Bill S. Ballinger
Ein Talisman, der Unglück bringt
Aus dem Amerikanischen von Jo Klein
FISCHER Digital
Bill S. Ballinger (1912–1980), eigentlich William Sanborn Ballinger, war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Drehbuchautor.
Als Gibbs aus dem Badezimmer kommt, findet er seine Geliebte Caroline erdrosselt vor. Als Privatdetektiv Barr Breed Carolines Wohnung durchsucht, findet er nicht den geringsten Anhaltspunkt. Als Gibbs sich endlich an einen fehlenden Gegenstand erinnert, wird er erschossen. Als Mrs. Gibbs bei Breed erscheint, wird sie umgebracht. Als Breed den Zusammenhang zwischen den drei Morden aufklären will, wird er beinahe das vierte Opfer ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560846-3
Er sah aus, als würde ihm jeden Moment der Angstschweiß aus allen Poren brechen. «Ich dachte, sie schläft; deshalb habe ich das Licht ausgeknipst und bin ins Bett gestiegen. Sie regte sich nicht, als ich sie küßte. Dann umarmte ich sie. Sie lebte nicht mehr!»
«Weshalb lebte sie nicht mehr?» fragte ich.
«Weil sie erwürgt worden ist.»
«Sind Sie sicher?»
«Ich glaube schon. Aber ich habe noch nie eine erwürgte Frau gesehen. Als sie sich nicht rührte, drehte ich das Licht wieder an. Sie lag auf der Seite, ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Ich rollte sie auf den Rücken und sah ihre Kehle. Sie hatte rechts und links am Hals große, rot unterlaufene Druckstellen. Sie war noch warm.»
«Wann haben Sie sie das letztemal lebend gesehen?» fragte ich ihn.
«Ungefähr zehn oder fünfzehn Minuten vorher», antwortete er. «Sie hatte sich die Haare gebürstet.»
Er lockerte den Kragen und zog ein Taschentuch aus der Brusttasche. Er wischte sich die Stirn ab und schien nachzudenken. Vielleicht hatte es ihm auch nur die Rede verschlagen.
«Was machte sie anschließend?»
«Sie ging zu einem Tischchen neben dem Bett, schaltete das Radio ein und drehte an der Skala, bis sie Musik fand. Ich wollte duschen. Ich lehnte die Badezimmertür nur an, stellte mich in die Wanne, zog den Vorhang vor und drehte den Wasserhahn auf.»
«Haben Sie sich mit ihr vom Bad aus unterhalten?»
«Nein. Dazu rauschte das Wasser zu laut. Nach dem Duschen frottierte ich mich ab. Ich hörte das Radio spielen. Dann zog ich meinen Pyjama an und ging ins Schlafzimmer zurück. Sie lag im Bett, auf der Seite, mit abgewandtem Gesicht. Ich dachte, sie schläft. Ich knipste das Licht aus und ging auch ins Bett. Dann merkte ich, daß sie tot war.»
«Grauenvoll, wenn man seine Frau plötzlich so vorfindet», sagte ich.
Bedächtig griff er in seine Tasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Er schnippte eine heraus und zündete sie an.
Dann erst schaute er mir in die Augen und sagte vorsichtig: «Ich war nicht mit ihr verheiratet.»
Ich zog die oberste Schublade meines Schreibtischs auf, entnahm ihr ein Bündel – ein dickes Bündel – Banknoten und schob es ihm hin. Er griff nicht danach, und so ließ ich es eben auf der Schreibtischplatte liegen.
«Hören Sie, Mr. Gibbs», sagte ich, «Sie sollten die Polizei benachrichtigen. Was Sie mir anvertraut haben, bleibt unter uns. Was Sie dort erzählen, ist Ihre Sache. Ich kann Ihnen nicht helfen.»
Gibbs fuhr sich mit dem Taschentuch über den Schädel. Diesmal aber kam er wirklich ins Schwitzen. Er sagte: «Ich kann Ihnen noch mehr zahlen.»
Ich schüttelte den Kopf. «Sie müssen mich falsch verstanden haben, Mr. Gibbs», sagte ich. «Wenn auch auf meinem Schild draußen steht, ‹Breed Detektiv-Büro›, so besagt das noch lange nicht, daß ich mich mit Mordfällen beschäftige. Wenn Sie zuverlässige Nachtwächter oder Bahndetektive brauchen, die besorge ich Ihnen. Wenn Sie Warenhausdetektive brauchen, die vermittle ich Ihnen auch. Wenn Sie Lohngelder von einer halben Million von einem Ende der Stadt zum anderen transportieren müssen, ich übernehme es. Vielleicht tue ich auch noch das eine oder andere, sofern es sich lohnt, aber von Mordfällen lasse ich die Finger, Mr. Gibbs.»
