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Nr. 2890

 

Die Schiffbrüchigen der Ewigkeit

 

Sie wollen die Technolution – eine Superintelligenz entsteht

 

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

Phase 1: Die Bänder von Basantiu-Balotiu

Phase 2: Technolution

Phase 3: Der Pantomat

Phase 4: Geburtenruf

Phase 5: Geister in der Maschine

Phase 6: Reinigung

Phase 7: Aufbruch

Phase 8: Der Unstern

Epilog

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Im Jahr 1522 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) befindet sich Perry Rhodan fernab der heimatlichen Milchstraße in der Galaxis Orpleyd. Dort liegt die Ursprungswelt der Tiuphoren, eines Volkes, das unendliches Leid über viele Welten gebracht hat, ehe der ominöse »Ruf der Sammlung« sie dorthin zurückbeorderte.

In Orpleyd muss Perry Rhodan erkennen, dass die Galaxis seltsamen, nicht vorhersehbaren Zeitabläufen unterliegt – manchmal vergeht die Zeit innerhalb der Sterneninsel langsamer als im restlichen Universum. Zudem herrschen dort die Gyanli nicht nur über die Tiuphoren – sie arbeiten auch auf ein nebelhaftes Ziel hin.

Allmählich kristallisiert sich für Rhodan die Vermutung heraus, dass aus Orpleyd eine Materiesenke entstehen soll – eine Entwicklungsstufe, von der gemeinhin angenommen wird, sie liege zwischen jener der Superintelligenzen und der der Chaotarchen. Ein Name taucht dabei auf: KOSH, das Lot.

Die mysteriösen Pashukan arbeiten aktiv auf dieses Ziel hin. Perry Rhodan gelingt ein Sieg gegen die Pashukan Pushaitis, während Gucky Tellavelys Kerker entkommt. Zurück bleibt ein Artefakt und dessen Informationen über DIE SCHIFFBRÜCHIGEN DER EWIGKEIT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gucky – Der Mausbiber hat etwas Wichtiges erbeutet.

Perry Rhodan – Der Unsterbliche begleitet die Existenz eines Wesens, das zu leben glaubt.

Gelcui – Ein Sterblicher wird zum Geist und zum Orakel.

Der Pantomat – Er erwacht und will sich entwickeln.

»Tarl-Sacerort

fahr zu den Sternen hinfort.«

– Thessgerische Inschrift, in Stein gemeißelt

 

 

Prolog

 

Während der Explosionen dachte Perry Rhodan an zwei Freunde.

An Sichu Dorksteiger, die viel mehr war als nur ein Freund – ihr durfte nichts passieren. Sie hielt sich weit entfernt im Schiff auf, aber das außer Kontrolle geratene Schwarze Loch zog eine Spur der Verwüstung durch die RAS TSCHUBAI. Es gab keine Sicherheit an Bord.

Und an Gucky, den Mausbiber, den er seit einer Ewigkeit kannte – ihm war bereits etwas zugestoßen. Ein Mediker nahm sich seiner an. Rhodan blieb nur die Hoffnung.

Er dachte auch an all die anderen Menschen in der RAS TSCHUBAI. Wenn die Detonationen kein Ende fanden, konnte es den Tod für die gesamte Mannschaft bedeuten. Einschließlich seines eigenen.

Vielleicht hätten wir das miniaturisierte Schwarze Loch schneller entfernen sollen, ging es ihm durch den Kopf. Aber wie? Sie hatten zunächst forschen müssen, wie sie das Problem angehen sollten.

Die Gyanli nutzten Technologie, für die sie Schwarze Löcher bändigten. Winzige, stabilisierte Schwarze Löcher dienten einerseits als Waffen und, wie er nun wusste, andererseits als Verbindungstore.

Durch eine solche Verbindung war Gucky in die RAS TSCHUBAI gekommen, und er hatte nur eines sagen können, ehe er das Bewusstsein verlor und die Katastrophe begann. Niemand sollte das Schwarze Loch zerstören.

Ob er geahnt hatte, welches Chaos wartete? Oder was meinte er sonst? Und wie war es ihm überhaupt gelungen, durch das Schwarze Loch zu reisen?

