Rupert Neudeck
In uns allen
steckt ein Flüchtling
Ein Vermächtnis
C.H.Beck
Vorwort
I: Unsere Flucht aus Danzig und das Flüchtlingsschiff Wilhelm Gustloff
Die Rettungsaktion – Schlüsselbilder
Der Treck nach Westen
II: Den Boatpeople musste geholfen werden
Unsere erste Pressekonferenz
Im Bonner Tulpenfeld
Kriminelle und illegale Aktivitäten zugunsten von Flüchtlingen
Heinrich Böll – der Fels in der Brandung
Bürger und nicht Regierungen retten Flüchtlinge
Freudentränen in Hamburg
Die neue Unternehmung – Cap Anamur II
Humanitäre Arbeit in Kambodscha und ein besonderer Fluchthelfer
Flüchtlinge sind ein Gemeinschaftsunternehmen
III: Flüchtlinge gibt es überall auf der Welt
Ein Volk in Bedrängnis – die Kurden
Die Palästinenser – seit 1967 ohne Territorium
Die Syrer – fast alle sind Flüchtlinge
Die Afghanen – Flucht nach dem Abzug der ISAF-Truppen
Die Eritreer – und andere Migranten aus Afrika
Sie werden noch kommen – Klimaflüchtlinge
IV: Die Flüchtlinge kommen
Die Kirchen wachen auf
Hotel Mado – ein Beispiel von Tausenden
Europäische Werte
«Richtige» und «falsche» Flüchtlinge
Auf der Insel Lesbos – ein persönlicher Eindruck
Kippt die Stimmung?
Deutschland wird bewundert
V: Gelingende Integration
Integration aus muslimischer Sicht – ein Vorschlag von Rafik Schami
Bricht Europa zusammen?
Abdullah und Der Kleine Prinz
Literatur
Die Lage der heutigen Flüchtlinge ist so extrem, dass es kaum möglich ist, sich in sie hineinzuversetzen. Mit Leidensbildern und Leidensgeschichten ist es nicht getan. Sie sind dennoch notwendig, um die Angst der Menschen, die auf der Flucht waren und sind, spüren zu lassen, um durch ihren Blick wenigstens in Ansätzen die Folgen eines Krieges aufzuzeigen. Wobei es nicht nur Kriege und Diktatoren sind, die Menschen dazu bringen, ihr Land zu verlassen. In Zukunft werden wir es verstärkt mit Klima- und Umweltflüchtlingen zu tun haben, die in ihrer angestammten Heimat nicht mehr leben können, weil das Meer diese verschluckt hat oder sie auf dem Boden nichts mehr anbauen können, das sie ernährt.
Um mehr Verständnis für Flüchtlinge zu wecken, erzähle ich von der Flucht meiner eigenen Familie. Im Januar 1945 verließen wir, meine Mutter, meine Geschwister und ich, Danzig, um der näher rückenden Roten Armee zu entkommen. Wir hatten Tickets für die Wilhelm Gustloff, doch wir verpassten das Schiff, das ohne uns ablegte und dann von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. Die Bilder von damals blieben in mir gespeichert, prägten mein weiteres Leben – und machten mir etwas sehr Wichtiges klar: Eigentlich haben die meisten Menschen einen Hintergrund, der mit Migration und Flucht zu tun hat. Und auch wer zu wissen meint, dass seine Familie schon immer da war, wo er jetzt lebt, sollte sich nicht so sicher fühlen. Es könnte durchaus sein, dass es ihn oder seine Nachkommen in Zukunft doch noch erwischt. Denn in uns allen steckt ein Flüchtling.
Seit dem 17. Jahrhundert kehrten Millionen Deutsche ihrer Heimat den Rücken, um in der Fremde ein neues Leben anzufangen, ganz gleich, ob es sie nach Nordamerika zog, nach Russland oder Südamerika – ein Aufbruch ins Ungewisse war es immer. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten sich abermals Millionen Deutsche auf den Weg; sie brachen Richtung Westen auf und hatten unterwegs viele Widerstände zu überwinden. Ähnliche Geschichten gibt es überall auf der Welt.
