Nr. 2882
Die letzte Transition
Sie sind die Eroberer des Universums – aber nur in ihrer eigenen Wahrnehmung
Hubert Haensel
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Journal
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Im Januar 1519 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) veränderte sich die Situation in der heimatlichen Milchstraße grundlegend: Die Herrschaft des Atopischen Tribunals, das aus der Zukunft agiert, wurde abgeschüttelt. Gleichzeitig endete der Kriegszug der Tiuphoren, die aus der Vergangenheit aufgetaucht waren. Als eine Folge dieser Ereignisse werden die Milchstraße und die umliegenden Sterneninseln künftig frei sein, was den Einfluss von Superintelligenzen und anderen kosmischen Mächten angeht.
Der Mausbiber Gucky ist mit dem Raumschiff RAS TSCHUBAI auf der Spur der Tiuphoren, die der »Ruf zur Sammlung« in deren Heimat Orpleyd zurückbeordert hatte – und mit ihnen Perry Rhodan.
Tatsächlich ist Perry Rhodan zusammen mit der Larin Pey-Ceyan der Gewalt der Tiuphoren entkommen. Behilflich dabei war ihnen der Leiter des TLD und Gestaltwandler Attilar Leccore. Gemeinsam sind die drei nun auf dem Weg zur Ursprungswelt der Tiuphoren. Nun naht DIE LETZTE TRANSITION ...
Perry Rhodan – Der Terraner stellt einen Erstkontakt her.
Pey-Ceyan – Die Lebenslichte muss tun, was notwendig ist.
Attilar Leccore – Der Gestaltwandler lernt fremde Kulturen kennen.
Vac – Der Kommodore ist von der Zukunft überzeugt.
Tomrurd – Der Wissenschaftler baut an der Zukunft.
Die tiuphorische Jacht mit dem terranischen Namen ODYSSEUS stürzte aus dem Hyperraum zurück.
In Perry Rhodans Nacken explodierte ein grauenvoller Schmerz, als würde sein Innerstes nach außen gekehrt. Zugleich zerriss ein gellender Schrei die Stille. War es Pey-Ceyan, die schrie? Rhodan hätte es nicht zu sagen vermocht. In seinen Schläfen rauschte das Blut; das Herz schlug heftig und unregelmäßig.
Der Entzerrungsschmerz der Transition hielt an. Mit aller Kraft kämpfte der Terraner darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Er klammerte sich an das Geschehen der letzten Tage wie ein Ertrinkender an den rettenden Ast, der ihm hingehalten wurde. Mit wachsender Entfernung zum Sterngewerk CIPPACOTNAL war seine zurückgewonnene Freiheit deutlicher geworden. Doch diese Freiheit glich schillernd im Wind treibenden Seifenblasen – die ersten zerstäubten schon in einem Meer bunter Schlieren ...
... und für Sekunden glaubte er, die Sterne der Galaxis Orpleyd vor sich zu sehen. Sie erschienen ihm grau. Dunkel. Lichtlos. Wie vage Schatten im Schwarz des Weltraums.
Perry Rhodan fror. Seine Gefühle verwehten, die Gedanken verloren sich im Nichts.
Wir haben hoch gepokert – und verloren.
Im Nachhinein wurde ihm deutlich, welche vielfältigen Möglichkeiten die Mnemo-Präsenz ihm, Attilar Leccore und Pey-Ceyan geboten hätte. Er empfand grenzenloses Bedauern. Vielleicht hätten sie eines Tages die Entwicklung aus dem Catiuphat heraus steuern können, aus der Gesamtheit aller Sextadim-Banner. Die Erinnerung schlug wie eine Flutwelle über ihm zusammen und riss ihn mit sich; er sehnte sich geradezu danach, wieder in die Geschichte der Tiuphoren einzutauchen.
Doch die Entscheidung war in der Sekunde gefallen, in der sein Geist in den angestammten Körper zurückgekehrt war, in dieses verletzliche Gefängnis aus Fleisch und Blut.
Der Schmerz wurde stärker. Dunkelheit umfing ihn – dann erloschen seine Wahrnehmungen.
