Den Galgenvogel abgeschossen

Parallelwelt-Roman

Christian Locker


ISBN: 978-3-903059-22-1
1. Auflage 2016, Krems an der Donau
© 2016 EDITION ROESNER

EDITION ROESNER - artesLiteratur

Bybliotheca

Titelbild: von Christian Locker ©: „Den Galgenvogel abgeschossen“, Öl auf Leinwand, 60 x 70 cm

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Christian Locker,

geboren 1963 in Wien; Unterricht in klassischer Ölmalerei bei Elis Stemberger; Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis; lebt heute als realistischer Maler und surrealistischer Schriftsteller in Wien und Schwarzau im Gebirge, Niederösterreich.

1984 – 1988 Mitarbeit an dem von Jörg Mauthe herausgegebenen Wiener Journal; zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften; einige Romane, zuletzt: „Setzen! Nicht genügend!“, Krems 2015 (siehe Seite 414/415).

Gefördert durch

das Land Niederösterreich


 

und das Bundeskanzleramt


 

 

Kapitel I - Menschliches Leid

Falls in näherer Umgebung Dinge geschehen, die gewisse Grenzen, wie etwa jene der Physik oder der Logik, überschreiten, sollte man schleunigst einen nassen Waschlappen zur Hand nehmen und sich damit ordentlich die Augen reiben. Wenn das noch nichts nützt, wäre es vielleicht angebracht, sich mit der flachen Hand saftig auf die Wangen zu schlagen oder fest ins Ohrläppchen zu zwicken. Jedenfalls existieren genug selbstheilende Methoden, um wieder auf den Boden realistischer Tatsachen zurückzukehren, wenn man für sich selbst mit einer großen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, stets alle Tassen im Schrank zu haben. Und Dr. Prunnhübner ist eigentlich noch nie in die Verlegenheit gekommen, an seinem Verstand zu zweifeln, zumal er felsenfest davon überzeugt ist, dass es im Grunde genommen nichts Unerklärliches gibt. Natürlich, und da geht er wohl mit jedem denkenden Zeitgenossen d’accord, kann man nicht alles wissen …, Prunnhübner etwa hat keine Ahnung davon, wie Dosensuppe in die Dose kommt oder weshalb der Mensch seine Zähne weit vor dem Tod verliert …, aber es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, alles in irgendeiner Form zu begründen. Das mit der Dose ist möglicherweise nicht wirklich von Belang, aber allein die Tatsache, dass eine Bouillon so abgefüllt werden kann, muss man einfach als erstaunliche Leistung eines produktiven Gehirns hinnehmen.

Bei den Zähnen ist das freilich etwas ganz andres. Zwar hat der humanoide Erfindergeist Methoden gefunden, das Manko eines ruinösen Gebisses prothetisch auszugleichen, doch, A, sind diese Methoden schweineteuer, und, B, lassen sie die Frage völlig außer Acht, wieso das natürliche Zahnmaterial ein derart frühes Ablaufdatum hat.

Normalerweise kreisen Dr. Georg Prunnhübners philosophische Überlegungen eher weniger um körperliche Befindlichkeiten, weil er noch kein Alter vorweist, wo sich andauernd das Zipperlein meldet. Allerdings hat man ihn gestern dazu überredet, an einem Kukuruzkolben zu nagen, und da geschah das Malheur!

Begonnen hat die ganze Widrigkeit bereits damit, dass er sich an dem brennheißen südamerikanischen Getreide die Finger verbrannte, aber aus Höflichkeitsgründen das üble Stück nach einigen Minuten ein weiteres Mal in die Hand nahm und wirklich hineinbiss. Eigentlich sollte man wissen, dass nur die kleinen, tropfenförmigen, gelblichen Karyopsen weich genug zum Essen sind und der darunterliegende Zylinder steinhart ist. Wieso Prunnhübner diese ihm seit Jugendtagen eingeimpfte Information nicht berücksichtigte und mit einer an Übermut grenzenden Tollheit überfest in den Kolben hineingebissen hat …, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen! Jedenfalls war das Resultat ein ausgebrochener unterer Vorderzahn, der dann auch noch klimpernd auf den Heurigentisch fiel, was die Prunnhübner umgebende Gesellschaft außerordentlich erheiterte. Für Georg war freilich der Abend in dieser Weinschenke gegessen, und er trank nicht einmal sein Achtel leer, sondern verabschiedete sich mit fadenscheinigen Gründen, um hierauf ungewohnt missmutig seinen Heimweg anzutreten. Den Zahn nahm er mit. Er war ja immer noch sein eigener, obwohl er nicht mehr dort positioniert war, wo er eigentlich hingehörte. Dass dann die darauffolgende Nacht eher zum Schmeißen war, konnte man auf mehrere Gründe zurückführen: erstens, nämliche Radikalamputation, zweitens, die da­raus resultierenden Sorgen und: drittens, die ungenügende Menge Wein, welche aufgrund seines verfrühten Abgangs seine nötige Bettschwere erschwerte.

