Jonathan ist Arzt und arbeitet in einem Krankenhaus in Sana’a, das Regierungsbeamten und Ausländern vorbehalten ist. Doch selbst hier herrschen zum Teil katastrophale Bedingungen, und man weiß nie, wem man trauen kann. Auch privat gerät der weitgereiste Mediziner in der von Krieg und Terrorismus gezeichneten jemenitischen Hauptstadt zunehmend in Konflikte zwischen Loyalität und Lüge. Delphine ist weit weg von Jonathan und seinem aufwühlenden Alltag. Er trifft eine alte Liebe wieder, fühlt sich zur Ehefrau eines Kollegen hingezogen und verliebt sich schließlich in eine junge Frau, die für eine NGO arbeitet. Raffiniert verwebt Evelyn Schlag die politischen mit den persönlichen Ungewissheiten, die existenziellen Fragen mit den aktuellen politischen Hintergründen. Ein großer Roman über Verrat und Leidenschaft.
Zsolnay E-Book
Evelyn Schlag
Yemen Café
Roman
Paul Zsolnay Verlag
Mit freundlicher Unterstützung von
ISBN 978-3-552-05811-8
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2016
Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Motiv: © plainpicture/Readymade-Images/Greg
Conraux
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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I must reach Sana’a, no matter
how long the journey takes.
1
Auf dem Weg in die Eingangshalle hinunter hörte Jonathan, wie der Gesundheitsminister mit Dr. Marram scherzte, dem ärztlichen Leiter des Krankenhauses. Dieser wies auf die erst vor kurzem angebrachte Tafel mit dem Schriftzug »Private Hospital Swiss House in Sana’a«. Auf Arabisch waren die drei Ministerien angeführt, die den Erhalt des Krankenhauses mitfinanzierten. Das war die dritte Tafel ihrer Art. Was bei den beiden vorangegangenen nicht gepasst hatte, war Jonathan nach wie vor ein Rätsel.
Sie begrüßten einander freundlich. Der Gesundheitsminister war ein legerer Mann, der es mit seinen Kollegen aus dem Innen- und Außenministerium oft nicht leicht hatte, wie Dr. Marram ihm ein paar Mal anvertraut hatte. Er kam immer selbst, schickte nie einen Vertreter. Sie wechselten ein paar Worte, dann bat Dr. Marram sie in den Festsaal.
Es galt, die Ankunft eines deutschen Chirurgen zu feiern, der Jonathan endlich entlasten würde. Eine mächtige Torte in Form eines Rechtecks nahm die gesamte Länge des Tisches ein, gut anderthalb Meter. An den Außenseiten wurde die Torte von einer dicken weißen Cremeschicht befestigt, die Verzierung obenauf war in den Landesfarben des Jemen gehalten, rot-weiß-schwarz. Jamal, der Staatssekretär des Innenministers, stand bereit. Jonathan stellte sich mit dem Direktor und dem Gesundheitsminister dazu.
Vor ihnen lag ein Messer mit langer Klinge und vergoldetem Griff. Eine Geste Jamals zu Jonathan, der gab die Geste zurück, er wollte dem Politiker diese Ehre nicht nehmen. Der Staatssekretär griff nach dem Messer, den anderen Arm hielt er vor seinen Magen, um sein Sakko zu schützen, während er sich hinunterbeugte. Seine Hand zitterte. Das würde kein glatter Schnitt werden, kein gerader feierlicher Schnitt scharf durch die weiße Sahne, das rote Marzipan, die schwarze Lakritze. Jonathan legte seinen Arm auf die Manschette des Staatssekretärs. Mit einem Finger berührte er dessen Handrücken und führte ihm die Hand.
Den Handrücken eines Fremden zu berühren hatte etwas Väterliches, das konnte eine Beleidigung für den Älteren sein. Aber jemenitische Männer mochten angeblich die Berührung. Die Haare auf dem Handrücken waren intim. Das Messer drang tief in den mittleren Teil des Tortenkörpers ein und kam auf den Untergrund, kein besonderes Geräusch, keine Kratzer. Langsam zogen sie das Messer zurück und endeten in der Lakritze. Jonathans Arm entfernte sich.
Ein Küchenjunge mit hoher Mütze schlich seitlich heran, nahm das verschmierte Messer entgegen. Nicht mit der Zunge abschlecken, sagte Jonathan im Geist. Stille umschloss ihn, obwohl geredet wurde, wie er an den Gesichtern und Lippen sah. Jamal blitzte ihn mit seinen schwarzen Augen an, die Haare mit Sicherheit gefärbt. Dr. Marram, hocherfreut, verwundert, besorgt.
Alles in Ordnung?
Jonathan hatte es ihm von den Lippen abgelesen. Was war das, ein – das Wort fiel ihm nicht ein. Keine schwarzen Flecken, nur dieses Entferntsein. Jonathans Mund zuckte. Er wusste nicht, ob das als Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Eine Nervenlähmung? Bitte sprechen Sie lauter.
Alles in Ordnung. Entschuldigen Sie. Ein kleiner Aussetzer. – Jonathan griff sich an die Schläfe. Jemand hielt ihm ein Glas Wasser hin, der Staatssekretär bot ihm ein Stück Torte an. Aha, so hatte er es herausgeschnitten, quadratisch.
Vielen Dank. Später vielleicht. – Er trank hastig das Wasser aus, stellte den Teller ab.
Da ist ja unser neuer Kollege. – Er war froh, das Gespräch erstmal Christian Malte hinzuschieben, dem neuen Chirurgen.
Jonathan schaute an den Männern vorbei zum Tortentisch zurück. Er sah, dass die Kanten vorne Schrunden und Kerben trugen. Ein ausrangierter Tisch, aus einem Keller geholt, einem minderen Aufenthaltsraum in diesem gerade mal ein Jahr alten Krankenhaus. An der Wand darüber der missbilligende Blick von Präsident Saleh. Auf dem Porträt war der Präsident zwanzig Jahre jünger als heute.
Jonathan ging zur Herrentoilette, filmte sich dabei, wie er die Tür öffnete, wie er sich im Spiegel sah. Er drehte den Hahn auf und wusch sich mit beiden Händen das Gesicht. Das kalte Wasser kühlte ihm die Stirn, er strich die vergangenen Minuten links und rechts weg. Er zählte seinen Puls, viel zu niedrig. Hielt das Gesicht schräg unter das kalte Wasser und trank, trank, vergaß, dass er abgefülltes Wasser trinken sollte. Ihm war übel geworden, etwas hatte ihn befallen, und wie ein Roboter war er auf die Toilette gegangen und hatte kaltes Wasser direkt aus der Leitung getrunken. Kurze Absenz, und er hatte eine hygienische Grundregel vergessen.
Was war da mit dem schrägen Trinken gewesen?
Nicht schräg trinken. Auf der Seite liegend.
»Wie ein Römer.«
Wer hatte das erzählt?
Nicht erzählt, in einem E-Mail geschrieben. Jemand hatte in Italien einen streunenden Kater aufgelesen, ein verhungertes Katzenkind, und der trank Wasser auf der Seite liegend, wie ein Römer bei einem Bankett. Seine geliebte – seine geliebte – der Name fiel ihm nicht ein. Sobald er das Wort »Name« dachte, verschloss sich sein Gehirn. Eine Arterie geplatzt? Ein Aneurysma? Lächerlich. Hypochondrisch. Delphine würde ihn laut auslachen – Delphine! Herrgott nochmal. Delphine in Äthiopien. Seit einiger Zeit war sie nicht mehr in der winzigen Klinik, sondern zu Hause in Frankreich, weil ihre Mutter Hilfe brauchte nach einem Schenkelhalsbruch. Alles wieder da.