*
Ich schwebe im Nichts.
Vielleicht nahm diese Erkenntnis eine halbe Ewigkeit in Anspruch, womöglich war sie nur das Ergebnis eines kurzen Augenblicks.
Wo?
Eine einfache Frage. Sie war plötzlich da. Nur gab es keine Antwort darauf – oder unendlich viele.
Wann?
Das Thema Zeit erschien ihm wie ein Missklang. Es löste Unbehagen aus und unterschwelligen Schmerz – ein Gefühl, als würde nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war.
Sein Puls raste. Ein tobendes, vom Nacken ausstrahlendes Brennen raubte ihm alle Kraft. Nur die Gurte hielten ihn im Sessel.
Perry Rhodan kannte solche Momente, obwohl sie überwiegend einige Jahrtausende zurücklagen. Der Entzerrungsschmerz einer missglückten Transition konnte extrem heftig sein und klang oft nur langsam ab.
Er biss die Zähne zusammen und versuchte, sich wieder aufzusetzen. Ebenso mühsam öffnete er die von Schweiß und Tränen verklebten Augen.
Eine Weile verharrte er in einigermaßen aufrechter Haltung und massierte sich mit beiden Händen den Nacken. Er blickte dabei auf die gewölbte Glasfront des Cockpits, die freie Sicht in den Weltraum erlaubte. Zu sehen waren nur wenige verwischt wirkende Sterne. Sie wurden erst deutlicher, als Rhodan einige Male die Augen zusammenkniff.
Einblendungen auf der Sichtkuppel bestätigten ihm, was er ohnehin wusste: Die letzte Transition der ODYSSEUS war fehlgeschlagen!
Er öffnete das Rückhaltesystem des Sessels. Etwas zu hastig kam er auf die Beine und hatte dabei das Gefühl, dass er sich die Wirbelsäule stauchte. Sekundenlang musste er sich festhalten.
Attilar Leccore saß im Pilotensitz zu seiner Rechten. Auf der anderen Seite des Koda Aratiers hing die Larin Pey-Ceyan bewusstlos in den Gurten.
Rhodan verdankte es den belebenden Impulsen des Aktivatorchips, dass er bereits auf den Beinen war. Allerdings widmete er sich etwas zu hastig den Kontrollen, denn schon kurz darauf drehte sich alles um ihn herum.
Mehrere tiefe Atemzüge beruhigten sein aufgewühltes Inneres. Zögernd berührte er die ersten Schaltflächen. Einzelne Felder erloschen, andere leuchteten auf, aber die Ortung reagierte nicht. Erst sein zweiter Versuch brachte den erwünschten Erfolg. Die Plasmatronik der Jacht schaltete auf Notfallsysteme um, in der Sichtscheibe erschienen die ersten Werte der Nahbereichserfassung. Perry Rhodan empfand es als erstaunlich, wie schnell die Tiuphoren der CIPPACOTNAL manche der technischen Neuerungen ihrer Brüder aus der SHEZZERKUD übernommen hatten.
Er schürzte die Lippen. Es gab keine Himmelskörper im näheren Umkreis, die das Potenzial gehabt hätten, die ODYSSEUS schwer zu beschädigen. Ebenfalls keine Raumschiffe. Das Sterngewerk CIPPACOTNAL hatte es demnach nicht geschafft, der Jacht zu folgen.
*
Ein Stöhnen erklang neben ihm. Rhodan wurde in der Sprache der Tiuphoren angesprochen. Er verstand wenig davon, weil die Worte zu schnell kamen und zudem mit Begriffen aus anderen Sprachen vermischt waren. Rhodan glaubte, Interkosmo ebenso herauszuhören wie ein Idiom, das ihn schier elektrisierte: TraiCom – die lingua franca der Terminalen Kolonne TRAITOR!
Attilar Leccore redete hastig. Das TraiCom galt ebenso als seine Grundsprache wie Interkosmo. Leccore war der Nachkomme eines Koda Aratiers, der aus der Terminalen Kolonne der Chaosmächte ausgeschieden war.
