VERONICA ROTH
RAT
DER
NEUN
-
GEZEICHNET
Aus dem Amerikanischen
von Petra Koob-Pawis
und Michaela Link
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© 2017 by Veronica Roth
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Carve the Mark« bei Katherine Tegen Books,
an imprint of HarperCollins Children’s Books, New York
© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe
cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
literarische Agentur Thomas Schlück, 30287 Garbsen.
Übersetzung: Petra Koob-Pawis und Michaela Link
Lektorat: Jana Breunig und Michelle Gyo
Covergestaltung: semper smile, München
unter Verwendung des Originalmotivs © 2017 by Veronica Roth.
Jacket art by Jeff Huang. Jacket design by Joel Tippie.
Map illustrated by Virginia Allyn. All other design elements go under:
Typography by Joel Tippie.
Used with permission. All rights reserved.
jb · Herstellung: sto
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20793-9
V005
www.cbt-buecher.de
Für Ingrid und Karl –
weil es keine Version von euch gibt,
die ich nicht liebe
TEIL 1
KAPITEL 1
AKOS
DIE RAUSCHBLUMEN BLÜHTEN nur in der längsten Nacht. Die ganze Stadt feierte, wenn sich die Blütenblätter zu einem satten Rot entfalteten – zum einen, weil die Rauschblumen das Herzblut des Volkes darstellten, zum anderen – das vermutete Akos –, damit nicht alle in der Kälte den Verstand verloren.
An diesem Tag, dem Fest der Blüte, schwitzte er in seinem Mantel, während sich der Rest der Familie noch fertig machte, daher ging er in den Garten, um sich etwas abzukühlen. Das Haus der Kereseths hatte runde Außen- und Innenmauern und in seinem Innenhof befand sich ein Brennofen. Das sollte angeblich Glück bringen.
Die frostkalte Luft brannte in Akos’ Augen, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Er zog seine Schutzbrille von der Stirn nach unten über die Augen. Die Wärme seiner Haut ließ das Glas sofort beschlagen. Mit behandschuhten Fingern tastete er nach dem metallenen Schüreisen und stieß es unter die Brennofenhaube. Die Brennsteine im Ofen sahen aus wie schwarze Klumpen, bis sie durch die Reibung aufflammten. Dann funkelten sie in verschiedenen Farben, je nachdem, womit sie bestäubt waren.
Die Brennsteine leuchteten blutrot auf. Hier draußen sollten sie nichts erwärmen oder beleuchten, sondern nur an den Strom erinnern. Als sei das Summen, das Akos im ganzen Leib spürte, nicht Erinnerung genug. Der Strom floss durch jedes lebende Ding und zeigte sich am Himmel in allen Farben. Wie die Brennsteine. Wie das Licht der Gleiter, die auf ihrem Weg zum Zentrum der Stadt über sie hinwegschwebten. Bewohner anderer Welten, die in diesem Planeten nur eine Schneewüste sahen, hatten sich noch nie hierherverirrt.
Eijeh, Akos’ älterer Bruder, streckte den Kopf aus der Haustür. »Willst du erfrieren, oder was? Komm schon, Mom ist fast so weit.«
Ihre Mutter brauchte immer etwas länger, um sich fertig zu machen, wenn sie in den Tempel gingen. Immerhin war sie das Orakel. Alle Blicke würden auf sie gerichtet sein.
Akos legte das Schüreisen beiseite, kehrte ins Haus zurück, schob die Schutzbrille wieder hoch und zog den Gesichtsschutz herunter.
Eingemummt in ihre wärmsten Kapuzenmäntel standen sein Vater und Cisi, seine ältere Schwester, an der Vordertür und warteten. Ihre Mäntel waren alle aus demselben Material gefertigt – Kutyah-Pelz, den man nicht färben konnte, weshalb die Kleidungsstücke alle grauweiß waren.
»Bist du so weit, Akos? Gut.« Seine Mutter machte ebenfalls ihren Mantel zu. Dabei fiel ihr Blick auf die alten Stiefel ihres Mannes. »Irgendwo wirbelt jetzt die Asche deines Vaters auf, weil deine Schuhe so schmutzig sind, Aoseh.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich mir ja solche Mühe gegeben, sie dreckig zu machen«, erwiderte Akos’ Vater grinsend.