Jonathan kämmte mit den Fingern durch die Haare. Malte hatte schon graues Haar, obwohl er etliche Jahre jünger war, achtunddreißig? Eine schwarze Figur näherte sich im Spiegel von hinten. Jonathan drehte sich um, da war niemand.
Die Empfehlungen für Malte waren überschwänglich gewesen. Er hatte seine Facharztausbildung an der Charité in Berlin absolviert und war dort geblieben. Sie hatten ihn unter großem Bedauern für zwei Jahre beurlaubt. Andrerseits machte es sich immer gut, wenn man Einsätze in unterentwickelten Ländern vorweisen konnte. Unser Dr. Malte in Sana’a, der eigentliche Held dieser Eröffnungsfeier, obwohl er noch nichts getan hat, außer sich für zwei Jahre hierher zu verpflichten. Jemand Älterer wäre Jonathan lieber gewesen, einer, der Erfahrung mit Auslandseinsätzen vorzuweisen hatte, mit dem er abends auf der Dachterrasse sitzen könnte, über Gott oder Allah und die Welt reden, sich an Lektüren erinnern, mit einem Mal erkennen, was man übersah und was dieser ältere Malte auf Anhieb begriff. Einen starken Geist wünschte er sich auf den Stuhl neben seinem auf der Dachterrasse. Langsam. Malte war keine Woche hier, und er wappnete sich bereits mit vorzeitigen Enttäuschungen gegen die wirklichen Enttäuschungen, die meistens anderer Art waren als die befürchteten.
Einer fehlte bei der Feier heute Abend, der Mann, dem Jonathan seinen Job wie auch den neuen Kollegen verdankte. Sein Studienfreund Robert Gerstbauer. Robert war einer der medizinischen Berater im Vorstand der Schweizer Holding, die mit ihren Tochtergesellschaften Gesundheitsmanagement in arabischen Ländern anbot. Robert litt an einer Virusinfektion und hatte seinen Flug stornieren müssen.
Jonathan gab sich einen Ruck.
Draußen kam ihm Dr. Marram entgegen. – Wir sind sehr besorgt. Geht es Ihnen gut?
Ich hatte den Tag über zu wenig Wasser getrunken. Kein Grund zur Aufregung.
Ohne Sie geht hier gar nichts. Der Staatssekretär hat sich in den höchsten Tönen begeistert gezeigt. Er ist sehr stolz darauf, was wir auf der Chirurgie binnen eines halben Jahres erreicht haben. Er wird Ihnen das gewiss selbst sagen.
Kaum betrat Jonathan den Saal, schritt Jamal auf ihn zu. Zum Glück erwähnte er den Zwischenfall mit keinem Wort, sondern fasste Jonathan an beiden Oberarmen, sein zwinkerndes Lächeln in den Augen, das man für Jovialität halten konnte.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Abteilungsvorstand. Sie erfüllen Ihre Aufgabe zur höchsten Zufriedenheit des Ministers. Wie uns die Ereignisse der vorigen Woche gezeigt haben, gibt es Feinde des jemenitischen Volkes, die unseren Staat untergraben und die Regierung stürzen wollen. Unser Land soll getroffen werden, wo immer es den Feinden des Friedens und der Einheit unseres Staates möglich ist. Sie verwenden dazu die perfidesten Mittel. Sie schrecken vor nichts zurück. Sie missbrauchen die Lehren des Propheten, um ihre abwegigen Taten zu rechtfertigen. Passen Sie gut auf sich auf, Dr. Schmidt.
Der Staatssekretär wurde von seinen zwei Leibwächtern abgeführt. Im Saal löste sich der Halbkreis, den die Gäste bildeten, gerade in kleinere Gruppen auf. Jamal hatte wohl eine Ansprache gehalten. Sie redeten durcheinander und bemerkten Jonathan nicht.
Eine Zehn-Milliliter-Spritze, wie wir sie tausendmal verwenden, sagte der Finanzdirektor, Dr. Ibrahim. – Mit einer Säure drin. Die Spritze und ein Plastikcontainer mit Pulver sind geschmolzen.
Welches Pulver? Weiß man das?
PETN.
Power Explosive …, rätselte Malte laut.
Also noch einmal. Er hat die Materialien, dieses Paket mit dem Sprengstoff und die Spritze mit der Säure, im Jemen erhalten, rekapitulierte der Finanzdirektor.
So hat er es ausgesagt. Und dass er von Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel instruiert wurde.
Von allen Seiten hörte Jonathan Sätze, die er sich selbst nicht zutraute. Obwohl er eine Ahnung davon hatte, dass er die Berichte in den Tagen zuvor gelesen hatte.
Der Terrorist bestieg in Amsterdam eine Maschine der Northwest Airlines mit dem Ziel Detroit. – Aha, Malte wusste noch mehr. – Kurz vor dem Anflug auf Detroit ging er auf die Toilette und kam nach zwanzig Minuten zurück, wickelte sich auf seinem Platz in eine Decke ein, die Passagiere neben ihm hörten ein ploppendes Geräusch, und es stank faulig.
Das hatte er sich in die Unterhose gepackt?
So war er in das Flugzeug gestiegen. Er vertraute darauf, dass man ihn an seinen intimen Stellen nicht untersuchen würde.
In einer Zeitung habe ich das Foto der Unterhose gesehen, sagte Maltes Frau. – Sah aus wie ein historisches Unterzeugs, aus dem Mittelalter, ein Ausstellungsstück in einer Vitrine, ein seltenes Exemplar, nicht weil es so schön gefertigt worden wäre, sondern weil man nicht so viele Exemplare davon kennt.
Ich möchte wissen, ob ihm das eine Frau eingenäht hat oder ob die das in ihren Trainingscamps lernen! Würden Sie die Naht einordnen können, Herr Kollege Malte? scherzte Dr. Marram.
Als diese Vorrichtung explodierte, begann das Hosenbein zu brennen. Und die Wand des Flugzeugs!
Stimmt das, dass sein Vater in Abuja, in Nigeria, zur amerikanischen Botschaft ging und sie vor seinem Sohn warnte?
Ja, das stimmt, wollte Jonathan sagen, Malte kam ihm zuvor.
Die Amerikaner hatten diesen Abdul-mulla falsch eingeschätzt.
Abdulmutallab, korrigierte Dr. Ibrahim.
Ich habe ein schlechtes Gedächtnis für arabische Namen. Hoffentlich gewöhne ich mich bald daran, sagte Malte.
Jonathan nahm das als Stichwort. Sich an arabische Namen gewöhnen, das betraf ihn selbst. – Lieber Kollege Malte, das werden Sie gewiss.
Plötzlich stand Susanna Malte neben ihm. Die sommersprossige Frau mit dem viel zu hellen Teint, würde sie hier glücklich werden? Nicht mit dieser Haut.
Was war denn da los vorhin? fragte sie.
Ein Anflug von Migräne, nichts weiter.
Und das vergeht so schnell? Bei mir dauerte es zwei, drei Stunden. Zum Glück habe ich das nicht mehr.
