Der Untergang der Kurpfalz

Historischer Roman

Wolfgang Vater


ISBN: 978-3-95428-648-5
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim

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Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
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Inhalt

„Calvinisten, Lutheraner, alles ist des Teufels Brut.“

1738

August ahnte nichts Gutes.

Sein Freund Peter war nicht zu Hause, obwohl er ihm versprochen hatte, auf ihn zu warten. Peter wollte ihm nach dem Umzug aus der Krämergasse in die Kisselgasse seine neue ‚Malstube’ zeigen.

„Charles, der Junge aus der Nachbarschaft, hat ihn zum Spielen in den Schlossgarten abgeholt“, sagte die Mutter.

Als August die Stirn in Falten zog und den Kopf nachdenklich hin und her wiegte, ergänzte sie: „Ich weiß, dass dir das nicht gefällt, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Allerdings“, fügte sie fast entschuldigend hinzu, „habe ich Charles gebeten, beim Sprechen Peter immer das Gesicht zuzuwenden.“

„Sind die beiden schon lange weg?“

„Seit einer Stunde ungefähr. Peter hat Bello mitgenommen. Der passt auf ihn auf.“

August gefiel das ganz und gar nicht. In seiner Magengegend machte sich ein mulmiges Gefühl breit.

Mit wehenden Haaren und hochrotem Kopf rannte er den Pfad des engen Friesentälchens hoch, rutschte auf dem nassen mit Unkraut übersäten Waldboden aus und konnte sich in letzter Sekunde an einer Baumwurzel festhalten. Das aufgeschlagene Knie und die Dornen in den Händen spürte er nicht. Allein der Gedanke, dass er zu spät kommen könnte, trieb ihn vorwärts.

Oben musste er erst einmal Luft schöpfen. Wo waren die beiden? Er horchte nach allen Seiten. Aus dem hinteren Teil des Schlossgartens drangen Geräusche an sein Ohr – sie klangen wie Hilferufe. Jetzt hörte er auch das Bellen eines Hundes.

August rannte wie besessen in diese Richtung. Es dauerte keine zwei Minuten, dann sah er das Malheur. Da hüpfte doch der kleinwüchsige Nachbarsjunge mit seinen dünnen Beinchen wie ein Rumpelstilzchen um die beiden Gefesselten herum. Durch irgendwelche üblen Tricks musste es ihm gelungen sein, Peter samt den Hund an einen Baum festzubinden. Wie ein Närrischer gebärdete sich Charles. Er klatschte in die Hände und zog zwischendurch mit den Händen eine lange Nase. Und dann das grässliche Lied! August schwoll der Kamm. Er brauchte nicht hinzuhören, er wusste, dass der Marquis ein religiöser Fanatiker war.

 

„Calvinisten, Lutheraner, alles ist des Teufels Brut.

Ketzer sind sie und Verleumder,

lechzen nach kathol’schem Blut.

Holt die Schlegel, wetzt die Messer!

Zündet schon das Feuer an!

Legt viel Reisig auf den Haufen

und gebt schwarzes Pech daran!

Brennen soll’n sie lichterloh,

dann erst wird die Pfalz recht froh.“

 

Seit dem Tod des letzten reformierten Kurfürsten hatte die katholische Nebenlinie Pfalz-Neuburg die Herrschaft über die Kurpfalz übernommen und siedelte zum Leidwesen der Protestanten bevorzugt katholische Familien an. Charles̉ Eltern gehörten auch dazu.

Gott sei Dank konnte der gehörlose Peter den Text nicht verstehen. Aber der Hohn und die Verachtung, die aus den Mienen und Gesten des Gnoms sprachen, brauchten keine Worte.

Charles war zwei Jahre älter als August, aber um anderthalb Köpfe kleiner. Der obere Teil des Körpers sah normal aus, nur die Beine schienen das Wachsen vergessen zu haben. Was überhaupt nicht zu der schon witzigen Gestalt passte, war die rote Perücke. Warum nur musste er sich das antun? Weil es ‚a la mode’ war? Die Herren Professoren, Barone und Advokaten trugen diese Pracht in allen Farben. Für August wirkte es lächerlich, wenn alte Männer mit langen blonden Locken krummbeinig daherstolzierten und meinten, sie wären der leibhaftige Frühling.

Das plötzliche Auftauchen von Peters Freund hatte Charles nicht erwartet. Ruckartig blieb er stehen und riss erstaunt die Augen auf. Im gleichen Moment begann sein Leib in dem weinroten Samtrock zu schlottern.

Wenn es nicht so ernst gewesen wäre, hätte August in diesem Moment über den jämmerlichen Anblick des jungen Marquis laut heraus gelacht. Die seidenen Strümpfe waren ihm an den dünnen Beinchen bis über die Waden heruntergerutscht und sahen wie eine zerquetschte Ziehharmonika aus. Hier oben nützte ihm sein Titel nichts. Unten in der Stadt war es anders. Auf dem Wochenmarkt überboten sich die Verkäuferinnen: „Haben der Herr Marquis noch einen Wunsch? Dürfen wir dem Herrn Marquis eine besonders schöne Birne dazulegen? Selbstverständlich, Herr Marquis! Zu Ihren Diensten, Herr Marquis!“

August, ein Altstadtjunge, hatte eine harte Faust und zeigte wenig Hemmung, diese im richtigen Moment einzusetzen. Er war beileibe kein Schläger oder Randalierer, aber auch kein Angsthase. Kurz entschlossen packte er den Marquis am Kragen, hob ihn hoch und ließ ihn an seiner Faust riechen, dann öffnete er die Hand und der Adelige plumpste wie ein nasser Sack auf die Erde.

„Wenn ich dich noch einmal bei deinen fiesen Spielchen erwische, hänge ich dich an den nächstbesten Ast und lass dich zappeln, bis du schwarz wirst – du Bösewicht!“

Er gab ihm noch einen kräftigen Schubs und deutete mit dem Finger ins Tal. Charles hatte verstanden. Augenblicklich rannte er wie von einer Tarantel gestochen davon. Auf halbem Weg drehte er sich um und streckte hohnlachend die Zunge heraus. Lass ihn, dachte August, zuerst muss ich Peter und den Hund befreien. Ich werde dem ‚Herrn’ das schon noch heimzahlen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Die Knoten waren fest zugezogen und Peters Handgelenke rot angelaufen. Liebevoll strich er ihm durchs Haar, streifte den zerknitterten Rock aus und rieb ihm die geschwollenen Finger. Ausschimpfen mochte er seinen Freund nicht. Peter lebte in einer etwas anderen Welt. Nicht allein, weil er gehörlos war, sein Vertrauen in die Güte der Menschen war grenzenlos. Daher wunderte sich August nicht, dass Charles ihn zu dem bösen Spiel hatte überreden können.

