CHRISTIANE PEITZ
KARL SCHLÖGEL
GABRIELE GOETTLE
CHRISTIAN BOMMARIUS
MAX THOMAS MEHR
HAZEL ROSENSTRAUCH
JOACHIM SARTORIUS
THIERRY CHERVEL
CEES NOOTEBOOM
SILVIA BOVENSCHEN
ELEONORE BÜNING
ANDREAS ROSTEK
Das erste, was ich von Arno zu hören bekam, war sein schallendes Lachen. Es muss im Frühsommer 1984 gewesen sein, ich war zum Vorstellungsgespräch in die taz gekommen, eine große Runde fragte mich aus. Sie suchten jemanden für die Kulturredaktion, ich hatte keine Ahnung vom Zeitungmachen, aber dass ich Noten lesen konnte, freiwillig in klassische Konzerte ging und trotzdem einen Kinderladen im besetzten Haus mitgegründet hatte, gefiel den künftigen Kollegen. Sie hielten es wohl für eine gute Kombi von linker Gesinnung und Hochkultur. Arno lachte so laut (er hat auch ein spezielles Lächeln in seinem Repertoire, siehe den Beitrag von Christian Bommarius), weil ich den Einheitslohn beeindruckend fand. 1.200 Mark plus 400 Mark Kindergeld, so viel hatte ich noch nie verdient, der geringe Betrag erschien mir wie eine fürstliche Summe.
Geld ist relativ – und immer ungerecht: Diese erste Lektion vom Kollegen Widmann galt den Regeln des Kapitalismus. Für die Texte auf seinen taz-Magazin-Seiten zahlte er nichts oder höchstens die Hälfte des ohnehin lächerlichen Zeilenhonorars. Weil, so sagte er, seine Autorinnen und Autoren es nicht nötig haben, als Professoren, Schriftsteller, Wissenschaftler verdienen sie schon genug. Als Arno Anfang der Neunziger von der taz zur Vogue ging, verzehnfachte sich sein Gehalt von einem Tag auf den anderen. Seinen Lebensstil änderte er nicht.
Eines Tages sagte Arno zu mir: Weißt du, warum du ganz gut über Filme schreiben kannst? Weil du keine Ahnung davon hast. Ich war tief gekränkt, er meinte es nicht ironisch. Arno schickte einen gern mal in die Schule der Grausamkeit – als ich bei der taz aufhörte, schenkte er mir Balzacs Verlorene Illusionen. Erst Jahre später verstand ich die Wahrheit, die in seiner drastischen Bemerkung steckte: dass Journalismus nicht in erster Linie Expertentum und Bescheidwissen bedeutet, sondern Neugier und Begriffsstutzigkeit. Arno, ausgerechnet Arno mit seinem unfassbaren Wissen der Welt- und Kulturgeschichte, hat mich gelehrt, den Weltbildern zu misstrauen: Wissen kann blind machen, Wissenwollen öffnet die Augen.
Arno ist der Idealfall eines Journalisten: einer, der immer noch mehr wissen will. Seine Lust auf die Welt und die Menschen ist immer unbändig gewesen, bis heute. Und seine Bescheidenheit, mit der er so manchen Wichtigheimer vom Sockel holte. Journalismus, betonte er gerne, bedeute nichts anderes, als hingehen und den anderen erzählen, wie es war. Egal, ob es sich um eine Parlamentssitzung, eine Opernpremiere oder den Mauerfall handelt. Als die Mauer fiel, saß Arno jeden Tag im Café Adler am Checkpoint Charlie und schaute zu, wie die Mauerspechte sie nach und nach zum Verschwinden brachten. Und öfter meinte er: Ist es nicht toll?! Wenn wir Lust haben, einen berühmten Menschen zu treffen oder jemanden, dessen Werk wir verehren, können wir das einfach tun. Wir brauchen nur ein Interview anfragen. Klappt nicht immer, aber oft.