Gibbs erwiderte: «In Ihrer Branche kann man sich kein palisandergetäfeltes Büro und Ledersessel leisten, sofern man nicht ab und zu etwas riskiert, Breed.» Er schaute sich in meinem Büro um.
«Ich nehme Risiken auf mich, wenn ich mir ausrechnen kann, daß es dafür steht», entgegnete ich. «Aber bei einem Mord bieten sich keine Chancen für mich; die sind allein auf seiten der Polizei. Die hat das Personal, alle technischen Möglichkeiten und das Gesetz auf ihrer Seite. Ich muß dankend ablehnen, Mr. Gibbs.»
Gibbs setzte sich zurück und zündete sich eine neue Zigarette an. Der Aschenbecher neben ihm war bis zum Rand mit Kippen gefüllt; jedesmal, wenn er eine ausdrückte, gab es eine graue Wolke. «Als ich Sie heute abend anrief, glaubte ich, Sie hätten Beziehungen hier in der Stadt.»
«Natürlich habe ich Beziehungen», erwiderte ich, «sogar eine ganze Menge, unter anderem auch zur Polizei. Und ich gedenke, sie zu behalten. Kein Privatdetektiv kann sich ohne Unterstützung der Polizei lange im Geschäft halten. Ich rate Ihnen also gut: Wenden Sie sich an das zuständige Revier.»
«Das ist völlig ausgeschlossen», sagte Gibbs. «Die werden gar nicht erst weitersuchen, sondern mich festnageln. Ich war dort, als es passierte, also muß ich der Mörder sein. Bei Gott, Breed, ich bin es nicht! Und falls sie den Mörder doch finden, dann hat meine Frau alle Beweise in der Hand, um mich restlos auszuplündern.»
«Wartet sie auf eine solche Gelegenheit?» fragte ich.
«Schon seit Jahren. Warum, glauben Sie, gehe ich fremd? Ich bin kein Playboy.»
Das stimmte. Gibbs war klein und etwas rundlich. Sein Haar reichte gerade noch aus, um den Schädel zu bedecken – aber nicht mehr. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre alt sein und war Direktor der Ajax-Baumaschinen-Gesellschaft. Sein Anzug hätte zwar einem Dreißigjährigen besser gestanden, war indessen teuer genug, um auch an ihm nicht schlecht auszusehen. «Sind Sie gut betucht?»
Er errötete. «Es kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Ajax ist keine große Firma. Wir verkaufen Raupenbagger, Traktoren, Planierraupen – alle Arten von schweren Maschinen. Ich bin kein Millionär, aber ich kann mir einiges leisten.»
Der kleine Mann wurde mir langsam sympathisch. Er jammerte nicht, und er hatte sich gut in der Hand. «Wußte Ihre Frau von diesem anderen Mädchen?»
«Ich glaube nicht», antwortete Gibbs. «Zwar ist sie seit Jahren mißtrauisch, doch ich habe nicht oft über die Stränge geschlagen, und wenn, dann war ich sehr vorsichtig. Mir war klar, daß sie ihre Trümpfe ausspielen würde, sobald sie Beweise für meine Untreue bekäme. Nein, ich glaube nicht, daß sie von Caroline eine Ahnung hatte.»
«Sie hieß also – Caroline?»
«Ja. Caroline MacCormick. So nannte sie sich zumindest, und ich denke schon, daß der Name stimmt.»
«Wie lange haben Sie sie gekannt?»
Gibbs dachte nach. «Fast zwei Jahre. Es war kurz nach dem Brand im Tower-Hotel. Sie hatte dort gewohnt; ich half ihr, ein neues Appartement zu finden.»
«Wie haben Sie sie kennengelernt?»
«Das ist doch völlig unwichtig. Sie wollen mir sowieso nicht beistehen …»
«Vielleicht sehe ich doch langsam einen Weg, Geld zu verdienen», sagte ich. «Und vielleicht glaube ich doch langsam daran, daß Sie nicht der Mörder sind. Reden Sie also weiter.»
«Gut. Ich traf sie auf einer Party. Es fand ein Kongreß der Baumaschinen-Hersteller statt, und ich besuchte die Ausstellung. Am gleichen Abend veranstalteten einige mir bekannte Aussteller eine Party. Einer der Vertreter kannte ein paar Mädchen und lud sie ein. Wir feierten in unserem Hotel. Es wurde eine Menge getrunken – das ist alles. Caroline war jedenfalls mit von der Partie, und so lernte ich sie kennen.»