Für einen Moment erwartete Rhodan, Leccore in der Originalgestalt eines Koda Aratiers zu sehen. Doch das war nicht der Fall. Womöglich hätte er deutlich mehr Zeit benötigt, um sein ursprüngliches Wesen zu zeigen. Wenn überhaupt. Der Gestaltwandler war als Terraner aufgewachsen und hatte sich stets als solcher gefühlt. Bisher jedenfalls. Mittlerweile war sich Rhodan dessen nicht mehr sicher. Zu lange schon verkörperte er einen Tiuphoren, als dass dies folgenlos bleiben konnte.
Attilar Leccore taumelte zwischen zwei Existenzen und schien es selbst gar nicht wahrzunehmen. Auf Rhodan wirkte er wie in einem Albtraum gefangen, als schaffte er es nicht, sich daraus zu lösen.
Leccores Stimme wurde lauter – und verstummte kläglich wimmernd. Entgeistert blickte er Rhodan an.
»Ich kenne ... dich. Solltest du nicht ... im Banner der CIPPACOTNAL ...?« Er sprach Interkosmo, vermischt mit dem Idiom der Tiuphoren. Beides erklang gleichzeitig, weil zwei Münder gemeinsam redeten.
Für Perry Rhodan entstand der Eindruck, als überlagerten sich zwei Personen.
Da war der Attilar Leccore, den er kannte, ein stämmiger Terraner, in dessen rundliches Gesicht sich längst kleine Lachfalten eingegraben hatten. Eine gewisse Nachdenklichkeit haftete ihm ebenso an, und das angegraute, schüttere Haupthaar beförderte den Eindruck eines freundlichen Menschen.
Da war außerdem der Tiuphore Paqar Taxmapu, das Schiffsorakel der CIPPACOTNAL. Seine hermaphroditischen Züge wirkten weich und hart zugleich. Die tief liegenden Augen, die kaum sichtbaren Nasenschlitze sowie der schmale, verkniffen wirkende Mund und die rötliche Haut verstärkten den Eindruck des Geheimnisvollen.
Während Rhodan hinsah, trat Leccores menschliche Physiognomie in den Vordergrund.
Ihn schwindelte, denn für Sekunden gewann er den Eindruck, von vier Augen gemustert zu werden – Augen, die einander teils überlappten wie bei einer schlecht justierten Holoprojektion. Rhodan senkte den Blick. Er sah Leccore mit einer menschlichen Hand nach dem Öffnungsmechanismus der Gurte greifen, während der andere Arm weiterhin der eines Tiuphoren zu sein schien.
Gleich darauf gewann Attilar Leccore vollends sein menschliches Aussehen zurück. Nur das mittlerweile fleckige Rot der Haut wirkte deplatziert ... und dann sackte er überraschend in sich zusammen. Rhodan reagierte gerade schnell genug, ihn aufzufangen.
Attilar Leccore war wieder ganz der Terraner, der er stets gewesen war. Niemand, der sein Geheimnis nicht kannte, würde je auf den Gedanken kommen, einen Gestaltwandler vor sich zu haben.
*
Die ODYSSEUS hatte nicht nur das Aussehen, sondern drehte sich nach dem Rücksturz sogar wie ein geworfener Bumerang. Langsam zogen die Wolken stellaren Staubs von Orpleyd und einige wenige Sterne jenseits der Frontverglasung vorbei. Die Jacht hatte eine Spannweite von etwa 220 Metern, war an die fünfzig Meter hoch und maß an der breitesten Stelle um die vierzig Meter. Die Halbkugel der Kommando-Hemisphäre, die Perry Rhodan als Cockpit bezeichnete, bildete den Mittelpunkt im Bugbereich.
Attilar Leccore befasste sich bereits wieder mit den Kontrollfunktionen.
Vor zwei Minuten hatte Pey-Ceyan verwirrt die Augen geöffnet. Rhodan half ihr, den Transitionsschock vollends zu überwinden. Er hatte einen Becher mit Wasser gefüllt und reichte ihn der Larin. Leicht zitternd nahm sie den Becher mit beiden Händen entgegen, dann trank sie langsam und schluckweise.