Wegen meiner Erfahrungen als Flüchtlingskind hielt ich es für selbstverständlich, etwas für die vietnamesischen Flüchtlinge zu tun, als ich hörte, dass viele von ihnen hilflos im Meer trieben. Als wir mit der Cap Anamur am 9. August 1979 ins Südchinesische Meer fuhren, um sie zu retten, sagte Heinrich Böll: «Dieses Europa des 20. Jahrhunderts ist das der Flüchtlinge.» Es stimmte, und er dachte dabei auch an Menschen wie den Dalai Lama, der bis heute auf der Flucht ist. Aber nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch das 21. Jahrhundert ist eines der Flüchtlinge. Sogar viel wesentlicher.
Die globalen Flüchtlingsströme sind nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Für mich wurde es zu einer Notwendigkeit, mich nach unserem «Feuerwehreinsatz» im Südchinesischen Meer mit dem Komitee Deutsche Not-Ärzte e.V. weiter zu engagieren, später dann mit einer neuen Hilfsorganisation, den «Grünhelmen», die als eine der ersten in Syrien humanitäre Hilfe leistete. Ich habe durch diese Arbeit eindrückliche Momente in Erinnerung. Nicht nur aus Syrien. In einem Lager für Kosovo-Albaner in der Nähe von Kukës, Albanien, schliefen wir neben den Flüchtlingen unter vergleichbaren Bedingungen in Zelten und erfuhren viel von ihren Nöten.
Die persönlichen Begegnungen zeigten mir: Es verbietet sich, Flüchtlinge einzuteilen in Wirtschaftsflüchtlinge und Nicht-Wirtschaftsflüchtlinge. Was bringen diese Bezeichnungen zum Ausdruck? Einzig und allein Grenzziehungen, die zu keinem Miteinander führen.
Statt solcher Wortklaubereien sollten wir uns darauf besinnen, dass es uns in der Vergangenheit gelungen ist, diejenigen, die zu uns kamen, aufzunehmen. Die Familie Neudeck machte bei ihrer Ankunft in Westfalen Bekanntschaft mit dem hilfreichen Institut der «Wohnungszwangsbewirtschaftung», und nach drei Wochen in einem Lager erhielten wir eine Eineinhalbzimmerwohnung in Schwerte, worüber wir unendlich glücklich waren. Bei der Cap-Anamur-Rettungsaktion gelangten über 10.000 Vietnamesen nach Deutschland, die ohne große Schwierigkeiten integriert wurden. Und während des Bosnienkriegs wurden 400.000 Bosnier aufgenommen. Wieder war das eine große Leistung von Bevölkerung und Politik.
Was seit dem September 2015 geschah und noch immer geschieht, wird unserer Gesellschaft aber weitaus mehr abverlangen. Vorherige Integrationsleistungen hatten einen überschaubaren Charakter. Als das Nachkriegsdeutschland zwischen 1945 und 1947 zwölf Millionen Flüchtlinge aufnahm, war das Land zerstört und lag am Boden, zudem hatten die Ankommenden einen vergleichbaren kulturellen Hintergrund. In unserer Wohlstandsrepublik fallen wir schon bei der Vorstellung von zwölf Millionen Menschen, die zu integrieren sind, in Ohnmacht. Eine gelingende Integration erfordert von uns wie auch von den Flüchtlingen heute völlig neue Standards im Umgang miteinander und im Denken. Flüchtlinge wollen nicht länger Almosenempfänger sein, sie wollen eine Anerkennung ihrer Rechte, sie wollen gleichberechtigt an unserer Welt teilnehmen. Dieser Prozess wird für alle nicht einfach sein.
Als die Flüchtlinge eine Zahl erreichten, die Bürokratie und Verwaltung lähmte und die Politik ins Grübeln brachte, was das wohl für den nächsten Wahlsieg bedeuten könnte, bewiesen die Deutschen Bürgersinn, Solidarität und Mitmenschlichkeit. In meinem bisherigen Leben hatte ich einen solchen Aufbruch nie zuvor erlebt. Dieses Deutschland hat eine Kraft bewiesen, die einzigartig ist.
Nur: Nach der Euphorie trat Ernüchterung ein, wobei diese ihre Berechtigung hatte, denn die Aufnahme von Flüchtlingen konnte nicht unbegrenzt fortgesetzt werden, jedenfalls nicht unter den Bedingungen einer EU, in der es keine gemeinsame Politik gibt. Die Ankunft der Flüchtlinge entwickelte sich deshalb zu einer Krise, wie es sie in dieser Form noch nie gegeben hatte. Doch das neue Problem war nicht eines von Deutschland und Angela Merkel, es war ein Weltproblem. Der Krieg in Syrien erschien anfangs weit weg, und man hatte große Camps wie Zaatari in Jordanien eingerichtet, die vom UNHCR und anderen Hilfsorganisationen geführt werden. Mit solchen Camps hat man bisher alle Krisen geregelt, so auch im Sudan und im Kongo, in Somalia und Ruanda, auf Sri Lanka und in Pakistan.
