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Die Nacht mit Nancy

Die Nacht
mit Nancy

Wilson Collison

Aus dem amerikanischen Englisch
von Johanna von Koppenfels

Louisoder Verlag

Erste Auflage 2016

Originalausgabe:
„One Night with Nancy“
Zuerst erschienen bei The Macaulay Company,
New York 1933

Deutsche Ausgabe:
© 2016 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH, München
Übersetzung: Johanna von Koppenfels
Lektorat: Merle Gith
Korrektorat: Ilona Buth
Umschlaggestaltung: CosmosMedia, Cornelius Schödl
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN: 978-3-944153-32-2
www.louisoder-verlag.de

Erstes Kapitel

Mit einem zornigen Flackern in ihren grauen Augen lief Mrs. Christopher Keaton Hanley durch ihr luxuriöses Wohnzimmer. Die Pailletten ihres Abendkleides raschelten in der Stille des großen Salons. Sie verließ das Zimmer und verschwand für einige Minuten. Als sie zurückkehrte, rauchte sie eine Zigarette, die in einem langen grünen Halter steckte. Er war augenscheinlich sehr kostbar, denn er war mit einem kleinen Ring aus Brillanten besetzt.

Mrs. Hanley stand in der Mitte des Zimmers und starrte wütend zu Nancy herüber, die auf einem kleinen Sofa lag und ihren hübschen Kopf auf ein paar Kissen gebettet hatte. Sie trug ein blassgrünes, pelzbesetztes Negligé, unter dem keck ein Nachthemd in noch hellerem Grün hervorschaute.

Überall im Zimmer brannten Lampen. Auf einem großen Kaminsims schlug eine Uhr zweimal.

Jimmie Landon zog ein Bein seines Pyjamas glatt und suchte in der Tasche seines schwarzen Morgenrocks nach einer Zigarette. Als er keine fand, erhob er sich schweigend von seinem Sessel, warf Nancy aus dem Augenwinkel einen ironischen Blick zu, ging zu einem langen Konsolentisch und öffnete ein Kästchen. Er nahm sich eine Zigarette und zündete sie an.

Arthur Foster starrte zu seiner Frau herüber, die ihn ihrerseits anfunkelte. Ihr etwas zerzaustes, hellblondes Haar rahmte ihr farbloses Gesicht. Sie hatte sich ganz offensichtlich in aller Eile ihre Nachtcreme vom Gesicht gewischt und keine Zeit gehabt, wieder Make-up aufzutragen. Der hell erleuchtete Raum war für sie ohne Zweifel sehr unvorteilhaft.

Mit einem kleinen Seufzer sagte Nancy zu Mrs. Hanley: „Wird es nicht schon bald hell, meine Liebe?“

„Selbstverständlich wird es bald hell, liebe Nancy! Was sollen wir Ihrer Meinung nach jetzt tun?“

Christopher Hanley strich zurück, was von seinem wirren Haar noch übrig war. Als seine Frau stehen blieb, ihre Hand auf eine Sessellehne legte und ihn fixierte, wurde er puterrot im Gesicht.

Christopher bemerkte vage: „Meine Liebe, wir können doch nicht bis zum Sonnenaufgang über diese Sache reden. Schließlich ist sie für eine Hausparty auch nicht so außergewöhnlich.“

„Das finde ich nicht“, sagte Mrs. Hanley säuerlich. „Auch wenn du scheinbar glaubst, dass ich den Männern auf meinen Wochenendpartys normalerweise gestatte, sich mitten in der Nacht in den Zimmern der Damen aufzuhalten.“

Jimmie drehte sich um, lehnte sich gegen den langen Konsolentisch und zog eine Augenbraue hoch.

Nancy setzte sich auf und schaute zu ihm herüber. Sie betrachtete ihn eine ganze Weile sehr erst. Sie fand, dass Jimmie der einzige Mann im Raum war, der in Pyjama und Morgenrock wirklich gut aussah.

Jimmie sagte: „Meine liebe Mrs. Hanley …“

„Ja, mein lieber Mr. Landon!“, fauchte Mrs. Hanley.

„Sehen Sie“, sagte Jimmie mit ernster Miene, „diese Party hat sich mittlerweile in einen Kriminalfall verwandelt. Wenn es statt Nancys entzückendem Schrei einen Mord gegeben hätte, dann würde sich die Aufregung wenigstens lohnen.“

„Der Punkt ist doch, Myra“, sagte Christopher Hanley mit gedämpfter Stimme, „dass Nancy nicht mal weiß, wer der Mann war. Und schließlich ist ihr ja auch gar nichts passiert. Wozu also all die Aufregung um zwei Uhr morgens?“

„Ich werde das hier zu Ende bringen“, erwiderte Mrs. Hanley leidenschaftlich und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Plötzlich blieb sie stehen und rief: „Woher weißt du eigentlich, dass Nancy nichts geschehen ist?“ Dann begann sie wieder im Zimmer umherzulaufen.

