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Alle E-Mails zu diesem Buch werden vom Autor gerne beantwortet: autor@robertklement.com

ISBN 978-3-7026-5907-3
eISBN 978-3-7026-5908-0

1. Auflage 2016

Einbandgestaltung: b3k
© Copyright 2016 by Verlag Jungbrunnen Wien
Alle Rechte vorbehalten

Robert Klement

Halbmond über Rakka

Verführung Dschihad

Jungbrunnen

Der Handlung dieses Romans liegen wirkliche Schicksale zugrunde.
Der Autor hat in Österreich, in Deutschland und im türkisch-syrischen Grenzgebiet recherchiert und Prozesse gegen terrorverdächtige Jugendliche beobachtet.
Die Personen der Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Robert Klement

Halbmond über Rakka

Leila

Niemand hatte es gewusst. Niemand hatte etwas geahnt. Gegen Ende der zweiten Stunde geriet Nicos Welt plötzlich ins Wanken.

Der Unterricht verlief eintönig. Auf Powerpoint-Präsentationen waren bunte Grafiken zu sehen. Ein Klopfen an der Tür. Direktor Helbich betrat das Klassenzimmer.

„Ich muss euch etwas mitteilen“, begann er mit belegter Stimme und todernster Miene. „Es betrifft eure Mitschülerin Leila Ergun.“ Leila? Ihr Platz war leer. Ein Unfall? War sie am Ende …

„Leila wird sicher für längere Zeit fehlen. Möglicherweise werden wir sie überhaupt nie mehr hier sehen. Ihre Mutter hat bei der Polizei eine Abgängigkeitsanzeige aufgegeben. Leila wird via Interpol gesucht.“

Ein Augenblick gespannter Stille folgte. Die Mitschüler wirkten wie erstarrt und auch Nico hielt den Atem an. Der Direktor stieß einen tiefen Seufzer aus, ehe er fortfuhr: „Die Mutter hat Hinweise, dass Leila nach Syrien aufgebrochen ist. Dort will sie offenbar ihre Glaubensbrüder im Heiligen Krieg unterstützen. Mehr kann ich derzeit dazu nicht sagen. Morgen wird euer Klassenvorstand alles mit euch besprechen.“

In den letzten Minuten vor dem Läuten war an Unterricht nicht mehr zu denken. Alle redeten wild durcheinander. Leila im Krieg? Unmöglich, eine Verwechslung! Syrien? Wer kämpfte dort gegen wen? Und wieso war dieser verdammte Krieg dort heilig?

Leila war bei allen beliebt. Niemandem war etwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen. Außer natürlich, dass sie seit einigen Monaten ein Kopftuch getragen hatte. Wie um alles in der Welt hatte sich ausgerechnet Leila dazu entschließen können, in einen Krieg zu ziehen? Hatte sie nicht vor Kurzem noch Selfies gepostet und war mit Freunden um die Häuser gezogen?

Blicke streiften Nico, ruhten auf ihm. Als es läutete, verschwand er sofort aus der Klasse und versuchte, Leila anzurufen. Zunächst kam keine Verbindung zustande, doch dann hörte er eine männliche Stimme, es war ein türkischer Ansagedienst.

Nico fluchte leise vor sich hin und kehrte erst am Ende der Pause in die Klasse zurück.

Leila war seine ehemalige Freundin. Sie hatte vor einem halben Jahr mit ihm Schluss gemacht.

Kapitel 1

Leilas Mutter war eine kleine Frau mit schwarzen Haaren. Nico kannte sie als zurückhaltende, leise Person. Worte kamen ihr eher zögerlich über die Lippen, sie wog sehr genau ab, was sie sagen wollte.

„Zuerst waren wir glücklich, dass Leila ihren Glauben so ernst nimmt“, erzählte Frau Ergun. „Sie hat auf vieles verzichtet und oft von Allah und dem Paradies gesprochen. Irgendwann ist sie immer fanatischer geworden. Wir konnten nichts …“

Frau Ergun versagte die Stimme. Nico schwieg. Er war bei Leilas Eltern immer willkommen gewesen. Sie hatten nie Einwände gegen die Beziehung gehabt. Dennoch hatte ihn dieser Besuch einige Überwindung gekostet, aber auch seine Mutter hatte ihn in seinem Vorhaben bestärkt.