Er war froh, sich mit Maltes Frau wegdrehen zu können, sie entschuldigte ihn damit und bewahrte ihn vor weiteren Fragen. Man ließ die beiden in Ruhe, selbst ihr Ehemann. Jonathan fühlte sich geschützt in diesem Raum, den ihr Anspruch auf ihn schuf.
Wie kommen Sie mit Ihrer Wohnung zurecht?
Susanna Malte verdrehte die Augen. – Der Vermieter hat uns die ersten Tage zur Hölle gemacht. Am liebsten wäre ich wieder zurückgeflogen. Das hat dieser Unterwäschebomber verhindert. Die Flüge wurden umgeleitet, es wäre alles sehr kompliziert geworden. Nein, ich wäre nicht zurückgeflogen!
Sie wehrte den Gedanken an eine so frühe Kapitulation mit einer Handbewegung ab. Es schien ihr viel daran zu liegen, sich nicht als unverlässliche Begleiterin ihres Mannes zu verraten, die ihm zusätzliche Probleme bereiten würde.
Ich hätte Sie vorwarnen sollen. In dem täglichen Chaos hier habe ich das vergessen, sagte Jonathan. – Bei mir fehlten Duschvorhänge und ein Schlauch für das Abwasser der Waschmaschine.
Uns hat der Schmutz am meisten gestört, alles war verdreckt, seit mindestens einem Monat nicht mehr gereinigt. Erst am zweiten Tag kam eine Reinigungskraft, da hatte ich schon fast alles geputzt.
Susanna Malte schaute ihm in die Augen. Wie würde sie verschleiert aussehen, mit einem Niqab, aber nicht in Schwarz? Hinter einem schwarzen Schleier würde diese Frau nämlich zu Staub zerfallen, die grünen Augen, die sich beruhigt hatten und ihn nun ruhig ansahen, Halbedelsteine, die in den Kopf sanken, als wären sie die einzigen Überreste einer Mumie.
Waren Sie schon einmal in einem arabischen Land? fragte er schnell.
Nein. Es ist für uns beide neu. Mein Mann wollte sich beruflich verändern. Etwas ganz anderes tun.
Und dann gleich der Jemen?
Dann gleich der Jemen.
Jonathan hätte sie zu gern gefragt, wie sie zu diesem einschneidenden Entschluss stand. Ob sie es beide wollten. Oder spielte sie ihrem Ehemann zuliebe mit? Sie wirkte ungeduldig, beinahe verdrossen.
Mein Vater war Röntgenfacharzt, sagte sie. »War«, registrierte Jonathan. – Er hat einen saudi-arabischen Konsul in Berlin behandelt. Die beiden verstanden sich sehr gut. Es hieß immer, wir müssen einmal nach Jeddah fahren, wir würden Orte sehen, die sonst kein Tourist zu sehen bekäme. Für mich und meine Schwester war er Onkel Jussuf. Er liebte uns. Er trank Alkohol, rauchte, wir wussten ja nicht, dass das verwunderlich war. – Sie ratterte die Geschichte herunter. – Tante Arwa spielte mit meiner Mutter und einer Freundin Rommé. Ich war ein paar Mal zu Besuch. Die langen niedrigen Sofas an den Wänden gefielen mir, und besonders Tante Arwas Schalen und Schüsseln. Das Geschirr, die bunten Tassen. Ich war von klein auf in Keramik verliebt.
Und eines Tages war Onkel Jussuf –?
Nicht mehr da. Es hieß, sie seien versetzt worden, aber weder Tante Arwa noch Onkel Jussuf hatten vorher davon gesprochen. Erst viel später verriet uns mein Vater, dass er vorsichtig Nachforschungen angestellt hatte. Es war unheimlich, wie ein Verbrechen. Man hatte ihn einfach verschwinden lassen.
Wen? fragte Malte.
Onkel Jussuf.
Haben Sie ihn einmal gegoogelt? fragte Jonathan.
Müsste man das nicht auf Arabisch machen? Wir haben darüber gesprochen, als das Jemen-Projekt auftauchte, Chris, dann habe ich es wieder vergessen. Jussuf Al-Salar.
Malte hatte eine mitleidige Miene aufgesetzt. Jonathan sollte sehen, dass er diese fixe Idee seiner Frau nicht ernst zu nehmen brauchte.
Warum versuchen wir es nicht? wollte Jonathan fragen, so als zeige er Susanna Malte gleich den Weg ins Büro, zu seinem Schreibtisch, seinem Computer, der nichts lieber herausfinden wollte als den Namen eines Konsuls, in den sich die Frau des neuen Chirurgen einmal verliebt hatte.
Wie alt waren Sie damals?
Dreizehn, vierzehn.
Und noch sehr naiv, warf Malte ein. – Als Mädchen konnte man das natürlich nicht unbedingt wissen, um 1980 herum.
Nein, sagte Jonathan nach einer längeren Pause, während der sie alle geschwiegen hatten. – Sicher nicht. Als Mädchen musste man das damals nicht wissen.
Hast du erwähnt, dass du Designerin für Geschirr bist?
Habe ich nicht.
Das ist ja hochinteressant, ein künstlerischer Beruf! Sie werden ins Nationalmuseum gehen und sich die Keramikstücke ansehen und Inspirationen bekommen.
Das kann gut sein, sagte Susanna.
2
Auf der Dachterrasse des nächsten Hauses war neben der alten, verrosteten Satellitenschüssel eine neue montiert worden. Die große Box, in der sie gekommen war, lag auf dem Boden. Außerdem befanden sich dort ein blauer Klappstuhl, der nie verrückt wurde, und zwei ausgeronnene Ölkanister. Eine Wäscheleine spannte sich vor einem Fenster, Wäsche hatte Jonathan bisher nicht darauf gesehen. Die Tür war einmal weiß gewesen, hatte den aufsteigenden Rostbrand. Auf der daneben liegenden Terrasse fand manchmal ein Treffen mehrerer Männer statt. Sie kamen aus der Wohnung, kauten Qat, die linke oder rechte Backe so dick, als befände sich ein Tennisball drin. Trotz des Rausches, in dem sie sich befinden mussten, debattierten sie. Er wusste nicht, ob es in den Häusern hier in diesem Neubauviertel auch die Dachräume mit der durchlöcherten Decke gab, durch die man sich beim Qatkauen in den Himmel hinaufziehen lassen konnte.
Ein angenehmer Januartag, 23 Grad. Der riesige sandbraune Baukasten, der Sana’a war, lag ihm zu Füßen, in der Ferne die Gebirgszüge, die in der Atmosphäre beinahe verschwanden. Nur die Nächte waren unerträglich kalt in der ungeheizten Wohnung. Er schlief seit Anfang November wieder mit einem Stirnband und im Pullover.
Delphines E-Mail war eine Überraschung gewesen. Wie hatte er ihren Namen vergessen können? Der Zugang zu ihr blockiert, wie eine Fremde war sie ihm erschienen, ungreifbar weit weg, als müsste er die ganze Person ein zweites Mal kennenlernen innerhalb weniger Sekunden. An die Erwähnung ihrer Mutter, die er nicht kannte, hatte er sich erinnert, aber nicht an ihren Namen, bei dem er sie so oft genannt hatte, nur um die in den zwei Silben steckende Verführung auszusprechen.