Die junge Marquise

1738

Gemeinsam gingen die Freunde in die obere Vorstadt zurück. Sie waren schon ein ungleiches Paar. August, ein robuster Junge mit breiten Schultern und Ohren, die das Gras wachsen hörten. Beides brauchte er auch, denn ihm wurde bisher nichts geschenkt. Sein Vater bog und formte in der heißen Dampfküche die Hüte für die reichen Herren zurecht und die Mutter bügelte die Leibwäsche der Heidelberger Damenwelt. Ganz anders Peter. Ein liebenswürdiger, verträumter Junge aus gutem Hause. Der Vater war Oberrevisor bei der Geistlichen Güterverwaltung und die Mutter eine Verwandte des reichen Hirschwirts. Bis vor einigen Tagen hatten Walpergens noch in der Krämergasse gewohnt, von daher kannten sie sich.

Gerade als sie in das Obere Tor einbogen, hörte August eine liebliche Mädchenstimme. Hell und klar. Die Melodie hörte sich beschwingt und leicht an – ein Frühlingslied zur Laute. August musste augenblicklich an seine eigene Stimme denken. Wenn er sang, glich das mehr dem Brummen eines Bären. Musikalisch war er völlig unbegabt.

„Warum so ernst, ihr jungen Herren?“, sprach ein liebreizendes Mädchen sie an. „Ein schöner Tag verlangt ein heiteres Gesicht. Setzt euch ein wenig zu mir! Wir sind doch Nachbarn.“

August senkte den Kopf und tat, als ob er es nicht gehört hätte. Obwohl er sonst nie um eine Antwort verlegen war, fühlte er sich bei Angehörigen des höheren Standes gehemmt. Auch wusste er, dass das Mädchen die Schwester des Gnomen war. Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten? Er, der gerade ihrem Bruder Schläge angedroht hatte. Er, ein Junge in Holzpantinen und gestopften Hosen. Sie, eine junge Dame der neuen katholischen Adelsgesellschaft. Jetzt winkte das Mädchen ihnen auch noch zu.

Peter hatte seine Augen überall. Immer sah er mehr als andere, denn er musste sein Nichthören mit Mehrsehen ausgleichen. Freudestrahlend zupfte er ihn am Ärmel und drückte schon gegen das schwere Eisentor des Herrenhauses.

August war das gar nicht recht. Er hatte keine Lust, dem Fiesling so schnell wieder zu begegnen und wahrscheinlich hatte die Schwester trotz der himmlischen Stimme den gleichen Charakter wie der Bruder. Mit solchen erzkatholischen, frömmelnden Leuten wollte er als aufrichtiger Lutheraner nichts zu tun haben. Zwar war er nur der Sohn des Hutmachers Gottlob Hosé aus der Krämergasse, aber seinen Stolz hatte er auch.

Wenn Peter zu dem Nachbarmädchen gehen wollte, konnte er es ihm nicht verwehren. Er hatte zwar der Mutter versprochen, auf ihren Sohn ein wachsames Auge zu haben, aber ihn bevormunden konnte und wollte er nicht.

Mit Kraft stemmte sich August gegen das Tor – Schmiedeeisen mit bronzefarbenem Blattwerk. Ein vornehmes Anwesen mit barockem Mittelteil, säulenartigem Eingang, Balkone und zwei das Hauptgebäude flankierende Seitenflügel lag vor ihnen. Der exotisch anmutende Garten reichte bis zum Ufer des Neckars. Das Mädchen legte die Laute beiseite und bot ihnen mit einladender Geste Platz an. Das galt wohl eher Peter.

Erstaunt rieb sich August die Augen. Das Mädchen und Peter lächelten sich spontan so an, als ob sie sich schon immer kennen würden. Natürlich wusste August, dass es so etwas wie ‚Seelenverwandtschaft’ gab, nur hatte er sich bis jetzt nichts darunter vorstellen können. Fast wäre er neidisch auf diese spontane Sympathie geworden. Während sie sich noch anlächelten, schaute sich August misstrauisch um. Der Bruder ging ihm nicht aus dem Kopf. Bis jetzt war er nirgends zu sehen. Wahrscheinlich versteckte er sich im Haus.

Abwartend lehnte sich August an einen Mauervorsprung und betrachtete die Schwester genauer. Eine reich verzierte Spitzenhaube verdeckte die rotblonden Haare. An einer Stelle hatte sich eine Locke selbstständig gemacht. Sie strich sie zurück, reichte im gleichen Augenblick Peter die Hand und nannte ihren Namen. „Eleonore“. Bei Peter erfolgte keine Reaktion. Die Hand hatte wohl ihren Mund teilweise verdeckt.

August wartete erst einmal ab. Warum sagte sie nicht auch ihren Nachnamen? Sie war doch eine Adelige, eine Marquise. Wollte sie das nicht gleich hervorkehren? In der Regel legten die Adeligen den größten Wert auf ihren Titel. Sollte das schöne Mädchen eine Ausnahme sein? Das wäre ein nobler Zug an ihr. Vielleicht war sie doch nicht so abscheulich wie ihr Bruder? Offensichtlich wollte sie nur mit dem Vornamen angesprochen werden. Das war gut so, denn dann fiel der ganze Zinnober mit dem ‚Sie’ und der ‚Mademoiselle’ von vornherein weg.

Wie alt mochte sie sein? Er schätzte. Etwa zehn Jahre. So alt wie er. Sie hatte ein feines Gesicht und ein wissbegieriges wohlgeformtes Näschen. Dazu passten die intelligenten Augen. Langsam wurde sie ihm immer sympathischer.

„Eleonore heiße isch“, wiederholte sie noch einmal – ein Quäntchen energischer.

Ihr elsässischer Dialekt war unüberhörbar. Ah, eine halbe Französin, dachte August. Das war jedoch nicht abwertend gemeint, denn zwischen der Pfalz und dem französischen Grenzland war kein großer Unterschied. Er brauchte nur an seinen eigenen Nachnamen zu denken – Hosé. Er schmunzelte in sich hinein, aber das war eine andere Geschichte.

Peter stand einfach da und lächelte. Das konnte er wunderbar. Sein langes brünettes Haar, das zu einem Zopf geflochten war und seine melancholischen Augen verliehen ihm etwas Entrücktes. Eleonore schaute ihn zuerst fragend, dann prüfend und schließlich skeptisch an.

Sicher kannte sie Peter. Sie hatte ihn bestimmt schon gesehen, wie er mit seiner Mutter zum Markt ging. Aber, sie wird nicht wissen, dass er gehörlos ist.

Es war an der Zeit, sie aufzuklären. „Mein Freund ist taub. Er kann gesprochene Sprache nur dann verstehen, wenn er sie unmittelbar vom Mund des Gesprächspartners ablesen kann.“

Eleonores Augen weiteten sich und ihr Mund stand offen. Das hatte sie wohl nicht erwartet – jemand, der nicht hören konnte.

Solche Situationen waren August nicht unbekannt. Er versicherte ihr, dass Peter der Lautsprache durchaus mächtig sei. Sie klinge zwar nicht so fließend und melodisch wie bei ihr oder ihm, aber gut verständlich.