Der Vorteil einer greisenhaften Bettflucht läge vielleicht darin, den Tag bereits zu einer Tageszeit zu nützen, wo andere noch im Bett liegen. Allerdings hat leider die unerhörte Sitte um sich gegriffen, dass gewisse Zeitgenossen ihr Mobiltelefon während der Schlafenszeit ausschalten. Wenigstens gehört sein Schulkollege Schwarz zu den Verweigerern jeglicher Modernismen, weswegen jener noch auf ein Festnetztelefon zurückgreift, welches unerbittlich zu jeder Nachtzeit Klingeltöne sendet. 5 Uhr 42 ist jedoch eindeutig Morgen, auch wenn der Freund: „Bist deppert?!“, in den Hörer brüllt.

Prunnhübner kann plausibel versichern, dass er noch alle Sinne beisammen habe, zumal Schwarz ja eigentlich selber Schuld in sich trägt, diesen etwas zeitigen Anruf erhalten zu haben. Wenn jemand einen Beruf ausübt, der sich der menschlichen Hilfestellung verschreibt, muss man ständig damit rechnen, mit Sorgen konfrontiert zu werden. Auch wenn es bei diesem Fall mit Sicherheit nicht um Leben oder Tod geht, hat man durch den hippokratischen Eid die unbedingte Verpflichtung übernommen, zum Wohle des Patienten Habt Acht! zu stehen, obwohl Prunnhübner darauf drängt, spätestens um halb 8 in der Ordination sein zu müssen.

„Okay, Georg …, ich bin gestellt …, vergiss deine e-card nicht!“

Prunnhübner ärgert sich natürlich, dass der Freund diesen maßregelnden Seitenhieb formuliert hat, spürt aber eine gewisse Erleichterung, nicht auf Honorarbasis behandelt zu werden.

Da nun mit dem Telefongespräch die erste Hürde des Tages genommen wurde und bis zum anvisierten Termin noch einige Zeit bleibt, stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, was man zum Frühstück zu sich nehmen sollte. Zwar existiert diese Lücke, aber man könnte vielleicht ein Butter- oder gar Honigbrot vorsichtig über diese Unfallstelle zu den Backenzähnen nach hinten schieben. Dennoch wägt Prunnhübner mit seiner Klugheit ab, ob es vor einer möglichen größeren Operation gescheit wäre, überhaupt Feststoffe in seinen Körper zu lassen und entscheidet sich für eine nur im Krankheitsfall angewendete Teezeremonie.

Weil der Wasserkocher schon vor einigen Jahren den Geist aufgegeben hat, muss ein Teekessel herhalten, und diese kochtechnische Verzögerung wird mit der Handlung des Zähneputzens überbrückt, da man ja auf einen Arztbesuch grundsätzlich hygienisch vorbereitet sein soll. Leider macht man bei dieser täglichen Handlung üblicherweise einen Blick in den Spiegel, und dieser lässt Prunnhübner ein wenig in eine Depression des Vergänglichen eintauchen. Wie konnte es geschehen, dass das Schicksal einem Mann im besten Alter den bösartigen Streich spielt, ein so ebenmäßiges Gesicht zu verunstalten? Dennoch gelingt es mit äußerster Vorsicht die Zahnpasta auf dem gesunden Schmelz so gründlich zu verstreichen, dass der üblichen Reinlichkeit Genüge getan wird.

