auf dem Fußboden, und sie haben keine Decken mehr. Sie können nicht noch einen Tag länger warten. Ich könnte heute Nachmittag mit dem Hubschrauber dorthin fliegen und ihnen Medikamente und Vorräte bringen, während du die ausländische Delegation in Aqaba empfängst.“
Prinz Ali zappelt und windet sich im Arm der Königin, während sie spricht. Gerade an diesem Nachmittag ist er zum ersten Mal ein paar Schritte ganz alleine gelaufen und mag sich nun nicht mehr von den Armen seiner Mutter bändigen lassen. Er strampelt fest mit seinen knuffigen kleinen Beinen, während er versucht, sich aus ihrem Griff zu winden.
Dieser Vorschlag seiner Frau lässt den König nicht weniger besorgt aussehen. „Alia, wir haben uns beim Frühstück darauf geeinigt, dass du wenn überhaupt mit dem Auto fährst. Es ist zu gefährlich, zu fliegen, wenn ein Sturm aufzieht.“
„Aber wenn ich den Hubschrauber nehme, kann ich vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein“, erwidert die Königin. Und noch bevor ihr Mann ihr widersprechen kann, fügt sie hinzu: „Badr Zaza hat angeboten, mich zu fliegen.“
Badr Zaza ist der persönliche Pilot des Königs, es gibt keinen besseren in ganz Jordanien. Der König nickt langsam. „Wenn Badr Zaza bereit ist, diesen Flug zu unternehmen, weiß ich, dass du sicher bist …“
„Ich will mit!“
Das ist Haya. Sie steht mit vor Aufregung leuchtenden Augen im Türrahmen.
„Haya“, ermahnt ihre Mutter sie sanft. „Was haben wir gestern beim Abendessen besprochen? Ich habe dir gesagt, wenn du mich begleiten möchtest, musst du dein Steak und den Rosenkohl aufessen.“
„Aber Ali hat seinen auch nicht gegessen!“, verteidigt sich Haya.
„Und Ali bleibt auch zu Hause“, antwortet ihre Mutter und wiegt Hayas kleinen Bruder sanft auf ihrer Hüfte. „Grace wird sich um euch kümmern, bis ich heimkomme. Aber nächstes Mal darfst du mich begleiten, wenn du deinen Teller immer schön leer isst, einverstanden?“
Ein Sturm zieht auf, aber noch brennt die Sonne auf den Palast herab. Auf dem Rasen, nicht weit von dem Granatapfelbaum entfernt, unter dem Haya an diesem Morgen noch mit ihrer Mutter gespielt hat, hockt ein Hubschrauber wie eine Taube auf ihrem Nest.
„Fliegst du weg?“, will Haya von ihrer Mutter wissen.
„Ja“, erwidert die Königin, „aber Grace wird sich um euch kümmern, solange ich nicht da bin.“
Ihr Kindermädchen Grace steht neben ihnen auf der Terrasse, die auf den Rasen hinaus führt. Sie hat Prinz Ali auf dem Arm. Grace ist nett, findet Haya, sie backt am Nachmittag mit ihnen Plätzchen.
Haya zieht die Stirn kraus. „Aber du bringst mich ins Bett, ja?“
„Heute nicht, mein Schatz. Aber Baba kommt rechtzeitig heim, um euch ins Bett zu bringen, und wenn du morgen früh aufwachst, bin ich wieder da.“
Grace greift nach Hayas Hand. Es ist Zeit, sich voneinander zu verabschieden.
„Sei ein liebes Mädchen, Haya“, flüstert ihre Mutter ihr ins Ohr, während sie sich herabbeugt, um sie zu küssen.
Die Königin gibt auch Ali einen Kuss, dann läuft sie über den Rasen auf den Hubschrauber zu.
„Warte! Mama!“, ruft Haya, doch das Triebwerk des Helikopters heult auf und übertönt ihre Worte. Grace hält sie fest an der Hand und verankert sie so auf der Terrasse. Auf einmal greift Grace’ Hand ins Leere. Haya hat sich losgerissen und rennt Hals über Kopf hinter ihrer Mutter her auf den saftig-grünen Rasen.
Als die kleine Prinzessin ihre Mutter einholt, hat diese schon fast den Hubschrauber erreicht.
„Mama!“ Hayas kleine Händchen krallen sich in den Stoff der Hose der Königin. Erschrocken schaut diese an sich herab und entdeckt ihre Tochter, die sich fest an ihr Bein klammert. Über ihren Köpfen beginnt sich der Rotor des Helikopters zu drehen. Die Taube erwacht zum Leben.