In diesem Moment verbeugte sich Peter artig und artikulierte überdeutlich: „G u t e n T a g, M a r q u i s e d e
A s c h b a c h v i l l e! W i e g e h t e s I h n e n? I c h
f r e u e m i c h, S i e b e g r ü ß e n z u d ü r f e n.“

Eleonore errötete. Selbst August staunte. Woher kannte Peter ihren Namen? Wahrscheinlich hatten ihn die Eltern über die Nachbarschaft aufgeklärt. Das taten sie immer, denn es gehörte zu ihrer Erziehung, Peter auf Situationen im Voraus vorzubereiten. Dadurch fühlte er sich sicherer.

Eleonore nahm kurzerhand Peters Hand in die ihre und hielt sie länger als üblich fest. „Das ist ja wie ein Wunder. Ich habe jedes Wort verstanden.“ Dann schaute sie ihm fest in die Augen und sagte: „Ich sage ‚Peter’ zu dir und du sagst ‚Eleonore’ zu mir. Bitte, keine Titel.“

August registrierte das wohlwollend und spürte, dass das der Anfang einer Freundschaft werden konnte. Ohne Scheu und mit einer selbstverständlichen Natürlichkeit fragte sie Peter gleich, ob sie ihm ihre Geheimnisse zeigen dürfe. Ohne eine Antwort abzuwarten, hob sie den rosafarbenen Rock ein wenig in die Höhe und hüpfte davon. Gleich darauf kam sie aus dem Nebengebäude mit einem Stapel Hefte zurück.

„Das sind meine Niederschriften und Skizzen.“

Peters Augen glühten, als er das erste Heft aufschlug. Mit zittrigen Händen blätterte er jede Seite sorgfältig um. Oft war ein lang gezogenes „Oh“ und so etwas wie „wunderschön“ zu hören. Eine getrocknete Akelei, fein säuberlich gepresst und akkurat eingeklebt. Und dann die Schrift – wie gemalt. Unter jeder Blume, jedem Grashalm standen der lateinische Name und die deutsche Bezeichnung. Manchmal waren sogar das Datum und der Fundort vermerkt.

August fiel auf, dass neben den Wirtsblumen die entsprechenden Raupen und Puppen und manchmal sogar der dazugehörige Schmetterling gezeichnet waren. Alles fein säuberlich nummeriert und beschriftet. Fast ein wissenschaftliches Werk. In Peters Zimmer hatte er Bilder gesehen, die denen Marie Sybilla Merians nachempfunden waren und ähnlich aussahen.

Da haben sich zwei gefunden, dachte er und erzählte Eleonore, dass Peter ebenfalls viel zeichne und eine kleine Sammlung von Insekten und Schmetterlingen angelegt habe.

„Das ist ja wie eine Fügung des Himmels, da können wir uns austauschen.“

August hatte sich angewöhnt, immer einen Moment zu warten, wenn Peter nicht antwortete. Erst dann führte er das Gespräch für seinen Freund fort. Peter war so selbstbewusst, dass er sich von alleine wieder einbrachte, wenn er es für richtig hielt. Nichts war August so zuwider wie ein stockender Gedankenaustausch mit überlangen Pausen. Lieber riss er die Unterhaltung an sich.

„Ich habe einmal beobachtet“, überbrückte er, „wie Peter eine halbe Stunde vor einer Pflanze stand und jedes Detail quasi in sich aufsog. Er speicherte das Gebilde in seinem Gehirn. Später konnte er es wirklichkeitsgetreu wiedergeben. Das scheint eine besondere Begabung bei ihm zu sein. Seine Eltern haben diese Fähigkeit früh erkannt und gefördert. Sicher wird aus ihm einmal ein großer Maler werden.“

August spürte, wie begeistert Eleonore diese Nachricht aufnahm. Sie wollte etwas sagen, aber sie schien sich nicht zu trauen. August glaubte zu wissen, woran es lag.

„Frage doch Peter, ob er dir seine Skizzen zeigt. Die Eltern haben ihm ein kleines Malstudio eingerichtet. Auf diese Weise kannst du auch seine Mutter und seinen Vater kennenlernen. Hochgebildete Leute mit einer ausgesprochenen Herzenswärme.“

Eleonore zögerte noch, doch dann formulierte sie ihre Frage. Leider sprach sie zu schnell und zu kompliziert. Peter schien nicht alles verstanden zu haben. Er verzog die Mundwinkel. Ein Zeichen, dass er unsicher war.

August lächelte nur. Jetzt musste er Eleonore in die Geheimnisse einer neuen Sprache einführen. Er deutete zuerst auf Eleonore, hielt die flache Hand über die Augen, so als ob er etwas in der Ferne beobachtete, dann malte er mit den Händen ein imaginäres Viereck in die Luft, zeichnete darin die Gestalt einer Blume, und zum Schluss zeigte er mit fragenden hochgezogenen Schultern auf Peter. Zu jeder einzelnen Gebärde oder Körperbewegung sprach er das entsprechende Wort. „Eleonore/ schauen/ Bild/Blume/ deine (?).“

Ein Strahlen überzog Peters Gesicht und er nickte freudig. „J a, j a, g e r n e, b i t t e s e h r!“

Eleonore stockte, staunte, doch dann hatte sie schnell begriffen, dass man auch mit den Händen sprechen konnte. Alles, was gesagt werden soll, wird einfach in ein sichtbares Zeichen übersetzt. Ganz entzückt von ihrer Entdeckung rief sie: „Danke, Peter. Das werde ich gerne tun. Ich freue mich schon darauf.“

An August gewandt fragte sie, wie es komme, dass Peter sich so verständlich ausdrücken könne.

„Seine Mutter hat ihm das Sprechen gelehrt. Ein mühsames Geschäft, das viele Jahre gedauert hat und eigentlich nie aufhört. Jeden Tag üben sie.“

„Und wie geht das vor sich? Steckt da Zauberei dahinter?“

August lachte. „Als ich das erste Mal in Peters Kammer kam, war ich über die vielen Bilder erstaunt. Am Stuhl, am Tisch, an der Kommode, am Kerzenhalter, einfach überall hingen Bilder der entsprechenden Gegenstände mit den dazugehörigen Namen.

Jedes Mal, wenn Peter die Mutter anschaute, forderte sie ihn auf, indem sie auf ihre Lippenbewegung zeigte, zum Stuhl, zur Kommode zu gehen und dieses oder jenes zu holen.

So lernte er die Bedeutung der Schrift und gleichzeitig das Lesen. Im gleichen Atemzug lehrte sie ihm auch das Sprechen. Wie das geht, erzähle ich dir später einmal.“

„Du hast vorhin mit den Händen gesprochen. Was hat es damit auf sich?“

„Das ist die Gebärdensprache, die hat Peter beim taubstummen Schuster Jeremias gelernt.“

„Ist das der, der in der Apothekergasse seine Werkstatt hat? Den kenne ich. Sein Sohn Jakob soll sich zu den Soldaten gemeldet haben.“

„Na ja, ganz so war es nicht. Jakob wurde von den Werbern …“

Weiter kam er nicht, denn plötzlich erschien Charles in der Tür. Er warf einen scheelen Blick auf die Gesellschaft und versteckte sich augenblicklich hinter einer Säule.

