Cover


Fröhlich im Alter

 

 

Seniorenschlägerei

 

Der altertümliche Gerichtssaal des kleinen Amtsgerichtes ist an diesem Tage gut gefüllt. Zwei Schulklassen haben sich in die schmalen Bänke für die Öffentlichkeit gequetscht und lauschen amüsiert der Strafverhandlung.

„Also“, wiederholt die junge Richterin die Ausführungen des ältlichen, schmächtigen Angeklagten, „Sie haben sich nach dem Krieg hier in unserem Städtchen wiedergefunden, Sie und Ihr Schulfreund und er hat Ihnen in den nächsten Jahren oft bei Ihrem Fischhandwerk geholfen? Aber dann gab es zwischen Ihnen beiden an einem Nachmittag eine Auseinandersetzung? – Hatten Sie Alkohol getrunken?“

„Jawohl!“ erwiderte der angeklagte Fischer leise mit unverkennbar ostpreußischem Akzent. „Ich hatte uns beiden zuvor in meiner Fischerhütte einen Grog gemacht.“ „Einen?“ „Es können auch zwei – oder vielleicht sogar drei gewesen sein.“

„Und wie stark machen Sie den Grog?“ „Na ja, so, wie man ihn hier macht, nach dem Motto Rum muss, Zucker kann, Wasser braucht nicht! Doch ich hatte schon einen tüchtigen Schuss heiß Wasser zugetan. – Und dann ging er plötzlich mit Fäusten auf mich los!“ „Wer, der Zeuge? Der Sie angezeigt hat wegen Körperverletzung? Das haben Sie bei der Polizei aber nicht gesagt!“ „Es war aber so! Nur, ich wollte meinen alten Freund nicht schlecht machen. Aber, wo das jetzt zur Anklage gekommen ist, nun will ich denn man auch die Wahrheit sagen. Ja, und denn hat er mich richtig verdroschen. Grün und blau bin ich am nächsten Tag gewesen. – Und meine Prothese ist auch dabei kaputt gegangen.“

Unerwartet langt der Angeklagte mit seiner einen Hand in den Mund. Offensichtlich will er das gute Stück herausnehmen, um den Schaden zu demonstrieren.

„Danke!“ sagt die Richterin. „Behalten Sie Ihr Gebiss drinnen! Ich glaube Ihnen das! – Herr Staatsanwalt, haben Sie noch Fragen an den Angeklagten? Herr Rechtsanwalt Doktor Müller, als Vertreter des Nebenklägers, den wir ja vorerst als Zeugen hören wollen – haben Sie zurzeit Fragen an den Angeklagten? Und Sie, Herr Verteidiger, Fragen an Ihren Mandanten?“

Nachdem der Zeuge und Nebenkläger hereingerufen worden und auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen worden ist, wendet sich die Richterin an ihn:

„Herr Zeuge, der Angeklagte hat uns soeben erzählt, dass Sie mit der Schlägerei angefangen haben und ihn grün und blau geschlagen haben. Außerdem soll dabei seine Zahnprothese beschädigt worden sein. Stimmt das?“

Der Zeuge, ein sportlicher, alter Mann, der den Angeklagten keines Blickes würdigt, schüttelt bei den Fragen der Richterin immer wieder kräftig mit dem Kopf. „Nein, so war es überhaupt nicht! Ich sitze nichtsahnend bei einem Glas Grog, da schleicht er sich in seiner Fischerhütte von hinten an mich heran und ruft: ´Du hast mich überall im Dorf schlecht gemacht. Das wirst du mir jetzt heimzahlen!` Und dann hat er immerzu mit seinen Fäusten auf mich eingeschlagen. Irgendwann musste ich mich doch dann verteidigen! Es war reine Notwehr! Sonst hätte er mich totgeschlagen!“

„Ist es richtig, Herr Zeuge“, setzt die Richterin ihre Befragung fort, „wenigsten habe ich das den Akten entnommen, dass Sie vor dem Zweiten Weltkrieg Landesmeister im Fünfkampf waren. Stimmt das?“ „Jawoll!“ „Stimmt es denn auch, dass Sie immer noch sehr sportlich sind?“ „Jawoll!“ „Kann es denn sein, dass Sie dem Angeklagten körperlich überlegen sind? Wenn ich mir den Angeklagten so anschaue, sieht er nicht unbedingt kräftig aus.“ „Jawoll! Ik dörf doch mal?“

„Ja, was dürfen Sie, Herr Zeuge?“

Doch statt einer Antwort, entledigt sich der Zeuge demonstrativ seines Jacketts, zieht zwei hölzerne Bürostühle zu sich heran und vollzieht auf beiden Lehnen einen „Schweizer Handstand“, beide Beine gerade und hoch in die Luft hebend und die Hände auf den zwei Stuhllehnen abstützend. Sein wohlbeleibter Prozessbevollmächtigter, mit dickem Bauch, dickem Goldring und einer flotten Haartolle auf dem weißhaarigen Kopf, wird sichtlich blass um die Nase. Ob aus Neid, wegen dieser demonstrativ zur Schau gestellten Sportlichkeit oder weil er den Verfahrensausgang bereits ahnt, vermag die Richterin nicht zu beurteilen. Auch sie ist von dieser körperlichen Hochleistung des Zeugen beeindruckt. Und ehe Doktor Müller seinen Mandanten daran hindern kann, fragt dieser, nachdem er mit Schwung wieder auf die Beine gekommen ist: „Ik dörf doch noch wat?“ „Ja, was denn noch, Herr Zeuge?“ Daraufhin stellt sich dieser in Positur, erhebt beide angewinkelten Arme in Boxstellung, ballt die Fäuste und bewegt sie kräftig in Richtung eines imaginären Gegners. Dazu ruft er immer wieder aus: „Un denn hev ik emm, un denn hev ik emm immer nochmal! Bis he to Boden güng!“