Das Pfeifen des Kessels ruft Prunnhübner sowohl in die Realität als auch in die Küche zurück. Er hat sich sogar schon so weit im Griff, die Zuckerdose sofort wieder ins Regal zurückzustellen. Ebenso lässt er die Milch weg und wird den Tee schwarz wie ein Asket trinken, um keine widrigen Stoffe mehr an sein Gebiss zu lassen, jedenfalls so lange, bis sein Schulkollege ihn geheilt hat und er sich anschließend im Café Schwarthaler mit einem großen Frühstück inklusive zweier Eier im Glas den Bauch vollschlagen wird. Vorher sollte er jedoch dem Ministerium Bescheid geben, dass man heute und vielleicht sogar den Rest der Woche auf seine Führungspersönlichkeit werde verzichten müssen, weil jeder verstehen werde, dass dieser grauenhafte Unfall mit Sicherheit erst durch einen längeren Krankenstand völlig ausgeheilt sein werde.

Da jedoch sowohl die Küchen- als auch die Armbanduhr, obwohl nicht auf die Minute gleich, eine Zeitangabe von knapp nach halb 7 machen, kann gewiss noch niemand im Amt sein, dem er diese wichtige Information geben könne. So speist Prunnhübner schon wieder sein Telefon mit einer Privatnummer. Wenigstens scheint seine Sekretärin Fräulein Leuchtl gewissenhaft auch in der dienstfreien Zeit ihr Handy abzuheben, um für den Herrn Doktor alles in die Wege zu leiten oder dessen Termine zu canceln. Dass Prunnhübner nicht einmal ein „Danke“ gemurmelt hat, fällt ihm erst ein, als das Gespräch bereits beendet ist. Eigentlich ein Fauxpas, der einem Charmeur wie ihm bei Damen eher selten passiert. Aber irgendwie entspricht die Leuchtl so absolut nicht seinem Frauenbild, weil sie sich weigert, selbst am Arbeitsplatz Röcke zu tragen und außerdem seit einigen Wochen einen Kurzhaarschnitt wie ein Bundesheersoldat trägt. Überdies ist es unangebracht, am Arbeitsplatz seine Gspusis zu haben, jedenfalls am direkten Arbeitsplatz. Mit der Nachbarsektion ist das bereits etwas anderes, denn wenn die Abteilungsleiter so hässlich sind, dass diese bei den eigenen Sekretärinnen keinen Stich machen, dann darf man sich dort ruhig umsehen.

Tee zu früher Stunde, besonders ohne Zucker, Milch, Zitrone oder wenigstens Rum, hat schon etwas Grauenhaftes. Nur wenn man mit körperlichen Widrigkeiten geschlagen wurde, muss man wahrscheinlich zusätzliche Leiden, die im mittelbaren Zusammenhang mit seinem Schicksal stehen, ertragen. Deswegen steckt sich Prunnhübner, obwohl er nie vor seinem ersten Kaffee im Amt um etwa halb 10 raucht, nun eine Zigarette an. Mögliche Geruchsbelästigungen dem Zahnarzt gegenüber kann man ja mit einem Hustenzuckerl in erträglichen Schranken halten.

Dennoch macht sich beim Inhalieren leichtes Unbehagen breit, weil ein hörbares Pfeifen, wohl verursacht durch die schreckliche Lücke, zu vernehmen ist. Obwohl dieses Geräusch eigentlich die Lust auf eine zweite Zigarette vergällen sollte, zündet sich Prunnhübner für einen Selbstversuch eine weitere an, urteilt, dass er mit diesem auditivem Manko zum Gespött für jedermann, besonders jedoch für Frauen werden könnte und verfällt schon wieder in eine eindeutig trübselige Stimmung. Die Vorstellung, ausgelacht zu werden, war Georg schon seit frühester Jugend ein Gräuel, und obwohl es nicht oft vorgekommen ist, erinnert er sich doch an eine Situation zu Volksschulzeiten, wo eine gewisse Glauber Hilde, ein riesenhaftes Weib in der Bank vor ihm, sich darüber lustig machte, dass ihm ein Milchzahn just während der Singstunde aus dem Maul purzelte. Der kleine Georg hatte sich damals zwar stante pede gerächt und die Hilde wegen ihres dicken Hinterns, den Sommersprossen und den grauenhaften Zöpfen ausgelacht und natürlich gleich die ganze Klasse hinter sich gehabt. Aber dieses frühkindliche Erlebnis ist ihm gewissermaßen als Warnung in Erinnerung, wie manche Menschen mit körperlichen Makeln umgehen.