Ein bösartiger Bruder

1738

Beim Anblick des hinter den Säulen stehenden Marquis empfand August einen Hauch von Genugtuung – aber nur einen winzigen. Wahrscheinlich glaubte Charles, dass August ihm wegen des Zungenherausstreckens noch eine Tracht Prügel verabreichen würde. Obwohl es ihn ordentlich in den Fingern juckte, dachte August nicht daran, es zu tun. So wichtig war Charles wiederum auch nicht.

Über eines wunderte er sich allerdings. Warum waren ihm beim Marquis vorhin nicht die abstehenden Ohren aufgefallen? Wie voll aufgeblähte Segel sahen sie aus. Er schaute noch einmal genauer hin. Ein Licht ging ihm auf. Charles Perücke war nach hinten verrutscht, deshalb waren sie zu sehen.

Eleonore musste ihren Bruder nun auch gesehen haben. „Charles“, rief sie, „schau, wir haben Besuch. Willst du nicht herkommen und die beiden begrüßen?“

Der Bruder verbarg sich noch mehr hinter der Säule und dachte nicht daran, den Gästen die Hand zu reichen. Seine Schwester konnte ja nicht wissen, dass sie sich längst bekannt gemacht hatten. Allerdings auf keine sehr angenehme Weise.

„Charles“, bat sie, „sei doch so nett und bring mir den Kasten mit den neu geschlüpften Raupen aus meinem Kabinett. Peter und August werden über meine Raritäten erstaunt sein.“ Dabei zwinkerte sie den beiden zu und flüsterte mit geheimnisvoller Stimme: „Ich bin nämlich nicht nur eine Blumenfee, sondern auch eine Goldsucherin. Wenn ihr das nächste Mal kommt, zeige ich euch meine Hexenküche mit den Kräutermischungen und den getrockneten Pilzen. Giftige sind auch darunter.“ Als sie merkte, dass Peter nicht alles verstanden hatte, pflückte sie eine Pflanze und führte sie zum Mund, dann verdrehte sie die Augen und begann wie ein Betrunkener zu torkeln.

August klatschte Beifall. „Siehst du, so einfach ist das mit der Gebärdensprache. Schnell gelernt.“ Im Grunde war ihm aber nicht wohl bei dem Gedanken, dass Eleonore sich mit Dingen beschäftigte, die zumindest anrüchig waren. Von seinem Vater hatte er nämlich gehört, dass manche pulverisierten Pilze Menschen in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen konnten. Ob das Mädchen eine Hexe war? Er würde seine Augen offen halten. Nicht, dass sein Freund noch der Schwarzen Magie verfiele.

Eleonore musste seine Gedanken erraten haben. Sie legte ihre Hand auf Peters Arm und meinte vorsorgend: „Keine Angst, ich bin keine Anhängerin der ‚Dreckapotheke’. Ich mische keine Froschbeinchen mit Hasenkot, übergieße den Brei mit Salbeisud und preise dann die so entstandene Medizin als Allheilmittel an. Mich interessiert die Vielfalt der Dinge und nicht, was man damit machen kann. Ich sammle und liste lediglich alles auf.“

Beruhigter drehte sich August zu den Seitenflügeln des Palais um. Charles erschien mit einem Holzkasten. Das scheele Grinsen dieses Gnoms machte ihn wahnsinnig. Immer schlummerte etwas Hinterhältiges in seinen Augen. Bestimmt führte er auch jetzt etwas im Schilde.

Er hatte weinrote Schnallenschuhe aus Hirschleder mit extra hohen Absätzen an, nicht nur weil es gerade Mode war, sondern seiner geringen Körpergröße wegen. August würde es im Traum nicht einfallen, solchen modischen Firlefanz zu tragen, außerdem hätte er keinen sicheren Tritt darin und würde mehr als einmal umknicken.

Kaum gedacht, passierte es auch schon. Mit dem Absatz des linken Schuhs stieß Charles die Tür hinter sich zu. Dabei – August konnte es genau sehen – tat er so, als ob er das Gleichgewicht verloren hätte. Er torkelte, versuchte sich wieder aufzurichten, fiel dann aber gekonnt der Länge nach auf den Boden. Der Kasten glitt ihm aus den Händen.

Ein Aufschrei! Eleonore sprang hoch und stürzte sich auf den Behälter. Humuserde, Blätter, Zweige und Getier, alles kullerte und krabbelte kunterbunt durcheinander. Behutsam sammelte die Naturfreundin die gestreiften und getupften Raupen auf, hauchte sie an und legte sie vorsichtig in die Schälchen zurück. Nicht alle hatten den Sturz überlebt. Tränen kullerten dem Mädchen über die Wangen. Neben jede Raupe legte sie ein Blatt und seufzte ein wenig: „In zwei Wochen hättet ihr euch verpuppt. Vielleicht dauert es jetzt länger. Habt keine Angst, es wird alles wieder gut werden.“

Als sie den skeptischen Blick Augusts gewahr wurde, meinte sie: „Auch Tiere haben eine Seele. Hast du das nicht gewusst?“

Peter hatte sich ebenso erschreckt. Er bückte sich und wollte seiner neuen Freundin beim Einsammeln helfen, zuvor stieß er jedoch August in die Seite und deutete mit den Augen auf Charles. August folgte seinem Blick.

Das Blut schoss ihm in den Kopf. Da stand doch der Zwerg und feixte hinter den vorgehaltenen Händen. Mit einem Satz war August bei ihm, packte ihn am Jackett und schüttelte ihn heftig durch. „Ich habe es genau gesehen, du hast den Kasten absichtlich fallen lassen und nun freust du dich auch noch an dem Unglück, das du deiner Schwester zugefügt hast. Du bist ein feiner Bruder!“

Charles wand sich wie ein Aal, konnte sich aus dem harten Griff befreien und witschte August zwischen den Beinen durch. Flugs war er hinter der Tür verschwunden. Aus einem offen stehenden Fenster rief er Drohungen und Verwünschungen aus. „Ihr Ketzer gehört alle gevierteilt und verbrannt. Was sucht ihr hier? Geht dahin, woher ihr gekommen seid. Ab mit euch in die Hölle!“ Dann schlug er das Fenster zu, dass die Scheiben nur so klirrten. Mehr als ein teuflisches Lachen war nicht zu hören. August schauderte. Mein Gott, dachte er, wie böse manche Menschen sein können.