«Und Sie trafen sich weiter mit ihr?»
«Ja. Wir wohnten beide hier in Chicago. Sie war ein anständiger Kerl.» Gibbs schaute mir offen in die Augen. «Ich mochte sie sehr. Nie versuchte sie, mich auszunützen; nie machte sie mir Ärger.»
«Waren Sie verliebt?»
«Nein, das nicht. Ich machte mir keine Illusionen über sie, doch ich konnte sie gut leiden.»
«Aber Sie hielten sie aus?»
«Nicht eigentlich», antwortete Gibbs. «Ich gab ihr Geschenke, Dinge, die sie brauchen konnte, ziemlich häufig auch Geld. Ihre Miete bezahlte ich nicht, auch nicht ihren Unterhalt.»
«Hatte sie andere Freunde?»
«Ein paar, selbstverständlich. Wie intim sie mit ihnen war, kann ich nicht beurteilen.»
«Ob einer von ihnen eifersüchtig genug war, sie zu erwürgen?» fragte ich.
«Ich weiß nicht», entgegnete Gibbs. «Caroline hat nie erwähnt, daß sie mit jemandem öfter ausging. Wahrscheinlich aber lebte sie nicht wie eine Nonne.»
«Waren Sie vielleicht eifersüchtig genug, sie zu erwürgen?» fragte ich.
«Ich habe Ihnen erklärt, daß ich sie nicht getötet habe», antwortete Gibbs. «Glauben Sie mir noch immer nicht?»
«Doch, ich glaube Ihnen.» Ich schaute auf die Uhr. Es war fast drei Uhr morgens. «Wo waren Sie angeblich heute nacht, Mr. Gibbs?»
Gibbs sah sehr müde aus. «Ich sagte meiner Frau, daß ich am Nachmittag geschäftlich nach St. Louis fliegen und dort übernachten müßte; ich würde sie nach meiner Rückkehr anrufen.»
«Hat jemand beobachtet, wie Sie in Caroline MacCormicks Wohnung gegangen sind?»
«Ich fuhr mit dem Aufzug zu ihrem Stockwerk.»
«Kennt der Liftboy Sie?»
«Sicher nicht namentlich, doch er hat mich schon in Begleitung von Caroline gesehen.»
«Sah er Sie fortgehen?»
«Nein. Nachdem ich gemerkt hatte, daß sie tot war, zog ich mich an, stopfte mein Nachtzeug in die Manteltasche und schaute ins Treppenhaus hinaus. Es war kein Mensch zu sehen. Ich ging die Treppen hinunter bis zum Erdgeschoß. Von dort aus gelangt man entweder durch das Foyer oder durch einen Hinterausgang auf die Straße. Ich verschwand durch die Hintertür.»
Ich nahm das Banknotenbündel, das noch immer auf dem Schreibtisch lag, in die Hand. Es war eine Menge Geld. Ich hielt es in die Höhe. «Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Mit diesem Geld können Sie sich eine Frist von sieben Tagen erkaufen.»
«Wie meinen Sie das?»
Ich sagte: «Ich kann Ihnen die Polizei eine Woche lang vom Hals halten – ich kann sie zwar nicht bestechen, doch ich kann Ihnen eine Nasenlänge Vorsprung verschaffen. Nach dieser Frist wird man Sie schnappen – und Ihre Frau wird dies auch tun! Vielleicht gelingt es uns in der Zwischenzeit, jemand aufzutreiben, der die Polizei mehr interessiert. Falls wir beweisen können, daß sie nicht der Täter sind, ist die Polente vielleicht bereit, Ihren Namen aus den Zeitungen herauszuhalten.»
Gibbs wischte sich wieder die Stirn ab. «Mir bleibt keine andere Wahl.»
«Richtig», konstatierte ich.
«Also einverstanden», sagte er. «Und wenn Sie mehr Geld brauchen, lassen Sie es mich wissen.»
«In Ordnung», erwiderte ich. «Und vergessen Sie nicht: Eine halbe Million nützt einem Menschen überhaupt nichts, wenn er am Galgen baumelt.»
«Was soll ich tun?» fragte er.
«Gehen Sie in ein gutes Hotel. Tragen Sie sich unter Ihrem Namen ein. Rufen Sie am Morgen Ihre Frau an und sagen Sie ihr, Sie hätten die Maschine nach St. Louis nicht erreicht, weil Sie bis spät nachts geschäftlich hier aufgehalten worden sind. Dann gehen Sie in Ihr Büro und arbeiten, als wäre nichts geschehen.»
«Gut.»