Leilas Vater war ein stämmiger Mann mit kräftigen Händen, einer, den sonst so leicht nichts umwerfen konnte. Kranführer bei einem Bauunternehmen.

„Sie hat die falschen Leute kennengelernt“, stieß Herr Ergun wütend hervor. „Wir konnten nicht wissen, was sie vorhat.“

War es tatsächlich möglich, dass sich seine Tochter einer Mörderbande angeschlossen hatte? War Leila nun wirklich Teil einer Terrorgruppe, die im Namen Allahs Angst und Schrecken verbreitete? Und wer hatte sie dazu verführt, in einen Krieg zu ziehen?

Wenige Stunden zuvor waren zwei Männer in der Wohnung der Erguns gewesen. Sie hatten Zivilkleidung getragen, sich ausgewiesen und nach Leilas Computer gefragt. Die beiden korrekten Herren von der Kriminalpolizei, Abteilung Staatsschutz, hatten die Mitnahme des PC und einiger USB-Sticks schriftlich bestätigt und auch etwas dagelassen: die Bilder mehrerer Überwachungskameras des Flughafens Wien-Schwechat.

Sie zeigten Leila am vergangenen Freitag um 15:52 Uhr an einem Schalter der Turkish Airlines. Sie trug eine wattierte schwarze Jacke und helle Jeans. Exakt zehn Minuten später checkte sie ein und legte eine prall gefüllte Reisetasche auf das Gepäckband. Dann sah man sie auf dem Weg zu einem der Gates. Auf den gestochen scharfen Bildern wirkte sie irgendwie verloren, entrückt, einer Schlafwandlerin gleich.

Nico fiel auf, dass sie kein Kopftuch trug.

„Eine Vorsichtsmaßnahme“, hatten die beiden Staatsschützer erklärt. Das würden die Anwerber so empfehlen. Leilas Handy war in der Funkzelle des Flughafens eingeloggt. Flug TK 1298 hob pünktlich um 17:55 Uhr ab.

Das Flugticket war eine Woche zuvor in einem Reisebüro im sechsten Wiener Gemeindebezirk gekauft worden. Wien–Ankara, ohne Rückflug. Es war bar bezahlt worden. Die Bilder einer Überwachungskamera eines benachbarten Juweliers zeigten einen jungen Mann, etwa dreißig Jahre alt, mit südländischem Aussehen. Die Angestellte des Reisebüros erinnerte sich an diesen Kunden, der gebrochen Deutsch gesprochen hatte. Herr und Frau Ergun beteuerten, den Mann nicht zu kennen. Auch Nico hatte ihn noch nie gesehen.

„Wieso darf eine 16-Jährige in diesem Land ohne meine Erlaubnis ausreisen?“, schnaubte Herr Ergun. Seine rechte Hand war zur Faust geballt, er drückte sie gegen die Tischplatte. Es schien, als ob er jeden Moment aufspringen und die Einrichtung zertrümmern könnte. Angestrengter konnte man nicht um Fassung ringen. Ein Tiger im Käfig der eigenen Ohnmacht.

Dann saßen die Eltern und Nico da und schwiegen. Plötzlich war es so still, dass das Tropfen des Wasserhahns in der Küche unerträglich wurde.

Wieso hatten sie nichts gemerkt? Diese Frage hing über den Eltern wie eine unausgesprochene Anklage. Warum hatten sie die Anzeichen nicht erkannt? Warum den Zeitpunkt übersehen, als aus Frömmigkeit Extremismus geworden war? Sie hätten bloß etwas aufmerksamer sein müssen. Merkwürdig war zum Beispiel, dass Leila vor zwei Monaten begonnen hatte, einige Habseligkeiten über eBay zu versteigern. MP3-Player, Schmuck, Bücher – alles Dinge, die sie geschätzt hatte. Das hätte Misstrauen erwecken müssen.

Dann kam dieser verhängnisvolle Freitag. Leila habe am Wochenende mit einer Freundin an einem Kreativ-Workshop in einem Wiener Bildungshaus teilnehmen wollen. Die Mutter erinnerte sich an eine innige Umarmung, anders als sonst. Irgendwie habe sie gespürt, dass dies ein besonderer Abschied war. Spätestens da hätte sie die Tochter festhalten müssen, fragen, ob etwas nicht stimme. Fragen, wozu sie das viele Gepäck für ein einziges Wochenende brauche.