Afrika. In der Hitze ein Gebäude, langgestreckt und aus Holz, mit etlichen Türen. Vor dem Haupteingang ein paar Äthiopierinnen, die lachten, glückliche Patientinnen oder Personal. Sie redeten etwas in ihrer Sprache und winkten ihm zu, lachten und verbeugten sich. War er zu groß, zu bleich? Eine rief in das Haus hinein.
Erst in der Erinnerung konnte er den Augenblick, ehe Delphine Teichert ins Licht trat, so lange hinausziehen, wie er wollte. Wann immer er danach an seine Ankunft dachte, an diesen ersten Eindruck, hatte er Angst, ihr Bild nicht mehr zu sehen, und ließ sie, verschwommen und flimmernd, wie beim Rücklauf eines Films, wieder im Dunkel der Eingangstür verschwinden. Sie trippelte gehorsam zurück, ließ sich nur mit dieser Lächerlichkeit rückgängig machen. Sobald er sie im Inneren des Gebäudes wusste, auch wusste, dass sie auf ihn wartete, fand er ein paar Augenblicke Ruhe in der Anspannung. In anderen Situationen, die ihm nachgeeilt waren, sich ungebeten einstellten, wurde ihr Bild meistens rasch lebendig.
Langsam, in Zeitlupe jetzt, kam eine helle Figur den Gang heraus, trat ins blendende Licht, hielt sich den Arm vor die Augen wie ein Kind, das sich beim Aufwecken gegen das Wegziehen der Vorhänge wehrt. Sie war fast weiß, so blond, spielte ihm einen Streich und klappte die Sonnenbrille herunter, die sie ins Haar geschoben hatte.
Willkommen. Wir haben drei Jahre auf Sie gewartet.
Das hat mir noch niemand gesagt, erwiderte Jonathan.
Er wusste sofort, dass sie aufs Spielen aus war. Dass sie Humor hatte. Ihre langen Beine hielt er für eine Draufgabe. Er hatte mit einer sonnengegerbten No-nonsense-Nurse gerechnet, so gehörte sich das. Wie lange hatte er keine hübsche Frau gesehen, oder besser, keine Frau, die ihn in den Bann zog, oder wie man das nennen sollte, diese sekundenartige Neugier und Treffsicherheit. Er musste sich zurückhalten, sonst würde es nur Enttäuschungen geben. Was erwartete er von ihr? Diese Krankenstation kam ihm wie ein unsichtbarer Punkt im Satellitenbild vor, auf keiner Karte zu finden, als ginge es von hier aus nicht mehr weiter. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war der Chauffeur, der fleißig Kisten mit Material auslud, und der würde bald verschwinden.
Die Station war mehr als zehn Jahre zuvor von einer Stiftung in Brüssel finanziert und mit Geräten eingerichtet worden, Ambulanz, eine kleine Chirurgie, Geburtsstation, nur die Ärzte fehlten. Delphine hatte mit zwei belgischen Nonnen und einigen einheimischen Frauen die Ambulanz und die Geburtsstation erst aufgebaut.
Ich habe mich ohne zu zögern für dich entschieden, sagte er manchmal.
Was waren die Alternativen? – Sie mochte seine durchschaubaren Lügen. Er erkannte bald, dass ihr das gefiel, wenn er seine Phantasie für sie anstrengte.
Die interessierten mich gar nicht. Als ich die Ausschreibung las, wusste ich, Delphine Teichert in La Concha braucht mich.
Ach ja.
Und gestern ist mir dein Name nicht eingefallen.
Dabei hattest du mir versprochen, ihn nie zu vergessen.
Und du hast mir versprochen, meine Stimme zu erkennen, wenn ich dich – irgendwann einmal, viel später – anrufen sollte.
Also jetzt. Du meinst jetzt.
Soll ich dich wirklich anrufen?
Jetzt würde ich ja wissen, dass du es bist.
Die imaginierten Gespräche funktionierten noch. Vielleicht hatte sie eine Ahnung, warum ihr E-Mail vor zwei Tagen nichts ausgelöst hatte in ihm.
Vorgestern bekam ich dein E-Mail, in dem du mir von deiner Mutter berichtest. Und dass du zu ihr zurückmusst für eine Weile.
Daran erinnerst du dich?
Sicher.
Ich dachte, du hattest meinen Namen gleich wieder vergessen?
Du bringst mich durcheinander. Das kannst du gut. Damit hast du mich ja gern an den Rand der Verzweiflung gebracht.
An den Rand der Verzweiflung. Wie das klingt. Wir hatten doch genügend Platz.
Aus dem drängenden Straßenlärm der Großstadt stießen von allen Seiten die Lautsprecher mit dem Gebetsaufruf. Bei der Moschee in seiner Nähe meinte Jonathan immer, einen frischen Rufer zu hören, keine Konserve. Er war mitunter heiser, fing sich aber rasch. Er stellte sich vor, dass dieser Mann auf seinem Minarett eingeschlossen war und in Wirklichkeit um Hilfe rief, die Nachricht in der Aufforderung zum Gebet versteckte.
Das Licht über Sana’a war rosa geworden. Wenn die Abendsonne auf die halbovalen Mosaikglasfenster schien, mit den weiß voneinander abgesetzten farbigen Amöben, dieses erstarrte und in einen Rahmen gefasste, gestockte Lichtmeer, rot, blau, grün, gelb, das nur funkeln konnte, nicht verschwimmen, nicht seine Begrenzungen sprengen, wenn sich die Fenster gegenseitig Botschaften zublitzten, tauchte das Wort »Orient« auf.
Er kletterte die Leiter in den Vorraum seiner Wohnung hinunter. Zog sich einen Pullover über, stellte Teewasser auf und schaltete den Apple ein.
»Lieber Jon.« Sie hatte ihn als Amerikaner angesprochen, obwohl er Österreicher war, obwohl sie Deutsche und Französin war. »Ich verwende deine alte Google-Mail-Adresse, die wird schon noch gültig sein. So wie meine.«
Das Einzige, was uns noch verbindet, wie ein Stammesname, obwohl die vielen Mitglieder so weit verzweigt sind, dass man nur ein paar Dutzend kennen kann. Nein, das stand hier nicht. Das hatte er vervollständigt, nachdem sie es gelöscht hatte. Das wäre spannend: den kleinen Rückwärtspfeil so lange zu drücken, bis ein Originalbrief wiederhergestellt ist. Bloß wozu? Man hatte das Recht, sich zu korrigieren. Auch wenn etwas Intimes dadurch verlorenging? Außerdem schrieb sie nie einen Text erst einmal zu Ende. Sie besserte alles gleich aus.
Delphines Brief war geschrieben, als lese ein Mann hinter ihrem Rücken mit.
»Wir haben lange nichts voneinander gehört, so kann es kommen. Ich denke manchmal an unsere Zeit in Äthiopien, als wir den ganzen Tag schufteten und keine Religion nötig hatten.«
Was sollte das heißen?
Bist du religiös? – Ich bin pragmatisch. – Kannst du dich erinnern? fragte er den Bildschirm. – Wie wir uns über Schwester Claras Gefühlsleben Gedanken machten?
»Ich habe mich vor ein paar Monaten überreden lassen, die Leitung von La Concha an Schwester Clara zu übertragen, und habe im Krankenhaus in Yirga Alem gearbeitet, als Beraterin und Ausbilderin auf der Geburtsstation. Ich bin zurückgekehrt nach Nantes, wo ich meiner Mutter helfen muss. Sie hatte schon den zweiten Schenkelhalsbruch, die Operation verlief nicht optimal, ach, was erzähle ich dir, du warst eben nicht da.«
Jetzt stand kein Mann mehr hinter ihr und kontrollierte, was sie schrieb.