Doch es zeigte sich, dass die nationalen wie internationalen humanitären Hilfsmaßnahmen nicht mehr ausreichten. Es war richtig gewesen, die Grenzen zu öffnen, aber es gelang uns nicht, Migration vernünftig anzugehen, nicht nur auf die nächsten drei Monate zu blicken. Ja, das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Flüchtlinge, aber bei der Problembewältigung haben wir uns noch nicht an dieses angepasst.
Möglicherweise bedeutet die neue Krise, dass erst einmal gar nichts richtig geregelt werden kann. Selbst wenn sich die EU noch so sehr anstrengt, um einen Rückgang der Flüchtlinge zu erreichen, so ist der Weg mittelfristig schwierig. Auf jeden Fall wird es nicht die Agenda 2018 geben, die uns flüchtlingsfreie Verhältnisse verspricht, bayerische Obergrenzen und sonstige AfD-Verheißungen.
Es ist auch nicht damit getan, den brutalen Schleppern das Handwerk zu legen, denn es bleiben Klimawandel, Umweltverschmutzung und weltweite Ausbeutung. Doch wie kann eine gerechtere Welt entstehen? Wie können wir etwas aufbauen, das allen Erdbewohnern einen gleichen Zugang zum globalen Handelsplatz ermöglicht?
Ein Umdenken ist auch hier gefordert, damit Integration nicht nur bei uns, sondern weltweit erfolgt. Flüchtlingseinrichtungen sollten keine Abstelllager mehr sein, sondern einen Raum zum Leben bieten. Die Helfer sollten keine Helfer sein, sondern Partner. Wir müssen wegkommen vom Opferdenken. Die Krise hat nämlich damit zu tun, dass «die Verdammten dieser Erde», von denen der französische Vordenker der Entkolonialisierung, Frantz Fanon, in seinem gleichnamigen Manifest sprach, es noch immer sind: die Verdammten. Und damit muss es aufhören.
Weltweit ist für eine gelingende Integration die Menschlichkeit in den Vordergrund zu stellen – und dieses Buch soll ein Beitrag dazu sein.
I
Ende Januar 1945 rückte die Rote Armee weiter nach Westen vor, in Richtung Danzig, der Stadt, in der ich 1939 geboren wurde. Es blieb für alle nur noch die Flucht, und am besten und schnellsten schien das über die Ostsee möglich zu sein. Ich bekam von den historischen Veränderungen nicht sehr viel mit, schon gar nicht konnte ich einschätzen, was das für unsere Familie bedeutete. Ich war damals erst fünfeinhalb Jahre alt. Doch meine Mutter hatte den Verlauf des Zweiten Weltkriegs genau verfolgt, auch besaß sie den Rettungsinstinkt, über den Mütter anscheinend verfügen. Sie wusste, dass die Einnahme Danzigs bevorstand, obwohl viele um sie herum das nicht wahrhaben wollten. Sie hatte große Angst, denn sie hatte von den furchtbaren Gräueltaten gehört, von den Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen durch sowjetische Soldaten. Dieser Ruf war ihnen vorausgeeilt.
Mit dem 30. Januar 1945 hörten jedoch meine Ahnungen auf und mein bewusstes Leben begann. Die Temperaturen waren verteufelt niedrig, und meine Mutter, Gertrud Neudeck, wirkte erschöpft, ihr waren die Strapazen der vergangenen Zeit anzumerken. Sie hatte viele Vorkehrungen für den Tag getroffen, an dem wir fliehen sollten, meine Schwester, meine zwei Brüder und ich. Und jetzt war er gekommen. Dick hatten wir uns alle eingepackt, zudem trug jeder von uns ein paar Habseligkeiten, die unverzichtbar für uns waren, und dann ging es los. Von Danzig-Langfuhr aus, wo wir bislang unser Zuhause hatten, stiefelten wir bei Eiseskälte los, meist zu Fuß, manchmal hatten wir aber auch Glück und ein Fuhrwagen nahm uns ein kleines Stück mit. Ziel war Gdynia, das die Deutschen Gdingen nannten und die Nazis Gotenhafen. Es war ein Marsch von mehreren Stunden, und ich erinnere mich noch, dass wir schnell gehen mussten – wahrscheinlich taten wir das sogar automatisch, um die lausige Kälte nicht so stark zu spüren.