«Noch eins: Besitzen Sie einen Schlüssel zur Wohnung von Caroline MacCormick?»
Schweigend übergab mir Gibbs einen Schlüssel. Er trug die Zahl 716 eingestanzt.
«Und die Adresse?»
«East Delaware, Nummer 199», sagte er. Wieder fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Nun war er wirklich ins Schwitzen gekommen.
Ich fuhr in die East Delaware Street zum Haus Nummer 199. Es war ein hohes, schmales Eckhaus mit zwölf Stockwerken. Zwei Blocks weiter konnte man den Michigansee an die Uferböschung donnern hören. Die Fassade des Hauses bestand aus grauem Naturstein, die Seitenfront in der Nebenstraße aus rotem Klinker. Eine haubenförmig gewölbte Markise erstreckte sich wie eine Raupe vom Eingang bis zum Bordstein. Das Gebäude machte keinen schlechten Eindruck, gehörte allerdings auch nicht zur besten Kategorie. Am Rande der Chikagoer North Side findet man viele solcher Häuser in den schmalen Straßen.
Ich ließ meinen Wagen vorbeirollen und parkte ihn einen halben Block weiter. Dann schlenderte ich zur Nummer 199 zurück. In der Seitenstraße fand ich die Hintertür, von der Gibbs gesprochen hatte: eine schwere Metalltür mit zwei kleinen Fenstern aus Drahtgitterglas. Sie war verschlossen. Diese Art von Türen konnte man von innen durch einen Hebeldruck öffnen, von außen nur mit einem Schlüssel. Da ich mich nicht bei einem Einbruchsversuch erwischen lassen wollte, ließ ich die Finger von der Tür.
Durch die Eingangstür konnte man ins Foyer sehen. Es war mit französischen Stilmöbeln eingerichtet. Links ragte ein runder offener Kamin in die Diele; rechts stand der Tresen des Portiers, den ich trotz aufmerksamer Beobachtung nirgends sehen konnte. Die Aufzugtür war angelehnt und mit einem Metallhaken in dieser Stellung festgeklemmt. Ich nahm an, daß sich Portier und Liftboy zu einer kleinen Kaffeepause zurückgezogen hatten. Also betrat ich das Foyer. Ungefähr drei Meter links vom Aufzugsschacht sah ich einen Torbogen, der zum Treppenhaus zu führen schien. Meine Annahme stimmte, ich stieg die Treppe hinauf.
Der Flur des siebten Stockwerks lag verlassen. Bernsteinfarbene Lampen beleuchteten den Gang nur schwach. Die Wände waren in Beige gehalten, ein roter Läufer bedeckte den Boden. Ich bewegte mich leise auf die Tür von Nummer 716 zu. Der Schlüssel paßte, ohne Schwierigkeiten öffnete ich die Tür. Das Appartement lag dunkel und still vor mir.
Ich schloß die Tür und knipste das Licht an: Ich stand in dem nicht sehr geräumigen Wohnzimmer. Auf dem Boden lag ein Teppich vom gleichen tiefen Rot wie im Flur, die Vorhänge an beiden Fenstern waren darauf abgestimmt. Nahe dem einen Fenster stand ein Schreibtisch, daneben zwei Sessel mit grünweiß gemusterten Bezügen. An der gegenüberliegenden Wand stand eine breite Couch mit lindgrünem Bezug, davor ein niedriges Tischchen. An der dritten Wand stand ein Musikschrank, darauf ein Pferd aus weißem Steingut. In einer Ecke hingen Zimmerpflanzen von einer dreieckigen Stellage herunter. Einige Lithographien schmückten die Wände. Das Zimmer war ordentlich aufgeräumt, nichts deutete auf einen Kampf hin.
Eine Tür führte direkt ins Schlafzimmer. Als ich das Licht einschaltete, fiel mein erster Blick auf Caroline MacCormick. Sie lag auf dem Rücken. Gibbs hatte erwähnt, daß er sie umgedreht hatte. Sie hatte langes, blondes Haar, das sich auf dem Kissen ausbreitete, und trug ein durchsichtiges, hellblaues Nachthemd. Was man darunter sehen konnte, war hübsch. Sie mußte siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt sein und war eine gut aussehende Frau gewesen. Jetzt allerdings sah sie nicht mehr so gut aus. Ihre Augen waren offen, ich drückte sie ihr nicht zu.