Rhodan erwiderte ihr Lächeln. Es war unverkennbar, dass die so merkwürdig anziehende junge Frau Schmerzen litt. Immer wieder verzog sich ihr volles Gesicht zur Grimasse. Pey-Ceyan biss sich dann auf die wulstige Unterlippe, und ihre vier Nasenlöcher blähten sich. Kurz darauf wechselte der Ausdruck und sie wirkte flehend. Perry Rhodan fühlte sich in diesen Momenten versucht, die Lebenslichte in die Arme zu nehmen und ihr mit körperlicher Nähe über die Nachwehen der Transition hinwegzuhelfen.
Er tat es nicht. Weil die Larin sich aus dem Sessel schwang und zur Frontscheibe ging. Erst dicht vor dem nach außen gewölbten Bereich hielt sie inne. Mit einer Hand tastete sie über das Glas. Es wirkte, als schöbe sie die nahezu zeitgleich entstehenden grafischen Einblendungen und Skalen zur Seite. Dieser Effekt entstand, weil die Plasmatronik die Projektionen versetzte, damit sie vom Platz des Piloten aus sichtbar blieben.
Eine schroffe Kunststimme forderte, jede Störung des Flugbetriebs zu unterlassen. Rhodan registrierte, dass Pey-Ceyan nicht unmittelbar angesprochen wurde. Das Bordgehirn der ODYSSEUS beließ es bei einer allgemeinen Mahnung.
Attilar Leccore lachte hell auf. »Der Flugbetrieb ist ohnehin schon beträchtlich gestört«, erkannte er. »Ob Pey-Ceyan irgendwelche Skalen oder Abbildungen verdeckt oder nicht, spielt keine Rolle.«
»Wie schlimm ist es?«, fragte Rhodan. »Haben wir ein Problem?«
»Eines?« Leccores Gegenfrage klang amüsiert. »Ja, natürlich. Aber ein ziemlich großes.«
Rhodan fasste nicht nach. Ihm war klar, dass der Gestaltwandler es keineswegs bei dieser nichtssagenden Erwiderung belassen würde. Leccore hatte Grund, sich zunächst auf die Kontrollen zu konzentrieren. Die Einblendungen in der Sichtfront veränderten sich derart schnell, dass es unmöglich wurde, den Darstellungen wenigstens halbwegs zu folgen.
Ein Aufriss zeigte im Rumpf eingebettete Leitungen und Induktionsknoten und schälte Schicht um Schicht ab. Für kurze Zeit waren bizarr verzweigte Aggregate in den Flügelenden des Schiffes zu erkennen, dann drang die Analyse tiefer vor.
»Wir werden hier nicht so schnell wegkommen«, behauptete Leccore tonlos. »Eine neuerliche Transition sollten wir vorerst nicht in Erwägung ziehen.«
»Die Analyse zeigt die Aktoren. Wie stark sind sie beschädigt?«
Leccore hob die Schultern. »Die Plasmatronik analysiert noch, Perry. Das gefällt mir nicht.«
»Wir werden uns auf einen längeren unfreiwilligen Aufenthalt einrichten müssen?«
»So sehe ich es, ja. Wir hätten den Flug eher unterbrechen sollen. Aber wie sagt man auf Terra so schön?«
»Im Nachhinein sind alle klüger.« Rhodan seufzte. »Die Redewendung hat seit über drei Jahrtausenden Gültigkeit, und das wird in weiteren dreitausend Jahren nicht anders sein.«
»Weil jeder im Voraus hofft, was er tut, würde schon gut gehen?«, mischte sich die Larin ein. »Warum hat keiner von euch diese Weisheit vorher genannt? Dann hätte ich ...« Pey-Ceyan verstummte im Satz. Mit beiden Händen wühlte sie durch ihre wuchtige rote Haarpracht.
»Hättest du anders entschieden?«, wollte Perry Rhodan wissen.