Ausgerechnet Guckys Durchgang hatte das Gebilde instabil werden lassen – und seitdem sprang es im Schiff umher und gab Massen von Energie in Form von Explosionen ab.

Eine Schneise des Todes in der RAS TSCHUBAI.

Es gab eine Menge Fragen, aber für Perry Rhodan dominierte eine: Würde Gucky überleben? War er nur ohnmächtig?

Rhodan baute erneut Funkkontakt mit Sichu auf.

Ein Holo entstand. Sie blickte kurz auf, selbst im Schutz eines Energieschirms. Sie tippte auf ihrem Multifunktionsarmband, ließ eine Datenkolonne vor sich projizieren und betrachtete eingehend die Werte.

Zweifellos gab es für sie in dieser Situation Wichtigeres, als auf ihn zu warten. Zumal er ihr nicht helfen konnte, solange er nicht wusste, was genau vor sich ging. Und exakt das versuchte Sichu in diesen Momenten herauszufinden. Wenn jemand die RAS TSCHUBAI zu retten vermochte, war das die Chefwissenschaftlerin.

»Ich bin unterwegs«, sagte sie, ohne den Blick noch einmal zu heben.

»Wohin?«

»Zu Gucky.«

»Aber was ...«

»Er hat ein weiteres bei sich.«

»Ein weiteres?«, fragte Rhodan verständnislos.

»Ein zweites Schwarzes Loch«, antwortete Sichu ruhig. Er kannte die Stimmlage – sie konzentrierte sich voll auf das Problem und kommunizierte nebenbei. »Wo immer Gucky herkommt – er hat eines mitgebracht. Gholdorodyn ist zu ihm gegangen und hat es bemerkt. Er hatte wohl den richtigen Riecher, als er vermutete, der Mausbiber könnte etwas bei sich tragen.«

Rhodan überlief es eiskalt.

Nicht ... zerstören, hörte er wieder die lallende Stimme des Mausbibers. Nicht das ... Schwarzes Loch ... nicht zerstören ...

Hatte Gucky nicht jenes Schwarze Loch gemeint, durch das er die RAS TSCHUBAI erreicht hatte? Sondern jenes, das er bei sich trug, wie immer man sich das vorstellen sollte?

Diese Fragen weckten ein Dutzend weitere, die Rhodan beiseiteschob.

Nicht jetzt! Nicht während er in der Ferne weitere Explosionen hörte, die Teile seines Schiffes zerfetzten.

»Wir treffen uns bei Gucky«, sagte Sichu.

Rhodan bestätigte – er verstand, worauf sie hinauswollte. Wenn sie das offensichtlich gebändigte Schwarze Loch untersuchten, könnte dieses Wissen vielleicht den zerstörerischen Weg des jüngst entfesselten aufhalten.

Andere, unmittelbarere Nothilfe lief längst an: Prallfelder, Evakuierungspläne ... zweifellos arbeitete die Routinemaschinerie bereits.

»ANANSI!«, wandte Rhodan sich an den Schiffsrechner. »Auf welcher Medostation genau ist Gucky?«

»Ich führe dich«, bot sofort die Stimme aus dem Funklautsprecher seines SERUNS an.

Vor ihm in der Luft erschien ein leuchtender Pfeil. Er wirkte zum Greifen materiell. Rhodan ging darauf zu, und der rot blinkende Richtungsweiser setzte sich ebenfalls in Bewegung.

Rhodan rannte und war nicht überrascht, dass ihm bald eine etwa einen halben Meter durchmessende Schwebeplattform entgegenzischte. Er betrat sie und umklammerte die Haltestange.

Die Plattform flog los, wenige Zentimeter über dem Boden. ANANSI brachte ihn auf dem schnellsten Weg zu Gucky.

»Gib mir einen Schadensüberblick!«, forderte er.

»Explosionen gab es zunächst auf einer geraden Linie auf den Decks 25, 17, 13, 9, 6 und 3, dann kam es zu unkontrollierten Sprüngen der Energie.« ANANSIS Stimme stockte. »Wobei dem durchaus ein Muster inneliegen mag, das ich nicht errechnen konnte.«

»Geschenkt«, sagte Rhodan.

