ARTHUR C. CLARKE
DER STERN
Kurzgeschichte
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Als ihre Sonne ausbrannte und zur Nova wurde, erkannten die Bewohner dieses Sonnensystems, dass sie sich nicht würden retten können. Obwohl eine fortschrittliche Zivilisation, kannten sie keine Antriebsform, die ihnen interstellares Reisen ermöglicht hätte. Also errichteten sie auf dem äußersten Planeten eine gewaltige Kammer, in der sie Aufzeichnungen zu ihrer Geschichte und Kultur einlagerten, damit eines Tages Reisende von einem anderen Sternensystem erfahren würden, wer hier einst gelebt hat. Dieser Tag ist jetzt gekommen: Wissenschaftler von der Erde entdecken die Kammer und öffnen sie. Doch was sie aus den Aufzeichnungen über die fremde Sonne erfahren, stellt nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihren Glauben infrage …
Die Kurzgeschichte »Der Stern« erscheint als exklusives E-Book Only bei Heyne und umfasst ca. 10 Seiten. Sie ist auch in dem Sammelband »Die andere Seite des Himmels« von Arthur C. Clarke enthalten.
Arthur C. Clarke war einer der bedeutendsten Autoren der internationalen Science Fiction. Geboren 1917 in Minehead, Somerset, studierte er nach dem Zweiten Weltkrieg Physik und Mathematik am King's College in London. Zugleich legte er mit seinen Kurzgeschichten und Romanen den Grundstein für eine beispiellose Schriftsteller-Laufbahn. Neben zahllosen Sachbüchern zählen zu seinen größten Werken die Romane »Die letzte Generation« und »2001 – Odyssee im Weltraum«, nach dem Stanley Kubrick seinen legendären Film drehte. Clarke starb im März 2008 in seiner Wahlheimat Sri Lanka.
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Kapitel 1
Dreitausend Lichtjahre weit sind wir vom Vatikan weg. Ich habe einmal geglaubt, dass die Entfernung keine Macht über den Glauben haben könnte. Genau wie ich glaubte, dass die Himmel den Ruhm von Gottes Werken verkündeten. Jetzt habe ich diese Werke gesehen, und mein Glaube ist schmerzlich erschüttert.
Ich starre das Kruzifix an, das über dem Mark VI Computer an der Kajütenwand hängt, und frage mich zum ersten Mal in meinem Leben, ob es nicht nur ein leeres Symbol ist.
Ich habe es noch niemandem gesagt, aber die Wahrheit lässt sich nicht verheimlichen. Jeder hat Zugang zu den Daten, die auf den unzähligen Meilen von Magnetband gespeichert und auf den Tausenden von Fotografien aufgezeichnet sind, die wir zur Erde zurückbringen. Andere Wissenschaftler können sie ebenso leicht interpretieren wie ich – noch leichter höchstwahrscheinlich. Ich eigne mich nicht dazu, die Verfälschungen der Wahrheit zu entschuldigen, die meinem Orden in alten Zeiten so oft einen schlechten Ruf eintrugen.
Die Mannschaft ist schon bedrückt genug, ich frage mich, wie sie diese letzte Ironie aufnehmen wird. Wenige von den Leuten haben irgendeinen Glauben, und doch wird es ihnen keinen Spaß machen, diese letzte Waffe in ihrem Feldzug gegen mich einzusetzen – in diesem privaten, gutmütigen, aber im Grunde ernstgemeinten Krieg, der schon seit der Erde andauert. Es belustigte sie, einen Jesuiten als Chefastrophysiker zu haben: Dr. Chandler kam zum Beispiel nie darüber hinweg (Warum sind Mediziner eigentlich so notorische Atheisten?). Manchmal besuchte er mich auf dem Beobachtungsdeck, wo die Beleuchtung immer ganz schwach ist, damit die Sterne in unverminderter Pracht erstrahlen können. Dann trat er in der Dämmerung an mich heran, stellte sich neben mich und starrte aus der großen, ovalen Luke hinaus, wo die Himmel langsam an uns vorbeikrochen, während sich das Schiff durch den Restdrall, den wir nie korrigiert hatten, um seine Längsachse drehte.
»Nun, Pater«, sagte er dann schließlich. »Es geht immer und immer so weiter, und vielleicht hat ›Etwas‹ es gemacht. Aber wie Sie glauben können, dass dieses Etwas ein besonderes Interesse an uns und unserer elenden kleinen Welt hat – das geht einfach über meinen Horizont.« Dann ging die Diskussion los, während die Sterne und Sternennebel in schweigenden, endlosen Bögen vor der makellos klaren Plastikscheibe des Beobachtungsluks vorbeischwebten.
Es war, glaube ich, die scheinbare Widersprüchlichkeit meiner Position, die die Mannschaft … ja, die sie belustigte. Vergeblich wies ich auf meine drei Aufsätze in der ›Zeitschrift für Astrophysik‹ hin, auf die fünf Arbeiten in den ›Monatsnotizen der Königlichen Astronomischen Gesellschaft‹. Ich erinnerte sie daran, dass unser Orden schon seit langem für seine wissenschaftliche Arbeit berühmt ist. Vielleicht sind wir jetzt nur noch wenige, aber wir haben seit dem achtzehnten Jahrhundert immer Beiträge zu Astronomie und Geophysik geleistet, die in keinem Verhältnis zu unserer Anzahl standen.
Wird mein Bericht über den Phoenixnebel das Ende unserer tausendjährigen Geschichte bedeuten? Ich fürchte, er wird noch viel mehr beenden.
Ich weiß nicht, wer dem Nebel seinen Namen gab, der mir sehr schlecht gewählt scheint. Wenn er eine Prophezeiung enthält, dann ist es eine, die noch auf mehrere tausend Millionen Jahre hinaus nicht in Erfüllung gehen kann. Sogar das Wort Nebel ist irreführend: dieses System ist viel kleiner als jene gewaltigen Staubwolken – der Grundstoff für ungeborene Sterne –, die überall in der Milchstraße verstreut sind. Nach kosmischem Maßstab ist der Phoenixnebel sogar winzig – eine zarte Gashülle, die einen einzigen Stern umgibt.
Oder das, was von dem Stern noch übrig ist …
Der Rubensstich von Loyola scheint sich über mich lustig zu machen, wie er da so über den Aufzeichnungen des Spektrophotometers hängt. Was hättest du, Vater, aus dem Wissen gemacht, das in meine Hände gelangte, so weit entfernt von der kleinen Welt, die das ganze Universum war, das du kanntest? Hätte dein Glaube dieser Herausforderung standgehalten, so wie es dem meinen nicht gelungen ist?
Du blickst in die Ferne, Vater, aber ich bin in Fernen gereist, die du dir niemals hättest vorstellen können, als du vor tausend Jahren deinen Orden gründetest. Kein anderes Beobachtungsschiff hat sich je so weit von der Erde entfernt: wir sind direkt an den Grenzen des erforschten Universums. Wir sind aufgebrochen, um den Phoenixnebel zu erreichen, es ist uns gelungen, jetzt sind wir mit unserer Wissenslast auf dem Heimweg. Ich wünschte, diese Last würde mir von den Schultern genommen, aber ich rufe vergeblich nach dir, über die Jahrhunderte und die Lichtjahre hinweg, die zwischen uns liegen.
Auf dem Buch, das du in der Hand hältst, ist die Aufschrift deutlich zu lesen. AD MAJOREM DEI GLORIAM heißt die Botschaft, aber es ist eine Botschaft, an die ich nicht länger zu glauben vermag. Würdest du noch daran glauben, wenn du sehen könntest, was wir gefunden haben?