Haya muss ihrer Mutter dringend noch etwas sagen, aber ihre Stimme ist zu schwach, um gegen das Getöse des Triebwerks über ihnen anzukommen. Ihre Worte gehen im selben Moment unter, in dem sie ihre Lippen verlassen.
„Geh nicht!“, ruft Haya. „Bleib bei mir. Ich hab dich lieb, Mama!“
Dann sieht sie zu ihrer Mutter auf und begreift, dass sie nichts weiter sagen muss. Ihre Mutter versteht sie auch so.
Die Königin beugt sich herab und hebt ihre Tochter hoch, nimmt sie auf den Arm und drückt sie ganz fest. Sie drückt ihr einen letzten Kuss auf, und Haya spürt die weiche Haut ihrer Mutter auf ihrer. Dann steht Grace neben ihnen, und ihre Mutter reicht Haya an ihr Kindermädchen weiter. Grace, die auch Ali immer noch auf dem Arm hat, schafft es irgendwie, Haya auf ihrer einen Hüfte zu balancieren und Ali auf der anderen, während sie durch den Garten zurück zur Terrasse geht.
Die Rotorblätter des Hubschraubers kreisen erst langsam, dann immer schneller, bis man sie nur noch ganz verschwommen sieht. Der Wind, den der Helikopter erzeugt, wird immer stärker. Er zerzaust Hayas Haare und biegt die Blumen im Garten flach zu Boden. Zuerst hüpft der Hubschrauber nur kurz in die Höhe und plumpst dann wieder zu Boden, als könne er sich nicht entschließen abzuheben. Dann steigt er plötzlich doch auf wie ein Blatt, das von einem Windstoß erfasst wird, und fliegt geradewegs hinauf in den Himmel. Einen Augenblick schwebt er noch über ihnen, dann zieht er über die Palastmauern und die Baumwipfel davon und nimmt Kurs auf die Hügel am Horizont.
Haya versucht, ihm nachzusehen, aber die Sonne blendet sie. Sie kneift die Augen zu, nur für einen winzigen Moment, und als sie sie wieder öffnet, ist der Hubschrauber schon verschwunden.
*
Haya rollt sich fest zusammen, wie ein Igel. Es ist stockfinster hier drinnen, aber auch kuschelig warm. Ihre Lieblingspuppe Dolly, die mit dem rosa Hut, den aufgenähten Augen und den weichen Stoffbeinen, leistet ihr Gesellschaft.
„Ssssssch!“, flüstert sie Dolly zu. „Ich kann hören, dass sie näher kommen. Sei jetzt leise, sonst finden sie uns noch.“
Draußen sind Stimmen zu hören, dann werden Autotüren zugeschlagen. Hayas Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie den Motor schnurren hört. Sie fahren weg!
Oh-oh! Der Wagen hat noch mal angehalten. Sie hört wieder die Stimmen, dann Schritte, und auf einmal wird die Kofferraumklappe weit aufgerissen, und sie wird von gleißendem Tageslicht geblendet.
„Haya! Nicht schon wieder!“
Das ist Babas Stimme. Er hat den Kofferraum geöffnet und sie gefunden!
„Haya.“ Der König scheint wenig überrascht, seine Tochter im Kofferraum seines Wagens zu finden. „Raus mit dir, wenn ich bitten darf. Ich muss jetzt los.“
Beim ersten Mal, als sie sich im Kofferraum von Babas Mercedes versteckt hat, ist sie bis nach Aqaba gekommen. Aber seitdem ist der König immer auf Nummer sicher gegangen und hat jedes Mal in seinen Kofferraum geschaut, bevor er losfuhr.
Langsam und widerstrebend rappelt sich Haya auf, als ob es etwas nützen würde, Zeit zu schinden.
„Kann ich mitkommen? Bitte!“, bettelt Haya hoffnungsvoll. „Ich werde auch artig sein.“
Der König versucht, sich ein Grinsen über ihren Streich zu verkneifen, während er sich über den Kofferraum beugt und seine Tochter heraushebt. „Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“
Also fährt Haya nirgendwo mit hin, und es ist an Grace, sie bei Laune zu halten. An diesem Nachmittag backen sie zusammen Plätzchen in der großen Palastküche. Grace macht welche mit Datteln und Mandeln, und es ist Hayas Aufgabe, den Teig zu kleinen Kugeln zu formen, sie in Zucker zu tauchen und dann mit einer Gabel platt zu drücken, bevor sie auf das Backblech gelegt werden.