In drei Tagen hatte die Jacht an die fünftausend Lichtjahre zwischen sich und die CIPPACOTNAL gebracht. Die letzten Transitionen waren jeweils über kürzere Entfernungen programmiert worden, weil die Aktoren Unregelmäßigkeiten gezeigt hatten. Allerdings hatte nichts auf den bevorstehenden Ausfall hingedeutet.
»Was wäre geschehen, wenn wir vor tausend oder tausendfünfhundert Lichtjahren den Weiterflug unterbrochen hätten?«, fuhr Rhodan fort. »Hätten wir das Antriebsproblem gelöst? Trotz der stets präsenten Befürchtung, das Sterngewerk könnte uns aufspüren?«
»Ist das mittlerweile anders?«, fragte Pey-Ceyan sachlich kühl. »Falls Maxal Xommot uns folgt, wird er uns hier wie da aufspüren.«
»Gestern hätten wir uns selbst die Schuld an einem solchen Scheitern geben müssen«, sagte Attilar Leccore. »Jetzt hingegen können wir die Verantwortung auf die schadhaften Aktoren schieben. Das ist terranische Logik, meine Liebe.«
Er lachte schallend, weil Pey-Ceyan die Augen zusammenkniff und ihn forschend ansah. »Manchmal sind mir die Terraner unbeschreiblich fremd«, sagte sie.
Rhodan klatschte auffordernd in die Hände. »Damit das nicht so bleibt, kümmern wir uns sofort um die Aktoren. Attilar, hat die Plasmatronik die Ursache eingegrenzt?«
»Sie gibt drei Hinweise auf technische Defekte. Und die Analyse läuft weiter ...«
»Schön«, sagte Rhodan.
»Einfach nur schön«, ergänzte Leccore. Sein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.
*
Sogar in den Maschinenräumen der Jacht offenbarte sich die Vorliebe der Tiuphoren für enge und asymmetrische Räume. Perry Rhodan hatte Mühe, den Anschluss an Attilar Leccore nicht zu verlieren, der sich geschmeidig vor ihm den Weg zu den defekten Wechslern suchte. Obwohl sie sich in der Statur durchaus ähnlich waren, kam der andere in dieser Umgebung merklich schneller voran. Rhodan sah darin einen Hinweis darauf, wie sehr sich der ehemalige Leiter des Terranischen Liga-Dienstes schon dem Dasein als Tiuphore angepasst hatte.
Hintereinander erklommen sie die Sprossen in einem engen Schacht. Die wechselseitig versetzten Haltegriffe ermöglichten es, sich einigermaßen schnell in die Höhe zu ziehen.
Obwohl Perry Rhodan geraume Zeit nur als Bewusstsein im Catiuphat existiert hatte und sein Körper konserviert gewesen war, fühlte er sich nicht beeinträchtigt. Dass er trotzdem hinter Leccore zurückblieb, stachelte seinen Ehrgeiz an.
»Wir haben's gleich geschafft!«, rief Leccore über ihm. »Dann können wir das erste Problem beheben.«
Das erste von einem halben Dutzend, und wahrscheinlich eines der einfachsten.
Letzten Endes ist es egal, welche Bereiche zuerst instandgesetzt werden, dachte Rhodan. Bekommen wir auch nur eines nicht in den Griff, sitzen wir vorerst fest.
Er sah nach oben. Leccore hatte das Ende des Schachtes fast erreicht. Mit der linken Hand hielt er sich an einem Griff fest, mit der rechten fasste er hinter sich und öffnete eine Luke. Mutete das schon wie eine Geschicklichkeitsübung an, verrenkte er sich erst recht bei dem Versuch, die enge Luke zu überwinden. Rhodan wusste aus dem Plan, den das Bordgehirn als Holodatei ausgegeben hatte, dass der Weg hinter der Luke in einer Spiralwindung weiterführte.
Bequem war anders. Auch auf terranischen Raumschiffen waren Wartungszugänge nicht immer komfortabel. Aber Terraner bevorzugten wenigstens geradlinige Strukturen.
Attilar Leccore bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines tiuphorischen Technikers. Rhodan schaffte es ebenfalls, nur kostete es ihn einige Mühe, bis er sich endlich rückwärts die Spirale hinaufschieben konnte.