»Drei Hüllenbrüche, inzwischen von Energieschirmen eingedämmt«, fuhr der Schiffsrechner fort. »Durch plötzlichen Druckabfall ist ein Besatzungsmitglied ums Leben gekommen. Die Detonationen lösen noch immer Brände aus, derzeit an vierzehn Stellen im Schiff. Eine Kettenreaktion führte zur Zerstörung vieler Plasmachips. Im Beiboothangar Acht wurde eine Korvette zerfetzt. Dort kam es nur zu einem Verletzten.«

Diese frustrierende Liste ging weiter und enthielt immerhin einen kleinen Lichtschimmer – es gab bislang offenbar nur einen Toten.

Nur.

Das Wort klang wie grausamer Hohn in Rhodans Ohren.

Die Plattform hielt vor dem Eingang in eine Medostation. Er stieg ab.

»Unsere Sicherungen haben Schlimmeres verhindert«, sagte der Bordrechner. »Allerdings kann ich für nichts garantieren, solange ...«

»ANANSI?«, fragte Rhodan, als die Stimme schwieg.

Stille.

»ANANSI?«

Keine Antwort.

Gleichzeitig flackerte das Licht, es wurde dunkel, und Roter Alarm heulte durch das Schiff.

 

*

 

Das Licht kehrte nach wenigen Sekunden zurück.

ANANSI gab eine erleichternde Erklärung. »Eine Detonation hat aufgrund fünfdimensionaler Wechselwirkungen das Zusammenspiel meiner Selbst im Rahmen der ausgelagerten rechnenden Hyperfelder beeinträchtigt. Die kurzzeitige Vollabschaltung stellte eine reine Sicherheitsvorkehrung dar. Ich bin voll funktionsfähig.«

Rhodan trat in die Krankenstation.

Sichu stand neben Guckys Krankenbett, aber sie gönnte dem Patienten keinen Blick, sondern schaute auf einen Kristall, der auf dem Tischchen daneben lag. Sie richtete ein Gerät darauf, das aussah wie ein einfacher Stift; höchstwahrscheinlich nahm sie komplexe Messungen vor. Ein bläulicher Lichtschauer zitterte auf dem Zielobjekt.

»Hör dir das an, Perry«, sagte sie. »Ich habe meinen Hyperbarie-Spürer benutzt. Außerhalb der RAS TSCHUBAI, im All, zeigt das destabilisierte miniaturisierte Schwarze Loch ebenfalls Wirkung. Aber nur in Form von thermischer Strahlung und Schauern von Hyperbarie. Teilweise in mir unbekannten Frequenzen! Sie können nicht aus dem Hyperraum stammen.«

»Sondern?«, fragte Rhodan, während er seine Hand an die Schultern des reglosen Gucky legte und die Fingerspitzen den Nacken berührten. Er kraulte das Fell des Kleinen.

»Womöglich aus einem Raum dahinter. Gholdorodyn ist in sein Labor gegangen, um aktuelle Messwerte zu analysieren.«

»Wie sind die Strangeness-Werte?«, fragte Rhodan.

»Identisch mit unseren. Woher immer die Energien stammen – der Ort gehört zu unserem Universum. Meiner Theorie zufolge verströmt das Schwarze Loch sein zerstörerisches Potenzial.«

»Es wird also aufhören?«

Sichu nickte. »Fragt sich nur, wann.«

Er deutete auf Guckys Mitbringsel. »Hast du ...«

»Ich habe keine Ahnung, wie das Schwarze Loch darin eingedämmt wird«, sagte die Chefwissenschaftlerin. »Noch nicht.«

Sie berührte das Objekt, einen nur fingernagelgroßen, scheibenförmigen, rotgoldenen Tiucui-Hyperkristall, der das Licht auf seltsame Weise verzerrte, als würde es eine bestimmte Stelle meiden, gleichzeitig aber davon angezogen werden.

Sichus Finger zitterten.