Sichtlich zufrieden wendet er sein Gesicht der Richterin zu, so als ob er deren Beifall erwarten würde. Kaum kann sie sich ein Lächeln verkneifen ob dieser kraftvollen, körperlichen Darstellung, als sowohl zuerst der Staatsanwalt und später der Verteidiger des Angeklagten einen Freispruch beantragen. Das Plädoyer des Nebenklägervertreters auf Verurteilung wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung fällt zuvor nur schwach aus.

Den beiden Anträgen auf Freispruch ist die Richterin dann nachgekommen – im Namen des Volkes!

 

 

 

Das Gebiss im Wattenmeer

 

„Nichts ist so verbindend in einer Alt-Ehe“, erklärte mir als Studentin einmal ein älterer, sehr charmanter Arbeitgeber, bei dem ich in den Semesterferien auf einer Messe jobbte, „als wenn man gemeinsam abends die Gebisse in ein Glas Wasser legt.“ Ich konnte das damals, gerade zwanzigjährig, noch nicht unbedingt nachvollziehen. Mittlerweile hat sich in der Zahnheilkunde eine Menge getan und ich hoffe, dass ich in ferner Zukunft um diesen Akt der ehelichen Verbundenheit herumkomme!

 

Vor einigen Jahren traf ich auf einer der Nordseeinseln eine ältere Dame, die ich noch aus meiner Schulzeit kannte, da wir damals jahrelang im Urlaub zeitgleich an der Nordsee waren. Sie und ihr Mann machten hier immer noch Ferien, nun mit den Enkelkindern. Ihren Ehemann, einen gut bestallten Rechtsanwalt, konnte ich nicht sogleich begrüßen, da er noch in den Wellen schwamm. Als er dem kühlen Nass entstiegen war, lief seine Frau rasch auf ihn zu, wandte mir den Rücken zu und flüsterte etwas, begleitet von nicht auszumachenden Handbewegungen, was ich wohl unbedingt nicht mitbekommen sollte. Dann kehrte sie, verlegen lächelnd, zu mir zurück.

„Wissen Sie“, erzählte sie nun, „eigentlich soll das ja niemand erfahren, aber mein Mann nimmt vor dem Schwimmen jetzt immer seine Prothese aus dem Mund. Im vorigen Sommer, am Ende der Ferien, wurde sie ihm nämlich hier beim Baden heraus gespült. Das war ja nun zu ärgerlich, denn er sollte an den nächsten Tagen wichtige Gerichtstermine wahrnehmen. Das wäre ja nun gar nicht gegangen und der Zahnarzt hätte einige Zeit gebraucht, bis das neue Gebiss fertig gewesen wäre. Stellen Sie sich doch die Honorareinbuße vor! Doch wir hatten Glück! Bei der nächsten Ebbe fanden wir die Prothese am Abend zwischen Tang und Muscheln im Watt.“

 

 

 

Aufgebratenes

 

Die Vorweihnachtszeit ist besonders geeignet, um zu Senioren zu fahren und diesen eine Visite abzustatten.

 

Ein Pastor auf dem Lande zwischen Itzehoe und Hohenwestedt fuhr an einem frühen Adventsabend zu einem einsamen Gehöft, um dort die Altbäuerin zu besuchen, die es kräftemäßig nicht mehr schaffte, mit ihrem Fahrrad am Sonntag zu ihm zum Gottesdienst zu kommen. Und ihr Sohn oder die Schwiegertochter hatten, bedingt durch die viele Arbeit auf dem Hof, nur selten Zeit, sie mit dem PKW dorthin zu fahren. Die Sonne ging gerade blutrot unter und die Kälte kroch spürbar aus der gefrorenen Erde. Der Seesorger parkte sein Kraftfahrzeug neben der Scheune und näherte sich dem altertümlichen Wohnhaus. Aus dem geöffneten Küchenfenster quoll der appetitliche Duft nach „Aufgebratenem“ heraus. „Aufgebratenes“, das ist in dieser Region alles, was vom Mittag übrig geblieben ist: in Scheiben geschnittene Buchweizenklöße, Pellkartoffeln, Zwiebeln, Speck und im Winter auch Grünkohl. Alles wird zusammen in einer eisernen Pfanne recht scharf angebraten.

In dem Theologen stiegen all seine leckeren Kindheitserinnerungen hoch, denn auch er stammte aus dieser Gegend von einem kleinen Bauernhof. „Aufgebratenes“! Wie lange hatte er das nicht mehr gegessen! Wohl Jahrzehnte nicht, da seine Ehefrau aus Schwaben stammte und ihre kulinarischen Spezialitäten Knöpfle und Spätzle waren.