»Ich werde mich um sie kümmern, bis ich eine geeignete Pflege gefunden habe.«
Das Teewasser begann zu pfeifen. Mit ein paar großen Schritten war er in der Küche, goss den Tee auf und kehrte gleich zurück an seinen Schreibtisch, als könnte Delphine ihm davonlaufen.
»Schreib mir, wo du bist. Wenn du magst. Delphine.«
Was wusste er nun über sie? Nichts außer ein paar geografischen Angaben. Sie verschwieg ihm ihren psychischen Status. Unsere Zeit in Äthiopien. Manchmal. Das war entweder eine Frechheit oder plumpe Ironie, also Ersteres. Warum gibst du mir keine Schuld? Ist es nicht mehr von Bedeutung, dass ich es war, der weggegangen ist?
Er klickte Delphine weg. Delphine war ein Geist.
Das hier war die Wirklichkeit: Das abgelaufene Jahr war das schlimmste in der jüngsten Geschichte des Jemen, las er im Jahresrückblick der Yemen Times. Seit August war wieder Krieg mit den Huthi-Rebellen im Norden, bereits der sechste Sa’dah-Krieg. Im Dezember hatten amerikanische Bomber Luftschläge auf das Gebiet der schiitischen Rebellen verübt, das von iranischen Klerikern unterwandert war. Lokalnachrichten, die Weltnachrichten waren.
An manchen Nachmittagen und Abenden verschlang er die Berichte über das Land suchtartig. Er las die Bulletins amerikanischer Informationsfirmen, NGOs, Thinktanks, diverse Watch Sites für Terrororganisationen im Land. AQAP, der Al-Qaida-Ableger auf der Arabischen Halbinsel, kroch langsam vom Süden hinauf zur Hauptstadt. Er las die Blogs von Exzentrikern, die übersetzten Auswertungen von arabischen Medien, die Jihad News, Updates von Global Threat Monitors, die Profile von Terroristenführern.
Der Terror verlangte ihm eine Wissbegier ab wie die neuesten Entwicklungen in der Allgemein- und Unfallchirurgie. Zwei Mächte kämpften um ihn, die weiße der Medizin, die schwarze der politischen Realität. Sie waren längst drin in einem System von Beobachtungen verschiedenster Art, ein Sechseck mit zwei kleinen Flügeln an West und Ost, das war das Schweizer Haus, verortet bei den Geheimdiensten, aufgespießt auf einem Stadtplan von Sana’a in einem Trainingscamp der Terroristen, auf dem Computer eines Anführers.
Er schaute sich Fotos all der Landesteile an, in die er nicht fahren durfte, also die meisten, weil er die Bewilligungen und Passagierscheine nicht bekommen würde. Die atemberaubenden Bergdörfer mit den grünen Terrassen im Norden, könnte man nur die N1 von Sana’a einfach weiterfahren.
Er wünschte, Delphine hätte ihre Adresse in Nantes angegeben. Google Maps. Nantes.
Auf dem Satellitenbild zunächst wie jede andere Stadt, allmählich wurde sie französisch, hektisches Vergrößern, hier, eine Rue de la Commune, den Häusern nach zu schließen eine heruntergekommene Gegend, die weißen Fensterläden im Erdgeschoß bei dem einen offenen Fenster schmutzig, Blick in eine Küche, die Haustür nicht mehr zu öffnen, mit schwarzem Stift krakelig ENTRÉE und ein Pfeil nach rechts, Delphine bog nicht um die Ecke.
Er musste warten. Er wollte sie nicht recherchieren, diese Frau suchen. Er wollte es nur wissen.
Er stand auf und ging mit seinem Tee ins Wohnzimmer.
Er würde ihr nicht antworten. Schreib mir, wo du bist. Wenn du magst.
Er würde ihr später einmal schreiben, wenn sie lange gewartet hatte. Wie sollte er ihr das hier erklären? Er hörte sie lachen, wenn sie las: Ich bin im Jemen. Nein, das mochte er nicht. Er würde ihr schreiben, ebenso belanglos wie sie. Den Jemen nicht erwähnen. Sie anlügen mit Belanglosigkeiten, mit einem Krankenhaus in Berlin, kein Name, so unbedeutend wäre es. Oder gleich eine Kleinstadt, in den neuen Bundesländern, ein ziemlich heruntergekommener Ort in Thüringen, da haben sie mich genommen, hier bin ich hängen geblieben.
Jonathan vermisste einen Trost. Einen unparteiischen Trost. Gab es das? Einen abstrakten Trost, unabhängig von einer Person? Er suchte auf seinem MP3-Player, ohne zu wissen, was. Frühling, eine Hügellandschaft mit blühenden Obstbäumen, das junge Grün der Wiesen. Schumann, Frühlingssymphonie, warum nicht. Grün, grün, grün. Das junge Grün der Wiesen, und das Spalierobst steht still in seinen weißen Rüschen, wie ein angehaltenes Ballett von, wie hieß das, Elevinnen? Die jederzeit die Beine heben und davonwalzern könnten, ebendas ging nicht, sie waren angebunden, mit Draht, gefangen gehalten, und der alte Romantiker konnte ihm gestohlen bleiben, wenn er log.
Besser Jan Garbarek, sein friedlicher Muezzin.
Langsam wurde er ruhig.
Der Neurologe hatte ihn heute nach seinem Befinden gefragt, und Jonathan hatte gleich abgewinkt. Er wollte ihn in seine Ordination bitten, um ihn klinisch zu untersuchen, eine Anamnese zu machen, aber es gab nichts zu erzählen. Er hatte ihm ein MR angeboten. Jederzeit. Jonathan hielt es aus abzuwarten, ob etwas nachkäme, ein weiteres zerebrales Event. Den Ausdruck mochte er. Vor langer Zeit hatte jemand gesagt: Mit diesem Vogelgesicht muss der kleine Habsburg ein chromosomales Event gehabt haben.
Als Jonathan erwachte, war es dunkel geworden.
Er zog seine Jacke über und kletterte zurück aufs Dach. Die Stadt zitterte mit den Lichtsternen ihrer bunten Glasfenster. Wäre er gläubig, müsste er diesem Anblick eine andere Dimension geben, jemandem dankbar sein. Die Stromausfälle konnten jeden Tag mehr werden. Derzeit war relative Ruhe.
Wieder unten, drückte er auf »Antworten«.
»Liebe Delphine«, hämmerte er auf das Keyboard. »Schön, von dir zu hören. Es tut mir leid wegen deiner Mutter. Ich hoffe, du kannst bald an deinen Arbeitsplatz zurückkehren. So könnte ich jetzt weiterschreiben, und es wäre eine passende Antwort. Unsere Zeit – es waren dreieinhalb Jahre, länger, als du davor auf mich gewartet hattest. Nicht du allein, die Station. Du denkst ›manchmal an unsere Zeit‹. Ich gestehe, ich habe nicht so oft wie ›manchmal‹ an dich gedacht. Am Beginn sehr oft, das ist ein anderes Kapitel. Als dein E-Mail kam, wollte ich dir gleich schreiben, natürlich kam etwas dazwischen. Wir hatten gestern eine offizielle Feier mit einem Staatssekretär und Minister, die zweite Chirurgie wurde eröffnet. Ich bin in Sana’a, arbeite in einem Schweizer Krankenhaus für Ausländer und Ministerialbeamte.