Mit einem Blick auf Nancy sagte Jimmie: „Nun, das sollte sie doch selbst wissen.“

„Natürlich weiß ich das“, sagte Nancy sehr ernst. „Mir ist wirklich nichts passiert. Als ich aufwachte, hatte ich mein Nachthemd immer noch an. Ich wurde schon oft gewarnt, auf Wochenendgesellschaften lieber einen Pyjama zu tragen.“

„Siehst du, Myra“, sagte Christopher, „es ist wirklich lächerlich.“

„Ach ja, lächerlich ist es also!“, gab Mrs. Hanley zurück.

„Ja, wirklich lächerlich“, fand auch Arthur Foster und warf seiner Frau einen kurzen Blick zu.

„Wie es aussieht …“, begann Bob Martin.

„Ganz egal, wie es aussieht!“, rief Mrs. Martin, sprang von ihrem Sessel auf und lief mit flammendem Blick zu ihrem Mann. Sie war eine große, schlanke, brünette Frau, die in ihrem kirschroten Pyjamaensemble sehr hübsch aussah. „Tatsache ist doch, dass Myra dich, Arthur Foster und Mr. Landon vorfand, als sie in Nancys Zimmer kam. Was hattest du denn in Nancys Zimmer zu suchen?“

Bob Martin erwiderte schwach: „Ich habe sie schreien hören.“

„Ich habe sie auch schreien hören“, schloss sich Arthur Foster an.

„Und ich wollte nur nachsehen, wonach die anderen schauten“, sagte Jimmie.

„Und Sie haben natürlich wieder ein Alibi, Mr. Landon“, sagte Vera Martin mit eisiger Stimme. „Schließlich sind Sie ja Anwalt.“

„Nun, möglicherweise werde ich einige dieser Jungs bei ihren Scheidungsverfahren verteidigen müssen“, sagte Jimmie mit einem leisen Lächeln. Er warf Nancy einen Blick zu. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Jimmie fand, dass sie schön war. Sie war die einzige Frau im Raum, die direkt nach dem Aufstehen wirklich anziehend aussah.

Mrs. Hanley stand einen Augenblick da und starrte Nancy mit empörtem Schweigen an. Um zwei Uhr morgens sah sie einfach nur plump aus und man sah ihr an, dass sie bereits deutlich über vierzig war.

„Ihnen sollte klar sein, Nancy“, sagte Mrs. Hanley, „dass ich weiß, dass Sie dafür bekannt sind, Männer um den Finger zu wickeln. Ich mache Ihnen daraus keinen Vorwurf.“

„Oh nein“, sagte Christopher, der das dringende Bedürfnis hatte, seine Frau zu unterstützen.

„Also Leute“, sagte Nancy salopp mit einer charmanten kleinen Bewegung, „lasst uns doch endlich zur Sache kommen.“

„Würden Sie bitte Ihr Negligé schließen, meine Liebe“, sagte Mrs. Hanley kühl.

„Was können Sie denn sehen, meine Liebe?“, erkundigte sich Nancy erstaunt.

Jimmie erklärte: „Also ich kann überhaupt nichts sehen.“

Nancy versicherte: „Davon bin ich überzeugt. Nun, wie ich bereits sagte, als Myra mich unterbrach …“

„Meine Liebe“, sagte Christopher Hanley nervös, „es ist schon kurz vor halb drei. Wir können das doch wirklich alles nach dem Frühstück klären.“

Mrs. Hanley erwiderte unnachgiebig: „Nein, wir klären es genau jetzt.“

„Aber meine Liebe“, flehte Christopher, strich sein struppiges Haar zurück, in der vergeblichen Hoffnung, dass es die kahle Stelle verdecken würde, „so versteh doch …“

„Sei schon still!“, forderte Mrs. Hanley. „Vera, möchten Sie wissen, warum Nancy geschrien hat?“

„Auf jeden Fall“, sagte Mrs. Martin bitter.

„Helen, möchten Sie wissen, warum Nancy geschrien hat?“

„Ja, das möchte ich. Ich möchte wissen, warum Arthur in ihrem Zimmer war. Ich möchte wissen …“

„Meine Damen und Herren“, sagte Jimmie mit getragener Stimme, „wir sind jetzt an dem Punkt angelangt, an dem sich wohlerzogene Menschen in wilde Bestien verwandeln. Es gibt nur einen befriedigenden Weg, dieses Rätsel um ein Wochenende auf dem Land zu lösen. Meine liebe Mrs. Randin …“

„Ja, Mr. Landon“, erwiderte Nancy mit einem strahlenden Lächeln. Sie erhob sich und gähnte, ging zum Konsolentisch und nahm sich eine Zigarette. Jimmie beeilte sich, ihr Feuer zu geben. Als er das Streichholz ans Ende ihrer Zigarette hielt, konnte er das zarte, verlockende Parfüm riechen, das sie verführerisch umgab. Sie lächelte und sah ihm in die Augen.