Vor dem Ausstieg hielt er sekundenlang inne. Ein eigenartiges Aroma hing in der Luft. Ein Hauch von Gin. Vielleicht war es nur Einbildung, oder die defekten Aggregate über ihm verströmten diesen Geruch. Rhodan stufte ihn trotzdem als die kaum wahrnehmbare Ausdünstung eines Tiuphoren ein.
»Lass dir helfen, Perry. Wir Menschen sind nicht diese Enge gewöhnt.« Leccore beugte sich über den Schacht. Seine Hände schlossen sich um Rhodans Oberarme und zogen ihn nach oben.
»Danke«, sagte Perry, als sie Augenblicke später in einer Wandnische standen, die ihnen beiden gerade ausreichend Platz bot. Das Aroma von Gin war verflogen. Ein ganz schwacher Hauch hing vielleicht noch in der Nische, aber ebenso gut mochte er sich das einreden.
»Was ist?«, drängte Leccore.
Rhodan schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, wie es mit den Reparaturen weitergehen soll. Wir haben nicht einmal begonnen.«
»Ach so.« Leccore schmunzelte. »Den schwierigsten Weg hast du immerhin schon hinter dir.«
Die Nische bestand aus metallisch geprägten Elementen. Auf Rhodan wirkten sie wie die Teile eines exotischen Puzzles mit sehr unebener Struktur. Hin und wieder huschten schwache Lichtblitze über einen Teil der Elemente und ließen holografische Strukturen sichtbar werden. Leccore berührte einige dunkel bleibende Teile, Augenblicke später schob sich die Rückwand zur Seite und gab den Weg frei in ein Segment der Antriebsaggregate.
Dieser Abschnitt maß nicht einmal zehn Quadratmeter und verlor sich in sechs bis sieben Metern Höhe in flirrender Düsternis.
Kupferfarbene Röhren ragten auf. Rhodan erinnerten sie an Orgelpfeifen, die in Bündeln von unterschiedlicher Stückzahl beieinander standen. Die dicksten von ihnen, dreißig bis vierzig Zentimeter durchmessend, waren kaum mannshoch. Alle dünneren ragten höher auf, einige verschwanden in der Düsternis. Alle wiesen eine klar eingeprägte Struktur auf, die jedoch erst deutlich wurde, sobald flackernde Helligkeit in den Röhren aufstieg.
Zwischen den Röhrenbündeln war nicht viel Platz. Rhodan stand zum ersten Mal im Bereich der energetischen Gleichrichter eines tiuphorischen Raumschiffs. Attilar Leccore hatte der Plasmatronik alle nötigen Informationen entlockt. Mit dem eigentlichen Triebwerk hatte dieser Sektor noch wenig zu tun, er diente lediglich dazu, die Peripherie der Aktoren zu versorgen.
Suchend schaute Rhodan an den Röhren empor. In unterschiedlicher Höhe entdeckte er schwarz verbrannte Abschnitte.
»Wir müssen sie nicht austauschen«, erklärte Leccore. »Es genügt, das neue Material blasenfrei aufzubringen.«
Ungefähr zwei Stunden würde ein versierter Techniker für die Reparatur benötigen. Rhodan war zuversichtlich, dass Leccore und er es gemeinsam ungefähr in derselben Zeit schaffen konnten.
Die fortwährenden Lichtreflexe machten es schwer, die Staufächer zu finden. Trotzdem zog Rhodan schon nach wenigen Minuten zwei Arbeitsantigravs hervor, rechteckige, etwa eine Handspanne breite und doppelt so lange Platten. Sie wurden aktiv, sobald er mit beiden Füßen auf ihnen stand, die Steuerung erfolgte mit dem ganzen Körper über Gewichtsverlagerung.
Nach anfänglichen Balanceschwierigkeiten hatte Rhodan den Dreh raus.
Leccore reichte ihm ein Bündel von Reparaturfolien.