»Gut«, sagte sie. Tatsächlich zirpte sie es beinahe. »Mir gefallen sie so.«
»Dir gefällt alles, was meinem Vater nicht gefallen hat.«
»Das liegt daran, dass ihm nichts gefallen hat.«
»Können wir in den Gleiter steigen, solange er noch warm ist?«, bat Eijeh in nörgeligem Ton. »Ori wartet beim Denkmal auf uns.«
Akos’ Mutter hatte ihren Mantel inzwischen geschlossen und setzte den Gesichtsschutz auf. Gemeinsam eilten sie die beheizte Auffahrt hinunter – fünf in Pelze, Schutzbrillen und Fäustlinge vermummte Gestalten. Ein kompakter runder Gleiter wartete auf sie. Er schwebte auf Kniehöhe über dem festen Schnee. Die Tür öffnete sich, sobald Akos’ Mutter sie berührte, und alle stiegen ein. Niemand machte sich die Mühe, einen Sicherheitsgurt anzulegen.
»Auf zum Tempel!«, rief Akos’ Vater mit erhobener Faust. Das machte er immer, wenn sie dorthin wollten. So als würde er über einen langweiligen Vortrag oder eine besonders lange Warteschlange am Wahltag jubeln.
»Wenn wir diese Aufregung doch nur in Flaschen füllen und in ganz Thuvhe verkaufen könnten. Die meisten Leute sehe ich höchstens einmal während eines Zeitlaufs, und dann auch nur, weil am Tempel Mahlzeiten und Getränke auf sie warten«, meinte Akos’ Mutter mit einem leichten Lächeln.
»Da hast du die Lösung«, erwiderte Eijeh. »Ködere sie einfach die ganze Zeit über mit Essen.«
»Die Weisheit der Kinder«, murmelte ihre Mutter und drückte mit dem Daumen auf die Zündung.
Der Gleiter schoss so ruckartig nach oben, dass alle übereinanderfielen. Eijeh stieß Akos lachend von sich.
Vor ihnen funkelten die Lichter Hessas. Die Stadt schmiegte sich an einen Hügel. An dessen Fuß lag der Militärstützpunkt, auf dem Gipfel der Tempel und dazwischen alles andere. Ihr Ziel war der Tempel, ein großer Steinbau mit einer Kuppel aus Hunderten farbiger Glasscheiben. Wenn die Sonne schien, leuchtete Hessas Gipfel orangerot. Also so gut wie nie, da die Sonne fast niemals schien.
Der Gleiter schwebte den Hügel hinauf und driftete über die steinerne Stadt, die so alt war wie die Verbindung zwischen ihrem Volk und seinem Heimatplaneten – Thuvhe, wie alle bis auf ihre Feinde ihn nannten, ein Name wie ein Hauch, der für die meisten von außerhalb kaum aussprechbar war. Die Hälfte der schmalen Häuser war unter Schneewehen vergraben. Fast alle waren verlassen. Heute Abend versammelten sich die Menschen im Tempel.
»Hast du irgendetwas Interessantes gesehen?«, fragte Akos’ Vater seine Frau, während er den Gleiter um einen besonders hohen Windmesser steuerte, der sich im Kreis drehte.
Der Tonfall verriet Akos, dass sein Vater sie nach ihren Visionen fragte. Jeder Planet der Galaxie hatte drei Orakel, ein aufsteigendes, ein sitzendes und ein fallendes. Akos verstand nicht ganz, was das bedeutete. Er wusste nur, dass der Strom seiner Mutter die Zukunft ins Ohr flüsterte und dass die meisten Leute ihr mit Ehrfurcht begegneten.
»Ich habe neulich vielleicht deine Schwester gesehen …«, antwortete Akos’ Mutter. »Ich bezweifle jedoch, dass sie davon wissen will.«
»Sie ist nur der Ansicht, dass die Zukunft mit dem nötigen Respekt behandelt werden sollte.«
Ihre Mutter ließ der Reihe nach den Blick über Akos, Eijeh und Cisi wandern.
»So ist es wohl, wenn man wie ich in eine Militärfamilie einheiratet«, bemerkte sie schließlich. »Ihr wollt, dass immer alles unter Kontrolle ist, sogar meine Lebensgabe.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass ich mich den Erwartungen meiner Familie entzogen habe und Bauer geworden bin statt Hauptmann beim Militär?«, wandte Akos’ Vater ein. »Meine Schwester meint es nicht böse, sie wird einfach manchmal nervös, das ist alles.«
»Hm«, murmelte Akos’ Mutter, als sei das ganz und gar nicht alles.