Ismail, der Küchenchef, ist griesgrämig, weil sie seine Küche in Beschlag nehmen. Er schimpft zwar nicht – wie könnte er der Tochter des Königs einen Wunsch abschlagen? – aber er klappert und scheppert extra laut mit seinen Pfannen und Töpfen herum, während er das Essen zubereitet. Es gibt Mansaf zum Abendessen: ein reichhaltiges Gericht aus Lammfleisch mit Reis und scharfem Joghurt. „Beduinenessen“ nennt Ismail es stolz – ein Gericht, das so gehaltvoll ist, dass es einen über Tage sättigt.
Damit haben Hayas Vorfahren die Zeiten überstanden, in denen sie noch als Nomaden durch die großen Wüsten gezogen sind. Ihr Urgroßvater, König Abdullah, hat einmal mit Lawrence von Arabien Mansaf gegessen, als dieser die Beduinenarmee während der Arabischen Revolte angeführt hat.
Haya hat ihren Urgroßvater nie kennengelernt, aber sie hat sein Bild schon oft an der Wand mit den Königsporträts betrachtet. Baba war bei ihm an dem Tag, als er starb. Er wollte seinen Großvater zum Gebet begleiten, sie stiegen gerade die Treppe der Moschee in Jerusalem hinauf, als der Attentäter das Feuer auf sie eröffnete. König Abdullah wurde erschossen, und Hayas Vater wäre ebenfalls getötet worden, wenn er an diesem Tag nicht seine neue Uniform getragen hätte. Der Orden, der ihm für sein Können im Schwertkampf verliehen worden war und den er genau über dem Herzen angesteckt hatte, rettete ihm das Leben. Die Kugel, die ihn hätte töten sollen, prallte am Metall des Ordens ab, und er blieb unversehrt.
Hayas Vater, Hussein, ist mit siebzehn Jahren König von Jordanien geworden. Seitdem kommen Präsidenten und Premierminister, Königinnen und Könige nach Al Nadwa, um ihn zu treffen. Da sitzen sie dann und reden stundenlang, aber keiner von ihnen bringt je seine Kinder mit, sodass Haya mit ihnen spielen könnte. Sie findet das alles sehr, sehr langweilig.
Bei diesen Staatsbesuchen werden auch große Bankette veranstaltet, und in der Küche geht es dann drunter und drüber, wenn bis zu sechs Köche gleichzeitig an die Arbeit gehen. Deswegen kann Haya gar nicht verstehen, warum Ismail so missmutig darüber ist, dass er heute mit ihnen die Küche teilen muss. Es ist doch mehr als genug Platz für sie drei, sodass Grace und sie Plätzchen backen können, während er das Abendessen zubereitet.
Als die Plätzchen fertig sind, lassen sie sie sich im Blauen Salon schmecken. Der ist viel kleiner und gemütlicher als der große Speisesaal, und hier hat nur die Familie Zutritt. Alles in ihm ist sehr blau – blaue Wände, blaue Vorhänge, sogar die Teller und Wassergläser sind blau. Haya liebt es, die Gläser gegen das Licht zu halten und hindurchzusehen, sodass ihr das Essen auch blau vorkommt.
Egal, wie beschäftigt ihr Vater ist, er nimmt sich jeden Morgen die Zeit, mit seiner Familie zu frühstücken. Dafür ist er jedoch nicht jeden Tag rechtzeitig zum Abendessen zurück. Könige haben immer viel zu arbeiten.
„Dein Vater ist der König unseres Volkes“, hat ihr ihre Mutter erklärt. „Die Einwohner Jordaniens sind alle deine Brüder und Schwestern, deswegen müssen wir sie alle so lieben und für sie sorgen, wie wir es für dich tun.“
Haya hat Millionen von Brüdern und Schwestern, aber meistens hat sie doch nur Ali. Heute sind wieder nur drei Plätze am Esstisch eingedeckt, für Haya, Ali und Grace, denn ihr Baba ist noch nicht aus Aqaba zurück, und ihre Mutter ist immer noch im Krankenhaus in Tafilah. Normalerweise reden und lachen immer alle beim Abendessen, aber heute Abend sind alle ruhig, und Grace benimmt sich sehr seltsam, so als ob sie sich wegen irgendwas Sorgen machen würde. Haya fragt sich, ob das mit dem Telefonat zu tun hat, das Grace kurz vor dem Essen angenommen hat.