Als Leila schließlich am Sonntagabend nicht wie vereinbart zurück und über ihr Handy nicht erreichbar war, wurde bei der Mutter die Unruhe zur Sorge, aus Sorge wurde Angst. Aus Angst nach und nach Panik. Da war plötzlich dieser schreckliche Verdacht: Leila, ihr fanatischer Glaube, Syrien …

Von dunklen Ahnungen getrieben, hatte Frau Ergun nach Leilas Pass gesucht und in einer Schreibtischschublade einen Brief entdeckt. Er war offenbar in großer Eile auf kariertes Papier geschrieben worden – alle Wörter in Großbuchstaben:

MACHT EUCH KEINE SORGEN. BIN AUF EINER LANGEN REISE, UM MEINEM GOTT ZU DIENEN. ICH LIEBE EUCH, ABER ICH LIEBE ALLAH MEHR !!!

Drei Zeilen, zweiundzwanzig Wörter auf einer Spiralblock-Seite. Das war alles, was von ihrer Tochter geblieben war. Als sie die Nachricht gelesen hatte, wählte die Mutter immer wieder, über Stunden, Leilas Nummer. Schließlich hörte sie, dass das Handy der Tochter läutete, doch der Anruf wurde nach dem dritten Klingeln weggedrückt. Irgendwann gegen 21:00 Uhr meldete der Vater die Tochter als vermisst.

„Das Problem bei Mädchen ist, dass sie gleich nach ihrer Ankunft in Syrien mit Gotteskriegern verheiratet werden“, hatte der Beamte vom Staatsschutz heute erklärt. „Sobald sie ein Kind haben, ist eine Flucht fast aussichtslos.“

Herr Ergun glaubte, einen merkwürdigen Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen. Irgendwo zwischen Mitleid und Häme.

„Wir verstehen Ihren Schmerz“, hatte der Mann mit dem Computer unter dem Arm an der Tür gesagt.

„Sie verstehen überhaupt nichts!“, hatte ihn Herr Ergun angebrüllt. „Wie können Sie verstehen, was wir fühlen?“

Draußen wurde es dunkel, doch niemand dachte daran, das Licht einzuschalten, so sehr waren alle in diesem Gespräch gefangen. Als Nico wenig später im Stiegenhaus über die Dächer Wiens blickte, waren seine Gedanken immer noch bei Leila. Er glaubte, sie in einem schwankenden Boot zu sehen, das auf ein unbekanntes Meer hinaustrieb. Ihre Mutter, der Vater, die Schwester und alle, die sie kannten, blieben fassungslos am Ufer zurück.

Nico tippte hektisch eine Textnachricht an einen Schulkollegen, während er seiner Mutter vom Besuch bei Leilas Eltern erzählte. „Wenn sich ein intelligentes Mädchen wie Leila zu diesem Wahnsinn überreden lässt, dann muss es irgendetwas geben, von dem wir beide nichts wissen.“

„Was meinst du?“ Die Mutter nippte an ihrem Espresso.

„Irgendeine geheime Kraft.“

„Hm. Ihr Glaube?“

Sie sprachen darüber, wie sehr Leilas Weggehen die Familie aus ihrem Alltag gerissen hatte. Über das Eingeständnis der Eltern, nichts von den Geheimnissen und Plänen ihrer Tochter gewusst zu haben, obwohl sie mit ihr auf engstem Raum gelebt hatten.

„Es kann nicht allein ihr Glaube gewesen sein“, gab sich Nico überzeugt. „Da muss noch was anderes eine Rolle gespielt haben.“

Eigenartig, dass man mit einem Mädchen befreundet sein konnte, ohne es zu kennen. Irgendwann hatte Leilas Welt Sprünge bekommen. Irgendwann musste sich in ihren Gedanken ein Monster eingenistet haben. War es, als sie plötzlich aufgehört hatte, sich zu schminken? Kein Nagellack mehr, kein Parfum, kein Haargel? Als sie den kleinen glitzernden Stein über ihrer Lippe entfernt hatte?

„Sicher haben sie eine Gehirnwäsche mit ihr gemacht“, meinte die Mutter. „Am Ende bist du ein Zombie und sagst zu allem Ja und Amen.“

Nicos Mutter zog ihre Strickweste über dem Oberkörper zusammen als würde sie frieren. Sie hatte große, dunkle Augen und schwarze, lockige Haare und wirkte mit ihren vierzig Jahren immer noch mädchenhaft, zierlich und gleichzeitig unbeugsam. Sie konnte kratzbürstig sein, wenn etwas nicht so lief, wie sie wollte. Dann wurde ihre Stimme mitunter schrill. Zugleich besaß sie großes Einfühlungsvermögen.