„Wie ich bereits bemerkte, Mrs. Randin“, sagte Jimmie, „als Sie gerade so unwiderstehlich waren … Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Name fast wie meiner klingt? Randin und Landon.“

„Ja“, erwiderte Nancy, „wir könnten als Varieté-Nummer auftreten.“

„Warum nicht?“, fragte Jimmie.

„Myra“, kreischte Vera Martin plötzlich, „bringen Sie diese Frau dazu, die Wahrheit zu sagen!“

„Ich bemühe mich ja, der Wahrheit auf den Grund zu gehen“, sagte Mrs. Hanley verbissen. „Aber Mr. Landon versucht, eine Farce daraus zu machen.“

„Wieso, es ist doch eine Farce“, sagte Nancy lächelnd.

„Ja“, bestätigte Jimmie, „eine Schlafzimmer-Farce.“

„Es ist keine Farce“, schrie Mrs. Hanley hysterisch. „Es ist eine sittenlose Darbietung … empörend, wirklich empörend! Und dann auch noch in meinem Haus!“

„Beruhige dich, meine Liebe“, sagte Christopher und lief zu seiner Frau, den Morgenrock fest um seinen untersetzten Leib geschlungen.

„Nun, Mrs. Hanley, was möchten Sie denn genau wissen?“, fragte Jimmie ernst.

„Ich möchte wissen, warum Nancy Randin geschrien hat, und ich möchte wissen, was Sie, Bob Martin und Arthur Foster in ihrem Zimmer gemacht haben, als ich hereinkam und sie dort erwischte.“

„Wo war denn Ihr Mann?“, fragte Jimmie.

„Ziehen Sie mich da nicht mit rein!“, rief Christopher.

„Ich habe mit alledem nichts zu tun. Ich war in meinem Zimmer und sonst nirgends.“

„In Ihrem eigenen Zimmer?“, fragte Jimmie.

„Ja, ich war in meinem eigenen Zimmer“, bellte Christopher.

„Nun, Tatsache ist doch“, sagte Jimmie in begütigendem Ton, „dass Mrs. Hanley uns nicht gestatten wird, ins Bett zu gehen, bevor nicht das Rätsel um Nancys Schrei gelöst ist. Bei genauer Betrachtung, meine Damen und Herren, gibt es nur einen einzigen Weg, wie wir das Geheimnis lüften können. Wenn Sie uns also etwas zu trinken bringen lassen, meine liebe Mrs. Hanley, dann werde ich diesen tragischen Kriminalfall für Sie lösen.“

„Christopher“, sagte Mrs. Hanley mürrisch, „geh raus und mach uns ein paar Cocktails.“

„Ich möchte gar nichts trinken“, erwiderte Christopher resigniert.

„Geh raus und mach ein paar Cocktails!“, beharrte Mrs. Hanley und klatschte in die Hände. „Ich kann doch Phipps nicht wecken. Ich will auf keinen Fall, dass die Diener etwas von diesem Skandal mitbekommen. Seit Jahren beherberge ich übers Wochenende Gäste in meinem Haus, und nie ist so etwas passiert.“

„Aber es ist Ihnen schon klar“, sagte Nancy, „dass Sie da einfach nur Glück hatten.“

„Ach so, ja!“, antwortete Mrs. Hanley und verzog den Mund.

„Christopher, gehst du jetzt in die Küche und mixt ein paar Cocktails?“

Christopher verschwand in die Küche, seinen Morgenrock fest um sich gewickelt.

„Nun, meine liebe Mrs. Hanley“, sagte Jimmie, ließ sich in einen Sessel fallen und zündete sich erneut eine Zigarette an, „was genau möchten Sie wissen?“

„Ich möchte wissen“, sagte Mrs. Hanley, und dabei stiegen ihr plötzlich Tränen der Wut in die Augen, „was Mrs. Randin veranlasste zu schreien und was drei Männer in ihrem Zimmer zu suchen hatten, als ich hereinkam und sie dort ertappte.“

„Verstehe“, erwiderte Jimmie nachdenklich. „Möchten Sie noch eine Zigarette, Mrs. Randin?“