Obwohl Eleonore mit ihren Raupen beschäftigt war, hatte sie alles mitbekommen. Fast entschuldigend schaute sie August an. Es war ihr peinlich und wahrscheinlich hätte sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Trotzdem fragte er sie: „Sag, ist dein Bruder immer so?“

Eleonore schob den Kasten zur Seite. „Nein, wir sind im Elsass auf einem Landgut, dem der Vater als habsburgischer Vogt vorstand, aufgewachsen. Als Kleinkind war Charles gutmütig, freundlich und zuvorkommend. Doch eine Base, die längere Zeit auf Besuch war, hänselte ihn wegen seiner Gestalt. Zudem weigerte sie sich, mit ihm zu spielen. Zu allem Unglück äffte sie ihn auch noch nach, indem sie in Kauerstellung ging und wie eine Ente
watschelte. Charles war zutiefst gekränkt und ersann eine Bosheit nach der anderen, um sie zu demütigen. Seit dieser Zeit hat er sich verändert. Ich glaube, er verhält sich so, weil er fürchtet, dass andere ihm Ähnliches antun könnten.“

August war nachdenklich geworden. Nicht, dass ihm die Abreibung leid getan hätte, aber im Grunde reagierte er genauso, wie es Charles gewohnt war. Vielleicht hätte er sich anders verhalten, wenn ihm der Hintergrund früher bekannt gewesen wäre. Er wandte sich wieder Eleonore zu. „Und zu dir, wie ist er da?“

„Ich muss am meisten unter ihm leiden.“

Eleonore wollte August noch etwas sagen, aber da war eine unbekannte Stimme von der Straße her zu hören. Ein junger Mann in niederländischer Tracht, weißer Halskrause und einem Röhrenhut, wie ihn die Ratsherren von Utrecht trugen, erschien am Tor. Der Fremde musste den Vorgang beobachtet haben, denn er drückte Eleonore sein Bedauern aus, versicherte ihr jedoch, dass die Raupen sich ganz normal weiterentwickeln würden. Ihm sei das auch schon einmal passiert.

Ein Seelentröster, ging es August durch den Kopf und musterte den jungen Mann.

Gute Manieren hatte er, denn er verbeugte sich artig und entschuldigte sich, dass er sie in ihrer Unterhaltung gestört habe, doch er suche ein bestimmtes Haus, aber nicht so eines, bei dem er gerade vorbeigekommen sei.

Eleonore lachte. Sie hatte sich wieder gefangen. Diese Anspielung schien sie zu kennen. „Noch vor einem halben Jahr bin ich immer rot angelaufen, wenn jemand das Gespräch auf dieses eben erwähnte Haus brachte.“ Sie deutete mit dem Arm nach links. Am Ende des Anwesens, Ecke Jakobsgasse, befand sich eines der Quartiere, in denen ‚Damen’ ihre Dienste anboten.

Amüsiert fuhr Eleonore fort: „Zuerst wusste ich mit den Damen, die ihre Lippen leuchtend rot anmalen und grelle Kleider mit Ausschnitten bis zum Nabel tragen, nichts anzufangen, bis ich im Beichtstuhl reichlich aufgeklärt wurde.“

Sie bedauerte natürlich das Vorhandensein der Hübschlerinnen in ihrer Umgebung. Trotz vieler Proteste und Beschwerden ihrer Mutter und anderer Nachbarn war bisher nichts geschehen. Das käme wohl daher, meinte Eleonore verärgert, dass die Herren Hofräte, Magistrate und Referendare bei Dunkelheit nur allzu gern das Haus aufsuchten.

„Sie haben uns jedoch noch nicht gesagt“, nahm Eleonore die eingangs gestellte Frage des Fremden wieder auf, „welches Haus Sie nun wirklich suchen.“

„Das des Herrn Oberrevisor Gerhard de Walpergen“, gab er zur Antwort.

Eleonore wollte schon auf Peter deuten, doch der junge Herr war mit seiner Rede noch nicht fertig. „Mein Name ist Olaf van Dusteren. Ich soll dem Sohn des Hauses und seinem Freund für den Besuch des reformierten Pädagogiums das nötige Rüstzeug mitgeben. Oder anders ausgedrückt, ich bin der neue Hauslehrer.“

 

Fahrt nach Mannheim

1742

Es war der 21. Januar im Jahre 1742. Die Kutsche war vorgefahren und die Pferde dampften. Peters Vater bat seine Gäste einzusteigen. Die Fahrt ging nach Mannheim. Hunderte von Kutschen, Reitern und Fußgängern würden unterwegs sein.

Charles war der Unruhigste von allen. Er forderte seine Schwester auf, sich in die Ecke der Kutsche zu setzen und nahm sofort neben ihr Platz. Hatte er Angst, dass Peter oder gar August sich neben sie setzen könnten?

Vermutlich hatte Eleonore etwas ganz anderes im Sinn. Sie schob kurzerhand ihren Bruder in die Mitte, rückte nach und bot den freigewordenen Fensterplatz zum Erstaunen Augusts dem noch vor der Kutsche wartenden Olaf an. „Vielleicht möchte der Herr van Dusteren hier am Fenster Platz nehmen. Er wird die hiesige Gegend bestimmt noch nicht kennen und kann sich auf diese Weise einen Eindruck verschaffen.“

Der Hauslehrer hob kurz seinen Hut an, verbeugte sich und nahm mit einem charmanten Lächeln neben Eleonore Platz. „Wenn Mademoiselle so gütig sind und mir diesen Platz anbieten, werde ich ihn bestimmt nicht ausschlagen.“

August wartete mit seiner Einschätzung, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden entwickeln würde, noch ab. Jedenfalls saßen sie nun so eng nebeneinander, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen passte. Sie schienen sich zu mögen.

Ein größeres Problem war, wer sich auf den noch freien vierten Platz neben Charles setzen sollte. Peter, den er drangsaliert oder August, der ihn am Kragen gepackt hatte? Bestimmt würde Charles keinen großen Wert darauf legen, dass einer der beiden neben ihm sitzen würde.

Peters Vater bot eine elegante Lösung an. Er bestimmte, dass Peter und August auf der gegenüberliegenden Bank neben Weinert, einem Kollegen des Vaters, ihre Plätze einnehmen sollten. Charles verfügte nun auch über einen Fensterplatz und hatte viel Bewegungsfreiheit.

Herr de Walpergen gab das Zeichen und der Kutscher schnalzte mit der Peitsche.

Die Hauptstraßen in der Stadt waren gepflastert. Das machte zwar einen Höllenlärm, aber dafür war ein gleichmäßiges Fahren möglich. Kaum durchquerten sie das Speyerer Tor, begann das Geschaukel und Gewackel. Es war nicht so, dass das Fahren mit der Kutsche immer ein Vergnügen war. Man musste schon rüttelfest sein. Die neuen Eindrücke entschädigten nur zum Teil. Kein schöner Anblick war der Galgen, der gleich hinter dem Tor zu sehen war. Wahrscheinlich sollte er jedem, der hier vorüberfuhr, eine Mahnung sein, sich niemals vom Pfad der Tugend allzu weit zu entfernen. August wollte später Advokat werden und zeigte daher an allem, was mit Recht und Ordnung zusammenhing, großes Interesse.