Der Wecker neben ihrem Bett zeigte auf vier Uhr zehn. Gibbs hatte mir erklärt, er sei gegen ein Uhr mit dem Duschen fertig gewesen, das Mädchen hätte fünfzehn Minuten zuvor noch gelebt. Sie war also seit drei bis dreieinhalb Stunden tot. Ich berührte ihre Schulter, sie fühlte sich kühl, aber nicht kalt an. Die Zimmertemperatur war normal, kein Fenster geöffnet. Als ich sie fand, war sie nicht zugedeckt gewesen. Ich beugte mich über sie und betrachtete ihre Kehle. Die roten Druckstellen waren nicht zu übersehen. Bis jetzt schien Gibbs’ Geschichte zu stimmen.
Ich schaute mich um. Außer dem Doppelbett, dem Nachttischchen mit dem Wecker und einem Radio standen noch ein Frisiertisch, eine Kommode und ein zierlicher Polstersessel im Zimmer. Das Badezimmer hatte die übliche Einrichtung, vor der Duschnische hing ein Plastikvorhang. Auf dem Boden standen noch Wasserpfützen, die Badematte war feucht, und in der Ecke lag ein großes, nasses Badetuch.
Außer den Lichtschaltern hatte ich bisher nichts berührt. Nun holte ich Handschuhe aus der Tasche, zog sie an und öffnete das Medizinschränckchen. Ich fand nichts, was mich interessierte, nur die üblichen Medikamente, die man in jeder Drogerie kaufen konnte. Auf der Glaskonsole lag ein Rasierpinsel neben dem Rasierapparat, beides noch nicht ganz trocken. Ich wußte nicht, ob sie Gibbs gehörten; sicherheitshalber steckte ich sie ein.
Anschließend ging ich zurück ins Schlafzimmer. Ich durchsuchte das Frisiertischchen und die Kommode, fand aber nichts von Bedeutung; auch der Inhalt des Schranks fiel in keiner Weise aus dem Rahmen. Auf dem zierlichen Polstersessel lag ein hellblaues, mit Marabufedern besetztes Negligé.
Wieder zurück ins Wohnzimmer. Allmählich gewann ich Klarheit. Neben der Wohnungstür befand sich ein Summer. Ich öffnete die Tür einen Spalt und schaute hinaus; keine Menschenseele war zu sehen. Neben dem Türrahmen entdeckte ich den Klingelknopf. Ich betätigte ihn einmal kurz, er schnurrte ziemlich gedämpft. Ich schloß die Tür und kniete mich auf den Teppich wie ein Golfspieler, der das Grün auf Unebenheiten untersucht. Es war alles in Ordnung. Kein Hinweis, den ein Gericht anerkennen, nichts, was einem Polizisten auffallen würde. Es genügte indes, um Gibbs’ Geschichte glaubhafter erscheinen zu lassen.
Ungefähr einen Meter von der Wohnungstür entfernt entdeckte ich zwei kurze, parallele Striemen im Teppich. Mit einer Handbewegung verwischte ich sie. Daneben lag der Flaum einer hellblauen Marabufeder.
Nun bekam Gibbs’ Geschichte noch mehr Zusammenhang. Ich hatte mir zunächst nicht vorstellen können, wie der Täter unbemerkt in die Wohnung, direkt in das Schlafzimmer gegangen sein, und dort Caroline umgebracht haben sollte. Von Gibbs im Badezimmer völlig unbemerkt. Und doch hatte Gibbs das für möglich gehalten. Nein, zum Teufel, so war es nicht passiert!
Ich hielt es für viel wahrscheinlicher, daß der Mörder geklingelt hatte, was Gibbs unter der Dusche überhörte. Caroline war dann durch das Wohnzimmer zur Tür gegangen, um den ungebetenen Gast wegzuschicken. Doch dazu kam sie nicht mehr. Sie öffnete die Tür im Negligé. Der Mörder trat ein, packte sie an der Kehle und erwürgte sie an Ort und Stelle. Er schleifte sie eine kurze Strecke über den Teppich, hob sie dann auf und trug sie zum Bett. Gibbs hatte mittlerweile die Dusche abgedreht und trocknete sich ab. Der Täter ahnte bis dahin nichts von seiner Gegenwart. Nun warf er das Negligé auf den Sessel und verließ das Appartement, in dem der ideale «Mörder» in der Falle saß.
Diese Masche war nicht schlecht. Der Täter mußte eiskalt, sehr scharfsinnig und ungemein reaktionsschnell sein.
Ich legte Mantel und Hut ab und warf beides auf die Couch. Dann machte ich mich an die Arbeit. Zuerst kamen die Lichtschalter an die Reihe, dann die Oberflächen eines jeden Möbelstücks in der Wohnung. Ich hatte keine Ahnung, wo überall Gibbs Fingerabdrücke hinterlassen haben mochte, und so konnte ich keine Ecke auslassen. Ob es mir gelingen würde, alle Fingerabdrücke wegzubringen, wußte ich allerdings nicht; zumindest aber wollte ich es versuchen. Falls kein erkennbarer Abdruck zurückblieb, hatte Gibbs eine gute Chance, ein paar Tage ungeschoren zu bleiben.