Wenigstens schritten die Zeiger der Uhren soweit voran, dass bereits die Zeit gekommen ist, Gewandung überzustreifen. Prunnhübner überlegt kurz, den Griff zur Krawatte wegzulassen, entscheidet sich jedoch selbst in der Phase des Leides Haltung zu bewahren und die Etikette beizubehalten. Ein höchster Staatsbeamter geht stets erhobenen Hauptes und mit Maßkleidung außer Haus! Das gebieten einfach die Ehrfurcht und Demut vor dem Staat.

Jetzt gilt es nur noch zu entscheiden, ob man sich einen Krankentransport oder ein profanes Taxi zu seinem Freund Schwarz bestellen sollte. Nachdem er sich sicherheitshalber durch das Telefonbuch vergewissert hat, wo denn die Wirkungsstätte dieses Zahnarztes beheimatet ist, fasst er den ungewöhnlichen Entschluss, seine Schuhsohlen außertourlich zu belasten. Denn wenn er mit seiner Einschätzung Recht behält, müsste man die Strecke bis zur Praxis in etwa 10 bis 12 Minuten bewältigen können.

Nachdem er den Hut auf den Kopf gesetzt, den Mantel übergestreift und den Gang betreten hat, sieht sich Prunnhübner bereits den Liftknopf drücken, erinnert sich aber, dass in letzter Zeit in der Kabine unangenehme Gerüche aufgetreten sind. Zwar hat er als kultivierter Mensch keine Vorurteile, aber der leise Verdacht liegt nahe, dass diese olfaktorische Beeinträchtigung mit den jugendlichen Mietern aus dem oberen Stock in Zusammenhang zu bringen ist. Und weil er heute nicht unbedingt mit zusätzlichen Ärgernissen konfrontiert werden möchte, beschließt er sich schrittweise stiegenabwärts zu bewegen.

Der erste Blick auf die Gasse lässt die Stimmung ebenso nicht steigen. Wieso sind jetzt schon so viele Fratzen unterwegs, wenn der gängige Schulbeginn auf 8 Uhr festgesetzt ist, übrigens ein Zeitpunkt, den Dr. Prunnhübner eindeutig als zu spät ansieht: Wenn Menschen in die notwendige Arbeitswelt integriert werden sollen, sollte man bereits Kinder mit einem frühestmöglichen Aufstehen konfrontieren, zumal die Fabriken ja auch nicht erst derart spät mit ihrer Produktion beginnen. Jedenfalls kämpft sich Georg tapfer durch die schultaschenschwingenden Bankerts durch, freilich darauf achtend, dass niemand sonderlich zu Schaden kommt. Wenigstens weitet sich an der nächsten Ecke der Gehsteig, und die Bedrohung erwachsener Fußgänger durch flegelhafte Jugendliche wird eindeutig geringer.

Jetzt geht es nur mehr an diesem Espresso vorbei, welches der Herr Doktor, obschon grundsätzlich dem Weine nicht abgeneigt, stets meidet, weil dort offensichtlich Menschen verkehren, die sich mit übler Renitenz der Arbeitswelt verweigern. Dr. Prunnhübner sieht sich durchaus nicht als Gegner eines gerechten Sozialstaates, doch wenn gewisse Individuen ihre erschlichenen Zuwendungen nicht in Brot oder Milch umsetzen, dann sollte der Staat mehr Handhabe haben, rigoros durchzugreifen.

Es ist das dritte Haus nach dieser zwielichtigen Schenke, in welchem sein Schulkollege ordiniert und überdies exakt halb 8, als Georg die Klingel drückt. Doch selbst nach mehrmaliger Betätigung der Läutvorrichtung tut sich nichts. Georg zieht seine Taschenuhr aus dem Gilet und muss mit eigenen Augen mitansehen, wie sich der große Zeiger unerbittlich von der Zahl sechs entfernt.

Doch erst als er den Siebener passiert, hört er durch den Verkehrslärm eine hohle Stimme, die so etwas wie: „Bin eh schon da …, Schorschi!“, ruft.