Nun kam der Bauer aus dem Schweinestall, zog vor der Eingangstür seine lehmigen Gummistiefel aus und sagte: „Na, Pastor, das ist ja schön, dass du mal wieder kommst, um meine Mutter zu besuchen! Willst du mit uns Abendbrot essen?“ Der Theologe nahm die Einladung freudig an und

folgte dem Hausherrn in die Küche. Hier saßen auf den zwei Bänken mittlerweile schon alle zusammen: die Bäuerin, ihre drei Kinder und die alte Großmutter. Mitten auf dem gescheuerten Esstisch stand auf einem Untersatz die

dampfende Pfanne. Jeder bediente sich tüchtig daraus. Oh, wie schmeckte es dem Pastor! Und er langte ebenfalls kräftig zu.

Plötzlich verspürte er ein kleines, hartes Stück Speckschwarte zwischen zwei Backenzähnen, das er mit der Zunge nicht herausbekam. Hilfesuchend schaute er sich um. Gab es hier irgendwo Papierservietten? Natürlich nicht! Ehe er in seiner Hosentasche nach seinem Taschentuch greifen konnte, mümmelte die zahnlose Großmutter mit vollem Mund:

„Na, Pastor, hast d u jetzt das Stück Schwarte bekommen? Leg` es man wieder zurück in die Pfanne. Das habe ich vorhin auch so gemacht!“

 

  

 

Die Erb-Uhr

 

Auf einem sehr alten, verschnörkelten, silbernen, kleinen Messer mit stählerner, rostiger Klinge und auf einer passenden silbernen Gabel mit verrosteten Zinken, die sich in unserem Eigentum befinden, stehen jeweils die Initialen „A.D.“ Dieses einzelne Besteck stammt offensichtlich noch aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ich werde die Stahlteile, so unansehnlich sie auch sind, nicht durch zeitgemäße Stücke aus Cromargan ersetzen, auch wenn ich sie nun nicht mehr mit zum Essen aufdecken kann, weil Klinge und Zinken einfach zu unschön aussehen und diese beiden Vorlegeteile

nur noch von musealem Wert sind. Vielleicht hat man sie früher zum Abschneiden von Käsescheiben benutzt. Ich weiß es nicht. Denn zum Essen sind sie zu klein.

Die eingravierten Initialen müssen die der angeheirateten Urgroßtante Albertine Dehn sein. Sie stammte von einem stattlichen Marschhof an der Westküste. Meine Cousine Nicole ist ihre Urgroßenkelin. Nicole ist mit einem jungen, dynamischen Juristen an einem nahen Obergericht verheiratet. Und auch er, mit dem passenden Vornamen Justus, ist von bäuerlichem Geblüt.

Der eine Großonkel von Justus heißt Julius. Er ist ein eingefleischter Junggeselle, der auf einem ererbten Hof sitzt. Der Besitz ist nicht groß, doch ernährt er seinen Eigentümer und dessen Haushälterin. Zum Mobiliar gehört aus dem Familiennachlass eine eichene, kleine Truhe und eine dazu passende Wanduhr aus dem 18. Jahrhundert. Hierbei handelt es sich nicht um irgendeine Wanduhr, sondern um eine, welche die Sonnen- und Mondfinsternisse anzeigt und zahlreiche Melodien aus vergangener Zeit spielen kann. Justus kommt jedes Mal ins Schwärmen, wenn er von dieser Uhr spricht. Und er weiß es genau: Eines Tages wird er sie erben. Vielleicht wird der Onkel, der auch noch sein Patenonkel ist, sie ihm sogar noch zu Lebzeiten schenken. Versprochen hat dieser es zwar nicht. Doch an wen soll die Uhr schließlich gehen, wenn nicht an Justus?

„Justus“, habe ich schon mehrmals warnend gerufen, „Justus, kaufe deinem Großonkel die Uhr ab, jetzt, in den nächsten Tagen. Wer weiß, was noch geschieht! Alte Leute sind unberechenbar!“

Doch Justus hat jedes Mal abgewinkt Spätestens bei Erbonkels Tod wird er Eigentümer dieser seltenen Uhr werden, das ist gewiss! Was soll er noch vorher Geld dafür ausgeben?

 

An einem schönen Sommernachmittag betreten Justus und Nicole, etwas weißnasig anzusehen, unsere Terrasse.

„Stellt euch vor!“ ruft Justus, kaum dass er sich hingesetzt hat, „stellt euch vor, u n s e r e Uhr ist weg!“

„Und die Truhe ebenfalls!“ ruft Nicole aus, in geradezu personifizierter Empörung. „Wieso denn das, Justus? Ist bei eurem Onkel eingebrochen worden?“ „Nein, eigentlich viel schlimmer! Nun schenk mir aber bitte erst einmal eine Tasse Kaffee ein! Danke! Stellt euch vor, gestern haben wir Onkel Julius besucht. Nur mal so und ohne Voranmeldung. Wir dachten, er würde sich freuen. Als wir ins Wohnzimmer kamen, was stellten wir fest? Onkel Julius hatte u n s e r e Uhr verkauft! Die Haushälterin, diese Olsch, hatte ihm einen Antiquitätenhändler ins Haus geschleppt.“

„Und die passende Truhe auch!“ Nicole bewahrt nur mühsam Haltung.