»Bleib ruhig«, sagte Rhodan. »Du schaffst das. Du wirst alles ...«

»Jede Sekunde, die ich nicht weiterkomme, bringt weitere Expl...«

»Darum kümmern sich andere«, unterbrach er. »Du hast deine Aufgabe hier. Und nur hier. Was dort draußen geschieht, liegt nicht in deiner Verantwortung.« Beruhigende Worte, die sich leicht aussprechen ließen; ihm ging es allerdings genau wie Sichu. Er fühlte sich elend, und er wollte etwas tun.

»Fester«, hörte er ein piepsiges Stimmchen.

Sein Blick wanderte zu Gucky. Der hielt die Augen zwar noch geschlossen, zeigte aber seinen Nagezahn.

»Fester kraulen«, wiederholte der Kleine. »Hilft beim Denken.« Er schlug die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen. Er sah entsetzlich müde aus.

Rhodan tat ihm den Gefallen.

»Schon gemerkt?«, fragte der Mausbiber. »In dem Kristalldings, das ich euch mitgebracht habe, ist ein Schwarzes Loch versteckt. Glaub ich zumindest. Es wird Katopore genannt.«

»Wo hast du es her?«, fragte Sichu.

»Souvenir aus dem Katoraum.« Gucky zeigte keine Anstalten, sich aufzusetzen. Rhodan kraulte weiter sein Fell. »Ist eine lange Geschichte. Sei ja vorsichtig mit dem Ding.«

Der Mausbiber berichtete knapp von der Zeit, in der er in einem riesigen Gewölbe gefangen gewesen war; im sogenannten Katoraum, einer Dimension unter der normalen Raumzeit. Die Katoporen, durch die er zurückgereist war – die miniaturisierten Schwarzen Löcher – rechneten die Gyanli zu ihrer Trypatechnologie.

Erneut krachte es irgendwo in der Ferne.

Die umgehend erfolgte Schadensmeldung enthielt den interessanten Hinweis, dass die Explosion diesmal schwächer ausgefallen war. Allerdings hatte sie sich in Ogygia ereignet, der Erholungslandschaft des Schiffs. Die Detonation hatte einen Baum entwurzelt, der einen Techniker erschlagen hatte.

Danach blieb es still in der RAS TSCHUBAI.

Sichus Theorie bestätigte sich. Die Katopore hatte ihre Energie offenbar verströmt. Es gab keine weiteren Explosionen mehr. Die Menschen an Bord durften aufatmen. Zumindest die, die es noch konnten.

 

*

 

»Das ist erstaunlich«, sagte Sichu Dorksteiger später. Sie hielt sich mit Rhodan und Gucky in einem Laborraum auf und deutete auf den scheibenförmigen Minikristall. Sonst lag nichts auf dem riesigen Schreibtisch vor ihnen.

Der Mausbiber grinste. »Klar doch. Immerhin hab ich ...« Er verstummte, weil sie sich nicht stören ließ.

»Ich habe den Kristall auf niederenergetischer Basis vermessen und die Strahlungscharakteristik aufgenommen. Unfassbar, dass darin ein Schwarzes Loch verarbeitet ist.«

»Unfassbar?«, fragte der Mausbiber. »Klingt nicht sehr wissenschaftlich.«

»Erstens bin ich nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch ein Mensch«, sagte sie trocken, während sie sich auf einen Sessel vor dem Schreibtisch fallen ließ, »und zweitens gehörst du zu meinen Zuhörern. Ich will dich nicht überfordern und spreche deswegen so, dass du mich verstehst.«

Das verschlug dem Kleinen die Sprache.

»Kann ich weitermachen?«, fragte Sichu.

Rhodan grinste und setzte sich ebenfalls.

Nur Gucky blieb stehen und brummelte etwas Zustimmendes.

»Ich riskiere vorerst keine Bestrahlung des Kristalls, um unerwünschte Reaktionen zu unterbinden – nicht, dass noch eine Katopore ...« Sie suchte nach den richtigen Worten.