Cisi begann zu summen. Akos hatte die Melodie schon einmal gehört, er wusste nur nicht, wo. Seine Schwester blickte aus dem Fenster und achtete nicht auf den Streit. Kurz darauf brach das Gezänk der Eltern ab, nur Cisis Summen war noch zu hören. Cisi hatte so eine Leichtigkeit an sich, behauptete sein Vater stets. Sie verstand es, zu beschwichtigen.
Der Tempel war erleuchtet, innen wie außen. Lichterketten mit Laternen, nicht größer als Akos’ Faust, hingen über dem gewölbten Eingang. Überall waren Gleiter, auf deren dicken Bäuchen sich Streifen aus farbigem Licht spiegelten. Sie parkten nebeneinander auf dem Hügel oder umkreisten das Kuppeldach auf der Suche nach einem Landeplatz. Akos’ Mutter kannte alle geheimen Plätze rings um den Tempel, daher dirigierte sie ihren Mann zu einer dunklen Nische in der Nähe des Speisesaals und führte die Familie dann im Laufschritt zu einer Nebentür, die sie mit beiden Händen aufdrückte.
Sie eilten einen düsteren steinernen Gang entlang, über Teppiche, die so abgenutzt waren, dass man fast durch sie hindurchschauen konnte, vorbei an dem niedrigen, von Kerzen beschienenen Denkmal für jene Thuvhesi, die der Shotet-Invasion vor Akos’ Geburt zum Opfer gefallen waren.
Akos hatte seine Schritte verlangsamt, um sich die flackernden Kerzen anzusehen, und Eijeh legte ihm jetzt von hinten die Hände auf die Schultern. Akos schnappte erschrocken nach Luft. Als er begriff, wer es war, errötete er. Eijeh kniff ihm lachend in die Wange. »Ich kann sogar im Dunkeln sehen, wie rot du geworden bist!«
»Halt den Mund«, knurrte Akos.
»Eijeh«, tadelte ihre Mutter. »Zieh ihn nicht auf.«
Das sagte sie andauernd. Akos hatte das Gefühl, dass er ständig wegen irgendetwas errötete.
»War doch nur ein Scherz …«
Im Zentrum des Gebäudes, vor der Halle der Prophezeiung, hatte sich bereits eine Menschenmenge gebildet. Alle zogen ihre Überschuhe aus, streiften die Mäntel ab, schüttelten ihr von den Kapuzen plattgedrücktes Haar auf und hauchten warme Luft auf die vor Kälte klammen Finger. Die Kereseths legten ihre Mäntel, Schutzbrillen, Fäustlinge, Stiefel und Gesichtsschutze in eine dunkle Nische unter einem purpurnen Fenster, in das ein Thuvhesi-Zeichen eingeritzt war, das den Strom symbolisierte. Gerade als sie sich wieder der Halle der Prophezeiung zuwandten, hörte Akos eine vertraute Stimme.
»Eij!« Ori Rednalis, Eijehs beste Freundin, stürmte heran. Das schlaksige Mädchen wirkte etwas unbeholfen und schien nur aus Knien, Ellbogen und wirren Haaren zu bestehen. Akos hatte sie noch nie zuvor in einem Kleid gesehen, aber jetzt trug sie eines aus schwerem purpurrotem Stoff, das an der Schulter wie eine Militäruniform geknöpft war.
Schlitternd kam Ori vor Eijeh zum Stehen. Ihre Fingerknöchel waren rot von der Kälte. »Da bist du ja. Ich musste die ganze Zeit zuhören, wie zwei meiner Tanten über den Hohen Rat wettern, und jetzt bin ich kurz vorm Explodieren.« Akos hatte selbst schon eine von Oris zahlreichen Tanten über die Regierung der Galaxie schimpfen hören, weil diese sich angeblich nur dann für Thuvhe interessierte, wenn es um die Eisblumenproduktion ging, und weil sie die Angriffe der Shotet als bloße »Rechtsstreitigkeiten« abtat. Die Tante hatte nicht ganz unrecht, aber Akos fühlte sich unwohl, wenn Erwachsene sich über etwas aufregten. Er wusste dann nie, was er sagen sollte.