Als ich mich an dein E-Mail erinnerte, fiel mir dein Name nicht ein. Dein einzigartiger Name, Delphine. Bin ich schon so blöd geworden? Heißt du noch so? Ja, es steht in deiner E-Mail-Adresse, und du unterschreibst so, aber ist das noch alles wahr, was dieser Name ausdrückte? Bist du noch wahr?
Jon.«
Senden.
3
Sie hatten eine andere Route nehmen müssen, weil es auf der Ring Road eine Baustelle gab. Diesen Kreisverkehr kannte Jonathan nicht, ein Brunnen in der Mitte. An dem Brunnen lehnte eine Frau, in langen, schmutzig-bunten Gewändern, keinen Niqab, nur ein schwarzes Tuch um den Kopf. Der Verkehr war wieder einmal zum Stillstand gekommen. Als Ali auf der Innenspur um den Brunnen herumfuhr, hatte Jonathan Gelegenheit, sie zu beobachten. Ihr Kopf war verkrampft zur Seite nach oben gedreht, mit den Armen hielt sie sich am Stein fest, löste sich, warf sich einen Meter weiter mit ruckartigen Bewegungen, Chorea Huntington wahrscheinlich, selten diagnostiziert, das Gesicht war verzerrt.
Plötzlich wurden ihre Zähne sichtbar, perfekte weiße Zähne, in diesem Land, wo selbst die Frauen oft rote oder gelbe Stummel hatten. Ein Lächeln wie ein Model, und diese paar Augenblicke, da ihr Krampf die Gesichtszüge freigab, kokettierte sie. Der nach oben verdrehte Kopf, die Augäpfel in den Winkeln. Ein Ausdruck von Verführung, als habe sie die Situation völlig unter Kontrolle. Dann schaltete sich diese Mimik aus, und sie verzog den Mund zu einem Maulen, zeigte nur den Unterkiefer, zog die Ecken links, rechts, links hinunter und lallte etwas. Schon sprang sie wieder, hüpfte mit ihren bunten Röcken, wie eine Fledermaus im Faschingskleid.
Ali fuhr langsam an.
Mach die Runde noch einmal!
Der Fahrer drückte auf den Blinker, zwängte sich zweimal in den von hinten herandrängenden Strom, um erneut auf die Innenbahn zu kommen. Von allen Seiten wütendes Hupen.
Jonathan hatte sich auf dem Rücksitz umgedreht. Die Frau warf gerade die Arme über dem Kopf zusammen, sofort wurden sie ihr wieder auseinandergerissen in Gesten der Verfluchung.
Langsam, ich möchte die Frau sehen.
Aus dem Wagen vor ihnen spuckte ein Mann einen Patzen Qat in die Richtung der Frau. Jonathan unterdrückte seinen Zorn, um für das Gesicht der Armen bereit zu sein, diese Grimasse, die weißen Zähne, der Overkill dieses makellosen Munds, kalibriert für seine Schaulust.
Langsam!
Es gab einen wütenden Parlamentsabgeordneten mit rotem Haar, langem Bart, den Jonathan im Fernsehen gesehen hatte. Er wirkte wie ein Dschinn, schrie mehr als andere Abgeordnete, schlug auf den Tisch des Rednerpults, geriet so außer sich, dass man befürchten musste, er würde in einem epileptischen Anfall enden oder völlig aus seinem Körper heraustreten, Ekstase, Zorn, Theater.
Wie heißt der Platz?
Ali zog die Schultern hoch, hob beide Hände vom Lenkrad. Erst, als sie zwei Querstraßen weiter waren, erkannte Jonathan selbst die Straße, er war sie nie bis ans Ende gefahren.
Ali sagte den Namen. – Man muss aufpassen mit verrückten Menschen. Sie wollen durch dich hindurchgehen.
Keine schlechte Charakterisierung, dachte Jonathan.
Es werden immer mehr, fuhr Ali fort. – Auf den Straßen, in den Lokalen, im Bus. Einmal kam ein Verrückter auf mich zu, schlug mir mit der Hand ins Gesicht. Ohne Grund. Ich schlug zurück. Das war falsch. Jetzt weiche ich aus, wenn ich einen sehe. Sie verlangen mehr Rechte, die Behinderten wollen spezielle Fahrzeuge. Sie sagen, nach der Sharia steht ihnen das zu. Sie sagen, sie werden von den Behörden schlecht behandelt und verfolgt. – Ali hatte ihn zu Beginn gleich vor den Obdachlosen gewarnt, man wisse nicht, ob sie für den Geheimdienst arbeiteten. Jonathan hatte sich gewundert, dass der Fahrer das so offen aussprach.
Ein Stoß, dass er gegen die Decke des Fahrzeugs geschleuderte wurde, Ali schrie laut, riss das Auto herum und fuhr langsam an den Rand.
Ein Loch in der Straße, so groß! – Ali breitete die Arme aus. – Haben Sie sich wehgetan?
Jonathan tastete seinen Kopf ab. – Nein, nichts passiert. Konntest du nicht ausweichen?
Ich bin hier lange nicht mehr gefahren. – Ali weinte beinahe. – Es muss von den Überschwemmungen im vorigen Herbst sein. Im April wird es mit neuen Überschwemmungen losgehen. Ich finde keinen Frieden, ich hätte das sehen müssen. Alles flimmerte auf dem Belag, und auf einmal war das Loch da.
Bist du mit dem Gesicht aufgeprallt?
Nein, nein, ich spüre gar nichts. Gar nichts.
Das ist typisch, sagte Jonathan voll Zorn. – Diese Löcher in den Straßen, die nie repariert werden. Ein reiner Zufall, dass wir bisher nichts dergleichen erlebt haben. Wenn ständig Panzer herumfahren müssen, ist es ja kein Wunder. Oder die Überschwemmungen. Es wird einfach nichts repariert. Ein Menschenleben ist nichts wert. – Er redete sich in eine Wut, die er nur mit Mühe bezwingen konnte. – Schau mal unter das Auto, ob die Achse gebrochen ist.
Ali sprang hinaus. Jonathan folgte ihm.
Und?
Ich glaube, es ist alles in Ordnung. Ich versuche weiterzufahren.
Aber langsam! Langsam!
Es war ihm nur recht, wenn Ali nicht so wild durch die Straßen jagte. Neulich erst hatte er einen kleinen Gemüsewagenfahrer gesehen, einen Jungen, der sich mit einem Sprung gerade noch in Sicherheit bringen konnte. Der Karren mit den Melonen war umgestürzt, eine davon eierte wie zum Spott ein paar Meter die abschüssige Straße hinunter. Ein Urbild des Unrechts, eins der vielen. Nahrungsmittel, die achtlos oder sogar mit Absicht zur Seite geschleudert wurden, und die Armen mussten sich danach bücken.
Im Rückspiegel sah er Alis angestrengtes Gesicht. Er horchte nach störenden Geräuschen.