Peter schreckte der Galgen eher ab. Er deutete darauf und bedeckte seine Augen. Am Querbalken baumelte eine Gestalt, bei der die herunterhängenden Fleischfetzen von den Lumpen nicht mehr zu unterscheiden waren. Die Raben stritten sich um die letzten Reste und pickten gierig das Mark aus den Knochen. Peter schüttelte sich vor Ekel und bat darum, schnell an dieser Stätte des Grauens vorbeizufahren. Sein Gesicht war bleich und fahl.

Ganz anders reagierte Charles. Er begeisterte sich an diesem Anblick, hüpfte vor Freude von seinem Platz in die Höhe und klatschte in die Hände. Peters Vater war, nach seinem Gesicht zu urteilen, schockiert und fragte den Nachbarsjungen, was ihn an dem schaurigen Anblick so erfreue.

Charles schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel und frohlockte: „So stelle ich mir vor, dass alle Ketzer enden.“ Dem reformierten Oberrevisor verschlug es die Sprache. Auch Weinert starrte den Jungen fassungslos an.

August bewunderte die Beherrschung des Herrn de Walpergen. Immerhin war er Mitglied des Rates der Kirchenältesten. Von Peter wusste er, dass sein Vater den Nachbarsjungen und seine Schwester aus wohlmeinender Absicht zu dieser Fahrt eingeladen hatte. Er wollte den beiden etwas Besonderes bieten. In Mannheim fand nämlich ein mehrtägiges Ereignis statt, von dem die Leute in der Kurpfalz noch lange zehren sollten und das in die Geschichtsbücher als Doppelhochzeit eingehen würde.

Vielleicht war Charles auch eingeladen worden, weil Peters Vater großes Verständnis für ihn aufbrachte. Er konnte sich denken, dass der Junge wegen seiner kurzen Beine oft gehänselt wurde. Sein Sohn litt auch an einem Gebrechen. So wie die Leute Taubstumme als Menschen minderer Klasse einstuften, so würden sie es auch mit denen tun, die mit einem körperlichen Defekt behaftet waren.

August bekam Gewissensbisse, denn auch er hatte Charles nicht mit Samthandschuhen angefasst. Aber hatte der Marquis deswegen einen Freibrief für schlechtes Betragen?

Als ob Eleonore die Gedanken des Herrn Oberrevisors erraten konnte, bedankte sie sich bei ihm für dessen Güte und Wohlmeinen: „Wir wissen zu schätzen, was Sie für meinen Bruder und mich, der gelegentlich etwas merkwürdig ist, tun. Wenn Charles hin und wieder abfällige Bemerkungen über Andersgläubige macht, dann müssen Sie das auf die gereizte Situation in der Stadt zurückführen. Es gibt viele Gehässigkeiten zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Religionen.“ Walpergen nickte verständnisvoll. „Wie recht du hast, mein Kind, aber es ist nun einmal der Wille des Landesherrn, dass alle Pfälzer katholisch werden sollen und da braucht man sich nicht zu wundern, wenn auch schon die Kinder diesem Wahn verfallen sind.“

Mit dieser Bemerkung hatte er das Interesse van Dusterens geweckt und dieser bat den Beamten der Geistlichen Administration um Aufklärung. „Ein andermal. Ich möchte die Gefühle des jungen Herrn Marquis nicht noch mehr herausfordern. Außerdem wird diese Frage jeder aus einer anderen Sicht beurteilen. Heute sehen wir einem freudigerem Ereignis entgegen, das möglicherweise solche Probleme in Vergessenheit geraten lässt.“

„Wenn Sie sich, mit Verlaub, bei der letzten Bemerkung deutlicher ausdrücken könnten“, insistierte van Dusteren, der in Heidelberg sein theologisches Studium abschließen wollte, um anschließend nach Berlin zu gehen. In der Zwischenzeit verdiente er sich seinen Unterhalt als Hauslehrer.

„Wenn Sie gestatten, gebe ich die Frage an meinen Kollegen Weinert weiter. Er archiviert in unserem ‚Lesezirkel’ die Gazetten und Journale und ist daher mit den aktuellen Ereignissen bestens vertraut.“

Weinert warf Walpergen einen dankbaren Blick zu und begann: „In Mannheim verheiratete der jetzige Kurfürst Karl Philipp vor zwei Tagen in Ermangelung eigener noch lebender Kinder seine zweiundzwanzigjährige Enkeltochter Elisabeth Auguste mit dem neunzehnjährigen Verwandten Carl Theodor, Herzog von Pfalz-Sulzbach. Er wird nach dessen Tod der neue Kurfürst werden. Und weil der junge Fürst dem neuzeitlichen Gedankengut der Aufklärung nicht abhold ist, hoffen viele Pfälzer, dass das Land in Zukunft einen offeneren, freieren, toleranteren Geist atmen wird.“

„Verstehe“, meinte van Dusteren, „aber warum wird von einer Doppelhochzeit gesprochen?“

„Weil der Kurfürst am gleichen Tag seine zweitälteste Enkelin Maria Anna mit Clemens, Herzog von Bayern, verheiratet hat. Und um noch eines draufzusetzen, verlobte er seine dritte und jüngste Enkeltochter Maria Franziska mit dem Pfalzgrafen Michael von Zweibrücken.“

„Das ist für die Mannheimer bestimmt ein Riesenspektakel“, schaltete sich Eleonore in das Gespräch ein.

„Es kommt noch besser“, Weinert holte erst einmal tief Luft bevor er weiterredete. „Es ist mehr als ein Zufall, aber just um diese Zeit wurde der bayrische Kurfürst Karl Albrecht zum Kaiser gewählt. Er befindet sich auf dem Weg nach Frankfurt zur Krönung und wird in Mannheim bei den Verwandten Station machen. Wenn wir Glück haben, werden wir seinen Einzug miterleben.“

Eleonore stieß einen kleinen Freudenschrei aus: „Vier geschichtliche Ereignisse in ein paar Tagen und wir sind dabei!“

Recht hat sie, dachte August, aber wie soll man sich die vielen Namen der fürstlichen Enkel und Urenkel, Nichten und Neffen merken? Und, muss man das überhaupt? Natürlich, sagte seine innere Stimme, ohne ein gewisses Maß an geschichtlichem Wissen kann die Welt nicht verstanden werden. Also muss man eben in den sauren Apfel beißen.

Eleonore schien auch mit solchen Gedanken zu kämpfen. Sie zog die Vorhänge zurück und schaute gedankenverloren in die vorüberziehende Landschaft.

Jetzt wäre eine gute Gelegenheit gewesen, dachte August, Eleonore von seiner ersten Begegnung mit Peter zu erzählen. Doch vielleicht interessierte das die anderen nicht. Er ließ daher die Bilder für sich alleine Revue passieren.