„Onkel Julius war mächtig stolz auf das gute Geschäft. Wir wagten ja gar nichts zu sagen. Ganz vorsichtig haben wir nur gefragt, wo die zwei Stücke hingegangen sind. Er nannte uns den Namen eines bekannten Antiquitätenhändlers in Flensburg. Und da wollen wir nun am Samstag hinfahren. Vielleicht können wir Uhr und Truhe ja noch für uns retten. So schnell wird der die beiden Sachen ja wohl nicht weiterverkaufen. Denn die müssen noch aufgearbeitet werden. Und billig waren sie jetzt schon nicht. Onkel Julius ist auf seine alten Tage noch ganz schön geschäftstüchtig! Aber, es ist doch eine Sünde, dass die Dinge nun aus der Familie gekommen sind. Hätte er uns da nicht fragen können? Ich sage euch – alte Leute!! Hätte ich bloß auf euch gehört! Doch wer ahnt denn das! Außerdem fanden wir es auch ziemlich pietätlos, Onkel Julius die Antiquitäten abzukaufen. Wir dachten ja nicht im Traume daran, dass er sie zu seinen Lebzeiten verscheuern würde. So schlecht geht es ihm doch gar nicht!“

Einige Wochen später treffen wir erneut mit Nicole und Justus zusammen.

„Na, was ist aus eurer Uhr geworden. Habt ihr sie zurückkaufen können?“ „Nein, leider nicht. Das war vielleicht ein Schiet! Als wir zu dem Antiquitätenhändler kamen, erklärte uns dieser, dass er sie gezielt im Auftrag eines dänischen Kunden gekauft hatte. Er brauchte sie auch

nicht aufarbeiten zu lassen. Die ging gleich unausgepackt nach Nordjütland weiter, irgendwohin bei Aalborg. Man, was haben wir geredet, bis er uns den Namen des Kunden preisgegeben hat! Es ist ein Arzt mit Namen Pedder Peddersen. Die Truhe hat der übrigens auch gleich mitgekauft. Die gehört ja auch eigentlich dazu. Wir haben uns die Telefonnummer herausgesucht und den Herrn angerufen. Er war äußerst freundlich und konnte fast perfekt

Deutsch. Aber uns die beiden Antiquitäten zurückzuverkaufen, das wollte er natürlich nicht. Seine Frau und er freuten sich vielmehr unheimlich über die zwei Gegenstände. Na, da sind sie wenigstens in guten Händen und werden gepflegt. Aber ärgerlich ist die ganze Sache man doch! Übrigens, gastfreundlich wie die Dänen sind, er hat uns doch gleich für das nächste Wochenende eingeladen. Wir dürfen dann u n s e r e Uhr besuchen kommen. Das werden wir auch tun! Vielleicht können wir ihn doch noch herumkriegen.“

 

Einige Monate später sind wir im gemütlichen Haus von Nicole und Justus zu Gast. An der Längsseite des Wohnzimmers prangt eine altertümliche, wunderschöne Standuhr, allerdings nicht aus Eiche, sondern aus Buche. Im Flur zieht eine kleine, handbeschnitzte Truhe alle Blicke auf sich.

„Na, war euer Jütland-Ausflug erfolgreich? Sind das die beiden Erbstücke?“ „Leider nicht. Aber als wir oben in Dänemark waren und durch Aalborg bummelten, entdeckten wir diese Uhr und die kleine Truhe in einem edlen Antiquitätengeschäft. Also, in Dänemark kann man ja noch alte Dinge kaufen, herrlich, sage ich euch! Nicole bekam fast

einen Kaufrausch – und ich eigentlich auch. Die Uhr ist zwar nicht das, was Onkel Julius besaß. Sie zeigt weder Sonnen- noch Mondfinsternis an. Auch spielt sie keine Lieder. So ein Schmuckstück ist ja auch viel zu teuer. Das hätten wir uns wirklich zurzeit aus dem Handel nicht leisten können. Daher haben wir uns mit dieser Uhr begnügt. Sie wirkt doch auch sehr gemütlich, nicht wahr? Und ihr Schlagwerk klingt wunderschön. Nicole, stell doch mal die Zeiger auf zwölf Uhr, damit wir es hören können!“

Und wirklich. Ein, zwei, drei, vier – zwölf Schläge dröhnen nostalgisch und bezaubernd durch das Haus und erinnern an polierte Mahagonimöbel, geschliffene, blitzende Kristallgläser, altes Familiensilber, Meißner Porzellan, mürbe Seide und schimmernde, weiße Tafeltücher aus handgewebtem Leinendamast. Sie versetzen uns für wenige Augenblicke in die Epoche der Reisekaleschen und der großen Familienzusammenkünfte, mit viel Behaglichkeit und Muße, die der Dichter Theodor Storm in die Zeilen fasste:

„Kein Klang der aufgeregten Zeit

drang noch in diese Einsamkeit!“

Und dann vergessen wir die Uhr und die Truhe. Das Leben geht weiter. Die täglichen, beruflichen Anforderungen lassen uns an wichtigere Dinge denken. Justus und Nicole ziehen in eine andere Stadt und wir treffen nur noch sehr sporadisch zusammen.

 

Jahre später sind wir dort eingeladen, in ihrem neuen Haus, das ebenso gemütlich eingerichtet ist, wie ihr erstes. Als wir

zum Essen das Speisezimmer betreten, schlagen hier plötzlich zwei Uhren gravitätisch und nostalgisch um die Wette. Und dann erklingt aus der einen eine zarte, feine Melodie, wie ein Gruß aus einer fernen, versunkenen Welt, verwunschen und altmodisch, so wie nur die Walzen von alten Spieluhren sie erzeugen können. Entzückt lauschen wir und schauen unsere Gastgeber fragend an.