„Sie haben Leilas Computer beschlagnahmt“, sagte Nico und warf einen Blick auf Facebook. „Sie werden Dinge finden, die mich betreffen.“

„Vielleicht hat sie die Festplatte gelöscht.“

„Man kann die Daten wiederherstellen.“

Nico wusste, dass Leila ein Tagebuch im PC geführt und ihre Gedanken und Gefühle stets penibel notiert hatte. Würde die Polizei auch über ihn einiges entdecken?

„Machst du dir deshalb Sorgen?“

„Hm. Nein. Mehr als das übliche Beziehungsgelaber werden sie nicht finden.“

Nico kannte Leila seit er in die Neue Mittelschule gekommen war. Dort hatten sich die Mädchen seinen Namen auf die Hände geschrieben. Alle bewunderten ihn, den Fußballstar mit dem Lausbubengrinsen. Und er hatte sich für Leila entschieden. Aber hatte er ihr das Gefühl gegeben, wirklich und ganz zu ihr zu stehen? Fußball war stets wichtiger gewesen.

Irgendwann war der Zauber des Anfangs verflogen und Leila wollte nicht mehr. Es war aber nicht so, dass sie kein Wort mehr miteinander gesprochen hätten. Noch vor ein paar Wochen hatte sie ihm über WhatsApp Lösungsvorschläge für ein kniffliges Mathe-Problem zukommen lassen.

Nico erinnerte sich, dass Leila oft verzweifelt gewesen war, weil ihre Gefühle an ihm abgeprallt waren. Sie gab sich mit Oberfläch lichkeiten nicht zufrieden, sie wollte erforschen und erforscht werden. War da nicht auch immer etwas verstörend Trauriges in ihren tiefbraunen Augen gewesen? Etwas Dunkles, Verlorenes?

Es war, als hätte sie an einer Weiche ein falsches Gleis genommen. Als wäre ein Hebel umgelegt worden, der sie in eine komplett andere Richtung geschickt hatte. Leila und dieser Krieg – das war alles zu unwirklich. Eine Geschichte, die einem verrückten Drehbuch zu entstammen schien.

Aber hatte Leila denn ihn verstanden, damals, als seine Welt eingestürzt war, innerhalb von Sekunden? Das war nun genau ein halbes Jahr her. Er wusste, dass er diesen 21. September nie vergessen würde.

Es war knapp vor Ende der ersten Halbzeit, als sein Traum von der großen Fußballerkarriere plötzlich zerbrach.

Auf der Kärntner Straße standen bereits Tische vor den Cafés. Rucksacktouristen bummelten, ein Straßenmusikant spielte hinter seinem geöffneten Gitarrenkasten Beatles-Songs. Der Frühling sandte erste Signale.

Nahe der U-Bahn-Station sah Nico einen Stand mit Büchern und einem Plakat, auf dem in Großbuchstaben „LIES!“ stand. „Lies, im Namen deines Herrn, der dich erschaffen hat.“ Drei junge Männer verteilten den Koran, die Heilige Schrift des Islam. Sie hatten lange Bärte und trugen weiße, knöchellange Hosen. Ihre Füße steckten in abgewetzten Sandalen.

Die Bücher auf dem weißen Tischtuch wirkten edel, hübscher Einband, etwa 500 Seiten. Die Verzierungen in Gold leuchteten in der Frühlingssonne. Die meisten Passanten warfen im Vorbeigehen bloß einen flüchtigen Blick auf den Büchertisch. Einige waren überrascht, dass man ihnen ein Buchgeschenk anbot, noch dazu eines in prachtvoller Aufmachung und griffen freudig zu.

„Wer bezahlt diese Bücher?“, fragte eine vornehm wirkende Dame mit Einkaufstasche.

Der Mann mit dem Häkelkäppchen sprach wortreich von Mäzenen, von großzügigen Gönnern in der arabischen Welt, denen es ein Anliegen sei, den Menschen in Europa die Friedensbotschaft des Koran näherzubringen.