Zwei Soldaten des Innenministeriums in ihren blauen Uniformen mit den schwarzen Flecken bewachten das Krankenhaus rund um die Uhr. Sie hielten ihre Kalaschnikows wie Babys vor der Brust und nickten zur Begrüßung. Einmal war einer der Wachleute mit einem Tennisellbogen gekommen, er konnte den Arm mit seiner AK-47 nicht schmerzfrei nach außen drehen. Er hatte sein Problem lange nicht zugegeben. Er wurde für zwei Wochen außer Dienst gestellt und trug die Manschette um seinen Ellbogen einige Zeit länger. Als er eines Tages wieder am Eingang Wache hielt, hatte Jonathan ihn begrüßt und nach seinem Befinden gefragt. Er hatte keine Antwort erhalten.
Bei der wie jeden Tag um acht Uhr angesetzten Besprechung für die Ärzte fehlten Al-Assani, der Neurologe, und der zweite Anästhesist. Dr. Ibrahim sagte gleich zu Beginn, dass es einen Prioritätsfall gebe.
Kollege Karim verlangt, dass wir ihn nach Zürich zur Abklärung seines Fersensporns schicken.
Haben wir ein Röntgen gemacht?
Klar, sagte Malte. – Es ist nichts zu erkennen.
Dann bitte eine Magnetresonanz. Wir warten den Befund ab.
Er ist ziemlich ungeduldig.
In diesem Augenblick knallten zwei Schüsse. Ein paar Ärzte sprangen auf und liefen ans Fenster.
Auf den Boden! Nicht ans Fenster! rief Ibrahim. Nicht alle folgten seiner Aufforderung.
Das kam vom Eingang.
Waren das unsere Guards?
Niemand geht hinaus, befahl Ibrahim. – Ich rufe den Sicherheitsdirektor an. – Er drückte eine vierstellige Nummer auf seinem Handy. Für Jonathan klang es, als habe das Rufsignal einen dicken Verband um den Hals. Es war sicher unklug, den Securitychef bei der Arbeit zu stören.
Malte fragte: Gibt es für einen solchen Fall keine Anweisungen? – Er blickte suchend umher.
Das Zimmer absperren und sich auf den Boden legen oder unter dem Tisch verstecken.
Das kann nicht alles sein.
Weitere Anweisungen oder Entwarnung abwarten, sagte Jonathan. Wieso spielte er hier den Coolen? Ihm war das nicht recht, aber Angst, nein, Angst hatte er keine. Nein, Delphine, ich habe keine Angst. Unten war es ruhig, jemand hatte gehandelt, und danach Stille. Er schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Nichts zu hören außer Ibrahims angestrengtem Flüstern, er solle sich zurückhalten. Stiefelschritte. Jonathan schloss die Tür und sperrte sie zu. Ein Klopfen, die Kommandostimme des Securitychefs, er stellte eine Frage und wiederholte sie ungeduldig.
Ibrahim sprang auf und drehte den Schlüssel herum. – Die Guards haben zwei Warnschüsse abgefeuert. Zwei höhere Sicherheitsbeamte weigerten sich, ihr Fahrzeug untersuchen zu lassen, und wiesen sich nicht als Beamte aus.
Müssen die sich ausweisen? fragte Jonathan. – Waren sie nicht uniformiert?
Unglaubliche Geschichte, sagte Malte.
Es besteht kein Grund mehr zur Verunsicherung, beschwichtigte Ibrahim und schaute in die Runde. – Ich muss Sie jetzt verlassen, ich muss mich um die Details kümmern. Bitte setzen Sie Ihre Morgenbesprechung vorerst ohne mich fort.
Jonathan fing einen Blick der Anästhesistin auf, er wünschte, er hätte hinter ihren Schleier sehen können. Er bildete sich ein, sie habe Lachfalten in den Augenwinkeln. In diesem Moment. Ihre Nasenlöcher zogen hörbar Luft ein, der Schleier klebte an. Einmal war er während einer Pause versehentlich in den Aufenthaltsraum der Frauen gekommen. Sie saß da mit einer Internistin und aß, beide hatten ihren Niqab zurückgeworfen und zogen ihn sofort wieder herunter. Sie hatte ein schönes Gesicht, das er gerne wiedersehen würde, nur um herauszufinden, ob sich sein Bild von ihr änderte, wenn er mehr wusste. Sie war viel tüchtiger als ihr Kollege, dessen Gesicht er jederzeit sehen konnte.
Während meines Turnus hatten wir einmal eine Feuerwehrübung, begann Malte im Ton der kleinen Geschichten. – Eine Schwester behauptete, sie sei nicht schwindelfrei, und weigerte sich, die Feuerwehrleiter zu besteigen. Sie war an allen Katastrophenübungen vorbeigekommen, die Patienten liebten sie, eine hochmotivierte Kraft, aber durch das Fenster auf die lange Leiter hinauszusteigen, das schaffte sie nicht. In diesen Käfig, Sie wissen, was ich meine. Es gehört ja nicht gerade zum primären Anforderungsprofil, schwindelfrei zu sein. Oder irre ich mich da.
Jonathan hatte auch noch nie an einer Katastrophenübung teilgenommen. Die Katastrophen waren stets ohne Probe da gewesen. Als die Küche beinahe abbrannte und er mit Delphine Wasserkübel schleppte, während Schwester Clara sich um die Frauen kümmerte. – Weil wir davon reden, sagte er. – Wann haben wir die Tests für die Bewerber auf der Internen?
Um elf, sagte Malte. – Später geht es ja angeblich nicht. Ich hoffe, wir werden bis dahin fertig.
Sie können mir glauben, dass mir vierzehn Uhr lieber wäre, und da fünf der Bewerber Ärztinnen sind, könnten wir annehmen, dass sie nicht unter Qat stehen. So ist das nun einmal. Also. Weiter. Was haben wir sonst außer einer kleinen Schießerei?
Die einheimischen Ärzte redeten auf Arabisch durcheinander, taten so, als hätten sie seine Aufforderung nicht gehört. Er musste ihnen Zeit geben, sich zu beruhigen. Will jemand an den Ort des Geschehens hinuntergehen, fragte Jonathan sie im Geist. Er war nicht verantwortlich für die Sicherheit der Ärzte, das waren keine Kinder. Er hätte selbst gern mehr erfahren. Warum gestand er sich seine Neugier nicht zu? Warum spielte er das besonnene Vorbild? Weil das seine Pflicht war. In einer angespannten Situation Ruhe zu bewahren.
Kurze Pause, sagte er. – Wir treffen uns in fünf Minuten wieder. – Bis auf Malte gingen alle hinaus. – Die haben den Kopf jetzt woanders. Darauf muss man Rücksicht nehmen.
Das war der erste Schuss, den ich in meinem Leben gehört habe, sagte Malte, mit dem Rücken zu Jonathan gewandt. – Außer im Film.
Und? Schlimm?
Nein. Das heißt, ich weiß es nicht. Es ging so schnell. – Malte schien zu bedauern, dass er nicht mehr aus dem Vorfall herausholen konnte. Keine Blitzerkenntnis, die ihm ohne diese kleine Dramatik nicht zuteilgeworden wäre. Jonathan hätte ihn gern gefragt, ob er schon einmal einen Wendepunkt in seinem Leben erfahren hatte, einen richtigen Augenöffner, Seelenaufreißer. Eine essentielle Erschütterung.