Da rief Ori: »Hallo Aoseh, Sifa, Cisi, Akos. Frohes Blütenfest! Komm, Eij, lass uns gehen«, fügte sie in einem Atemzug an, ohne Luft zu holen.
Eijeh sah seinen Vater fragend an, woraufhin dieser mit der Hand wedelte. »Nur zu, wir sehen uns später.«
»Wenn wir dich mit einer Pfeife im Mund erwischen, so wie das letzte Mal«, warf seine Mutter ein, »dann wirst du das Zeug aufessen, das garantiere ich dir.«
Eijeh zog nur die Augenbrauen hoch. Ihm war niemals irgendetwas peinlich, er war nie verlegen. Nicht einmal wenn die Kinder in der Schule ihn wegen seiner Stimme verspotteten, die höher war als die der meisten Jungen, oder weil er reich war – was einen in Hessa nicht gerade beliebt machte. Er gab auch keine Widerrede. Er hatte einfach das Talent, Dinge auszublenden und sie nur dann an sich heranzulassen, wenn er es wollte.
Jetzt fasste er Akos am Ellbogen und zog ihn mit sich hinter Ori her. Cisi blieb wie immer bei den Eltern zurück, während Eijeh und Akos Ori in die Halle der Prophezeiung folgten.
Ori schnappte nach Luft, und als Akos sich in der Halle umsah, tat er es auch. Unter der Kuppel hingen Hunderte von Laternen, und alle waren mit Rauschblüten überstäubt, um sie rot zu färben. Vom Scheitelpunkt der Kuppel bis hinunter zu den Außenwänden erstreckte sich ein Baldachin aus Licht. Sogar Eijehs Zähne glänzten rot, als er Akos angrinste. Mitten in der ansonsten leeren Halle lag eine Scheibe aus Eis von etwa einer Mannslänge Durchmesser. Darin wuchsen Dutzende Rauschblumen, deren Blüten noch geschlossen waren, sich aber bald öffnen würden.
Brennsteinlaternen, so groß wie Akos’ Daumen, säumten die Eisscheibe. Sie brannten weiß – vermutlich, um die Farbe der Rauschblüten noch besser zur Geltung zu bringen, die in einem so satten Rot erstrahlen würden, wie es keine Laterne hervorzubringen vermochte. Eine Farbe wie Blut, sagten manche.
Viele Menschen schlenderten in der Halle umher und alle waren festlich gekleidet. Sie trugen weite Gewänder, die nur Hände und Kopf freiließen und mit kunstvollen Glasknöpfen in allen erdenklichen Farben geschlossen wurden; dazu knielange, mit weichem Eltepelz gesäumte Westen und doppelt gewickelte Halstücher. Alles in dunklen, kräftigen Farben – Hauptsache, es unterschied sich von dem Weiß und Grau ihrer Mäntel. Akos’ Jacke war dunkelgrün, er hatte sie von Eijeh übernommen und an den Schultern war sie ihm noch etwas zu weit. Eijehs Jacke war braun.
Ori führte sie direkt zu den Speisen, wo ihre sauertöpfische Tante auf Platten angerichtete Leckerbissen anbot und Ori völlig ignorierte. Akos ahnte, dass Ori ihre Tante und ihren Onkel nicht mochte und deshalb mehr oder weniger bei den Kereseths lebte, aber er wusste nicht, was mit ihren Eltern passiert war. Eijeh stopfte sich gierig ein Brötchen in den Mund und verschluckte sich fast an den Krümeln.
»Vorsicht«, spottete Akos. »Tod durch Brot ist keine würdevolle Art zu sterben.«
»Zumindest werde ich bei etwas sterben, das ich liebe«, wandte Eijeh mit vollem Mund ein.
Akos lachte.
Ori schlang den Arm um Eijehs Hals und zog ihren Freund an sich. »Schau nicht hin. Neugierige Blicke von links.«
»Na und?« Eijeh spuckte Krümel, während er sprach. Akos hingegen spürte bereits, wie die Hitze seinen Hals hinaufkroch. Er riskierte einen Blick nach links. Dort standen ein paar Erwachsene, die sie stumm beobachteten.