Es fiel auf, dass die drei Männer ausschließlich junge Leute ansprachen. Den alten Mann, der sich laut über „Rattenfänger und Verführer“ beschwerte, ignorierten sie geflissentlich.

„Was wollt ihr eigentlich?“, schimpfte der Pensionist mit der dicken Hornbrille. „Sollen auch meine Enkelkinder schon bald ein Kopftuch tragen? Wollt ihr ganz Europa islamisieren?“

Wahrscheinlich tauchte dieser Mann nicht zum ersten Mal hier auf, um seinem Ärger Luft zu machen. Der Missionar mit dem weißen Käppchen wollte Nico einen Koran reichen.

„Danke, ich such mir meine Bücher selbst aus“, meinte Nico schnippisch. „Von euch nehme ich nichts.“

„Schade, war gut gemeint“, entgegnete der Mann mit einem freundlichen Lächeln.

Nico wollte gerade weitergehen, als ihm Leilas Eltern einfielen. Er dachte an die Tränen, die Trauer, die Wut.

„Ein Mädchen aus unserer Schule ist verschwunden“, sagte er erzürnt. „Sie will in Syrien für Allah kämpfen. Ist das der Islam, den ihr meint?“

„Damit haben wir nun wirklich nichts zu tun“, entgegnete der Missionar im Brustton der Überzeugung und kraulte seinen Bart. „Wir sind entschieden gegen Terror und Gewalt. Wir wollen hier bloß das Wort des Propheten …“

Nico hörte plötzlich heftiges Getrampel im Rücken. Der Mann stockte und wich erschrocken einen Schritt zurück. Dann ging alles rasend schnell. Nico sah einen schwarzen Springerstiefel, einen Fuß, der heftig gegen die Tischplatte trat. Die Korane fielen mit einem lauten Knall auf den Asphalt. Der Glatzkopf war sofort im Getümmel untergetaucht.

Nur wenige Passanten hatten mitbekommen, was hier soeben abgelaufen war. Die meisten dachten, da sei gerade ein Tisch umgefallen. Ein junger Mann applaudierte. Nico fand die Attacke empörend. Die bärtigen Glaubensbrüder stellten den Klapptisch und die Stellwand mit dem „LIES!“-Plakat wieder auf. Niemand fluchte, sie zeigten große Gelassenheit. Die Männer waren Provokationen von Rechtsradikalen gewohnt, wie es schien. Sie sammelten die Bücher vom Asphalt auf. Ein Koran durfte niemals den Boden berühren, die Bücher wurden dadurch entweiht. Später würde man sie mit Tüchern umwickeln und in der Erde verscharren. Das gebot der Respekt vor dem heiligen Buch.

Offensichtlich war ihnen nicht entgangen, dass Nico von dieser Sanftmut beeindruckt war. „Komm zu uns, schau, was wir dir bieten können!“, meinte der Mann mit dem rötlichen Bart. „Besuch uns in der Tahib-Moschee!“

Wenig später lächelten die drei Missionare wieder zwischen den Bücherstapeln hervor. Im weißen Kastenwagen hatten sich ausreichend Koran-Reserven befunden. In der U-Bahn gab Nico auf seinem Smartphone „Tahib-Moschee“ in eine Suchmaschine ein. Er fand Artikel mit den Überschriften „Proteste gegen Hassprediger“ und „Hinterhof-Moschee im Zwielicht“.

War es diese Moschee, in der Leila ihren Verführern auf den Leim gegangen war? Vielleicht sollte er sich dort wirklich einmal umsehen. Außerdem hatte man ihn freundlich eingeladen. Möglicherweise konnte er etwas herausfinden und Leilas Eltern helfen.

Kapitel 2

Als Direktor Herzog das Fenster öffnete, strömte eine frühlingshafte Brise in sein Büro. Auf der Straße würde man diesem Mann mit den kurzen, grau melierten Haaren keinerlei Beachtung schenken. Nichts Bemerkenswertes war an ihm. Niemand würde vermuten, dass es sich bei dem unscheinbaren Herrn um den obersten Terroristenjäger des Landes handelte.