„Ja“, erklärt Justus und streicht liebevoll über das alte Gehäuse, „das ist nun doch wieder die Uhr von Onkel Julius. Er ist übrigens vor einem Jahr verstorben. Vor einigen Monaten hat uns der dänische Arzt angerufen. Er, ein leidenschaftlicher Uhrensammler, bot uns u n s e r e Uhr zum Kauf an. Er hätte jetzt eine noch schönere und ältere gefunden. Und da habe er sogleich an uns gedacht. Ist das nicht liebenswürdig? Wir haben sie natürlich, ohne zu zögern, gekauft. Und auch die dazu passende Truhe. Diese beiden Dinge gehören doch schließlich zusammen und sollen auch zusammenbleiben!“

„Ja, Justus, war das nicht sehr teuer“ rutscht es mir heraus.

„Weißt du“ erklärt mir Justus, mit feinem Lächeln, „Nicole

und ich haben uns versprochen, es keiner Menschenseele zu erzählen, wie viel wir dafür ausgegeben haben!“

 

  

Die Selbstüberschätzung

 

Der Kieler Jurist Geert Seelig (1864-1934), dessen Vater Professor an der Landesuniversität war, hat den Nachbarn seiner Eltern, den niederdeutschen Dichter Klaus Groth (1819-1899), in dessen Haus im Schwanenweg, in der Nähe der Förde, immer wieder gerne aufgesucht und später eine Fülle von Anekdoten über diesen zusammengetragen. Eines Tages singt man bei Groth im fröhlichen Kreise ein Lied – welches, ist nicht übermittelt worden. Da fragt Klaus Groth ganz naiv:

„Herr Gott. Ist das eigentlich von Goethe oder von mir?“

  

 

 

Der Pfefferminzbonbon

 

Konzert im Glücksburger Wasserschloss! Nicht nur, dass der Anblick des weiß getünchten Gemäuers, noch aus den Tagen der Renaissance, für ein festliches Feeling sorgt, als man über die Brücke zum Torhaus schreitet! Auch das Innere mit seinen gewölbten Sälen, den berühmten Gobelins sowie den unzähligen Porträts aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg versetzt die Besucher in eine herausragende Stimmung. Es ist schon etwas Besonderes, hier an einem Musikabend teilnehmen zu dürfen und letztlich das kulturelle Highlight des Sommers zu erleben!

Auch das Programm ist exquisit: Mozart, Haydn, Schubert, gespielt von einem jungen Streichquartett.

Als die letzten Töne verklungen sind, schweigt das Publikum einen Augenblick in andachtsvoller Spannung und Ergriffenheit. Da zischelt es durch die elitäre Stille aus dem Munde einer älteren Dame hinüber zu der neben ihr sitzenden Freundin:

„Elfriede, willste auch ´nen Pfefferminzbonbon?“

 

  

 

 

Die Welt ist voller Tanten

 

„Die Welt ist voller Tanten!“ Das stellte bereits der große baltische Schriftsteller Siegfried von Vegesack (1888-1974) fest. Und trotz schwindender Großfamilien, trotz des beruflich bedingten Auseinanderreißens ganzer Familienzweige – sie bleiben uns glücklicherweise erhalten! Sie sind noch nicht vom Aussterben bedroht! Diese besondere Spezies Mensch, die einst Generationen zusammengehalten hat: die Tanten „für`s Grobe“, als „Mutterersatz“, als „Hausfrauenersatz“, als „Seelentröster“ und als „Ferienmama“. Sie, die immer Verständnisvollen, Großherzigen und Gütigen, sind allzeit bereit zum Helfen und Einspringen.

Zwar sind diese Tanten, so sie nicht selbst einer anstrengenden Familie vorstehen, heute durchweg

berufstätig und daher zeitlich nicht mehr so flexibel und immer verfügbar, wie früher. Und dennoch haben sie auch heute noch ihre Funktion, die überwiegend in der Kunst des Zuhörens, Ratens, Briefeschreibens und Telefonierens besteht. Für viele Probleme, die junge Menschen vielleicht nicht bei den eigenen Eltern loswerden können, weil diese zu sehr in die Hetze des Alltags eingebunden sind, gibt es hoffentlich eine geduldige Tante. Sie nimmt sich die Zeit und Ruhe, mit dem Jugendlichen einen ausführlichen Waldspaziergang zu machen oder lädt ihn zum Essen ein und hat dann Muße und innere Bereitschaft, sich die Probleme anzuhören und vielleicht sogar mitzulösen. Aber das ist zumeist gar nicht nötig, glücklicherweise! Das Zuhören genügt bereits schon in vielen Fällen.