»Amok läuft?«, schlug der Mausbiber vor. »Auch nicht sehr wissenschaftlich, ich weiß. Trifft aber irgendwie ganz gut den Kern der Sache.«

Sie nickte. »Das Schwarze Loch im Inneren ist submikroskopisch winzig. Der Durchmesser beträgt 1,59 Femtometer.«

Also etwas weniger als ein Proton, setzte Rhodan in Gedanken die Angabe in eine entsprechende Relation.

»Die Masse dieses miniaturisierten Schwarzen Lochs entspricht etwa der eines kleinen Asteroiden.« Sichu deutete auf den unscheinbaren Kristall. »Stellt es euch so vor, dass Masse und Gewicht in den Katoraum ausgelagert sind. Ein solches Schwarzes Loch könnten wir mit unserer Technologie zwar herstellen ... aber es würde augenblicklich zerstrahlen. Die natürliche Lebensdauer liegt bei einer Zehntelsekunde.«

»Du meinst«, sagte Gucky, »dass der Schwarzschildradius winzig ist und die Gezeitenkraft hoch? Beides zusammen müsste dazu führen, dass virtuelle Teilchenpaare, die sonst sofort wieder verschwinden, getrennt werden können.«

Rhodans Grinsen wurde breiter. Er wusste genau, warum der Mausbiber diesen Vortrag hielt.

Sichu verstand es offenbar auch. »Schon gut, Gucky. Ich weiß, dass du wissenschaftlich gebildet bist und man dich nicht unterschätzen sollte. Und ja – du hast recht. Genauso ist es. Eine weitere Erklärung können wir uns wohl sparen. Was bleibt, ist das: Es ist den Gyanli gelungen, dieses miniaturisierte Schwarze Loch nicht nur zu stabilisieren, sondern es zusätzlich in einen Hyperkristall zu packen und es als Speichermedium zu benutzen.«

»Speichermedium«, wiederholte der Mausbiber. »Das hoffte ich, als ich den Kristall an mich gebracht habe ... in diesem Gewölbe.«

»Wo du die Entführten der RAS TSCHUBAI gesehen hast«, brachte Rhodan das in Erinnerung, was der Mausbiber nach seinem Erwachen berichtet hatte. Unter anderem Farye Sepheroa, seine Enkelin, die also noch lebte, was ihn unendlich erleichterte.

Gucky hatte in der Zeit seiner Gefangenschaft außerdem einen Pashukan getroffen – einen Maschinisten, der das Pavvat bediente.

Was immer das konkret bedeuten mochte. Dieser Maschinist hieß eigenen Aussagen nach Tellavely und hatte den wenig vertrauenerweckenden Beinamen der Lügner für sich reklamiert.

Dieser Tellavely schien selbst eine Maschine zu sein, was Rhodan erstaunte. Er hatte ebenfalls eine Pashukan getroffen – Pushaitis, die er für ein Lebewesen gehalten hatte.

Waren diese Pashukan so verschieden? Oder gaukelten sie ihrem jeweiligen Gegenüber nur unterschiedliche Erscheinungsformen vor?

»Ich habe Perry von KOSH erzählt«, fuhr Gucky fort, »der hiesigen Superintelligenz.«

»KOSH, das Lot«, murmelte Rhodan. Ein weiterer Beiname, mit dem er nichts anfangen konnte.

Noch nicht.

Über KOSH wusste er inzwischen ebenfalls einiges. Eine Superintelligenz kurz vor der Metamorphose in eine Materiesenke. Diese Weiterentwicklung würde mindestens die gesamte Galaxis Orpleyd vernichten.

Konnte, durfte er das zulassen, auch wenn es sich um einen ... natürlichen Vorgang der kosmischen Evolution handelte?

Superintelligenzen entwickelten sich je nach ihrer Ausrichtung zu Materiesenken oder zu Materiequellen – das bildete wohl eine Konstante im Lauf des Universums.

Aber war es deshalb richtig?

Durften darum ganze Galaxien mit Billiarden Bewohnern untergehen, weil deren Mentalsubstanz in das entstehende Wesen gerissen wurde?