Ein Sturm zieht auf. Draußen vor den Fenstern von Hayas Zimmer biegen sich die Kronen der Palmen und tanzen im Wind. Als Grace Haya ins Bett bringt, bleibt sie ungewöhnlich lange bei ihr sitzen, denn die Geräusche, die von draußen hereindringen, sind sehr unheimlich – sogar für ein so tapferes Mädchen wie Haya.
„Ich will so lange aufbleiben, bis Baba und Mama nach Hause kommen“, sagt Haya, als Grace sie zudeckt. Hayas Zimmer ist im oberen Stockwerk, und ihr Bett steht direkt am Fenster. Sie liebt es, dort zu liegen und zu den Flugzeugen hinaufzuschauen. Der Palast liegt so nahe am Flughafen, dass es Haya so vorkommt, als müsse sie nur ihre Hand ausstrecken, um die Unterseite der abhebenden Flieger berühren zu können. Sie liebt es, auf die rot, grün und weiß blinkenden Lichter an den Flügelspitzen der Flugzeuge zu starren, während sie über sie hinwegfliegen. Nur heute Abend kann sie keine Flugzeuge beobachten. Der Wind ist schon zu stark, und der Flughafen wurde vorsorglich geschlossen.
Grace streicht ihr über das Haar und legt ihr Dolly in den Arm. „Schlaf jetzt. Ich bin nebenan bei Ali im Zimmer.“
Haya wälzt sich im Bett herum, um es sich bequem zu machen, und ringt mit Dolly unter der Decke. Sie kann einfach nicht schlafen. Der Wind ist jetzt so stark, dass er um den Palast heult. Draußen vor ihrem Fenster werden die Palmen hin und her geschüttelt wie Marionetten.
In der Dunkelheit ihres Zimmers klammert sich Haya an Dolly fest. Donner grollt über den Himmel, und sie will gerade schon nach Grace rufen, da hört sie von unten Stimmen. Sie sind zu Hause!
Haya schnappt sich Dolly an einem Arm, schwingt ihre Beine über die Bettkante und flitzt über den Flur.
Als sie die Treppe herunterkommt, sieht sie ihren Vater. Er ist daheim und hat Besuch mitgebracht. Der König spricht mit einem Mann in Uniform, einem vom Königlichen Regiment. Der Mann hält den Kopf gesenkt und überreicht ihrem Vater einen Gegenstand, etwas Kleines und Glänzendes.
„Baba!“
Haya springt im Schlafanzug und mit Puppe im Arm die Treppe hinunter. Als sich der König zu der kleinen Prinzessin umdreht, stellt Haya erschrocken fest, dass er weint.
Haya hat ihren Vater noch nie weinen sehen. Er weint unverhohlen, lässt die Tränen an seinen Wangen herunterlaufen und versucht nicht, sie wegzuwischen.
„Haya!“ Ihr Baba nimmt sie hoch, und sie spürt, wie sich seine starken Arme schützend um sie legen. „Ist schon gut …“
Haya drückt sich fest an ihn und vergräbt verwirrt ihr Gesicht an seiner Schulter, und als sie das tut, erhascht sie einen Blick auf das, was ihr Vater in der rechten Hand hält. Das kleine, glänzende Ding, das ihm der Mann gegeben hat. Jetzt erkennt Haya auch, was es ist.
Die zerschmetterten Überreste der Armbanduhr ihrer Mutter.
Baba wiegt Haya hin und her, während sie schluchzt. Sie weint so sehr, dass sie keine Luft mehr bekommt und die Tränen sie zu ersticken drohen. Sie klammert sich an ihren Vater, und dieser hält sie mit starken Armen fest und eng an sich gedrückt, aber trotzdem reicht das nicht aus, um sie zu trösten. Sie sehnt ihre Mama herbei. Aber die wird nicht nach Hause kommen. Nicht heute. Und auch sonst nie wieder.
Das hat Baba Haya gerade gesagt. Er hat gesagt, es sei sehr mutig von ihrer Mutter gewesen, nach Tafilah zu fliegen, obwohl sie gewusst hat, dass ein Sturm aufzieht. Sie habe den Menschen im Krankenhaus geholfen, habe ihnen Decken, Medikamente und Essen gebracht. Der Himmel war schon rabenschwarz, als sie das Krankenhaus wieder verließen, aber der Pilot habe gehofft, dass sie vor dem Gewitter herfliegen könnten. Sie waren hoch oben über der Wüste in der Gegend um Amman, als der Sturm sie einholte und ein Blitz in den Hubschrauber einschlug.