»Man sollte meinen, du hättest dich inzwischen daran gewöhnt, Akos«, stellte Eijeh fest. »Schließlich passiert uns das andauernd.«
»Man sollte meinen, sie hätten sich inzwischen an uns gewöhnt«, erwiderte Akos. »Wir haben unser ganzes Leben hier verbracht, und wir hatten schon immer Schicksale, was gibt es da also noch zu sehen?«
Alle hatten eine Zukunft, aber nicht alle hatten ein Schicksal – zumindest behauptete ihre Mutter das. Nur Abkömmlinge »gesegneter« Familien hatten Schicksale, vorhergesagt im Augenblick ihrer Geburt, im Geheimen und zeitgleich von jedem Orakel auf jedem Planeten. Einstimmig. Wenn die Visionen kamen, rissen sie die Orakel aus dem tiefsten Schlaf, so mächtig waren sie.
Eijeh, Cisi und Akos hatten Schicksale, aber obwohl ihre eigene Mutter zu denjenigen gehörte, die sie gesehen hatte, wussten sie nichts Genaueres. Ihre Mutter war der Ansicht, sie bräuchte sie ihnen nicht mitzuteilen, denn das würde die Welt zur gegebenen Zeit für sie tun.
Es hieß, die Schicksale bestimmten die Zukunft der Welten. Wenn Akos zu lange darüber nachdachte, wurde ihm immer übel.
Ori zuckte die Achseln. »Meine Tante sagt, der Hohe Rat habe sich in letzter Zeit in den Nachrichten kritisch über die Orakel geäußert, und das geht wahrscheinlich immer noch allen im Kopf herum.«
»Kritisch?«, wiederholte Akos. »Wieso?«
Eijeh ging nicht auf die beiden ein. »Kommt, suchen wir uns einen guten Platz.«
Oris Miene hellte sich auf. »Ja, einverstanden. Ich will nicht wie letztes Mal irgendwo festsitzen, wo ich nur die Hintern anderer Leute vor mir sehe.«
»Über die Hintern bist du inzwischen hinausgewachsen«, entgegnete Eijeh prompt. »Jetzt bist du ungefähr auf mittlerer Rückenhöhe.«
»Na toll, dann habe ich dieses Kleid angezogen, wie es meine Tante wollte, damit ich jetzt lauter Rücken anstarren kann«, stöhnte Ori und verdrehte entnervt die Augen.
Diesmal bahnte Akos sich als Erster den Weg durch die Menge. Er duckte sich unter Weingläsern und weit ausholenden Gesten hindurch, bis er ganz vorn war, direkt an der Eisplatte mit den noch geschlossenen Rauschblumen. Keinen Augenblick zu früh. Ihre Mutter hatte bereits die Schuhe ausgezogen, obwohl es nahe der Eisplatte kühl war. Sie fand, sie war ein besseres Orakel, wenn sie den Boden unter den Füßen spürte.
Gerade hatte Akos noch mit Eijeh gelacht, aber als die Menge verstummte, wurde auch in Akos alles still.
Eijeh beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Spürst du das? Der Strom summt hier drin wie verrückt. Es ist, als würde meine Brust vibrieren.«
Akos hatte es nicht bemerkt, aber Eijeh hatte recht – auch er hatte das Gefühl, als würde seine Brust vibrieren, als würde sein Blut singen. Aber bevor er antworten konnte, sprach ihre Mutter. Nicht sehr laut, doch das brauchte sie auch nicht, denn alle kannten die Worte auswendig.
»Der Strom fließt durch alle Planeten der Galaxie und schenkt uns sein Licht als Beweis seiner Macht.« Wie aufs Stichwort blickten alle zu dem Stromfluss auf, der durch das rote Glas der Kuppel zu sehen war. Zu dieser Zeit leuchtete der Stromfluss fast immer dunkelrot, genau wie die Rauschblüte. Es war das sichtbare Zeichen des Stroms, der sie alle durchfloss, jede lebende Kreatur. Er schlängelte sich durch die Galaxie und band alle Planeten zusammen wie Perlen an einer Schnur.
»Der Strom fließt durch alles, was Leben hat«, fuhr Sifa fort. »Er erschafft einen Raum, in dem Leben gedeihen kann. Der Strom fließt durch jedes atmende Wesen und kommt verändert durch das Sieb eines jeden Geistes wieder zum Vorschein. Der Strom fließt durch jede Blume, die im Eis blüht.«
Sie rückten zusammen – nicht nur Akos und Eijeh und Ori, sondern alle, die sich in der Halle versammelt hatten. Sie standen Schulter an Schulter, damit alle sehen konnten, was mit den Rauschblumen auf der Eisfläche geschah.