Endlich erreichten wir die Hafenanlagen von Gdingen, und schon von Weitem sah ich einen Onkel auf uns zulaufen. Als er bei uns war, sagte er völlig außer Atem zu meiner Mutter: «Mein Gott, Trudel, warum kommt ihr so spät, ich hatte doch Karten für dieses Schiff?» Mit «diesem Schiff» meinte er die Wilhelm Gustloff, die zwar noch am Pier lag, doch die Schlepper hielten sich schon bereit, um das Schiff in die Fahrrinne zu ziehen. Gleich würde es auslaufen, es war kurz nach zwölf Uhr mittags.
Später erfuhr ich, dass die Wilhelm Gustloff als luxuriöser Kreuzfahrtdampfer der Nazi-Organisation «Kraft durch Freude» (KdF) 1937 zu Wasser gelassen worden war, um Urlauber nach Madeira oder Norwegen zu schippern. Nach Ausbruch des Krieges wurde das Schiff zunächst als Lazarett und Verwundetentransporter benutzt, bevor es dann als Wohnschiff für eine U-Boot Lehrdivision in der Danzinger Bucht lag. Jetzt hatte die Gustloff aber nicht nur verletzte Soldaten an Bord, sondern im Rahmen des Unternehmens «Hannibal» – bei der Militärangehörige und Zivilisten zusammen evakuiert wurden – auch fast 9000 Flüchtlinge, die mithilfe von 918 Offizieren und Besatzungsmitgliedern sowie 373 Marinehelferinnen nach Kiel gebracht werden sollten. Wir waren nun nicht unter den unzähligen Flüchtlingen, wir hatten die Abfahrt verpasst.
Und so standen wir da am Hafen von Gdingen, eine Familie ohne Vater. Einen Vater gab es schon, doch Edmund Neudeck war als Wehrmachtsmeteorologe im äußersten Norden unterwegs, wo genau, das wussten wir nicht. Meine Mutter war allein mit uns vier Kindern, meine Schwester Ingrid war mit ihren zehn Jahren die Älteste, nach mir folgte Rainer, der zwei Jahre jünger war als ich, dann kam Veit mit anderthalb. Vor der Flucht hatte er schon stehen können, doch der lange Marsch bei Minustemperaturen hatte ihn so geschwächt, dass er nur noch in den Armen meiner Mutter lag, die Augen völlig verdreht.
Wir waren aber nicht die Einzigen, die das Schiff versäumt hatten oder gar nicht erst mitgenommen worden waren, weil es keinen Platz mehr auf der Gustloff gegeben hatte. Tausende Menschen sammelten sich in der Danziger Bucht, die alle auf ein Schiff wollten und somit raus aus der Hölle des furchtbarsten Krieges, den die Menschheit erlebt hat und den wir Deutsche zu verantworten haben.
Nach einigem Hin und Her wurden wir Neudecks auf ein Schiff gebracht, das normalerweise Kohlen als Frachtgut mit sich führte. Es war sehr primitiv, kein Vergleich zum Kreuzfahrtdampfer, aber wir älteren Kinder okkupierten es augenblicklich als Spielplatz und tollten im Bauch des Transporters herum. Ein Arzt warnte jedoch unsere Mutter: «Sie sollten wieder von Bord gehen. In der kommenden Nacht kann es minus 20 Grad werden, und das Schiff wird nicht geheizt. Es besteht die Gefahr, dass Sie und Ihre Kinder erfrieren.»
Meine Mutter entschied, das Schiff zu verlassen. Wir Kinder fanden das schade, denn uns hatte das Herumlaufen unter Deck gefallen. Wir schafften es, in einem Seemannsheim unterzukommen, gerade noch rechtzeitig, bevor die Nacht hereinbrach. Als wir eintraten, umhüllte uns eine wohlige Wärme, die von einem böllernden Ofen herrührte. Da erst merkten wir, wie durchgefroren wir waren. Herrlich, diese beißende Hitze. Wir erhielten etwas zu essen, legten uns auf Decken, alles schien unter den chaotischen Umständen einigermaßen friedlich abzulaufen.