Als ich fertig war, ging ich zum Schreibtisch. Ich nahm alle Papiere aus der Schublade und stopfte sie in meine Taschen – alle, bis auf ein Schild: BITTE, NICHT STÖREN. Das hängte ich beim Hinausgehen an die Tür. Vielleicht schreckte es das Hausmädchen einen Tag lang ab. Das wäre wieder ein gewonnener Tag für Gibbs.
Der Flur war leer. Meine Uhr zeigte achtzehn Minuten nach sechs Uhr. Ich ging die Treppe hinunter und verließ das Haus durch den Hinterausgang. Dann setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr langsam weg.
Es war ein für Chicago typischer trüber Morgen. Feuchte, graue Nebelschwaden vermischten sich mit der Rauch- und Rußschicht. Gelegentlich, wenn die Schleier aufrissen, sah ich vor mir die menschenleere Straße, die wie ein schwarzes Band unter mir abrollte. Das Stadtzentrum lag verlassen da. Noch war es zu früh für einen neuen Arbeitstag. Ich wünschte, auch für mich wäre es noch zu früh.
Als Gibbs mich angerufen hatte, war es ungefähr zwei Uhr gewesen. Er hatte darauf bestanden, mich persönlich zu sprechen, und so hatten wir uns in meinem Büro verabredet. Ich war noch nicht im Bett gewesen, als er anrief, und seither hatte ich dazu keine Gelegenheit mehr gehabt. Meine Augen brannten, ich war todmüde.
Ich ging in mein Appartementhaus. Der Nachtportier wartete müde auf seine Ablösung. Er nahm keine Notiz von mir. Heute ebensowenig wie sonst. Ein Mann folgte mir durch das Foyer. Im Aufzug drückte ich auf den Knopf Nummer vier. Der Mann drückte auf Nummer fünf. Wir schienen beide zu müde, um uns füreinander zu interessieren. Ich stieg in meinem Stockwerk aus, ging um die Ecke, mühte mich einen Augenblick mit dem Wohnungsschlüssel ab, bekam die Tür schließlich auf und betrat mein Appartement.
Irgendein Kerl haute mir eine halbe Tonne Eisen seitlich auf den Schädel.
In der einen Sekunde ging ich noch aufrecht durch die Tür, in der nächsten war ich halb kniend auf dem Boden.
Eine Stimme sagte: «Steh auf und halt die Hände ganz ruhig.» Ich schüttelte den Kopf, um meine Benommenheit zu lichten. Rechts vor mir standen zwei Beine. Ich packte sie blitzschnell an den Knöcheln und riß sie vor. Er landete im gleichen Augenblick auf dem Teppich, wie seine Pistole im Hintergrund des Zimmers auf die Erde polterte. Ich sprang auf, keinen Moment schneller als er.
Er stieß mit der Rechten vor. Ich hob meine Hände, bekam sein Handgelenk zu fassen, schwang meinen Körper herum und schleuderte ihn über den Rücken. Er fiel unsanft auf den Bauch. Ich kickte ihm mit dem Fuß an die Schläfe, knapp oberhalb des Ohrs. Er wurde bewußtlos. Einen Augenblick befürchtete ich, ich hätte zu hart getreten und ihn in die ewigen Jagdgründe geschickt. Mit solchen Dingen muß man vorsichtig sein. Doch dann hörte ich ihn atmen.
Mein Kopf schmerzte wie verrückt, und ich war hundemüde. Es schien mir nicht der Mühe wert, aufzubleiben, bis der Kerl wieder zu sich kam. Er konnte warten. Ich holte ein Paar alte Handschellen und trug ihn ins Bad. Dort ließ ich ihn zu Boden fallen, schnappte das eine Eisenglied um sein Handgelenk, das andere um das Abflußrohr des Waschbeckens. Dann verschwand ich und verriegelte die Badezimmertür. Er würde nicht fortgelaufen sein, wenn ich erwachte.
Ich stellte den Wecker auf zwölf Uhr mittags und ging ins Bett. Mir fielen sofort die Augen zu. Um zwölf Uhr stand ich auf und ging ins Wohnzimmer. An der Wand lag die Pistole, mit der mich der Schläger überfallen hatte. Ich hob sie am Lauf auf und schaute sie mir an, ohne den Kolben zu berühren. Sie hatte ein 38er Kaliber, die Seriennummer war herausgefeilt worden. Ich wickelte die Waffe in ein Taschentuch und steckte sie in die Tasche.