»Der Strom fließt durch jede Blume, die im Eis blüht«, wiederholte Sifa. »Er gibt ihr die Kraft, in der tiefsten Dunkelheit zu blühen. Die größte Kraft verleiht der Strom der Rauschblume, die unseren Zeitenlauf bestimmt und die sowohl Tod als auch Frieden spendet.«
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, aber es war nicht unangenehm, wie man es vielleicht hätte erwarten können. Es war vielmehr, als würden sie alle gemeinsam summen, brummen, singen und dabei die seltsame Macht spüren, die das Universum befeuerte, so wie Reibung die Brennsteine befeuerte.
Und dann – Bewegung. Ein bebendes Blütenblatt. Ein knirschender Stängel. Ein Schauder durchlief das kleine Feld von Rauschblumen. Niemand gab einen Laut von sich.
Akos schaute hinauf zu dem Baldachin aus Laternen an der roten Glaskuppel, einen Augenblick nur, und doch hätte er ihn beinahe verpasst – den Moment, in dem die Blumen aufplatzten. Wie auf einen stummen Befehl hin entfalteten sich die roten Blütenblätter, klappten über die Stängel und offenbarten ihre leuchtende Mitte. Die gesamte Eisschicht war wie mit Farbe überzogen.
Alle atmeten auf und applaudierten. Akos klatschte zusammen mit den anderen, bis seine Hände brannten. Sein Vater ging hinauf, um die Hände seiner Frau zu ergreifen und ihr einen Kuss zu geben. Für alle anderen war sie unantastbar: Sifa Kereseth, das Orakel, die Frau, deren Lebensgabe ihr Visionen der Zukunft schenkte. Aber sein Vater berührte sie immer, pikste mit der Fingerspitze in ihr Grübchen, wenn sie lächelte, schob widerspenstige Strähnen zurück in den Haarknoten und hinterließ gelbe Mehlfingerabdrücke auf ihren Schultern, wenn er Brotteig knetete.
Akos’ Vater konnte die Zukunft nicht sehen, aber er besaß die Gabe, nur mit der Berührung seiner Finger Dinge zu reparieren, etwa zerbrochene Teller oder den Riss in einem Wandschirm oder den ausgefransten Saum eines alten Hemds. Manchmal gab er einem das Gefühl, als könne er auch Menschen wieder in Ordnung bringen, wenn sie sich in Schwierigkeiten gebracht hatten. Akos war es daher nicht einmal peinlich, als sein Vater zu ihm kam und ihn in seine Arme zog.
»Kleinstes Kind!«, rief er und warf sich Akos über die Schulter. »Oh – gar nicht mehr so klein. Ich schaffe das jetzt ja gerade noch so.«
»Das liegt nicht daran, dass ich groß geworden bin, sondern daran, dass du alt geworden bist«, erwiderte Akos.
»Solche Worte! Von meinem eigenen Sohn«, rief sein Vater. »Mal sehen, welche Strafe eine solch scharfe Zunge verdient …«
»Bitte nicht …«
Aber es war zu spät, sein Vater hatte ihn bereits über den Rücken hinuntergleiten lassen, bis er ihn nur noch an den Fußgelenken festhielt. Akos, der nun kopfüber hing, drückte sein Hemd und seine Jacke an den Körper, aber er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Aoseh ließ ihn ganz hinab und gab ihn erst frei, als Akos unversehrt auf dem Boden lag.
»Lass dir das eine Lehre sein, was Frechheiten angeht«, sagte sein Vater und beugte sich über ihn.
»Weil Frechheit einem das Blut in den Kopf schießen lässt?«, gab Akos zurück und blinzelte unschuldig zu ihm auf.
»Ganz genau.« Aoseh grinste. »Frohes Blütenfest!«
Akos erwiderte das Grinsen. »Dir auch.«
In dieser Nacht blieben sie alle lange auf, bis Eijeh und Ori schließlich am Küchentisch einschliefen. Akos’ Mutter trug Ori zum Sofa im Wohnzimmer, auf dem sie in letzter Zeit gut die Hälfte ihrer Nächte verbrachte, und sein Vater weckte Eijeh. Danach zogen sich alle zurück, bis auf Akos und seine Mutter. Die beiden waren immer die Letzten, die noch auf waren.