In dieser Nacht weicht Haya ihrem Vater nicht von der Seite. Selbst als ihr Baba eine Radioansprache halten muss, um die Bevölkerung zu informieren, dass die Königin ums Leben gekommen ist, behält er sie immer in seiner Nähe. Sie sitzt auf seinem Schoß, während er die Worte aufschreibt, die er an die Nation richten will. Und als er im Radio seine Ansprache hält, ist im Hintergrund ein leises, verwaschenes Geräusch zu hören. Es ist Ali, der gleichmäßig ein- und ausatmet, während er friedlich in den Armen des Königs schlummert.
Haya übernachtet gemeinsam mit Ali und ihrem Vater in dem großen Bett ihrer Eltern. Als sie aufwacht, ist auch der Sturm längst eingeschlafen. Genau wie ihre Mama.
Zuerst kann sie es gar nicht glauben. Es kommt Haya so vor, als müsse ihre Mama jede Sekunde hereinkommen, die Arme weit geöffnet, und in ihrem üblichen Singsang sanft ihren Namen rufen.
Sie wird zurückkommen, glaubt Haya. Sie kann nicht wirklich für immer gegangen sein.
Aber da kommt keine Mama zum Frühstück oder um ihr die Haare zu kämmen und ihre Kleider herauszusuchen. Und Ali will einfach nicht aufhören zu weinen. Er weint, weil er nicht versteht, warum seine Mama nicht mehr zu ihm kommt.
„Sssssch, Ali! Ich bin’s. Ich bin da.“ Haya klappt das Gitter an seinem Babybett herunter und krabbelt hinein, neben ihren Bruder. Alis winziges Gesicht ist tränenüberströmt, und seine kleinen Händchen klammern sich fest an seine Decke. Haya kuschelt sich eng an ihn, bis er aufhört zu weinen.
Bis zum Abendessen hat Haya beschlossen, dass es ihre Schuld ist. Sie ist der Grund, warum ihre Mama weg ist, aber das ist nicht schlimm, denn sie kann das wieder in Ordnung bringen. Als an diesem Abend ihr Essen aufgetragen wird, isst sie alles auf. Sie muss fast schon würgen, so hastig kaut sie auf ihrem Steak herum, aber sie isst den ganzen Teller leer und ist sehr zufrieden mit sich. Es muss einfach klappen. Jetzt wird ihre Mama ganz bestimmt zurückkommen.
Aber das mit dem Aufessen scheint doch nicht zu funktionieren. Nicht mal, als sie am nächsten Abend wieder ihr Fleisch ganz aufisst und den Rosenkohl noch dazu, kehrt ihre Mutter zurück. Und Haya beginnt langsam zu begreifen, dass sie nie mehr nach Hause kommen wird, egal wie brav sie aufisst. Am dritten Abend schiebt Haya ihren Teller von sich und starrt das Fleisch an, als ob es etwas dafür könnte. Sie will nie wieder davon essen.
Jeden Abend bleibt ihr Baba an ihrem Bett sitzen und streicht ihr übers Haar, bis sie eingeschlafen ist, aber er kann nicht verhindern, dass sie von Albträumen heimgesucht wird. Keine Nacht vergeht, in der sie nicht hochschreckt und schluchzt, ganz allein in der Dunkelheit. Es sind Albträume, in denen sie ihre Mama im Sturm sieht, der Moment, in dem der Blitz in den Hubschrauber einschlägt. Ob ihre Mutter sich gefürchtet hat, als sie vom Himmel gefallen ist? Ob es wehgetan hat?
In den ersten paar Tagen nach dem Absturz war der gesamte Palast wie betäubt und verstummt. Aber jetzt wird alles wieder geräuschvoller, während der ganze Wirbel um das Staatsbegräbnis losgeht. Würdenträger aus ganz Arabien und der Welt kommen, um ihre Anteilnahme zu bekunden. Hayas Tanten und Cousinen sind alle furchtbar lieb zu ihr und Ali. Auf eine merkwürdige Art fühlt es sich an wie eine große Party, solange alle hier versammelt sind. Und dann sind plötzlich alle wieder weg, und der Palast ist kalt und leer ohne Mamas Lachen.
Hayas Schritte hallen durch die Korridore. Der ganze Palast hat sich verändert. Sie versucht Plätzchen zu backen wie immer, aber es fühlt sich falsch an, dass Ismail kein einziges Mal sauer wird, nicht einmal, wenn sie ihm im Weg ist. Er schaut Haya immer nur mit glasigen Augen an, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. Über allem hängt so viel Trauer, dass Haya es kaum aushält.