„Danke, gerne“, sagte Nancy. „Sie können übrigens Nancy zu mir sagen.“

„Danke, Nancy“, sagte Jimmie. Er erhob sich von seinem Sessel, ging quer durchs Zimmer zu dem langen Konsolentisch, öffnete die Zigarettenkiste und entnahm ihr eine Handvoll Zigaretten. Mit entschuldigendem Blick schaute er zu Mrs. Hanley und sagte: „Verzeihen Sie, wenn ich all ihre Zigaretten nehme. Ich habe welche in meinem Gepäck und werde morgen früh ihren Vorrat wieder auffüllen.“

Er ging zu Nancy, beugte sich herunter und steckte ihr geschickt eine Zigarette zwischen ihre roten Lippen. Er zündete die Zigarette an und richtete sich wieder auf. Mrs. Hanley, Mrs. Martin und auch Mrs. Foster starrten ihn wütend an. Jimmie dachte, dass er in Bezug auf Blondinen ohne Makeup richtiggelegen hatte. Er warf einen flüchtigen Blick auf Martin und Foster, die ihn ihrerseits hohläugig anschauten. Es schien ihm, als hätten Männer generell Angst vor ihren Ehefrauen. Da war Foster, der einen beunruhigten und gejagten Ausdruck in den Augen hatte, wenn er zu seiner Helen herübersah; und Bob Martin, der einen Ausweg aus einer Situation zu suchen schien, die ihn mit Sorge erfüllte und ihm peinlich war.

Jimmie fand, dass die ganze Angelegenheit etwas Amüsantes und Absurdes hatte. Er betrachtete sie mit einem boshaft humorvollen Flackern in seinen braunen Augen. In Mrs. Christopher Keaton Hanley sah er eine Frau puritanischer Herkunft, wahrscheinlich aus Boston, die sehr altmodische und prüde Moralvorstellungen hatte. Aber, dachte Jimmie, wenn Mrs. Hanley unbedingt bis zum bitteren Ende weitermachen wollte, dann würde er schon Spaß an der Sache finden und eine kleine Schau abziehen.

Er betrachtete Mrs. Randin. Sie beobachtete ihn mit halb verschleiertem Blick. Der Rauch ihrer Zigarette stieg in Kringeln nach oben und hüllte ihr liebliches Gesicht in einen bläulichen Dunst. Jimmie schaute sie sehr ernst an und sie blickte sehr ernst zurück. Er überlegte, was sie gerade dachte, und sie fragte sich, worüber er wohl nachdachte.

Im Übrigen betrachtete Nancy Mrs. Hanley mit amüsierter Gelassenheit. Sie fand durchaus, dass es ihre Pflicht war zu schweigen und ihrer Gastgeberin zu erlauben, ihre eigenen Moralvorstellungen bei den Wochenendgästen durchzusetzen.

Mrs. Martin ging zu einer der Terrassentüren, zog die Vorhänge beiseite und schaute hinaus, während sie mit einem ihrer Pantoffeln nervös auf den Boden tippte. Ihr Mann warf ihr heimlich einen Blick zu. Dann schaute er rasch zu Jimmie hinüber, der ihn verstohlen anlächelte, so, als wollte er sagen: „Ich hab dich davor gewarnt, in ihr Zimmer zu gehen.“

Mrs. Hanley ließ sich auf einem der Sessel am großen Kamin nieder und faltete ihre Hände im Schoß. Sie schien plötzlich sehr erschöpft zu sein.

Jimmie sagte: „Mrs. Hanley, lassen Sie mich die Sache erst einmal richtig verstehen, bevor ich sie für Sie aufkläre.“

„Es gibt nichts zu verstehen, überhaupt nicht“, erwiderte Mrs. Hanley mit trotziger Miene. „Die Sache ist im Grunde ganz einfach. Sie alle sind meine Gäste. Einige von Ihnen habe ich eingeladen, andere wurden von Christopher eingeladen.“

„Richtig“, sagte Jimmie. „Mich hat Christopher eingeladen und ich habe mich sehr darüber gefreut. Schade, dass jetzt schon Sonntag früh ist. Ich wage gar nicht daran zu denken, am Montagmorgen wieder in die Stadt zurückkehren zu müssen. Sie waren eine wunderbare Gastgeberin, Mrs. Hanley. Ich komme gerne wieder.“

„Oh ja, tun Sie das“, sagte Mrs. Hanley mit unterdrücktem Zorn. „Es ist klar, Mr. Landon, dass Vorfälle dieser Art in einigen Landhäusern nicht weiter beachtet werden würden. Aber wenn Nancy von einem oder mehreren Männern belästigt wird, die mitten in der Nacht heimlich in ihr Schlafzimmer schleichen, dann möchte ich wissen, was passiert ist – und ich werde es erfahren!“

„Selbstverständlich“, sagte Jimmie.