Irgendwann aber schreckten wir auf, denn unter den Flüchtlingen im Seemannsheim war auf einmal Bewegung entstanden. Eine Nachricht über Funk hatte alle in Bestürzung versetzt: Es hieß, um 21:16 Uhr sei die Gustloff von drei Torpedos getroffen worden, abgefeuert von einem sowjetischen U-Boot. Das Schiff würde sinken, denn die Treffer hätten das Vorschiff und den Maschinenraum zerstört, Wasser sei eingedrungen. Jeder im Heim stellte sich die Panik vor, die an Bord ausgebrochen sein musste. Würden es überhaupt alle schaffen, in ein Rettungsboot zu gelangen? Keiner konnte sich das vorstellen, denn es war ja bekannt, dass das Schiff völlig überfüllt ausgelaufen war. Für viele Passagiere blieb wohl nur der Sprung in die eiskalte Ostsee übrig. Wie lange kann ein Mensch im extrem kalten Meer treiben?, überlegte ich. Ich sah Köpfe, die aus dem dunklen Meer herauslugten. Ich fror zunehmend, da half auch der böllernde Ofen nicht. Ähnlich zitterte ich wieder, als ich von den Boatpeople im Südchinesischen Meer vernahm, als die verzweifelten Flüchtlinge im Mittelmeer trieben, ohne Schwimmwesten, ohne Aussicht auf Rettung.
Schließlich sagte jemand, die Gustloff sei in den Fluten der Ostsee versunken. Eine schmerzhafte Stille machte sich breit. Ich hoffte, dass dennoch möglichst viele Menschen gerettet werden konnten, vielleicht waren Schiffe in der Nähe, die die im Wasser um ihr Leben kämpfenden Passagiere aufnehmen konnten. So war es auch, aber letztlich hatten nur 1252 Menschen überlebt, alle anderen waren zusammen mit dem Schiff untergegangen. Wir Neudecks wären diesem schrecklichen Schicksal ebenfalls ausgeliefert gewesen, wären wir nur schneller vorwärtsgekommen.
Wenn ich im Januar 1945 auch noch sehr jung war, so war es ein Miterleben und Mitzittern in dem Seemannsheim, das mich fortan dazu brachte, mich wieder und wieder mit diesem Drama auseinanderzusetzen. Die Filme und Fernsehberichte, die ich mir über das Unglück anschaute, die Bücher, die ich dazu las, sie verstärkten nur das Gefühl eines nachträglichen Beteiligtseins. Das Schicksal der Flüchtlinge gehörte zu meinem Leben, und, ehrlich gesagt, ich wollte es auch gar nicht anders haben.
Vier Kapitäne hatten sich an Bord befunden, untereinander waren sie sich nicht einig gewesen, welche Route sie auf ihrer Fahrt nach Kiel wählen sollten, wobei allen klar war, dass sich sowjetische U-Boote in der Nähe befanden. Korvettenkapitän Wilhelm Zahn schlug flachere Gewässer vor, er war der Meinung, dass sich hier keine U-Boote hineinwagen würden. Am Ende entschied man sich jedoch für eine andere Strecke, für eine, die Kapitän Friedrich Petersen vorgegeben hatte. Nach seiner Order sollte die Gustloff durch tiefere Gewässer steuern, nördlich vorbei an der Stolpe-Bank, einer bekannten Untiefe in der Ostsee. Angesichts der Überladung durch die vielen Flüchtlinge sei das besser, so Petersen. In flacheren Gewässern könne das Schiff auf Grund laufen. Die beiden anderen Kapitäne waren junge «Fahrkapitäne», die der dreiundsechzigjährige Petersen an seine Seite genommen hatte, da er noch nie einen solchen Giganten wie die Gustloff manövriert hatte. Was sie zu dem Disput von Zahn und Petersen beizutragen hatten, ist nicht überliefert, denn ihre Ansichten zählten nicht wirklich.
Der dritte Offizier, so erfuhr ich bei meinen Recherchen über diese tragische Nacht, wollte sich um 21:11 Uhr einen Cognac in seiner Kabine gönnen. Ruhe war eingekehrt auf dem 20.000-Tonnen-Schiff, dem bei seinem Stapellauf weltweit größten Kreuzfahrtschiff. Über 200 Meter war die Gustloff lang, an Bord gab es ein Schwimmbad und einen Kinosaal. Die meisten Passagiere hatten sich wohl mit dem Gedanken schlafen gelegt: Wenn wir aufwachen, sind wir dem Ziel unserer Flucht ein großes Stück näher gekommen. Sie werden sich, so überlegte ich, zum ersten Mal seit vielen Monaten sicher gefühlt haben. Heinz Schön, der damals auf der Gustloff die Flüchtlinge, so gut er konnte, registriert hatte, sollte später sagen: «Viele sollten nie mehr aufwachen. Der Tod hat sie im Schlaf überrascht.» Bei den Mittelmeer-Flüchtlingen ist es kaum anders gewesen, wenn sie denn auf den überfüllten Booten überhaupt haben schlafen können. Im Sitzen oder Stehen wird das kaum möglich gewesen sein.