Es war vor sieben Jahren, als Walpergens noch in der Krämergasse in der Altstadt wohnten. Er hatte schon seit geraumer Zeit beobachtet, wie eine wunderschöne junge Frau an den Markttagen mit einem nobel gekleideten Jungen an der Hand die Gasse herunterkam. Eine Dienstmagd war auch dabei und ein Prachtkerl von Hund – ein dreifarbiger Spitz. Ein Glücksbringerhund, wie die Pfälzer sagten. Vielleicht nicht ganz rassenrein, aber temperamentvoll und pfiffig. August war ein Hundenarr. Vieles hätte er darum geben, wenn er selbst einen hätte besitzen dürfen. Sein Vater hatte nie etwas dagegen, doch der Inhaber des Hutladens erlaubte es unter keinen Umständen. Sie bewohnten zwei Kammern im Hinterhof und das ständige Bellen, so meinte der Patron, wäre dem Geschäft abträglich. Dieses Argument hatte er bis heute nicht verstanden, wo doch jeder Bürger, der etwas gelten wollte, einen möglichst ausgefallenen Hund an der Leine führte.

An jenem Tag beobachtete er, wie der Junge, während die Mutter und die Magd mit einem Bauern feilschten, dem Zigeuner, der im Triller seine Strafe absitzen musste, einen Apfel zwischen die Stäbe hindurchreichte. Das war streng verboten und wenn die Gendarmen einen erwischten, setzte es Hiebe.

August kannte diese Situation. Zwei Jahre zuvor saß genau an dieser Stelle am Marktplatz ein anderer Malefizbube im Triller. In einem unbeobachteten Augenblick gab er dem Eisenkäfig einen kräftigen Schubs, sodass der sich drehte und drehte. Dem eingesperrten Kerl musste übel geworden sein, denn er übergab sich fürchterlich. Er selbst war aus Angst, erwischt zu werden, schnell davongerannt. Hinterher schämte er sich wegen seiner Tat und schwor, nie mehr einem Bedrängten Leid zuzufügen, im Gegenteil, er wollte den Schwachen und Bedürftigen stets helfen.

Als der noble Junge dem Zigeuner den Apfel anbot, hatte er allerdings die Rechnung ohne Augusts drei Intimfeinde aus der Apothekergasse gemacht. Drei Erzkatholische von der schlimmsten Sorte. Diese mussten den Vorgang ebenfalls beobachtet haben, denn sie fingen auf einmal ein lautes Geschrei an: „Der Taubstumme gibt dem Gauner ´was zum Essen. Das ist verboten. Dafür muss er selbst an den Pranger.“ Nicht so laut, aber für August immer noch hörbar, zischelte einer: „Protestantisch soll er auch noch sein.“ Der Zweite sagte: „Heute könnten wir eine gute Tat vollbringen.“ „Wieso?“, fragte der Dritte. „Weil der Pater im Beichtstuhl doch immer sagt, dass wir für unseren wahren Glauben gute Taten vollbringen sollen.“ „Aha!“, der Fragende schien nun auch begriffen zu haben. „Wir verpfeifen den Ketzer an die Gendarmen!“

Die in der Nähe stehenden Marktbesucher wurden aufmerksam und schauten nach dem fremden Jungen, der in aller Seelenruhe vor dem Triller stand und dem Zigeuner mit Handzeichen zu verstehen gab, dass er ihm auch noch ein Stück Brot bringen würde. Natürlich konnte er nicht hören, dass die ‚Erzfeinde’ schon nach den Gendarmen riefen.

Eile tat Not. Kurz entschlossen zog August den Jungen hinter den Brunnen, überzeugte sich, dass die Leute wieder ihren Geschäften nachgingen und drückte den Verdutzen unter einen Kartoffelkarren. Er legte seine Finger über die Lippen zum Zeichen, dass er es gut mit ihm meinte und warf eine alte, verschmutzte Plane über ihn. Pfeifend und in den Himmel guckend lehnte er sich an das Wagenrad und sah wie ein unschuldiger Engel aus.

Mittlerweile waren auch seine Mutter und die Magd unruhig geworden. Sie sahen sich nach Peter um.

Zwei Gendarmen bogen gerade um die Ecke der Heiliggeistkirche. Das konnte nicht gut ausgehen. August wurde es heiß. Wenn die Magd jetzt den Hund von der Leine lässt, schoss es ihm durch den Kopf, würde der den Jungen aufstöbern und alles war umsonst. Er musste sich etwas einfallen lassen.

Auf alle Fälle jeden Auflauf vermeiden! Denn wenn die Marktleute ein kostenloses Spektakel witterten, waren sie unerbittlich. Er kannte sie, er wohnte dem Markt schräg gegenüber.

In aller Ruhe schlenderte er über den Platz, näherte sich der Madam und gab ihr ein Zeichen, sich ruhig und still zu verhalten, da ihr Junge in Gefahr sei. Dann deutete er mit den Augen in Richtung des Karrens. Leise murmelte er in sich hinein, dass die Gendarmen nach ihrem Sohn suchten. Sie solle ihm unauffällig folgen und die Magd bitten, mit dem Hund den Platz zu verlassen.

Madam verstand sofort. Über belanglose Dinge redend gingen sie über den Markt und als sie am Karren anlangten, flüsterte er ihr zu, dass ihr Sohn unter der Plane versteckt sei. Er werde später den Jungen zu ihr bringen. Er wisse, wo sie wohnten. Ein kurzes dankbares Nicken und Madam ging weiter.

Das alles war leichter gesagt als getan. Seine Intimfeinde setzten ihre Ehre daran, den ‚Ketzer’ zur Strecke zu bringen. Sie krochen in jeden Winkel und drehten jede Kiste um. Sie kamen dem Kartoffelkarren schon bedrohlich nahe. Er brauchte eine Idee. Ohne lange zu überlegen, stellte er sich breitbeinig, seine Ärmel hochkrempelnd vor die drei Jungen und lachte sie aus: „Da könnt ihr lange suchen! Euer ‚Ketzer’ hat sich schon längst aus dem Staub gemacht. In der Apothekergasse hat er sich hinter den Baderstuben verdrückt. Wenn ihr euch beeilt, erwischt ihr ihn noch.“

Die drei schauten sich verdutzt an, dann rannten sie wie die Wilden davon. Er wartete noch einige Minuten, dann zog er beiläufig die Plane zur Seite, ergriff die Hand des Jungen und zog ihn behutsam hinter sich her. Keiner beachtete sie. An der Ecke Krämergasse atmete er erleichtert auf und schaute dem fremden Jungen zum ersten Mal direkt ins Gesicht. Seine Augen strahlten so, als ob auf einmal alle Sterne leuchten würden. Seitdem waren sie Freunde und er verkehrte bei Walpergens, als ob er zur Familie gehörte.