„Und ich möchte auf jeden Fall wissen, ob mein Ehemann dieser Mann war“, sagte Helen Foster grimmig.

Jimmie setzte sich auf einen Sessel und schlug die Beine übereinander. Er warf Nancy einen etwas ratlosen Blick zu.

Dann sagte er: „Nun, Mrs. Randin …“

„Bitte nennen Sie mich doch Nancy.“

„Also, Nancy, ich bin Anwalt …“

„Ja, ich habe schon von Ihnen gehört, Jimmie.“

„Das freut mich“, sagte Jimmie. „Meiner Meinung nach gibt es nur einen einzigen Weg, diese unerfreuliche Geschichte zu einer befriedigenden Lösung zu bringen: Wir müssen davon ausgehen, dass ein Mord begangen wurde.“

„Es ist doch niemand ermordet worden!“, rief Mrs. Hanley mit einer ärgerlichen und hilflosen Geste.

„Aber ich finde, dass wir das einfach mal annehmen sollten, Mrs. Hanley“, sagte Nancy mit einem Lächeln, bei dem sich ihre roten Lippen leicht öffneten, wodurch sie noch hinreißender aussah als zuvor.

Mrs. Hanley wand sich in ihrem Sessel und eine Welle des Ärgers huschte über ihr rundes Gesicht. Einen Augenblick saß sie da und schaute Nancy einfach nur an, dann sagte sie: „Meine Liebe, würden Sie bitte Ihr Negligé herunterziehen? Es sind Herren anwesend.“

Vera Martin bemerkte mit einem herablassenden Lachen: „Ich bin sicher, dass Nancys allgemein bekannte Neigung zur Koketterie und …“

„Moment mal bitte, Mrs. Martin“, sagte Jimmie, während er seine Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückte. „Wir können das hier nicht erfolgreich zu Ende bringen, wenn wir die ganze Zeit nur Mrs. Randin mit Beschuldigungen überhäufen.“

„Das war keine Beschuldigung“, erwiderte Vera bissig.

„Aber Sie haben mich als kokett bezeichnet“, sagte Nancy vorwurfsvoll.

„Sehen Sie …“, begann Jimmie, wurde aber sofort von Bob Martin unterbrochen, der ein „Herrgott noch mal!“ von sich gab.

„Wie bitte?“, fragte Jimmie leise.

„Er hat ‚Herrgott noch mal!‘ gesagt“, erklärte Nancy ihm mit einem kleinen Seufzer.

„Wo ist Christopher!“, Mrs. Hanley sprang abrupt auf und starrte auf die Tür, durch die Christopher verschwunden war.

„Er ist in der Küche und mixt Cocktails“, sagte Jimmie. „Sobald er zurück ist, beginnen wir mit dem Verhör.“

„Was für ein Verhör?“, fragte Arthur Foster verzweifelt.

„Wieso?“, erwiderte Jimmie mit einem Lächeln. „Ich werde jeden hier in diesem Zimmer befragen, um herauszufinden, was Nancy passiert ist.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich“, protestierte Bob, rutschte auf seinem Sessel herum und stieß dabei einen Aschenbecher von der Lehne; einen Aschenbecher, der in der Stille des Zimmers mit einem Knall auf den glänzend polierten Boden schlug.

Jimmie sagte: „Sie scheinen nervös zu sein.“

„Natürlich ist er nervös“, brach es aus Mrs. Martin heraus. „Er will nicht, dass ich erfahre, was er in Mrs. Randins Zimmer gemacht hat.“

„Ich habe nichts in Mrs. Randins Zimmer gemacht“, verteidigte sich Bob. „Ich habe sie schreien gehört, bin aus dem Bett gesprungen und habe meinen Morgenrock angezogen. Ich dachte, es sei ihr etwas zugestoßen, deshalb bin ich hinübergerannt und …“

„Einen Augenblick bitte“, flehte Jimmie. „So führt das doch zu nichts. Dazu kommen wir später.“

Christopher kam mit einem großen Tablett herein, auf dem er Gläser, Eiswürfel, einen riesigen Cocktailshaker und eine Karaffe Whisky transportierte.

„Ah“, sagte Jimmie und betrachtete das Tablett.

„Wo bist du denn gewesen, Christopher?“, entfuhr es Mrs. Hanley.