Die Frage schien müßig. Konnte er, selbst wenn er es wollte, einen kosmischen Vorgang solcher Größenordnung verhindern?

Er schob diese Überlegung beiseite.

Vorerst.

Die Entwicklung zur Materiesenke verlief in KOSHS Fall ohnehin nicht reibungslos, wie er inzwischen wusste. Zumindest bis vor Kurzem hatten wesentliche Antriebskräfte und mentale Momente gefehlt, weil die Superintelligenz seit Jahrzehntausenden nicht mehr bei Bewusstsein war.

»Ich hoffe«, sagte Gucky, »dass in diesem Kristall weitere Informationen liegen. Im Trypatresor. So hat Tellavely ihn genannt. Wenn es stimmt, ist darin die Entwicklungsgeschichte von KOSH gespeichert.«

Sichu hob die Hand, wie eine Schülerin, die während des Unterrichts Aufmerksamkeit einforderte. Zumindest Rhodan hatte sie ohnehin nicht aus den Augen gelassen. Er sah sie viel zu selten, um einen Moment davon zu verschwenden.

»Gholdorodyn und ich glauben, eine Zugriffsmöglichkeit zu kennen«, sagte sie. »Der Praxistest steht aus – aber ich bin guter Dinge. Ich gebe euch die Kurzfassung. Die eingeschlossene Katopore wirkt mit Schwingungen auf den umgebenden Tiucui-Hyperkristall ein. Diese veranlassen den Kristall zu winzigen Verschiebungen seiner Gitterstruktur.«

Sie wechselte einen Blick mit Rhodan.

»Gholdorodyn wartet vor ANANSIS Zentralkugel darauf, dass ich das Experiment starte«, erklärte Sichu. »Dass ich diese minimalen Veränderungen aufzeichne und sie weiterleite. Die beiden versuchen die Werte zu analysieren und sie zu dekodieren.«

»Was so viel heißt wie ... was?«, fragte Gucky.

»ANANSI verwandelt die Informationen in Holobilder. Wir werden es uns anschauen können wie ...« Sie stockte kurz. »Wie eine Trivid-Show, die das Geschehen aus tiefer Vergangenheit abspielt.«

Der Mausbiber grinste. »Na dann sag ich: Film ab! Ist ja wunderbar. Wie in einem altmodischen Kino. Oder gleich in einer SenTri-Arena!«

Sichu startete das Experiment.

Für Sekunden geschah nichts.

Eine ganze Minute lang.

Endlich formte sich ein erstes Bild, ausgestrahlt von den Holo-Projektoren.

Zuerst zeigte es nur eine winzige rote Sonne ... dunkelrot und mit schwacher Strahlungsleistung. Im nächsten Atemzug vervollständigte sich das Motiv: Zwei gewaltige Bänder legten sich in großem Abstand um den Stern.

Sie mussten mindestens einige Hunderttausend Kilometer durchmessen, vielleicht mehr, und im Verhältnis zu ihrer gigantischen Länge, die sich jeweils zu einem perfekten Ring schloss, wirkten sie zerbrechlich dünn.

Die Bänder lagen über Kreuz, das äußere lag im rechten Winkel über dem Inneren.

Beide bildeten Kreise um die rote Sonne.

Der Anblick erinnerte Rhodan spontan an das Volk der Nonggo, die in vergleichbarer Weise auf Sphärenrädern lebten – allerdings ohne zentrale Sonnen. Es gab aber gewiss keine Verbindung zwischen dem, was er sah, und dem einstigen Thoregon-Volk.

Die Aufnahme blieb für Sekunden starr, dann schien es, als rase die Holokamera, die dieses gigantische Bild aufzeichnete, auf die Bänder zu. Das Holo zeigte bald nicht mehr das gesamte Panorama, sondern nur noch einen Ausschnitt: den Ort, wo sie sich kreuzten.

Auf der von der Sonne abgewandten Seite gab es nur Eis und Dunkelheit, doch als das Holo zur Innenseite blendete, offenbarte es, dass diese Bänder eine phantastische Welt bildeten. Ein Habitat für ein ganzes Volk ... für einige Völker.