 

Die Hälfte des Weges hatten sie schon hinter sich. In die Stille hinein zeigte Eleonore auf bunte Transparente und Girlanden, die die Dorfbewohner Edingens über die Straße gespannt hatten. „Wie lustig das aussieht. Das hat bestimmt etwas mit der Doppelhochzeit zu tun. Die Pfälzer müssen tatsächlich diesem Ereignis mit Freude entgegensehen.“

Weinert, der ein wenig eingeschlafen und jetzt wieder aufgewacht war, erzählte in diesem Zusammenhang von einer Begebenheit, die sich hier ereignet hatte. „Es ist eigenartig“, er zeigte auf einen Baum, „genau an dieser Stelle starb im Jahre 1685 Kurfürst Karl Ludwig auf seinem Rückweg von Mannheim nach Heidelberg. Seine Getreuen haben ihn im Stuhl sitzend nach Hause getragen. Heute ist es umgekehrt, da pilgern die Heidelberger in die neue Residenz nach Mannheim.“ Ein verständnisvolles Nicken Walpergens bestätigte Weinerts Angaben. Peters Vater war merkwürdig still geworden. Wahrscheinlich dachte er noch über die Äußerungen Charles̉ nach.

Nach zwei Stunden passierten sie die ersten Vorwerke Mannheims. „So habe ich mir die Residenz nicht vorgestellt“, rief Eleonore aus. „Sie sieht ja wie eine Festung aus. Breite, tiefe Gräben, dahinter meterhohe Wälle und dann die dicken Steinmauern. Mannheim muss uneinnehmbar sein, oder?“

„In der Tat, Mannheim ist als Festung entstanden“, bestätigte Weinert. „Erst mit dem Auszug des vorerwähnten Karl Philipp aus Heidelberg ist aus der Festung eine Stadt mit einer großen barocken Schlossanlage geworden. An die vierzig Jahre haben sie daran gebaut.“

„Und warum hat der Kurfürst Heidelberg verlassen?“, fragte Eleonore neugierig.

„Das soll dir dein Bruder erklären“ antwortete Weinert, „sonst heißt es wieder, die Reformierten sagen nur das, was ihnen passt.“

August feixte innerlich. Weinert drehte den Spieß um. Er war mehr als gespannt, ob Charles die historisch korrekte Version erzählen würde.

Zuerst hatte es nicht den Anschein, als ob der Marquis sich das zutraute, doch dann begann er: „Ich werde lediglich das sagen, was ich in einem Historienbuch gelesen habe, sonst heißt es, die Katholiken erzählen immer nur die ihnen genehme Version.“

Gut gekontert, dachte August. Der Kerl ist nicht dumm.

Charles schlug die Beine übereinander und rückte sich in den Polstern zurecht. „Also, es ist allen klar, dass jeder große Hof eine entsprechend repräsentative Hofkirche braucht. Nicht nur wegen der ausländischen Gäste, der Zeremonien, sondern auch der Grablege wegen. Und da bot sich natürlich die Heiliggeistkirche, die bislang die Reformierten gemeinsam mit den Katholiken nutzen, für den alleinigen Gebrauch des nunmehrigen katholischen Hofes geradezu an. Allerdings legte sich der reformierte Kirchenrat erst einmal quer.

Der Kurfürst fand schnell einen Grund, gegen diesen vorzugehen. Im ‚Standardwerk’ der Reformierten, dem ‚Heidelberger Katechismus’, wurde die achtzigste Frage: Was für ein Unterschied besteht zwischen dem Abendmahl des Herrn und der päpstlichen Messe?, unter anderem so beantwortet, dass die Messe im Grunde nichts anderes als eine vermaledeite Abgötterei sei.

Das war schwerer Tobak für die Katholiken und der Kurfürst ordnete an, den Katechismus einzuziehen. Die Situation eskalierte. Karl Philipp ließ die Mauer, die bislang den katholischen Chor vom protestantischen Schiff getrennt hatte, einreißen.

Jetzt ging der Kirchenrat auf die Barrikaden. Er wandte sich an die protestantischen Stände im Reich. Als diese beim Kurfürsten nichts bewirkten, gingen sie dazu über, die Katholiken in ihren Ländern unter Druck zu setzen. Ein neuer Religionskrieg stand bevor.

Der Kaiser musste eingreifen. Er befahl Karl Philipp bei dem Streit einzulenken und die Mauer wieder aufzurichten.

Dieser tat es und verlegte seine Residenz nach Mannheim mit der Drohung, die Neckarbrücke abzureißen und Heidelberg zu einem Dorf zu machen, in dessen Gassen nur noch Gras wachsen würde.“

„Bravo!“, rief Weinert begeistert, „das entspricht genau den historischen Gegebenheiten. Unvoreingenommener hätte ich es auch nicht erzählen können. Meine Hochachtung Herr Marquis!“ Selbst Herr de Walpergen nickte anerkennend und hoffte wahrscheinlich insgeheim, dass dies der letzte große konfessionelle Konflikt in der Kurpfalz war, denn der zukünftige Kurfürst Carl Theodor sei dem neuen, aufgeklärten Zeitgeist zugetan und würde mehr Duldsamkeit gewähren.

 

Jubel für den bayrischen Kaiser

1742

Das Fortkommen wurde immer schwerer je näher sie dem Schloss kamen. Es wimmelte von Besuchern. Die Straßen waren verstopft. Überall standen Karren und Kutschen im Weg, Pferde wieherten und Kinder kreischten um die Wette. Wie auf einem Jahrmarkt ging es zu. Pfiffige Mannheimer hatten sogar Buden errichtet. Es war Winterzeit. Da verkaufte sich Glühwein besonders gut. Für die Kinder übten das Magenbrot und die Bratäpfel einen unwiderstehlichen Reiz aus. Der Herr Oberrevisor öffnete sein Portemonnaie. Jeder durfte sich das aussuchen, nach dem sein Gaumen verlangte. August entschied sich für getrocknete Birnenschnitze, Peter für in Zimt getauchte Apfelringe. Das klang zwar bescheiden, aber Zimt war ein Gewürz, das mit Gold aufgewogen wurde.

Sie stellten ihr Gefährt in einer Nebenstraße ab und liefen das kurze Stück bis zur Breiten Straße. So hieß die Allee, die zum Schloss führte. Zu mehr als einem Stehplatz reichte es nicht. Und selbst das war nicht so einfach, denn an den Straßenrändern standen die Schaulustigen schon dicht an dicht und jeder versuchte, sich nach vorn in die erste Reihe zu schieben.

Obwohl August für seine vierzehn Jahre groß und kräftig war, musste er seinen Platz behaupten. Er stemmte sich mit Gewalt nach hinten, sonst hätten die Leute ihn auf die Straße geschoben. Die berittene Garde achtete peinlich darauf, dass die Straße frei blieb. Auf der gegenüberliegenden Seite patrouillierte die Bürgerwehr.

Eine Kutsche hielt direkt vor ihnen. Die Nebenstehenden tuschelten sich zu, dass darin der Graf von Oberndorff säße. Er sei für das reibungslose Passieren der kaiserlichen Kutschen verantwortlich.