Christopher antwortete heiser: „In der Küche, meine Liebe.“

„Wir werden uns jetzt alle einen Drink genehmigen“, sagte Jimmie, „und dann kommen wir zur Sache. Bitte reichen Sie die Cocktails herum, Christopher.“

Jimmie lehnte sich in seinem Sessel zurück und beobachtete Christopher, wie er schweigend umherlief und Cocktails servierte. Christopher war ein kleiner, untersetzter Mann, der auf die sechzig zuging und jetzt in dieser belastenden und peinlichen Situation etwas Verstohlenes und Bestürztes an sich hatte. Jimmie war völlig klar, dass im Hanley’schen Haushalt Myra die Hosen anhatte. Es war ihm auch sonnenklar, dass Christopher tief in seinem Herzen von leidenschaftlichen Liebesgeschichten und den Abenteuern der Jugend träumte.

Als er zu Nancy kam und ihr einen Cocktail reichte, schien Christopher ein wenig zu zittern. Mrs. Hanley beobachtete ihn argwöhnisch. Und als Nancy das Glas nahm, wandte er sich mit einem entschuldigenden Lächeln ab und verschüttete dabei einen anderen Cocktail auf seinem Morgenrock.

Jimmie sagte: „Sie scheinen auch nervös zu sein, Christopher.“

„Überhaupt nicht!“, knurrte Christopher. Er ging hinüber zu einem Sessel und ließ sich mit einem Stöhnen hineinfallen. „Das alles hier ist reiner Unsinn, bis nach zwei Uhr nachts aufzubleiben und über eine Frau zu diskutieren – darüber, warum eine Frau in meinem Haus geschrien hat.“

„Ach ja?“, sagte Mrs. Hanley mit einem schiefen Lächeln.

Jimmie erhob sich und nahm die Whiskykaraffe und ein Glas vom Tablett. Dann ging er hinten um den langen Konsolentisch herum, setzte sich in einen Sessel und wandte sich mit dem Whisky an seiner Seite seinem Publikum zu.

„Jetzt“, sagte Jimmie, „werden wir uns dieser Angelegenheit mit der Methode der Schlussfolgerung widmen. Ich denke, Sie alle wissen, dass ich ein erfahrener Strafrechtler bin. Ich vertrete auch Scheidungsfälle. Es gibt nur einen Weg, wie wir ein Problem dieser Art lösen können. Aber bevor ich hier zu tief in die Materie einsteige, Mrs. Hanley, gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie unbedingt herausfinden wollen, warum Mrs. Randin in ihrem Bett geschrien hat? Oder möchten Sie die Sache doch lieber auf sich beruhen lassen beziehungsweise auf nach dem Frühstück vertagen?“

„Ich will es jetzt erfahren, bevor ich zu Bett gehe“, stieß Mrs. Hanley bissig hervor. „Ich dulde nicht, dass mein Haus missbraucht wird für eine … eine …“

Liaison“, sagte Jimmie intuitiv. „Nun, ich möchte, dass alle die Wahrheit sagen. Wenn jeder die Wahrheit sagt, sollten wir innerhalb der nächsten zwei Stunden alle ins Bett kommen.“

„Mein Gott!“, stöhnte Christopher.

„Ich wäre schon jetzt gerne im Bett“, sagte Nancy, schob sich ein weiteres Kissen unter ihren hübschen Kopf und zog ihre schlanken Beine auf das Sofa.

„Bitte“, sagte Mrs. Hanley ärgerlich, „ziehen Sie Ihr Negligé herunter, wenn Sie Ihre Beine hier so präsentieren, Nancy!“

„Verzeihen Sie vielmals“, erwiderte Nancy mit einem kleinen Stirnrunzeln. „Aber das sind doch alles verheiratete Männer, mit Ausnahme von Jimmie.“

„Kümmern Sie sich nicht um mich“, sagte Jimmie mit einem einnehmenden Lächeln. „Ich weiß alles über Frauen und habe Anatomie studiert.“

„Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen“, sagte Nancy mit einem kleinen Seufzer.

„Ja, hat es“, erklärte Jimmie ihr ernst. „Es hat mich gelehrt, nicht nach Dingen zu suchen, die ich bereits kenne. Wir fangen jetzt an.“

Zweites Kapitel

Jimmie holte eine Zigarette aus der Tasche seines Morgenrocks und zündete sie an. Dann lehnte er sich über den Tisch, das Gesicht auf seine Hände gestützt. Im Raum wurde es plötzlich ganz still. Draußen quakten die Laubfrösche im Junimorgen. Mrs. Martin hatte die Vorhänge der Terrassentüren leicht zurückgezogen gelassen und ein vorwitziger Streifen Mondlicht fiel ins Zimmer und huschte verspielt über einen der teuren Teppiche.

Jimmie verkündete: „Wir sollten mit dem Opfer beginnen, das heißt mit dem Opfer des vereitelten Liebesanschlags …“

Mrs. Hanley gab ein entsetztes „Mein Gott!“ von sich.