Dann ging ich in die Küche und kochte mir eine große Kanne Kaffee. Ich fühlte mich ziemlich wohl. Den Kaffee trank ich im Wohnzimmer und versuchte dabei meine Gedanken zu ordnen. Ich kam zu dem Resultat, daß der Kerl im Bad mir von Caroline MacCormicks Appartement gefolgt sein mußte. Er war mit mir zusammen im Aufzug hochgefahren und hatte an der Ecke gewartet, bis ich meine Wohnung aufgeschlossen hatte. Dann war er mir auf die Pelle gerückt und hatte mir den Schlag verpaßt. Das war nicht schwer zu rekonstruieren.
Viel mehr interessierte mich, was er bei Caroline MacCormick zu suchen hatte. Also würde ich ihn fragen.
Ich ging zum Bad und schloß die Tür auf. Er saß auf dem Boden und sah nicht besonders furchterregend aus. Das tun Schläger meistens nicht. Im allgemeinen könnte man sie ohne weiteres für Mechaniker oder Verkäufer halten. Aber sie können bösartig sein. Mein Gefangener zum Beispiel war es.
«Wieso hast du mich beschattet?» fragte ich.
Er schwieg.
«Wieso hast du mich beschattet?»
Er schwieg beharrlich. Ich bückte mich und legte meine Handfläche auf seine Nase. Dann drückte ich nach oben, als wollte ich seine Nase am Haar abputzen. Manchmal reißt dabei das Fleisch vom Gesicht. Er schüttelte nur den Kopf. Also preßte ich weiter.
Da sagte er: «Du Hundesohn, das würdest du nicht wagen, wenn meine Hände frei wären.»
«O doch», antwortete ich und schloß die Handschellen auf.
Er stellte sich hin und beobachtete mich.
«Wieso hast du mich beschattet?» fragte ich wieder. Ich packte ihn am Jackett und knallte seinen Kopf an die Wand.
«Wer bist du überhaupt?» fuhr ich fort.
Anstelle einer Antwort hob er sein Knie. Darauf hatte ich gewartet. Ich fuhr mit der Hand in seine Kniebeuge und riß sie hoch, so daß er rücklings in die Badewanne stürzte. Dröhnend schlug sein Kopf an den Wannenrand. Ich beugte mich über ihn und leerte seine Taschen.
Die Ausbeute war gering: ein Autoschlüssel, eine Brieftasche im Querformat, eine halbleere Zigarettenpackung, ein Heft Streichhölzer mit einer Rasierklingenwerbung und etwas Kleingeld. Ich durchsuchte die Brieftasche und fand achtundfünfzig Dollar, sonst nichts – kein Name, keine Adresse, nichts. Die meisten Professionellen tragen ihre Ausweise nicht mit sich herum.
Er begann, aus der Wanne herauszuklettern. Ich ließ ihn. Ich hatte nicht vor, den Gauner umzubringen, und ich konnte ihn beim besten Willen nicht der Polizei übergeben. Das war ihm offensichtlich klar. Würde ich ihn verhaften lassen, konnte er mich mit seiner Aussage in Verlegenheit bringen.
Ich gab ihm die Sachen wieder, die ich aus seinen Taschen genommen hatte, und schob ihn zur Tür.
«Scher dich fort», sagte ich. «Ich kann Schläger wie dich nicht riechen, und wenn ich dich nochmal erwische, dann zerschlage ich dir jeden Knochen im Leib.» Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um.
Er sagte: «Wenn ich dich noch sehe, dann bringe ich dich um.» Mit diesen bühnenreifen Worten verließ er mich.
Nachdem er verschwunden war, trank ich meinen Kaffee aus, ging nach unten und stieg in meinen Wagen. Ich fuhr zum Polizeirevier in der Chicago Avenue. Das Revier ist sehr klein, sehr schmutzig und stinkt nach einer Million Sünden. Es hat vier Stockwerke aus grauem Stein und eine schwarz gestrichene Eisenbalustrade zu ebener Erde. Die Steinstufen sind von Generationen ausgetreten. Das Haus ist spärlich möbliert, und die Fußböden sind abgesplittert, so daß Holzstaub bei jedem Schritt aus den Ritzen dringt. Die Wände sind mit alten Bekanntmachungen, Steckbriefen, Belohnungen und Anweisungen beklebt. Aber einige der Beamten dort sind sehr tüchtig.