Arno ist meine Journalistenschule gewesen. Sieben Jahre arbeiteten wir in einer Redaktion, ich war mit zwei, drei Kollegen für die Kulturseiten zuständig, er für seine Magazin-Seite. Er verantwortete sie allein (wenn er alle paar Jahre für ein, zwei Wochen in Urlaub fuhr, hinterließ er mengenweise druckfertige Texte), er wollte unabhängig sein, für Hierarchien taugte er nicht. Wir holten tatsächlich die Hochkultur ins Blatt. Neben der Literatur gab es nun auch Ausstellungskritiken und Berichte über Opern- und Theaterpremieren, nachdem Arno mit Frank Berberich ein paar Jahre vorher Originaltexte von Pierre Boulez und Patrice Chéreau über deren Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ in der taz veröffentlicht hatten – obwohl der taz der Zugang zu Bayreuth damals verwehrt wurde. Gemeinsam bauten wir die Film- und Berlinale-Berichterstattung auf; die taz war die erste deutsche Zeitung, die ein Filmfestival mit mehrseitiger täglicher Berichterstattung begleitete und bald auch tägliche Kolumnen von den Festivals in Venedig und Cannes präsentierte. Aus Venedig berichtete Arno selbst, er tippte seine Berichte direkt in das dortige Telex-Gerät (nachdem er die Damen vom Pressezentrum becirct hatte). Manchmal tippten wir hin und her, kommunizierten per Fernschreiber in Echtzeit. Es war wie Mails schicken, Jahre, bevor das Internet erfunden wurde.
Ob Film, Literatur, Kunst, Theater, Auslandspolitik: Arno kann alle Genres und mengenweise Sprachen, ist belesen wie nichts. Noch einmal: Er ist der einzige Universalgelehrte, den ich je kennengelernt habe. Trotzdem gibt er einem nie das Gefühl, selber ungebildet zu sein. Im Gegenteil, in Arnos Gegenwart fühlt man sich klüger – und schreibt im Zweifel sogar besser. Keine Ahnung, wie er das anstellt.
Irgendwann gab es eine Layout-Reform in der taz. Wir radikalisierten die Textlängen auf den Kulturseiten, erstritten eine eigene Aufschlagseite mit einem großen, halbseitigen Foto und einem ebenso großen Text (oft mit Überlauf), daneben die kleine „Berichtigung“ als täglichen Beichtstuhl und Mini-Kolumne. Mein katholischer Beitrag zur deutschen Mediengeschichte, es war allerdings Arno, der die Witzelei in eine Format-Idee verwandelte. Hans-Jürgen Syberberg schrieb die Kolumne „Neues vom Berg“ (die jedesmal länger wurde), wir holten großartige, damals weitgehend unbekannte Autorinnen wie Eleonore Büning oder Verena Lueken ins Blatt, Elke Schmitter war kurzzeitig Theater-Redakteurin, als Gabriele Goettle vom radikal-feministischen Magazin Die schwarze Botin sich auf eine Stelle bewarb, hatte Arno die Idee, sie lieber als Autorin anzuheuern und sie einmal im Monat um einen längeren Text zu bitten. Bis heute schreibt Goettle in der taz ihre Reportagen, die in der deutschen Medienlandschaft einzigartig sind (und mit der Zeit auch immer länger wurden). Gemeinsam mit ihr und dem Kultur-Kollegen Mathias Bröckers organisierte Arno 1987 die Schriftsteller-taz (siehe dazu den Beitrag von Gabriele Goettle). Gleich drei komplett von Schriftstellern verantwortete Ausgaben, unter anderem mit Hans Magnus Enzensberger, Elfriede Jelinek, Heiner Müller und dem Literaturpapst Hans Mayer. Dass auch Johannes Mario Simmel dabei war: typisch Arno. Für ihn gab es keine U- und E-Literatur, einfach nur gute und schlechte Autoren.
Man unterschätzt ihn ja leicht. Einen Mann, der keinen Kaffee und keinen Alkohol konsumiert (Drogen schon gar nicht), der sich von süßen Sachen und Fleisch ernährt, der Salat und Gemüse verabscheut und keinen Führerschein hat, den hält man schnell für einen Kindskopf. Schon wegen seiner Liebe zu Süßspeisen. Die Arbeit in der taz hat er meist plaudernd verrichtet. Sein irre hohes Lesetempo (gepaart mit einem exzellenten Gedächtnis) bringt es mit sich, dass Arno für Artikel-, Zeitungs- und Bücherlektüre nur einen Bruchteil der Zeit braucht, die unsereins darauf verwendet. Umso mehr Zeit hat er zum Reden, um einen auf Ideen zu bringen: die Macht der Assoziation, auch das eine Widmann-Lektion.
Wenn wir Redaktionskollegen Stunden um Stunden mit dem Redigieren und Verbessern von Texten zubrachten, wenn ich an Formulierungen feilte, an Sprachmelodie und -rhythmus, dann lachte er wieder. Die nächste Lektion, wieder schlicht und drastisch: Es kommt nicht darauf an, wie man etwas sagt, sondern darauf, dass man etwas zu sagen hat. Journalismus ist keine Literatur, und wenn doch, ist es ein schöner Mehrwert. Muss aber nicht sein.