Landschaften aus Grün und verschneite Gebiete ...

Siedlungen, Häuser ...

Und eine Vielzahl Lebewesen.

Das Holo raste in eines der Gebäude hinein.

Phase 1:

Die Bänder von Basantiu-Balotiu

 

Sein Zentralauge schmerzte.

Üblicherweise bedeutete das keinen guten Beginn eines neuen Erkenntnistages. Andererseits wollte sich Gelcui nicht länger von solchen überkommenen Lebensweisheiten einschränken lassen.

Er war Wissenschaftler!

Und was hatte ein schmerzendes Zentralauge mit den Möglichkeiten zu tun, die vor ihm lagen?

Nichts!

Erst recht nicht, weil die Wissenschaft längst über solche Kleinigkeiten gesiegt hatte.

Gelcui verließ seine Schlafmulde und hörte das pneumatische Zischen, mit dem das Luftpolster langsam in sich zusammenfiel. Er stolperte die wenigen Schritte zu seinem Vorratsschrank eher, als dass er sie ging.

»Taricont«, sagte er zur Steuermaschine. Eine Prise würde ihm gut tun.

Ein kleines Rohr schob sich aus dem Schrank. Er positionierte sich so davor, dass die Dosis genau zwischen Nahrungsmund und Zentralauge abgegeben wurde. Die Automatik erkannte den richtigen Zeitpunkt – Gelcui kam schließlich oft genug, um etwas Tari zu inhalieren.

Schon beim Geräusch des Sprühstoßes fühlte er sich wohler. Das Empfinden der feuchten, prickelnden Kühle wurde stärker. Erst recht, als er tief einatmete. Die Sicht im Zentralauge wurde schwammig, und er nutzte ausschließlich die beiden seitlichen Stielaugen. Er bog sie leicht, schaute sich selbst ins Gesicht.

Im Nebel wirkte die Haut blassblau. Je stärker sich die Poren in der Feuchtigkeit weiteten, desto mehr frische Dunkelheit pulste hinein. Er leckte die Lippen. Die Zunge prickelte wie bei der ersten Mahlzeit nach einem Tag des Darbens, und der Schmerz im Zentralauge verschwand.

»Was steht heute an?«, fragte er. Neu vom Taricont belebt, fiel es ihm leicht, den Segen der allgegenwärtigen Maschinen zu erkennen. Alle Skepsis konnte warten.

Die Maschinensteuerung antwortete rituell: »Erkenntnismehrung im Licht der Bänder.« Erst danach gab sie eine hilfreiche Information: »Das Treffen der fünf Gründervölker wurde abgesagt. Die Delegation der Bolosuree entschuldigt sich und bittet um eine Verschiebung. Eine Datenabfrage läuft.«

Gelcui konnte nicht sagen, dass es ihn sehr verärgerte. Er gewann dadurch schließlich eine Menge Zeit, und meistens brachten die Zusammenkünfte ohnedies keine sinnvollen Ergebnisse.

Man redete und redete – abgesehen von den teilnehmenden Vannoi, die fast nie etwas sagten. Und was kam am Ende dabei heraus?

Es herrschte sowieso Frieden auf den Bändern von Basantiu-Balotiu! Ein Krieg wäre eine unnötige Störung im gemeinsamen Ziel der Technolution, dem einzig erstrebenswerten Sinn allen Daseins. So dumm könnte niemand sein, die Kohäsion von Baicekosh zu gefährden.

Zumindest kein Thessgerer. Gelcui dachte darüber nach, wann zum letzten Mal ein Angehöriger seines Volkes den Gedanken an einen Kampf gegen die vier anderen Gründervölker auch nur in Erwägung gezogen hatte. Er wusste es nicht. Also stellte er die Frage laut, während er in sein Forschergewand schlüpfte.

»Es liegt acht Generationen zurück«, antwortete die Maschine. »Der Name des Rädelsführers ist aus der offiziellen Chronik gelöscht worden. Er starb bei einem Unfall.«

»Bei einem ... Unfall?«, fragte er fassungslos. Er konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt einen Unfall gegeben hatte.