Augenblicke später schwebten die beiden Terraner an einigen dünnen Säulen in die Höhe. Für einen Moment reagierte Rhodan irritiert. Er war sicher, dass die Säule, als er sie abschätzend in Augenschein genommen hatte, nur drei schwarze Stellen aufgewiesen hatte. Nun waren es vier. Was immer die Schäden verursacht hatte, der Vorgang war keineswegs zum Stillstand gekommen.
»Attilar ...«
»Du hast es ebenfalls bemerkt?«
»Was immer da geschieht, es gefällt mir nicht.«
»Vielleicht hört es auf, sobald wir alle Fehlstellen korrigiert haben.«
Mit einem Ruck stoppte Rhodan die kleine Antigravplatte und verharrte vor einem der schadhaften Abschnitte. Nicht einmal aus der Nähe waren Unterschiede in der Materialstruktur der Röhre zu erkennen. Lediglich die scharf abgegrenzte Schwärze ...
Der Fleck wuchs. Perry Rhodan sah es deutlich vor sich. Rings um den verbrannt wirkenden Bereich bildete sich ein grauer Saum. Das Grau wurde dunkler. Einen Lidschlag später war es schwarz.
»Wir sollten uns beeilen, Attilar!«
Rhodan legte eine der Reparaturfolien über den Fleck und drückte sie fest. Das Material der Röhre fühlte sich gleichmäßig hart an, es gab keinen Unterschied zwischen den lichtdurchlässigen und den ausgebrannten Bereichen.
Es dauerte nur Sekunden, dann übertrug sich die Struktur des Untergrunds auf die Folie. Kaum fanden alle Rillen und Erhebungen Anschluss an ihre Umgebung, verschwand die Schwärze. Obwohl Rhodan sich bemühte, konnte er den Übergang nicht mehr erkennen.
Er nickte zufrieden.
»Es klappt!«, erkannte Attilar Leccore.
Perry Rhodan schwebte da schon ein Stück höher und nahm die zweite Folie in die Hand.
*
Er spürte, dass er nicht länger allein war. Dieses Gefühl hatte ihn aus tiefem Schlaf aufgeschreckt, dennoch bemühte er sich, ruhig und gleichmäßig weiterzuatmen.
Jemand war in seine Unterkunft eingedrungen. Jemand, der es verstanden hatte, die selbsttätig reagierende Beleuchtung zu unterdrücken.
Rhodan war klar, dass weder Pey-Ceyan noch Attilar Leccore dafür infrage kamen. Aber wer außer ihnen befand sich an Bord der ODYSSEUS? Sie waren nur zu dritt. Hatten sie einen Tiuphoren übersehen?
Ein leises Knacken erklang. Gleich darauf wieder, sogar ein wenig herzhafter.
Perry Rhodan hielt den Atem an. Er kannte dieses Geräusch. Es entstand, wenn sich ein Nagezahn genüsslich in eine Mohrrübe bohrte und mit leichtem Druck einen Bissen abbrach.
Gucky?
Er stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Sofort wurde es hell.
Ein pelziges Gesicht blickte ihm grinsend entgegen. Vergnügt klatschte sein Besucher mit dem platten Biberschwanz auf den Boden. Wie eine Trophäe streckte ihm der Mausbiber die Hand mit der Mohrrübe entgegen.
»Es war schwer, dich zu finden, Perry.« Der Kleine seufzte. »Bevorzugst du neuerdings die Einsamkeit?«
»Es sind nur acht Lichtjahre bis zum nächsten Sonnensystem.«
Gucky grinste eine Spur breiter. Er kaute genussvoll.