„Schon in Ordnung“, sagt Baba. „Ich weiß einen Ort, an den wir fahren können.“
Als der Mercedes vorfährt, steigen Haya, Grace und Ali hinten ein, und der König setzt sich zu seinem Leibwächter nach vorne auf den Beifahrersitz. Sie fahren durch das Palasttor hinaus auf das königliche Anwesen.
Ganz am Rande des Anwesens gibt es eine Kontrollstelle, an der der Fahrer anhält und mit den Wachen am Tor spricht. Die Wachen salutieren, winken sie hindurch und schon bald haben sie das königliche Anwesen sowie die Vororte Ammans hinter sich gelassen und fahren hinauf in die bewaldeten Hügel. Die Straße windet sich zwischen Pinien und Kiefern hindurch. Es ist ein heißer Tag, aber im Inneren des Wagens sorgt die Klimaanlage für Kühle.
Grace versucht, sich mit ihr zu unterhalten, aber Haya wendet ihr den Hinterkopf zu, starrt aus dem Fenster und beobachtet das Wechselspiel zwischen dem Schatten der Bäume und den Sonnenstrahlen auf der getönten Scheibe. Ihre Gedanken scheinen irgendwo ganz tief im Wald verloren zu sein. Sie hat keine Worte mehr übrig. Sie will nicht reden, nicht über ihre Mutter und auch über sonst nichts.
Am Gipfel des Hügels markiert ein Tor mit weißen Pfosten und leuchtend blauen schmiedeeisernen Gittern den Eingang. Der Wagen passiert das Tor. Hier und da flankieren hohe Palmen die Auffahrt, und vor ihnen erstrecken sich die weiß getünchten Gebäude von Al Hummar, dem Königlich Jordanischen Gestüt.
Das Stallgebäude ähnelt einem Spanischen Schloss, ganz in Weiß mit blau gestrichenen Türen und Fensterrahmen. Leuchtend rote Blumen wuchern üppig in großen Terrakottatöpfen, und purpurrote Weinranken klettern an den Bogengängen empor, die zu den Stallungen führen. Es gibt zwei Innenhöfe, und mitten auf dem ersten steht ein Trinkwasserbrunnen mit blau bemalten Kacheln und einer Fontäne in der Mitte, an dem die Pferde jeden Tag Rast machen und ihren Durst stillen können. Der Boden rings um den Brunnen ist steinhart, von der Sonne ausgedörrt und von den Hufen der Pferde ebenmäßig festgestampft. Das Einzige, was hier wächst, ist ein uralter graugrüner Olivenbaum, dessen knorrige Äste tagsüber in der Gluthitze Schatten spenden.
Die beiden Innenhöfe sind umgeben von einer Reihe großzügiger Ställe, welche im Schatten der Spanischen Bogengänge verborgen liegen. In den Boxen stehen die Pferde.
Die Pferde von Al Hummar sind die prächtigsten in ganz Arabien. Für Haya sind sie verzauberte Wesen mit seidigen Mähnen, samtweichen Nüstern und kohlschwarzen Augen, die einem direkt in die Seele blicken können.
Fünfzig Pferde stehen hier, alles reinrassige Araber. Santi ist der Verwalter von Al Hummar. Sein bürgerlicher Name ist Señor Santiago Lopez, er hat das Gestüt für Hayas Vater nach einem Vorbild aus seiner spanischen Heimat gebaut. Zu jeder Tageszeit dringt Musik aus Santis Büro im ersten Innenhof. „Dann wollen die Pferde tanzen“, sagt er, und Haya ist sich nicht sicher, ob sie das glauben soll.
Dreikäsehoch. So nennt Santi sie immer. „Ah, Dreikäsehoch, wie gut, dass du endlich da bist. Die Pferde haben mir schon den ganzen Morgen Löcher in den Bauch gefragt, wann du endlich kommst!“, ruft er ihr jetzt entgegen.
Haya sagt kein Wort, doch davon lässt Santi sich nicht beeindrucken.
„Du redest zu viel, Dreikäsehoch!“, sagt er zu ihr. „Halt mal die Luft an, Kleine, du machst mir mit deinem Geplapper ja die Pferde ganz scheu!“
Auf einmal kann Haya nicht anders als zu grinsen, aber nur ein kleines bisschen. Santi macht nicht viel Aufhebens um sie, nicht so wie alle im Palast. Er sieht sie nicht an, als sei sie ein bemitleidenswertes Etwas. Er lässt sie zwischen den Ställen frei herumlaufen, während er sich mit dem König unterhält und Grace mit dem schlafenden Ali im Arm in der Sonne sitzt.