Jonathan suchte nach seinem ersten Erlebnis mit einer Waffe, da war nichts Besonderes, nur das allgemeine Wissen, dass Männer auf die Jagd gingen, ihre Rituale hatten, dass unter ihren Stiefeln Blut dampfte und den Schnee beschmutzte, die Tannenzweige in den aufgerissenen Tiermäulern, was er gehasst hatte, weil es unsportlich war, klein und niedrig und idiotisch. Später gewöhnte er sich an Schüsse. Die galten aber nie ihm. Delphine, heute bist du bei einer kleinen Schießerei vorgekommen, Delphine. Wir waren gerade bei der Morgenbesprechung, da fielen zwei Schüsse beim Eingang.
Machen wir weiter! sagte Jonathan, als die Tür aufging und alle der Reihe nach wieder hereinkamen. Er wusste nun, dass er hätte hinuntergehen sollen. Diese krampfhafte Demonstration von Ruhe musste überheblich gewirkt haben.
Während der Visite, auf dem Weg zur Dialysestation, sprach ihn Jyotsna an, die Pflegedienstleiterin der indischen Krankenschwestern und Chefin im OP.
Es tut mir sehr leid, ich muss Sie wieder um Hilfe bitten.
Sollen wir in mein Büro gehen?
Nein. – Sie stellte sich ans Fenster, und Jonathan schirmte sie mit seinem Körper ab. – Es geht wieder um Dr. Ibrahim. Wir haben seit drei Monaten kein Gehalt bekommen. – Während Jyotsna mit gerunzelten Augenbrauen von der anhaltenden Demütigung der indischen Schwestern berichtete, konnte Jonathan sich nur mit Mühe beherrschen. Er hörte sich leise mit den Fingernägeln auf das Fenstersims klopfen. Mit einem heftigeren Klimpern hörte er abrupt auf.
Das kann so nicht weitergehen, das ist eine Ungeheuerlichkeit. Das Krankenhaus verdankt es Ihnen und Ihrer Truppe, dass wir den Betrieb aufrechterhalten können. Wenn wir von einheimischen Schwestern abhängig wären, könnten manche Abteilungen schließen, das wissen wir beide genau. Wenn man als Nurse kein Blut sehen kann, warum ergreift man dann diesen Beruf? Es wird Zeit, dass sich das endlich bis oben durchspricht. Und Ihnen den Lohn vorzuenthalten, Spielchen mit Ihnen zu treiben, das ist unerhört. Ich stehe ganz auf Ihrer Seite.
Jyotsna schaute Jonathan mit ihren ernsten Augen an.
Alles kommt zur rechten Zeit, und Geduld ist der Schlüssel zur Freude, sagte Jonathan mit einem zynischen Unterton. – Ich spreche mit Dr. Ibrahim. Er beleidigt damit auch mich. Ich schätze Ihre Arbeit unendlich, Schwester Jyotsna. Ich könnte es Ihnen gar nicht übelnehmen, wenn Sie sagten, Sie haben genug davon, das ist unter Ihrer Würde.
Jyotsna schloss die Augen. Er hatte das Gefühl, sie sah ihn weiter an. Sie ließ dieses Wort auf sich wirken. Sie war sein Garant für die Zurückdrängung der hygienischen Katastrophe. Was er in dem halben Jahr, seit er hier war, erreicht hatte, war ständig in Gefahr, ins Chaos zurückzusinken. Den Anblick der jemenitischen Schwestern bei seiner Ankunft, die im Umkleideraum zum OP mit der Dienstkleidung auf dem Boden saßen und mit Vogelfingern ihr Essen unter dem Schleier in den Mund steckten, viel zu viel auf einmal hineinwürgten, hatte er nicht vergessen. Im Spind hatten sie Zucker gehortet, Ameisen nisteten sich ein. Wie lange würde es dauern, bis die kleinen Viecher die Schränke wieder unter Kontrolle haben würden? Keine zwei Wochen, schätzte er. Keine Woche.
Jonathan war an unhygienische Zustände gewöhnt. Sie hatten an fast allen seiner Arbeitsplätze dazugehört, waren unausgesprochener Bestandteil des jeweiligen Vertrags, das hatte er zu akzeptieren, und wie oft hatte er operieren müssen, ehe der Krieg gegen Ungeziefer, Staub und Dreck gewonnen war. Hier war es was? Schlampigkeit? Tradition?
Ich muss auf die Dialyse, sagte Jyotsna.
Da gehe ich mit. Dürfen wir jetzt Pflegerinnen dort haben?
Nein, weiterhin nur Männer. Hassan ist voll kooperativ. Bei dem Neuen darf ich nur hinein, wenn gerade kein Patient behandelt wird. Er betrachtet meine Besuche als Beleidigung. Er täuscht manchmal sogar die Anwesenheit eines Patienten vor.
Jonathan konnte seinen Ärger nicht verbergen. Jyotsna war genauso ungeduldig wie er. Sie wussten beide, dass sie damit hier nicht durchkamen. Geduld, Warten, Warten, und im richtigen Moment durchblicken lassen, dass bestimmte Bedingungen erfüllt werden müssen. Zu Beginn hatten die Inderinnen nicht einmal Warmwasser in ihren Dienstzimmern gehabt.
Unmöglich, sagte Jonathan. – Den Neuen müssen wir uns gleich präparieren, so wie wir ihn haben wollen, sonst geht das so weiter.
Jonathan traute ihr viel zu. Sie hatte eine mütterliche Art zu führen, die jungen Schwestern machten einen gelösten Eindruck, wenn er sie mit ihnen sah.
Als sie zur Dialysestation kamen, trat Hassan aus der Tür. Ein freundlicher, kompetenter Pfleger, der gut Deutsch sprach, weil er zwei Jahre in München Medizin studiert hatte, ehe er wegen Problemen in seiner Familie gezwungen war, das Studium abzubrechen und nach Hause zurückzukehren.
Guten Morgen, Dr. Schmidt.
Guten Morgen. Was gibt es bei euch?
Um neun Uhr kommt der erste Patient.
Während Jyotsna die Geräte inspizierte, versuchte Jonathan Hassan aufzumuntern, den er im Verdacht hatte, an Depressionen zu leiden. – Wie sieht es aus mit Bayern München?
Wissen Sie gar nicht, was passiert ist?
Nein, dazu habe ich dich, Hassan.
Die Jungs sind in Dubai auf Wintertraining, leider nur eine Woche. Ich würde am liebsten Urlaub nehmen, aber das wäre weit jenseits meiner Mittel. – Hassan drückte sich gern gepflegt aus. Er musste ein großes Sprachentalent sein. Sein Gesichtsausdruck wurde hart. – Es ist ein großes Unglück passiert. Ribéry kann nicht trainieren.
Was denn, der war doch im Sommer so lange verletzt? Ich dachte, er sei wieder einsatzbereit?
Beim Training in München hatte er Blutergüsse an beiden großen Zehen erlitten, und dann haben sie seine Nägel angebohrt!
Jonathan gab sich alle Mühe, nicht zu lachen. Er sah den Fußballer vor sich, mit seinem entstellten Gesicht, das ihn an Richard den Dritten auf einer Bühne erinnerte, besonders, wenn er nach einem Foul humpelte. – Das ist schlimm, sagte er, als er glaubte, seine Stimme unter Kontrolle zu haben. – Wird nur unter Anästhesie durchgeführt.
Hassan sah ihn an, mit seinen schwarzen Augen, der schlanken Nase, seinen hohen Backenknochen, den glatten Wangen bis zum Ansatz des Bartes.
Das ist Folter, sagte er.