Während der dritte Offizier sich nach dem Cognac sehnte, wollten sich Kapitän Petersen und Korvettenkapitän Zahn noch zu einer warmen Erbsensuppe in der Kabine des Ersten Offiziers zusammensetzen. Die Gustloff befand sich in der Nähe von Stolpmünde (Ustka) auf der Position 55 Grad 7,5 Nord und 17 Grad 42 Ost. Viel später würde ich auf der Cap Anamur die Bedeutung einer solchen Position verstehen lernen.
Begleitet wurde der KdF-Koloss von dem Torpedoboot Löwe, es sollte in einem Abstand von 400 Metern vorausfahren und auf U-Boote achten. Aber dessen Ortungsgerät war durch Vereisung ausgefallen.
Während Petersen und Zahn auf ihre Erbensuppe warteten, wurden auf der Ostsee, nicht weit von der Gustloff entfernt, vier Torpedorohre des sowjetischen U-Boots S-13 unter Kapitän Alexander Marinesko feuerbereit gemacht. Auf die Minute genau um 23:00 Uhr Moskauer Zeit nahm die S-13 Schussposition ein. Marinesko hatte befohlen, die Bugtorpedos für den Überwasserangriff klarzumachen und auf eine Tiefe von drei Metern einzustellen. «Feuer!» Auf der Gustloff erfolgten hintereinander drei heftige Stöße. Dem Kapitänsteward fiel das Tablett mit der Suppe und den Cognacgläsern aus den Händen. «Hilfe! Wir sinken!» Dieser Schrei setzte sich von einem Deck zum nächsten bis zur Kommandobrücke fort.
Tonnenweise lief Ostseewasser in den Schiffsleib ein, das Unglück war mehr als offensichtlich. Alle hatten nur noch ein Ziel – ihr Leben zu retten. In der ausbrechenden Panik rissen sich Menschen gegenseitig von mühsam erreichten Treppenstufen herunter, trampelten andere zu Boden, stiegen erbarmungslos über noch lebende oder schon tote Körper. Jeder war auf der Suche nach Schwimmwesten. Die Hoffnung lag bei den Funkern, wenn es ihnen noch gelingen konnte, rechtzeitig SOS-Rufe abzusetzen – vielleicht befanden sich einige deutsche Schiffe in der Nähe und konnten helfen.
Unfassbare Szenen spielten sich ab. Eine Hochschwangere lag auf der Geburtshilfestation, als sie das Krachen der Explosionen hörte. Der Geburtshelfer, Marineoberstabsarzt Dr. Helmut Richter, sagte zu der in Schockstarre Liegenden: «Seien Sie ruhig, in einer Stunde ist alles vorbei.» Die werdende Mutter lag unter einer Decke, die Hände zum Gebet gefaltet: «Gott hilf mir … Gott hilf mir.»
Als ich Ende der Siebzigerjahre Redakteur beim Deutschlandfunk war, traf ich mich mit dem dritten Offizier der Wilhelm Gustloff und weiteren Überlebenden, darunter Heinz Schön, um mit ihnen Interviews für eine Sendung zu machen. Schön hatte ein gut dokumentiertes Buch über die Gustloff-Katastrophe geschrieben: Tatsachenbericht eines Überlebenden. Seit dieser Sendung trage ich die Gewissheit in mir, dass das Los von Flüchtlingen, die es in kleinen oder größeren Booten aufs Meer hinausgejagt hat, am schwersten ist. Dass man torpediert werden und in eisigen Fluten untergehen kann, hat sich mir als entsetzliches Menschheitsschicksal tief eingegraben.
Für uns Neudecks hatte die eigene Flucht aber erst begonnen. Hat Michail Gorbatschow, der sowjetische Staatslenker, noch beim Staatsjubiläum der DDR am 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin gesagt: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!» – dem Honecker-Staat lief gerade das Volk weg –, so hatten wir schon viel früher unser eigenes Lebensmotto kreiert: «Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben.»