Bei Santi steht immer eine Kanne voll mit heißem Kardamom-Kaffee auf der Wärmeplatte neben seinem Schreibtisch. Er schenkt je eine Tasse für den König und Grace ein und setzt den Tonabnehmer vorsichtig auf den Plattenteller. Fetzen von spanischer Musik erfüllen den Innenhof.
Sie sitzen draußen vor dem Büro und beobachten, wie sich einige Fohlen am Wassertrog versammeln wie eine Clique junger Mädchen, die sich kichernd ihre Geheimnisse anvertrauen. Wenn diese Fohlen mit ihren rosig-grauen Flecken auf dem Körper und ihren zierlichen, feingliedrigen Ballerinabeinen einmal ausgewachsen sind, wird ihre Zeichnung verblassen und ihr Fell reinweiß sein wie das ihrer Mütter, die ihre Fohlen aus dem Schatten der Ställe heraus im Auge behalten.
Die Stuten, Fohlen und Hengste leben alle miteinander. Haya kennt die meisten beim Namen und dreht eine Runde, um ihnen Hallo zu sagen. Sie ist noch zu klein, um über die halbhohen Türen zu schauen, also muss sie an ihnen hochklettern, um einen Blick in die Boxen werfen und den Pferden Guten Tag sagen zu können.
Natürlich hat sie auch ein paar Lieblingspferde. Da ist zum einen die Fuchsstute Jamila, die mit ihren geblähten Nüstern und der breiten Stirn wie ein Seepferdchen aussieht. Jamila ziert eine hübsche weiße Blesse und eine lange goldene Mähne, die ihr bis über die Schulter reicht. Sie hat aufgrund ihrer Schönheit schon viele Preise gewonnen. Neben Jamila steht Bahar, ein eleganter, grau gesprenkelter Hengst mit großen dunklen Augen, die von langen, dichten Wimpern umrahmt sind wie bei einem Filmstar. Bahar gibt sich gern unnahbar, er mag sie nicht immer begrüßen, aber Haya besteht darauf und hält ihm so lange eine Handvoll Klee hin, bis er sich schließlich doch dazu herablässt, sie zu fressen.
Die Box mit dem Pferd, das Haya von allen am liebsten mag, hebt sie sich bis ganz zum Schluss auf, die der Stute Amina.
Um zu Aminas Box zu gelangen, muss Haya die Auffahrt bis zum zweiten Innenhof durchgehen. Amina ist eine braune Stute mit einem dunkel-kastanienbraunen Fell, einer glänzenden rabenschwarzen Mähne und schwarzen Beinen bis hinauf zu den Sprunggelenken.
Die meisten Araber haben zierliche Mäuler, aber Aminas Maul ist nicht so zart und hübsch. Sie ist ein wild geborener, reinrassiger Wüstenaraber und hat deshalb ein gröberes Äußeres, ein flacheres Profil und einen kräftigeren Unterkiefer. Amina ist das geborene Springpferd. Sie ist eines der besten im ganzen Gestüt, schnell und furchtlos.
Wann immer Haya zu Besuch kommt, bettelt sie Santi an, auf ihr reiten zu dürfen, doch der schüttelt immer nur den Kopf. „Amina ist kraftvoll und überspannt, viel zu viel Pferd für so einen kleinen Dreikäsehoch wie dich.“
„Ich bin kein kleiner Dreikäsehoch!“, versucht Haya jedes Mal zu protestieren, aber Santi bleibt hart.
„Du kannst auf Dandy reiten, wenn du willst“, bietet er stattdessen an.
Aber Haya will nicht auf Dandy reiten. Er ist ein launischer Shetlandponywallach mit kurzen Beinen und einer buschigen Mähne. Er ist so klein, dass sich Haya nicht mal auf die orangefarbene Kiste stellen muss, um ihn zu striegeln. Und wann immer sie seine Flanken bürstet, versucht er, sie zu zwicken. Er ist definitiv kein Pferd für sie.
*
Eines Tages kommen Haya, Grace und Ali alleine nach Al Hummar. Seit ihre Mutter gestorben ist, ist Haya fast jede Woche hergekommen, und jetzt ist sie schon fast vier. Wie immer wartet Santi schon am Tor auf sie, um sie zu begrüßen, und dann lädt er Grace in sein Büro auf einen Kaffee ein, während Ali eine Schallplatte aus dem Stapel hervorzieht und sie Santi reicht. Haya zieht derweil alleine los, um den Pferden Hallo zu sagen.