„Was ist?“, fragt Jimmie höflich, drehte sein immer noch aufgestütztes Gesicht und schaute zu Mrs. Hanley.

„Sie sagte: ‚Mein Gott!‘“, bemerkte Christopher heiser aus den Tiefen seines Sessels am anderen Ende des Raumes. Seine Augen sahen sehr schläfrig aus und sein Gesicht war nach wie vor gerötet.

„Oh, verstehe“, sagte Jimmie und fixierte Mrs. Hanley mit seinem Blick. Sie starrte trotzig zurück. „Dann glauben Sie also nicht, dass der Eindringling derartige Absichten hatte?“

„Woher soll ich das wissen?“ Mrs. Hanley antwortete mit einem nervösen und ein wenig anzüglichen Kichern. „Wenn Nancy natürlich einen Mann in ihrem Zimmer erwartet hatte …“

„Warum, Myra“, erwiderte Nancy vorwurfsvoll, „dann hätte ich ja wohl nicht geschrien. Keine wohlerzogene Frau schreit, wenn etwas Erwartetes eintrifft.“

„Bestimmt nicht!“, sagte Mrs. Hanley und zupfte an ihrer Kette aus echten Perlen.

„Also“, erklärte Jimmie, „das verzögert die ganze Sache doch nur.“ Er warf Nancy einen kurzen Blick zu. „Wir werden mit dem Opfer des Verbrechens beginnen müssen, das heißt: mit dem Opfer des versuchten Verbrechens.“

„Selbstverständlich“, sagte Nancy. „Ich wurde ja nicht ermordet, also kann ich verhört werden.“

„Lächerlich!“, brummte Christopher.

„Bitte sei leise“, sagte Mrs. Hanley und brach völlig ohne Grund in Tränen aus.

„Schon gut, Liebes“, murmelte Christopher und erhob sich nervös von seinem Sessel.

„Halt den Mund!“, kreischte Mrs. Hanley.

„Setzen Sie sich bitte“, sagte Jimmie. „Ich werde jetzt Nancy befragen.“

„Wo werden Sie mich befragen?“, erkundigte sich Nancy naiv.

„Genau hier in diesem Zimmer“, sagte Jimmie mit einem matten Anwaltslächeln.

„Einverstanden“, erwiderte Nancy, „ich werde die Wahrheit sagen.“

„Das will ich hoffen“, sagte Jimmie, „denn das ist die einzige Möglichkeit, Mrs. Hanley mitzuteilen, was sie wissen will.“

„Das ist doch alles dummes Zeug“, erklärte Christopher, schob seine Hände verbissen in die Taschen seines Morgenrocks und versank noch tiefer in seinem Sessel.

„Sehen Sie“, sagte Jimmie entnervt, „jetzt haben Sie mich schon wieder aus dem Konzept gebracht.“

„Sie hatten doch nie eins“, warf Bob Martin ziemlich gereizt ein. „Das Ganze hier ist doch verdammter Unsinn. Jeder von uns ist hier zu Gast und wir kennen uns alle. Mrs. Randin hat mitten in der Nacht zufällig geschrien, weil sie irgendetwas erschreckt hat …“

„Es reicht“, sagte Jimmie. „Was Sie sagen, ist komplett unerheblich, Bob. Die Sache, die Nancy erschreckt hat, ist genau die Sache, hinter der wir her sind – ich meine natürlich theoretisch, nicht praktisch. Das heißt, wenn wir wissen, warum sie geschrien hat, haben wir die Lösung des Rätsels, das uns alle am Schlafen hindert. Ein Geheimnis, das Mrs. Hanley so sehr erzürnt hat, dass sie fest entschlossen ist herauszufinden, ob irgendein Mann ihrer Wochenendgesellschaft mitten in der Nacht heimlich in Mrs. Randins Zimmer geschlichen ist, in der festen Absicht …“

„Hören Sie auf “, rief Mrs. Hanley errötend. „Wir wissen, was Sie meinen, aber bitte verschonen Sie uns mit Ihrer juristischen Unverblümtheit.“

„Fahren wir also fort“, sagte Jimmie. Er betrachtete Nancy und auch sie schaute ihn an. Jimmie fand, dass sie etwas Unwiderstehliches an sich hatte. Vielleicht war es die Art, wie sie auf dem Sofa lag und die ihre wunderbaren Kurven bestens zur Geltung brachte. Er fand, ihr Negligé ließ kaum etwas zu wünschen übrig. Vor seinem inneren Auge blitzte ein Bild von Cleopatra auf. Natürlich war das eine reine Fantasievorstellung, aber Nancy war eben ein Mädchen, das die Fantasie eines jeden Mannes entzündete.