Einerseits war Dr. Prunnhübner dieser despektierliche Spitzname immer schon zuwider, genauso wie das schon seit der Schulzeit gepflegte Zuspätkommen dieses Rudolph Schwarz, doch andrerseits sitzt Georg eher auf einem kürzeren Ast, weil ihn ja gerade das Schicksal beutelt und außerdem dieser Dr. Schwarz nicht in irgendeinem beruflichen oder parteilichen Verhältnis zu ihm steht. So muss Georg selbst das proletoide Schulterklopfen und das nochmalige Wiederholen dieser furchtbaren Verhunzung seines Vornamens ertragen. Erst dann begibt man sich in das Innere eines prachtvollen Gründerzeithauses und in Folge in eine vor Marmor strotzende Ordination. Wenn man nicht selber durch aufopfernde Dienstjahre ein relativ tadelloses Gehalt erhielte, könnte man eventuell vor Neid platzen.

Dummerweise durchfährt es Prunnhübner nun ordentlich, weil trotz einer gegebenen Warnung das Unwahrscheinliche geschehen ist. Kleinlaut muss er zugeben, dass er tatsächlich seine e-card zuhause vergessen hat. In Anbetracht der Prunkräume könnte ihn dieses Missgeschick wohl teuer zu stehen kommen …

„Mach dir nicht ins Hemd …, Schorschi …, wir werden uns schon einigen …“ Dass der Rudi diese gefährliche Drohung auch noch mit einem Lacher unterstreicht, beruhigt Prunnhübner weniger. Zumindest besinnt sich jener endlich auf sein Fachgebiet und weist den Leidenden in einen weiteren Raum, in dem ein martialischer Stuhl auf seine Opfer wartet.

Prunnhübner hatte nie eine besondere Affinität zur Zahnmedizin, besonders wenn es um sein eigenes Gebiss ging, zumal er stets der Ansicht war, ein besonders gutes zu haben. So kann man die Zahnarztbesuche der letzten drei Jahrzehnte an einer Hand abzählen, wobei der letzte schon sicherlich mehr als 10 Jahre zurückliegt. Doch wieso soll man, wenn sich keine Notwendigkeit zeigt, gewissen Zeitgenossen Geld in den Rachen werfen? Prunnhübner geht ja auch nicht zur Pediküre wie sein Kollege Müller-Sobotnek, der sich aufgrund seiner Wampe die Fußnägel nicht mehr selber schneiden kann.

„Zeig amal, was Sache ist!“ Prunnhübner öffnet brav den Mund. „Das ist das Alter, Schorschi …, auch du bist nicht davor gefeit!“ Mit einem aufgerissen Mund eine Antwort zu geben, gilt als Ding der Unmöglichkeit, und so unterlässt Prunnhübner jegliche Bemerkung.

„Aber wir werden schon was machen …“ Wenigstens trägt dieser Satz etwas zur Beruhigung bei. Leider sieht Prunnhübner dabei auch schon die Euroscheine in Schwarzens Augen schwimmen, und die Pupillen formen sich langsam zu Geldsäcken. Dann beginnt der Pappenschlosser mit einem Mini-Schürhaken in tiefere Gefilde des Rachens vorzustoßen und scheut sich dabei nicht, in ungehöriger Weise am Schmelz zu kratzen, bis es an mehreren Stellen ordentlich weh tut. Auch bei dieser Prozedur wird Georg zum Schweigen verdammt, allerdings beginnt der Verdacht zu wachsen, dass der sogenannte Freund ein Sadist sein muss, denn er beendet die Quälereien auch nach offensichtlichem Schmerzgestöhne Georgs nicht.

„Das schaut ja aus wie im Schützengraben!“ Was diese abstruse Bemerkung bedeutet, kann sich Prunnhübner leider ausmalen. Und er beginnt inständig zu hoffen, dass er keines seiner Sparbücher antasten muss. Man zieht ihm ja eh schon enorm viel von seinem sauer verdienten Geld für die Krankenversicherung ab, und die hat doch die Pflicht, für einen honorigen Staatsbürger aufzukommen.

Nachdem der Rudi seine Finger aus dem Rachenraum genommen hat, pocht Prunnhübner endlich auf eine Diagnose.