Arno selbst schreibt geradeheraus, ob er nun eine begeisternde Lektüre wiedergibt, eine prominente Beerdigungsgesellschaft porträtiert oder seine alte Mutter beschreibt, wie sie Vögel füttert. Es gibt nichts Banales: Was den Menschen zum Menschen macht, was die Welt im Innersten zusammenhält, es lässt sich überall finden. Man muss es nur sehen. Als ich ihm eines Tages erzählte, dass meine pubertierende Tochter sich jeden Nachmittag mit ihren Freunden am kleinen Teich im Schöneberger Volkspark trifft, ging er hin und schrieb – nein, keine soziologische Jugendstudie, sondern eine Art Theaterkritik über die Kontaktbörse der Teenies. Choreografie einer Gesamtschul-Clique: Meine Tochter machte mir eine Riesenszene, als sie das in der Zeitung sah.
Arnos „Büro“ im Café Adler, das er im Sommer 1989 recht bald nach dem Umzug der Redaktion von der Wattstraße im Wedding in die Kreuzberger Kochstraße bezogen hatte, war ein kleiner Ecktisch mit Blick auf den Grenzübergang, den er in der Nacht des 9. November gleich mehrfach ausprobierte. Bis es klappte und er nach Ost-Berlin hinüberlaufen und gleich wieder zurückspazieren konnte. Sein Bild ging um die Welt, geschossen von einem Agenturfotografen, der ihn, nach Westen zurückkehrend, für einen Ossi hielt. Zu irgendeinem Geburtstag des Mauerfalls schrieb Arno es auf: „Ich war der erste Ossi“. Merke: In der Zeitung steht nicht die Wahrheit, sondern das, was wir dafür halten.
Drei Mal in unserer gemeinsamen taz-Zeit verging ihm der Humor, drei Mal wurde er wütend. Bei diesen Gelegenheiten lernte ich, dass unser Beruf, dass Sprache etwas mit Haltung zu tun hat. Es war die wichtigste Lektion der Widmann-Schule, auf den ersten Blick ein Paradox: Auch wenn es nicht darauf ankommt, wie man etwas sagt, zählt manchmal doch jedes Wort. Mit Medien macht man Stimmung, bei der Wortwahl geht es um etwas: um Freiheit, Moral, Menschlichkeit, Gerechtigkeit. Vor allem um Freiheit, manchmal auch um Courage. So gerne man Arno als Frankfurter Adorno-Schüler der linken Szene zurechnete, so sehr unterschied er sich doch von deren Juste Milieu und von jener vermeintlich alternativen Gesinnung, die es sich leicht bequem macht.
Das erste Mal wütend sah ich ihn beim „Gaskammervoll“-Streit. Thomas Kapielski hatte 1988 in einem Text zum zehnten Geburtstag des Dschungel, des legendären Clubs in der Nürnberger Straße, geschrieben, die Disko sei schon bei seinem Eintreffen „gaskammervoll“ gewesen. Die Schriftstellerin Pieke Biermann kritisierte dies in einem Leserbrief – keiner in der Redaktion schenkte dem Beachtung. Außer Arno. Er bestand auf die Einberufung einer Vollversammlung. Über die Abwiegler („Endlösung der Dudenfrage“, Wiglaf Droste) und Relativierer („Jeder lacht doch mal über Judenwitze“) regte er sich fürchterlich auf. Die taz hatte ihre Holocaust-, ihre Schlussstrich-Debatte.
„Gaskammervoll“: Darf man das sagen – und sich darauf zurückziehen, dass der Schriftsteller Rolf-Dieter Brinckmann eine ähnliche Formulierung verwendet hatte, wenn auch in weniger flapsigem Ton und in anderem Kontext, im Zusammenhang mit seinem Leiden an der Kultur? Literarische Freiheit oder Antisemitismus, jeder sollte bitte Farbe bekennen. Die Auseinandersetzung zerriss die Redaktion und führte schließlich zur Entlassung der zwei verantwortlichen Kolleginnen, die Kapielskis Texte (es gab einen zweiten auf der Fernsehseite) verteidigten. Die Entscheidung fiel per Abstimmung im Plenum, nicht anonym, sondern offen, wenn ich mich recht erinnere. Es war Arno, der wollte, dass die Zeitung sich auf diese Weise ehrlich macht. Aus diesem unerbittlichen Konflikt habe ich gelernt, zu der eigenen, manchmal mühsam gewonnenen Überzeugung zu stehen – die ohne das Abwägen von Argumenten nicht zu haben ist. Das Risiko des Irrtums ist dabei nie vollständig auszuschließen. Seitdem weiß ich, es kann schmerzhaft sein, es kann Freundschaften kosten und einen auch selber zerreißen.