Heute geht sie ohne Umwege direkt zum zweiten Innenhof, um Amina zu begrüßen.
Die Stute hat den Kopf bereits über die halbhohe Boxentür hinausgestreckt, sie spielt aufmerksam mit den Ohren und lauscht dem Geräusch von Hayas Schritten, die immer näher kommen. Santi hat die alte orangefarbene Kiste für sie neben Aminas Box stehen lassen. Haya schiebt sie gegen die Tür und klettert hinauf, sodass sie zu Amina hereinschauen kann.
„Amina!“
Die Stute wiehert sanft zur Antwort und stupst sie mit dem Maul an. Normalerweise füttert sie die Pferde mit einer Handvoll Klee, aber heute hat sie Amina etwas Besonderes mitgebracht. Sie steckt die Hand in ihre Tasche und holt runde weiße Pfefferminzbonbons hervor. Auf Zehenspitzen wackelt sie auf der orangenen Kiste herum, streckt den Arm weit in die Box hinein und hält der Stute die Leckerei auf der flachen Hand hin. Amina schnuppert interessiert an ihrer Hand, tastet sie vorsichtig mit ihren Lippen ab und kitzelt Haya dabei mit den kratzigen Haaren an ihrem Maul, bis alle drei Minzbonbons aufgefressen sind. Haya kichert darüber, wie kräftig Amina auf den Bonbons herumkaut. Die Stute beginnt, den Kopf auf- und abzuwerfen und reißt die Augen weit auf, während sie kaut. Haya versucht, mit ihren kleinen Händen den Riegel vor der Stalltür wegzuschieben.
Dann klettert sie an der Boxentür empor, und als sie die oberste Sprosse erreicht hat, springt sie ab! Amina macht einen Schritt zur Seite, als sie spürt, wie Haya mit ganzem Gewicht auf ihrem Rücken landet. Sie schnaubt empört, aber Haya drückt ihr die Fersen in die Flanken und versucht sie anzutreiben wie die Löwen an der Treppe von Al Nadwa.
Im Gegensatz zu den steinernen Löwen fühlt sich Amina nicht kalt an; ihr Fell ist warm und weich an Hayas nackten Beinen. Haya drückt noch einmal die Fersen in Aminas Seiten und greift mit den Händen in die Mähne der Stute, um sich festzuhalten. Dann trotten sie über die Auffahrt hinüber zum ersten Innenhof.
Als sie in den Innenhof einreiten, strecken die anderen Pferde die Köpfe über die Stalltüren und wiehern ihnen zur Begrüßung entgegen. Amina ist eine selbstbewusste Stute und würdigt die anderen Pferde keines Blickes, während sie zum Brunnen hinüberschreitet und ihr Maul in das kalte Wasser im Trog taucht. Hoch oben auf ihrem Rücken thront Haya mit baumelnden Beinen und schwatzt auf die Stute ein, während diese schnaubt und ins Wasser prustet.
Auf einmal fliegt die Tür zu Santis Büro auf. Grace steht in der Tür und sieht sehr besorgt aus. „Haya!“, schreit sie. Sie will schon in Richtung Brunnen davonrennen, als Santi sanft ihren Arm festhält.
„Alles in Ordnung“, hört Haya ihn sagen. „Sie sind schon bis hierher gekommen, die Stute wird ihr jetzt auch nichts mehr tun. Komm wieder rein, trink deinen Kaffee aus und gib den beiden noch einen Moment.“
Auf dem Heimweg ist Haya alles andere als still. Sie schäumt fast über vor Freude über ihr kleines Abenteuer und plant bereits, wieder auf Amina zu reiten, wenn sie das nächste Mal nach Al Hummar kommt.
„Wir werden sehen“, erwidert Grace und versucht, dabei hart zu bleiben. Aber sie ist so erleichtert, die Prinzessin endlich wieder lachen zu sehen, dass sie auch nicht Nein sagt.
An diesem Abend kann Haya es kaum erwarten, ihrem Vater davon zu erzählen, sobald er nach Hause gekommen ist.
„Ich bin heute auf Amina geritten“, berichtet sie, während sie mit Dolly unter dem Arm ins Bett klettert.
Ihr Vater zieht überrascht eine Augenbraue hoch. „Tatsächlich?“
„Santi sagt, ich bin ein Naturtalent“, erklärt Haya ihm voller Stolz. Und fragt dann: „Was ist ein Naturtalent?“