 

Eine meiner zahlreichen geliebten und verehrten „echten“ und Nenntanten war eine Schwester meines Vaters. Etwas kühl, berufstätig, reisefreudig und kinderlos, stellte sie sich in meiner Jungmädchenzeit dar. Wie gerne verlebte ich bei ihr sommerliche Ferientage in ihrer kleinen Junggesellinnenwohnung am Rande des Pfälzer Waldes. Am Wochenende fuhr sie mit mir über Land und ich durfte die Ausflugsziele, wie Burgen, Schlösser oder Kirchen bestimmen, wanderte mit ihr auf unzähligen Wegen bergauf und bergab. Wir kehrten dann am Spätnachmittag in einer freundlichen Waldschänke ein, um „russische Eier“ zu verzehren – Berge von „russischen Eiern“, mit viel Mayonnaise, Kapern, Gürkchen und Kartoffelsalat. Es war offenbar der Lieblingsimbiss meiner Tante und wurde damals auch der meinige. Doch eine derartige, kalorienschwere Völlerei geht nicht ungestraft durch einen hindurch! Einhundertundsechzig Pfund Lebendgewicht – unaufgebrochen – wie der Waidmann sagt, brachte sie dann irgendwann auf die Waage, was mich als Backfisch entsetzte. Heute habe ich dafür Verständnis und befürchte, eines Tages auch selbst diese magische Zahl zu erreichen. Ich soll ihr doch so ähnlich sein!

Des Abends saßen wir auf Tantes kleinem Balkon, schlürften genüsslich einen leichten Pfälzer Wein und klönten bis spät in die Nacht: über die Liebe im Allgemeinen und im Besonderen, über Männer, über Ehemänner und über potentielle Ehemänner. Alles, was uns an so einem lauen Abend fehlte, auch darin stimmten wir überein – war ein Mann!

 

Aus ganz anderem Holz ist meine Tante, die auf einem einhundertfünfzigjährigen alten Anwesen auf einer der Nordseeinseln lebt. Von einem kleinen Geesthof stammend, teilte sie in der Jugend das Schicksal unzähliger Bauerntöchter: sie ging „in Stellung“, bereits gleich nach der Konfirmation, obwohl sie nach Begabung und Neigung gerne die höhere Schule besucht hätte. Ihre Mutter, gottesfürchtig, kirchengläubig und auf Moral bedacht, gab sie allerdings nicht irgendwohin, sondern sie kam in einen Landpastorenhaushalt an der Westküste. Das war doch wenigstens etwas Anständiges! Später führte sie als Wirtschafterin verwitweten Landwirten den Haushalt, bis diese eine geeignete, sprich finanziell geeignete, zweite Verbindung eingingen. Dann musste sie sich wieder ein neues Betätigungsfeld suchen, bis sie mit fast vierzig Jahren

auf einen immer noch schmucken, frauenlosen, fünfzehn Jahre älteren, stattlichen Marschbauern traf. Es wurde Liebe auf den ersten Blick und eine überaus glückliche Beziehung!

„Ich war ein spätes Mädchen“, pflegte sie immer lächelnd viele Jahre nach ihrer Hochzeit, zu bemerken, „doch das habe ich rasch aufgeholt!“ Und so war es dann auch!

Kaum hatten die Hochzeitsglocken in der romanischen, altehrwürdigen Kirche geläutet, so stellten sich neun Monate später und dann noch zweimal in ziemlich pünktlichem jährlichen Abstand „tripp, trapp, trull“, wie meine Mutter diese freudigen Ereignisse kommentierte, drei niedliche, kleine Töchter ein. Wobei der Wunsch nach dem Sohne bekanntlich oft der Vater vieler Mädchen ist. Und es genierte den Erzeuger nicht, wenn er, sechzigjährig, mit grauem Lockenkopf, am Feierabend auf der Bank vor dem Hause in der Abendsonne saß, das junge Gemüse im Arm und auf dem Schoß und vorbeiradelnde Fremde fragten: „Is dat Opa?“ Dann rief er mit stolzgeschwellter Brust: „Nei, dat is Papa!“

Diese Tante war der Inbegriff von Regsamkeit und Häuslichkeit! Man lebte sehr autark auf dem großen Hof: Brot wurde alle zwei Wochen natürlich selbstgebacken, im Wechsel mit der Schwägerin. So hatte jede der großen Familien allwöchentlich frisches Brot. Unmengen von süßen Gelees, Marmeladen, Kompotten, Mus, eingeweckten Birnen und Äpfeln, Bohnen, Wurzeln sowie Erbsen füllten die Regale in den beiden ehemaligen Alkoven und im Keller. Im Winter wurde geschlachtet. In der eigenen Räucherkammer unter dem gewaltigen Reetdach wurden Schinken und Mettwürste ihrer köstlichen Reife zugeführt. Fliedersekt und Fruchtsäfte wurden zubereitet. Nach Feierabend wurden unzählige Strümpfe für den Hausherrn und anfangs zahlreiche Strampelhöschen für die Töchterschar gestrickt. Später folgten Pullover, Pullis, Jacken in immer schöneren Mustern. Dass meine Tante abends gegen zehn Uhr förmlich ins Bett fiel, wen wunderte das? Noch heute, wenn ich bei ihr bin – das Nest ist mittlerweile leer geworden, die Töchter haben auf dem Festland eigene

Familien gegründet – genieße ich den Duft ihrer altertümlichen Möbel, die an unzählige Sommerferien in der Kinderzeit erinnern. Wenn ich über die Fennen hin zum Deich und zur Kirche schaue und die Gänse und Enten beobachte, wie sie sich im Hühnerhof unter dem Küchenfenster putzen, aus alten Trögen trinken und hier und da etwas aufpicken, wobei unter ihren Füßchen noch die

eingelegten Ziegelsteine für den Pferdegöpel zu sehen sind, der einst die Dreschmaschine antrieb – dann spult die Zeit zurück: Eine Zeit, in der die Sommer noch so heiß waren, dass das Trinkwasser ausging, denn man war noch nicht an die Wasserleitung vom Festland angeschlossen. Die Tage schienen unendlich lang zu sein! Eine Zeit, als das gewendete Heu auf den Wiesen noch nach Kinderseligkeit duftete, die Kartoffelrosen am Kleiweg blühten und ein undefinierbarer Geruch aus den morastigen Gräben aufstieg.