Jimmie schüttelte sich innerlich und sagte: „Also gut. Nun, Mrs. Randin …“

„Nennen Sie mich bitte Nancy.“

„Aber ich kann Sie nicht Nancy nennen, wenn ich Sie verhöre.“

„Gut“, erwiderte Nancy, „wenn es wirklich so formal zugehen muss …“ Sie setzte sich aufrecht auf das Sofa, spitzte ihre roten Lippen und lehnte sich vor, das Kinn auf eine Handfläche gestützt.

„Gehe ich recht in der Annahme“, sagte Jimmie vorsichtig, „dass Sie Witwe sind?“

„Ja, ich bin verwitwet“, erwiderte Nancy.

„Wie alt sind Sie, Mrs. Randin?“

„Sie meinen in Wirklichkeit?“

„Ja, natürlich.“

„Na ja“, sagte Nancy und starrte auf den Boden, „ich bin so um die siebenundzwanzig.“

„Es tut mir sehr leid, Sie zu unterbrechen, Mr. Landon“, sagte Mrs. Hanley mit einem Lächeln, „aber vor zwei Wochen bei den Brownes hat mir Nancy erzählt, dass sie schon über dreißig sei.“

„Sind Sie um die siebenundzwanzig oder dreißig?“, fragte Jimmie.

„In Wirklichkeit um die siebenundzwanzig“, antwortete Nancy ernst.

„Und Sie sind Witwe?“

„Ja, ich war Witwe.“

„Waren Sie denn mehr als einmal verheiratet?“

„Oh nein. Einmal war genug.“

„Was für einen Unterschied macht da ihr Alter?“, wollte Christopher wissen, setzte sich in seinem Sessel auf und fixierte Jimmie unter schweren Augenlidern.

Jimmie sah ihn an. „Ich wollte einfach nur wissen, ob sie die Wahrheit sagt.“

„Hah!“, erwiderte Christopher und ließ sich zurück in seinen Sessel fallen. „Das ist doch der verdammteste, der gottverdammteste …“

„Christopher!“, rief Mrs. Hanley, sprang von ihrem Sessel auf und starrte ihren Mann mit flammendem Blick an.

„Schon gut, meine Liebe“, sagte Christopher kleinlaut, „aber so ist es doch.“

„Ganz meine Meinung“, murmelte Arthur Foster.

„Ach, findest du!“, sagte Mrs. Foster mit einer verächtlichen Kopfbewegung.

„Also, Mrs. Randin“, begann Jimmie erneut, „da ich nichts über Sie weiß, werden Sie verstehen, dass ich Ihnen eine Reihe intimer Fragen stellen muss, um dieses Verhör auf intelligente Weise durchführen zu können.“

„Oh, das geht schon in Ordnung“, erwiderte Nancy lächelnd. „Ich habe nichts gegen Intimität.“

„Das kann ich mir denken“, stimmte ihr Mrs. Hanley höhnisch zu.

Jimmie richtete seinen Blick auf Mrs. Hanley. Sie war ziemlich blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah aus, als bräuchte sie dringend Ruhe. Dennoch war sie eine dieser fest entschlossenen und unermüdlichen Frauen, die keine Ruhe gaben, wenn es darum ging, einen Skandal ans Licht zu bringen.

Jimmie fragte: „Mrs. Hanley, haben Sie Lysistrata gesehen?“

„Ja, natürlich habe ich Lysistrata gesehen“, erwiderte Mrs. Hanley kühl.

„Dann“, sagte Jimmie, „wissen Sie ja, dass die alten Griechen ein Wort dafür hatten.“

„Ein Wort wofür?“, bellte Christopher aus seinem Sessel am anderen Ende des Raumes.

Nancy gähnte und strich sich mit ihrer schlanken weißen Hand über die Augen. Sie betrachtete Jimmie mit einem leicht ungläubigen Lächeln, so als hätte sie in diesem Haus auf Long Island, in dem die Society-Dame Mrs. Christopher Keaton Hanley und ihr Ehemann Christopher lebten, eine fremde und unwirkliche Welt betreten.

Plötzlich breitete sich ein Schweigen aus. Es war ein wohlerzogenes und zugleich peinliches Schweigen. Alle schauten Christopher an, der das aber nicht zu bemerken schien. Dieser wiederum starrte zu Jimmie und dachte bei sich, dass dieser ein verdammter Narr sei. Es ging ihm durch den Kopf, dass Jimmie den Ruf eines klugen Anwalts hatte, aber ebenjetzt schien es Christopher, als wäre Jimmie einfach nur ein Esel.

Das Schweigen dauerte an. Es hielt sich so hartnäckig, dass Mrs. Hanley sich nervös räusperte und Mrs. Martin ihre Beine übereinanderschlug.