»Nur!,« sagte er betont. »Das ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig – oder umgekehrt. Wie auch immer. Aber das meinte ich gar nicht.«
»Sondern?« Rhodan wollte sich vollends aufsetzen, doch er schaffte es nicht. Wie gebannt betrachtete er den Freund. Der Ilt begleitete ihn nahezu von Anfang an auf seinem Weg zu den Sternen. Was hatten sie nicht alles miteinander erlebt. »Die RAS TSCHUBAI ist hier, in Orpleyd?«
Gucky ignorierte die Frage. »Ich meinte, Perry, dass du es offensichtlich vorgezogen hast, der überbordenden Fülle aller im Catiuphat versammelten Bewusstseine zu entfliehen. Sehnst du dich so sehr nach der Einsamkeit des sterblichen Daseins?«
»Des potenziell unsterblichen ...« Rhodan verstummte. Er hatte an den Aktivatorchip erinnern wollen, der seinen Alterungsprozess verhinderte. Allerdings spürte er die vom linken Schlüsselbein ausgehenden sanften Impulse nicht mehr. Spontan tastete er mit der rechten Hand über die Schulter.
Er erstarrte innerlich, als er die höchstens zwei Finger breite Wunde bemerkte. Seine Hand wischte über klebrige Nässe. Blut! Die Wunde war frisch. Aber wer ...?
Unwillkürlich richtete er den Blick zur Schulter. Zugleich bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass Gucky verschwand. Völlig lautlos diesmal. Das alle Teleportationen begleitende leise Geräusch, mit dem die Luft in das jäh entstehende Vakuum stürzte, blieb aus.
Rhodan bohrte die Finger in die Muskulatur ...
... und fuhr ruckartig in die Höhe. Er blinzelte, als es schlagartig hell wurde. Die verwinkelte Enge der Kabine war wieder da, die in der Dunkelheit so freundlich verhüllt wurde. Wo er den Mausbiber eben zu sehen geglaubt hatte, verlief eine Wand schräg zum Bett hin. Gucky konnte an der Stelle überhaupt nicht gestanden haben.
Rhodan biss sich auf die Unterlippe. Er hatte geträumt. Ein äußerst realer Traum. Für gewöhnlich bemerkte er, dass er träumte – diesmal nicht. Deshalb auch seine Erleichterung, dass er den Aktivatorchip weiterhin da spürte, wo er hingehörte: unter dem Schlüsselbein.
Er schwang sich aus dem Bett. Die Enge hatte etwas Bedrückendes, wenngleich er sich mit der Zeit daran gewöhnte. Wie man sich an vieles im Leben gewöhnte. Gewöhnen muss ..., fügte er in Gedanken hinzu.
Während er sich in der Hygienekabine frisch machte, dachte er über den Traum nach. Das Catiuphat hatte ihn nicht völlig losgelassen. Nein, er sehnte sich nicht danach, wieder in die Gedankenwelt der Bewusstseine einzudringen und sich womöglich für alle Zeit in der Mnemo-Präsenz zu verlieren.
Aber es war eine unglaubliche Erfahrung gewesen, die ihn nach wie vor aufwühlte. Hautnah hatte er die Geschichte der Tiuphoren erfahren. Nicht nur, als wäre er dabei gewesen. Er war tatsächlich dabei gewesen!
Das Wasser, das als feiner Sprühnebel aus der Wand kam, war kalt. Sogar die trocknende Föhnluft erinnerte ihn an eine kühle Brise. Die Architektur der Kabinen musste er akzeptieren, die Umweltbedingungen konnten neu arrangiert werden. In den ersten Tagen hatte er das nicht als nötig angesehen, weil er hoffte, sein Ziel schnell zu erreichen. Mittlerweile vergingen die Tage, ohne dass er dem Lichfahnesystem und dem Planeten Tiu näher kam. Trotzdem gab es Wichtigeres zu tun, als mit den Temperatureinstellungen zu experimentieren.
Rhodan streifte sich die Kombination über. Der 4. August war angebrochen. Aber was besagte schon ein Datum? Und die Tageszeit? Irgendwann am Vormittag nach terranischer Rechnung.
131 Millionen Lichtjahre von zu Hause, an Bord eines fremden Raumschiffs – da spielte die Zeit, die auf einem bestimmten Längengrad eines kleinen, extrem weit entfernten und schon deshalb eigentlich unbedeutenden Planeten gerade herrschte, nicht die geringste Rolle.
Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Es war ein gutes Gefühl, den eigenen Körper wieder zu spüren. Die Augen aufzuschlagen und zu wissen, dass er wieder da war, wo er hingehörte.
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