Und das alte Haus mit seinem mächtigen Reetdach, seinen heute leer stehenden Stallungen und Scheunen, in denen wir noch in ehrwürdigen Kutschen und Kaleschen mit unseren Puppen gespielt haben, wird für mich zum Inbegriff von Geborgenheit – einer Geborgenheit, die sich in der Person meiner Tante verdichtet, welche noch immer, obwohl schon über achtzig Jahre alt, backt, einweckt, schlachtet und erntet, als ob sie gar nicht älter geworden wäre, als ob noch immer die quirlige Wolke kleiner Mädchen um ihre Beine krabbelt und auf den Arm genommen sein will.

Was ist, wenn sie einmal nicht mehr hier sein wird? Werde ich dann an dem alten Haus vorbeigehen, wie eine Fremde? Wird das betagte Gemäuer dann überhaupt noch dastehen wie vor einhundertundfünfzig Jahren, wo es für seine früheren Bewohner schon ein behütetes Zuhause war? Wo es für andere bereits Heimat und Zufluchtsort darstellte? Was wird dann sein?

 

 

 

Alle Jahre wieder

 

Zum Weihnachtsfest einen geschmückten Tannenbaum aufzustellen, ist für die meisten Familien ein unbedingtes Muss! Meine Mutter – immerhin promovierte Germanistin

– war mehr ein prosaischer Typ, auch wenn sie für den Dichter Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) schwärmte.

 

Als mein Bruder und ich im Studium eines Tages erst am 24. Dezember mittags zu ihr stießen, tat sie sehr geheimnisvoll.

„Ich habe eine Extraüberraschung für euch! Nein, noch nicht ins Wohnzimmer! Mittag wird heute ausnahmsweise in der Diele gegessen. Dann läute ich nach meinem Schläfchen zur Bescherung. Wenn wir gleich mit der Mahlzeit fertig sind – es gibt nur Würstchen und Kartoffelsalat, schließlich hatte ich bis gestern noch Unterricht – könnt ihr ein wenig spazieren gehen! Es ist ja draußen so schön milde! Aber gegen sechzehn Uhr kommt ihr bitte zurück.“

Nachdem wir von einem ausgiebigen Gang durch das nahe Gehölz zurückgekehrt waren, erwartete uns unsere Mutter in dem normal erleuchteten Wohnzimmer. Keine Kerzen, kein Christbaumschmuck ließen auch nur ansatzweise an Weihnachten denken. Und auf dem Teewagen stand in einem großen Übertopf ein merkwürdiges, nadeliges Gebilde, das seine langen, dünnen Äste weit von sich streckte.

Verdutzt schauten mein Bruder und ich uns an. Und unsere praktische Mutter erklärte:

„Da ihr nun doch nur am Heiligen Abend kommt, muss ich keinen Weihnachtsbaum mehr haben. Dieser Schweinkram nachher, wenn er wieder aus dem Hause muss und dann so nadelt, ist doch lästig! In meinem Alter will ich das nicht mehr! Das hier ist ein afrikanisches Gewächs. Ihr seid doch sonst auch so für die Dritte Welt! Da tut es diese aparte Pflanze auch!“

Ob bei uns im Hause wohl die richtige, behagliche Weihnachtsstimmung aufkam?

„Oh, Tannenbaum, oh Tannenbaum,

wie grün sind deine Blätter!“

 

 

 

Winterkartoffeln

 

In einem Vorort Neumünsters, der lange Zeit überwiegend von älteren Leuten bewohnt wurde, befand sich, bis zur Errichtung eines riesigen Supermarktes in unmittelbarer Nähe, ein „Tante-Emma-Laden“, der die bescheidenen Bedürfnisse des Alltags abdeckte.

 

Vor dem Schaufenster trafen sich an einem Vormittag im November Frau Maltzahn und Frau Ebersbach. Frau Maltzahn hatte das Geschäft gerade mit einem Beutel voll Kartoffeln verlassen. Frau Ebersbach begrüßte sie freundlich und beide Damen blieben einen Augenblick stehen, um zu klönen.

„Na, Gertrud,“ fragte Frau Ebersbach, „was hast du denn soeben Schönes gekauft? Wie gut, dass wir das kleine Geschäft hier haben! Sonst müsste man ja immer mit dem Bus in die Innenstadt oder zum Wochenmarkt fahren!“

„Da hast du wohl recht, Grete,“ erwiderte Frau Maltzahn. „Ich habe mir nur rasch einige Kartoffeln zum Mittagessen gekauft.“

„Wieso denn das, Gertrud? Du hast doch Kartoffeln in deiner Holzkiste im Keller eingewintert!“

„Ja,“ erwiderte da Frau Maltzahn, ein wenig verlegen lächelnd, „aber ich hatte keine Lust, in den Keller zu gehen!“

 

  

 

Aachener Printen

 

Weihnachten ist die Zeit der Kekse. Auch, wenn ich immer wieder von einer „Ein-Mann-Küche“ und nie von der „Eine-Frau-Küche“ spreche, hindert mich niemand, regelmäßig in der Küche zu wirken, wenn meinem Eheliebsten die Hausmannskräfte versagen oder er einfach, berufsbedingt, abwesend ist. Insbesondere die Bäckerei hat es mir angetan. Ob nun Pizza oder Quarkkuchen, da bin ich in meinem Element! Und wenn ich einmal trüber Stimmung bin, fabriziere ich leidenschaftlich gerne süße Kuchen.