Der diensthabende Sergeant blickte von seinem Schreibtisch auf: «Das ist doch nicht zu fassen, Barr Breed liefert sich freiwillig aus. Was ist los? Hat Ihre rechte Hand endlich erfahren, was Ihre linke tut?»
«Hallo, Morgan», sagte ich. «Wenn ich mich eines Tages stelle, dann suche ich mir wenigstens einen Cop aus, der meinen Namen richtig schreibt.»
Morgan lachte.
«Ist Cowan da?» fragte ich. Cowan ist Kriminalbeamter und ein ziemlich anständiger Kerl. Ich hatte schon einige Belohnungen mit ihm geteilt.
«Ja, da hinten», antwortete Morgan und wies zum hinteren Ende des Ganges. Dort fand ich Cowan, der an einem altertümlichen Stehpult einen Bericht schrieb. Sonst befanden sich keine Möbel in dem Raum. «Ein Mädchen hat gestern nacht ihren Pelzmantel als gestohlen gemeldet», sagte er. «Ich hab so das Gefühl, sie ist nur auf das Versicherungsgeld scharf.»
Ich bot Cowan eine Zigarette an. Dann holte ich die Pistole aus der Tasche, die ich dem Ganoven in meiner Wohnung abgenommen hatte. Ich ließ sie aus dem Taschentuch auf sein Pult gleiten.
«Einer meiner Leute fand sie gestern während seiner Runde. Sie lag am Eingang eines der Gebäude, die wir bewachen. Vielleicht sollten wir herauskriegen, wem sie gehört», sagte ich.
Cowan betrachtete die Waffe. «In welchem Gebäude?» fragte er.
«Es wurde nichts gestohlen und nichts beschädigt. Er fand lediglich die Pistole. Wir haben sie beide am Lauf angefaßt, also lohnen sich nur die Abdrücke am Kolben. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sie identifiziert haben.»
«In Ordnung», antwortete Cowan.
Ich bedankte mich und ging. Als ich in meinem Wagen saß, fuhr ich die Chicago Avenue bis zur Wabash und dann in Richtung Loop. Ich parkte an einer Ecke der Lake Street und ging ins Rothchild. Dort verkehrt die Theaterwelt. Es besteht aus einem langen, schmalen Raum mit einer Theke an der einen Längsseite und Nischen mit Tischen an der anderen. Das Essen ist reichhaltig und gut. Dickere Tassen und klobigeres Geschirr habe ich nirgends gesehen, doch die Preise sind vernünftig; wahrscheinlich essen deshalb die Schauspieler und Agenten dort mit Vorliebe.
Ich hatte Hunger. Ich bestellte eine große Portion Rippchen mit Kraut. Während ich noch aß, kam Sol Went an meinen Tisch. Sol vermittelt Nummern für Clubs und Varietés. In seiner Begleitung befand sich ein hochgewachsenes, rothaariges Mädchen mit berechnenden Augen.
«Patsy DeRevere», stellte Sol vor.
Ich aß weiter.
«Darf ich dir Detektiv Barr Breed vorstellen», sagte Sol zu Patsy. «Barr ist ein wichtiger Bursche hier in der Stadt.»
«Wem willst du was vormachen?»
«Oh, ich wollte schon immer einen richtigen Detektiv kennenlernen», sagte Patsy, und ihre Stimme klang so schüchtern wie die eines Leihhaus-Auktionators.
«Wahrscheinlich haben Sie schon einige kennengelernt – bei Razzien», entgegnete ich.
«Patsy kann einen wunderschönen, künstlerischen Tanz mit bunten Wasserbällen», sagte Sol. «Wir dachten, daß Sie vielleicht bei Captain Williams ein gutes Wort einlegen könnten, für das nächste Wohltätigkeitsfest der Polizei.»
«Mit dem Fest habe ich nichts zu tun», antwortete ich.
«Nein. Aber Sie kennen Captain Williams», sagte Sol.
Ich kaute weiter und dachte einen Augenblick nach. «Lassen Sie sich auch für Tagungen engagieren?» fragte ich Patsy.
«Aber sicher, Schätzchen», antwortete sie.
«Schon mal für Maschinen-Hersteller gearbeitet?»
«Was für Maschinen?» fragte Patsy.
«Baumaschinen, Traktoren, Planierraupen und so’n Zeug.»
«Schon möglich», meinte Patsy gedehnt. «Kann mich nicht genau daran erinnern. Jedenfalls nicht in der letzten Zeit.» Sie warf Sol einen giftigen Blick zu.
«Man kann niclit alles mitnehmen, Baby», sagte Sol mit philosophischer Ruhe.
«Nein, aber man muß sein möglichstes tun», entgegnete Patsy.