Er lebte gefährlich. Herzog arbeitete streng abgeschottet in einem Büro mit Zugangscode an der Tür. Nie ging er ohne Personenschützer aus dem Haus. Seine Post wurde von einem Röntgengerät durchleuchtet. Von seinem unaufgeräumten Schreibtisch sollte man sich nicht täuschen lassen. Herzog war Perfektionist, ein Kontrollfreak. Mitarbeiter brachte er oft zur Verzweiflung, wenn sie seinem Perfektionswahn nicht gerecht wurden. Alles in seinem Leben verlief nach einem minutiösen Plan. Seinem beruflichen Ehrgeiz ordnete er alles Private und Persönliche unter.

In seinen Nadelstreifenanzügen sah er reichlich bieder aus, an der Krawatte glitzerte eine goldene Nadel. Nach außen wirkte er ruhig. Man musste ihn schon sehr gut kennen, um hinter seinem abwesenden Blick und der starren Melancholie seiner Züge die innere Erregung wahrzunehmen. Stets haftete ihm etwas Getriebenes an, er schien ständig unter Spannung zu stehen.

Sein Denken kreiste unaufhörlich um Abhörwanzen, angezapfte Telefonleitungen, Spionage-Software und verdächtig abgestellte Taschen.

Richard Herzog war Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Er und seine Leute bekämpften eine heimtückische Krankheit. Innerhalb eines Jahres waren mehr als 160 Jugendliche vom Virus des islamistischen Terrors infiziert worden. Ein Virus, das oft zum Tod führte.

Diese jungen Leute waren nicht von einem fremden Stern auf die Erde gekommen. Viele waren in Österreich aufgewachsen, hatten Schulen dieses Landes besucht, Sportvereine und Moscheen. Warum verwandelten sie sich in kurzer Zeit zu radikalen Monstern – bereit zu sterben für eine Religion, die sie für den Islam hielten?

Aber vor allem diese eine Frage raubte Herzog schier den Schlaf: Wer waren die Hintermänner? Die Anwerber für den Heiligen Krieg, die Drahtzieher des Dschihad?

Es war ein Krieg, der nur wenige Flugstunden von Wien entfernt tobte. Jugendliche verfolgten die Ereignisse auf ihren Handys. Die sozialen Netzwerke waren zum wichtigsten Werkzeug des Propagandakriegs der Islamisten geworden.

Herzog musste die Männer finden, die junge Frauen und Burschen radikalisierten, für die Teilnahme an terroristischen Kampfhandlungen im Ausland anwarben und in das Kriegsgebiet entsandten. Der Innenminister forderte von ihm hartes Durchgreifen und sichtbare Erfolge. Die aufgeschreckte Öffentlichkeit wollte Entschlossenheit und Taten sehen. Die Medien berichteten über „Teenie-Terroristen“ und entfachten mit ihren Meldungen eine regelrechte Dschihad-Hysterie. Übereifrige Bürger vernaderten den türkischen Gemüsehändler an der Ecke als Bombenleger. Anonyme Hinweisgeber verdächtigten die Afghanin im Ganzkörperschleier als Terroristin. Türkische und bosnische Jugendliche provozierten ihre Eltern und Lehrer mit der Ankündigung, in Syrien für Allah kämpfen zu wollen.

Besondere Sorge bereiteten Herzog die Hinterhof-Moscheen. Unglaublich, mit welchem Geschick die Prediger dort die Unzufriedenen im Publikum ansprachen. Sie fischten die Frustrierten heraus. Leute, die auf der Suche nach etwas waren.

Nur wenige der rund 400 Moscheen des Landes wurden vom Verfassungsschutz als problematisch eingestuft. Derzeit observierten verdeckte Ermittler 14 Moscheen und einschlägige Gebetshäuser. Herzog ahnte, dass einer der Wege zu den Drahtziehern des Dschihad über diese dunklen Hinterhöfe führte. Sie erschienen ihm als ideale Orte für islamistische Menschenfänger. Die Verführer bekehrten junge Männer und Frauen erst zum Islam und rekrutierten sie dann für den Dschihad. Speziell eine Moschee wollte er verstärkt im Auge behalten.

Sie lag am östlichen Stadtrand Wiens.

Eine laute Ausfallstraße mit schäbigen Fassaden. Die Gegend wirkte nicht gerade einladend. Wettbüros reihten sich an Erotik-Shops und Handyläden, an einer Ecke befand sich ein türkischer Supermarkt. Die Hauswände waren mit Graffiti und grellen Botschaften übersät.