Sifa schaltete den Bildschirm ein und ließ die Nachrichten des Hohen Rates leise laufen. Im Hohen Rat waren neun Nationenplaneten vertreten. Doch das waren nur die größten oder wichtigsten. Formal war jeder Nationenplanet unabhängig, aber der Hohe Rat regelte Handel, Waffen, Bündnisse und Reisen und setzte dort seine Gesetze durch, wo keine anderen galten. Die Nachrichten des Hohen Rats berichteten nacheinander über alle Nationenplaneten: Wasserknappheit auf Tepes, medizinische Neuerungen auf Othyr, Piraten, die ein Schiff im Orbit von Pitha geentert hatten.
Akos’ Mutter öffnete Dosen mit getrockneten Kräutern. Zuerst dachte Akos, sie wolle einen beruhigenden Trank brauen, damit sie beide zur Ruhe kamen, aber dann ging sie an den Schrank im Flur, um den Krug mit Rauschblüten zu holen, der dort auf dem obersten, schwer erreichbaren Regalbrett stand.
»Ich habe mir für die heutige Lektion etwas Besonderes überlegt«, begann Sifa. Insgeheim nannte Akos seine Mutter immer beim Vornamen, wenn sie ihm etwas über Eisblumen beibrachte. Sie hatte sich vor zwei Zeitläufen angewöhnt, dieses spätabendliche Zusammenbrauen von Tränken scherzhaft als »Lektionen« zu bezeichnen, aber diesmal schien sie es tatsächlich ernst zu meinen. Schwer zu sagen bei einer Mutter wie dieser.
»Nimm dir ein Brett und schneide etwas Harvawurzel für mich«, bat sie und streifte sich Handschuhe über. »Wir haben schon einmal Rauschblüten benutzt, nicht wahr?«
»Ja, für ein Schlafelixier«, bestätigte Akos und tat wie ihm geheißen. Mit Schneidebrett, Messer und einer staubigen Harvawurzel stellte er sich an die linke Seite seiner Mutter. Die Wurzel war von einem fahlen Weiß und mit feinem Flaum bedeckt.
»Und für diesen Entspannungstrank«, fügte sie hinzu. »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir damals gesagt, er würde dir eines Tages bei Partys nützlich sein. Wenn du älter bist.«
»Ja«, bestätigte Akos. »Und ja, du hast auch gesagt: ›Wenn du älter bist.‹«
Seine Mutter lächelte fast unmerklich. Mehr als das konnte man ihr meist nicht entlocken.
»Dieselben Zutaten, die du, wenn du älter bist, vielleicht zur Entspannung benutzen wirst, kannst du auch für ein Gift verwenden«, erklärte sie mit ernster Miene. »Indem du doppelt so viel Rauschblüte und nur halb so viel Harvawurzel nimmst. Verstanden?«
»Warum …«, fing Akos an, aber seine Mutter wechselte bereits das Thema.
»Also …« Sie legte ein Blütenblatt der Rauschblume auf ihr eigenes Schneidbrett. Das Blatt war noch rot, aber bereits verwelkt und ungefähr so lang wie ihr Daumen. »Was geht dir heute Nacht so durch den Kopf?«
»Nichts«, antwortete Akos. »Vielleicht, dass uns die Menschen beim Blütenfest im Tempel angestarrt haben.«
»Die mit einem Schicksal Gesegneten üben eine Faszination auf andere aus. Ich würde dir gern sagen, dass sie eines Tages aufhören werden, euch anzustarren«, seufzte Akos’ Mutter, »aber ich fürchte, dass man vor allem dich immer anstarren wird.«
Er hätte gerne gewusst, warum sie das »dich« betont hatte, aber er hatte gelernt, sich während Sifas Lektionen mit Fragen zurückzuhalten. Eine falsche Frage und sie beendete die Lektionen ganz plötzlich. Bei der richtigen Frage erfuhr man mitunter jedoch Dinge, die man gar nicht wissen durfte.
»Wie sieht es mit dir aus?«, erkundigte er sich. »Ich meine, was beschäftigt dich gerade?«
»Ah.« Seine Mutter hackte mit fließenden Bewegungen, das Messer tanzte bei ihr nur so übers Brett. Er selbst wurde auch immer geschickter darin, obwohl er noch manchmal etwas aus Versehen abschnitt. »Heute Nacht plagen mich Gedanken an die Familie Noavek.«
Ihre Füße waren nackt, die Zehen gekrümmt vor Kälte. Die Füße eines Orakels.