Vor allem liebe ich die vorweihnachtliche Bäckerei, auch wenn einem nach Stunden in der gewürzreich duftenden, viel zu warmen Küche das Kreuz schmerzt und der Fußboden, sämtliche Arbeitsflächen, die Spüle und der Herd, ja selbst die Kühlschranktür, mit Teigresten, Sahnekleksen, zertretenen Rosinen, zerbröselten Mandelscheibchen verunziert sind und die Schuhsohlen auf den Fliesen kleben. Das ist dann der Moment, an dem ich für diesen Nachmittag mit meiner Kreativität aufhöre, nur noch das letzte Blech mit „Plättchen“, wie man in Holstein sagt, abwarte, mir einen Cognac spendiere, um dann die Küche aufzuräumen und aufzuwischen.

Meine besondere Liebe gilt den Aachener Printen. Nicht den üblichen, deren Zubereitung in jedem besseren Weihnachtsbackbuch zu finden ist, sondern speziellen Gewürzprinten, die ich dann mit ganz kleinen, rechteckigen Förmchen aussteche, damit meine Lieben sie nicht so schnell gierig verschlingen. Außerdem werden sie recht hart, so dass man gut beraten ist, nur kleine Stücke in den Mund zu schieben, die man dann genüsslich, wie einen Rahmbonbon, zerkaut.

Sorgfältig erhitze ich den dunklen Rübensirup – aber nicht zu stark, damit der gewachste Pappbecher, in welchem er verkauft wird, sich nicht auch verflüssigt. Dann kommt der Rohrzucker hinzu, die „gute“ Butter, das Mehl und brauner Kandiszucker. Früher musste man die Brocken in einem sauberen Geschirrtuch mit der Teigrolle in winzige Stückchen schlagen. Doch seit einigen Jahren gibt es den „Teezucker“ von feiner Konsistenz. Der erleichtert alles und erspart eine kolossale Krümelei in der Küche. Behutsam werden Zimtstange und Anisschoten im kleinen Mörser aus toskanischem Marmor zerstoßen. Weitere Gewürze folgen, ebenso Backpulver und Rum. Ich hasse die im Rezept angegebene Pottasche ebenso wie das Rosenwasser! Letzteres schmeckt immer irgendwie nach dem WC-Duft, den man bei uns aus einem Flakon auf dem stillen Örtchen sprühen kann und erstere erinnert mich immer ein wenig an Schweinejauche. Das muss ich beides nicht im Gebäck haben! Das portionsweise Walzen des Teiges zwischen zwei Lagen Haushaltsfolie ist dann immer Schwerstarbeit. Früher war das Männersache, als man noch eimerweise die Plätzchen buk. Ist das Wort „mangeln“ ein Relikt aus vergangenen Zeiten? Man legte wohl die Teigstücke – nun nicht gerade zwischen die mit Feldsteinen beschwerten, unförmigen „kalten“ Wäschemangeln – aber man bearbeitete den Teig mit den Rundhölzern, mit denen man in archaischer Zeit die Leinenwäsche nach dem Trocknen glättete. Diese hießen „Mangelhölzer. Später werden sich daraus die heutigen, beweglichen Kuchenrollen aus Holz entwickelt haben.

Wie dem auch sei! Das Ausrollen dieses zähen Teiges ist jedes Mal ein Liebesbeweis für die Familie und ich nehme mir Jahr für Jahr vor, dieses äußerst wohlschmeckende, kleine, rechteckige Gebäck nicht wieder zu backen. Es ist einfach zu mühsam! Daher bin ich mit dem Verschenken auch entsprechend sparsam!

 

Zu den Personen, denen ich diese Printen gönne, gehört Tante Aurelia, eine ehemalige Schulfreundin meiner Mutter. Einmal im Monat besuche ich sie in der Seniorenresidenz in Malente-Gremsmühlen. Sie weiß von mir auch immer, wann genau ich angefahren komme. Zumeist erreiche ich den kleinen Ort am Dieksee gegen fünfzehn Uhr. Dann hält die alte Dame noch ein wenig Mittagsschlaf. Doch es stört sie nicht, wenn ich sie dann wecke. Als Willkommensgruß lacht mich regelmäßig ihre Vollprothese an, die auf einer Untertasse auf dem Tisch liegt. „Tante Aurelia, sei doch so lieb und nimm` die Prothese in den Mund. Du weißt doch, wann ich komme! Ich kriege jedes Mal einen Schock!“

„Ach nein, mein Kind, die drückt mich immer so!“ „Na, dann fahre ich dich gerne zum Zahnarzt, damit er sie reguliert!“ „Ach, das lohnt in meinem Alter nicht mehr!“ Es ist nichts zu