Nico blickte sich suchend um. Wo war die Moschee? Auf seinem Handy überprüfte er nochmals die Hausnummer. Hier befand sich kein Gebäude, das einer Moschee ähnelte. Da sah er, dass sich schwarz verhüllte Frauen und Männer mit Bärten aus mehreren Richtungen einer Einfahrt näherten. An einer Mauer, die den Weg in einen Hof freigab, entdeckte er ein Schild: „Islamisches Kulturzentrum und Familienverein.“

Eine Frau, die durch das Gitternetz ihrer Burka blickte, an der Hand ein weinendes Kind, ging an ihm vorbei und betrat den Hof. Die Tahib-Moschee besaß weder Kuppel noch Minarett, man konnte an ihr vorbeigehen, ohne sie zu bemerken.

„Sie werden mich rausschmeißen – falls ich da überhaupt hineinkomme“, dachte Nico. Im Hof lagen aufgeplatzte Müllsäcke neben Abfallcontainern, leere Kisten, Sperrmüll. Fünf Buben spielten Fußball, die Klopfstange diente als Tor. Schuss. Der Tormann wehrte ab, der Ball kollerte auf Nico zu. Elegant nahm er ihn an, ließ ihn über Oberschenkel und Schulter tanzen und beförderte ihn mit einem Kopfstoß Richtung Tor. Applaus und Bravorufe der Buben schallten über den Hof.

Im Stiegenhaus hatten Maler ihre Eimer mit Farbresten aufgestellt. Putz löste sich von der Decke. Beim Treppensteigen wurde Nico bewusst, dass das Fußballspielen im Hof keine gute Idee gewesen war, denn er spürte heftige Stiche im rechten Knie. Im ersten Stock empfing ihn ein Jugendlicher in seinem Alter mit einem freundlichen Lächeln: „Du bist zum ersten Mal hier, nicht wahr?“

„Ja, ich will nur …“

„Wir möchten dir ein Geschenk überreichen“, unterbrach ihn der junge Mann. „Gott sei mit dir!“ Mit feierlicher Miene drückte er ihm einen Koran in die Hand.

„Dan-ke“, stotterte Nico verwirrt.

Eigentlich hatte er einen grimmig blickenden Türsteher erwartet, der ihn argwöhnisch musterte. An den Wänden des Gebetsraums befanden sich bunte Verzierungen, silbern glänzende Leuchten und ein großer arabischer Schriftzug. Nico wurde sich immer mehr der Tatsache bewusst, dass er ein Eindringling war, der sich auf fremdem Territorium befand. Bald würde ihn ein misstrauischer Moslem enttarnen. Plötzlich packte ihn jemand an der Schulter.

„Nico? Nico Strebinger?“

Es war ein schlaksiger Bursche mit fröhlichem Lachen. „He, du kennst mich! Wir haben vor zwei Jahren bei diesem Turnier in München in einer Jugendauswahl gespielt. In der Verlängerung hast du uns ins Finale geschossen.“

Nico erinnerte sich an Ahmed Yilmaz, dieses Raubein, an dem kaum ein gegnerischer Stürmer vorbeikam.

„Ich hab von deinem Pech gehört“, meinte Ahmed, der nun besorgt auf Nicos Knie blickte. „Aber vielleicht wird das wieder. Komm, ich zeig dir unsere Moschee!“

Er tat so, als wäre Nico hier schon immer ein willkommener Gast gewesen. Die Tahib-Moschee befand sich in den Räumen einer ehemaligen Zeitungsredaktion. Es gab eine Küche, einen Raum mit Tischen, Stühlen und vielen Büchern, einen kleinen Lebensmittelladen. Über einen Flachbildschirm flimmerte der arabische Nachrichtensender Al Jazeera. Hier hielten sich nur Männer auf, für Frauen gab es einen eigenen Bereich. Dort konnten sie die Botschaft des Predigers über Lautsprecher verfolgen.

Die Atmosphäre war heimelig, man konnte sich hier auf Anhieb wohlfühlen. Ahmed besorgte für Nico einen Stuhl und sie bahnten sich einen Weg durch die dichten Reihen zur Fensterwand. Die Gläubigen saßen im Schneidersitz auf abgewetzten orientalischen Teppichen, viele mit geschlossenen Augen, tief in sich versunken. Fast alle trugen Kopfbedeckungen, Häkelkäppchen in Weiß, Schwarz oder Grün. Es waren überwiegend junge Leute, aber auch Väter mit ihren sieben, acht Jahre alten Söhnen.