»Das ist die herrschende Familie von Shotet«, fügte sie erklärend hinzu. »Dem Land unserer Feinde.«
Die Shotet waren ein Volk, kein Nationenplanet, und sie waren für ihre Wildheit und ihre Brutalität bekannt. Sie ritzten sich Zeichen in den Arm für jedes Leben, das sie genommen hatten, und bildeten schon die Kinder in der Kriegskunst aus. Sie lebten auf Thuvhe, dem Planeten, den auch Akos und seine Familie bewohnten, allerdings nannten sie ihn nicht »Thuvhe« und sich selbst bezeichneten sie auch nicht als »Thuvhesi«. Das Gebiet der Shotet erstreckte sich jenseits einer großen Federgrassteppe. Auch vor den Fenstern des Hauses, in dem Akos’ Familie wohnte, wogte Federgras.
Seine Großmutter, die Mutter seines Vaters, war bei einer Shotet-Invasion gestorben – bewaffnet mit nichts als einem Brotmesser. So erzählte es jedenfalls sein Vater. Und die Stadt Hessa trug noch immer die Narben von Gewalttaten der Shotet – die in niedrige Steinmauern gemeißelten Namen der Gefallenen, die zerbrochenen Fenster, die nur notdürftig ausgebessert statt richtig repariert worden waren, sodass man immer noch die Risse sah.
Jenseits des Federgrases. Manchmal schien das so nah, als könne man die Hand ausstrecken und es berühren.
»Auch die Mitglieder der Familie Noavek sind mit einem Schicksal gesegnet, wusstest du das? So wie du und deine Geschwister«, fuhr Sifa fort. »Frühere Orakel haben noch keine Schicksale in dieser Familienlinie gesehen, es geschah erst zu meinen Lebzeiten. Damals verschaffte es den Noaveks die Möglichkeit, die Herrschaft über Shotet an sich zu bringen, die sie seither haben.«
»Ich wusste gar nicht, dass so etwas passieren kann. Ich meine, dass eine Familie plötzlich Schicksale bekommt.«
»Die Orakel bestimmen nicht darüber, wer ein Schicksal bekommt«, erklärte seine Mutter. »Wir sehen Hunderte von Zukünften und es sind stets nur Möglichkeiten. Ein Schicksal ist etwas, das einer bestimmten Person widerfährt, und zwar in jeder Version der Zukunft, die wir sehen, und so etwas ist eher selten. Die Schicksale entscheiden darüber, welche Familien zu den Gesegneten gehören, und nicht andersrum.«
So hatte Akos es noch nie betrachtet. Die Leute redeten immer darüber, dass die Orakel Schicksale wie Geschenke an besonders wichtige Menschen verteilten, aber seiner Mutter zufolge war es genau umgekehrt. Erst die Schicksale verliehen bestimmten Familien Bedeutung.
»Also hast du ihre Schicksale gesehen. Die Schicksale der Noaveks.«
Sie nickte. »Nur die des Sohns und der Tochter. Ryzek und Cyra. Sie ist in deinem Alter, er ist etwas älter.«
Akos hatte ihre Namen schon einmal gehört, zusammen mit einigen lächerlichen Gerüchten. Geschichten darüber, dass sie Schaum vor dem Mund hätten oder die Augäpfel von Feinden in Krügen aufbewahrten oder Tötungsmale vom Handgelenk bis zur Schulter hatten. Wobei Letzteres vielleicht gar nicht so abwegig war.
»Manchmal ist es einfach zu sehen, warum Menschen zu dem werden, was sie sind«, sagte seine Mutter leise. »Ryzek und Cyra sind die Kinder eines Despoten. Lazmet, ihr Vater, ist der Sohn einer Frau, die ihre eigenen Brüder und Schwestern ermordet hat. Die Gewalttätigkeit wird von jeder Generation weitergegeben.« Sie nickte und fing an, sich vor und zurück zu wiegen. »Und ich sehe es. Ich sehe alles.«
Akos ergriff ihre Hand und hielt sie fest.
»Es tut mir leid, Akos«, murmelte sie. Er war sich nicht sicher, ob sie bereute, so viel gesagt zu haben, oder ob ihre Worte sich auf etwas anderes bezogen, aber es spielte eigentlich keine Rolle.
Beide standen eine Weile nur da und lauschten auf das Gemurmel der Nachrichtendurchsage. Die dunkelste Nacht war soeben noch dunkler geworden.