„Der Vorderzahn ist kein Problem …“

„Was soll er denn kosten?“ Es zeigt immer von einer überlegten Handlung, sofort nach so etwas zu fragen.

„Das wirst du dir schon leisten können …“ Prunnhübner ärgert diese apodiktische Aussage. Kann sich denn ein Vertreter der reichsten Berufsgruppe überhaupt vorstellen, von wie wenig Salär ein Staatsbeamter leben muss?

„Hast du eigentlich den ausgebrochenen Zahn noch?“ Mit dieser Frage zeigt sich Prunnhübner zufrieden, zumal er dieses Corpus Delicti wenigstens nicht vergessen hat. Vielleicht besteht sogar die Möglichkeit, mit einer Art Klebstoff den Zahn wieder an seiner alten Stelle im Kiefer zu befestigen?! Gerade die Transplantationsmedizin soll ja mittlerweile beachtliche Fortschritte gemacht haben …

Freilich entlockt diese plausible Methode dem Fachmann nur ein müdes Lächeln: „So stellt sich der kleine Maxi …, also der kleine Schorschi die große Welt vor!“ Zusätzlich erdreistet sich der freche Kerl noch einige Lacher dieser despektierlichen Aussage anzufügen.

Prunnhübner hört wohl nicht recht! Was nimmt sich denn dieser Parvenü heraus? Wer glaubt er denn zu sein? Ein einfacher Pappenschlosser, dessen Blick auf die Welt sich auf Mundgeruch und faule Zähne reduziert und der von den wesentlichen Dingen der europäischen Politik kein Tuten und Blasen hat. Ein jämmerlicher Patron, den man eigentlich mit Verachtung strafen sollte, wenn er heute nicht diese unendliche Macht wegen dieses Vorderzahns hätte.

„Äh …, was wäre dann zu tun …, lieber Rudolph?“

„Da gibt es einige Möglichkeiten …“ Der darauffolgende Vortrag über Implantate strotzt vor Fachchinesisch und hat wahrscheinlich nur den Sinn, einen maladen Patienten vollkommen zu verwirren. Jedenfalls läuft das ganze Geschwafel darauf hinaus, dass man heute einmal gar nichts machen kann, weil …

Prunnhübner versteht zwar nur Bahnhof, doch trotzdem so viel, dass jetzt noch so etwas wie ein Abdruck gemacht wird, aber er dann einfach mit der schrecklichen Behinderung wie ein Hund zurück auf die Gasse geschickt werden wird. Nachdem Georg noch in eine ekelhafte Kunststoffmasse hineinbeißen und einige andere ungute Prozeduren über sich ergehen lassen musste, die allesamt erst in einer fernen Zukunft ihre Wirkung zeigen werden, bekommt er die Aufforderung, seinen Stuhl zu verlassen.

„In ein paar Tagen hast du deinen neuen Zahn!“ Wie zum Hohn hält Schwarz Prunnhübner dessen ausgebrochenes ektodermale Hartgebilde entgegen. „Den kannst du dir als Erinnerung mitnehmen.“

Was an diesem Satz lustig sein soll, übersteigt schon wieder Prunnhübners Toleranz, aber er findet sich mittlerweile damit ab, dass der Kerl ununterbrochen blöde Witze über sein Leid macht. Aber was dieser Schwarz nicht weiß: Prunnhübner hat einen sehr guten Freund in der Landeszahnärztekammer Wien sitzen. Der wird schon dafür garantieren, dass dieser ewige Lächler in Zukunft höchstens ausgeschlagene Zähne aus einem Boxring wegkehrt, aber nie wieder welche behandelt!

Kapitel II - Die Hofoper im Herbstlicht

Glückstage sind eher selten. Besonders, wenn eine pubertierende Tochter am Rockzipfel hängt, die einen am liebsten zum Teufel oder wenigstens ins Altersheim schicken möchte und nur deswegen noch zuhause residiert, weil Hotel Mama durchaus den Vorteil besitzt, nichts tun zu müssen …, von Arbeiten ganz zu schweigen. Doch Sabine hat schon längst aufgegeben, bei ihrem Nachwuchs den Moralapostel zu spielen, weil vom philosophischen Standpunkt Worte nur dann einen Sinn haben, wenn man erwarten kann, dass diese auch über das Ohr ins Gehirn dringen. Und selbst wenn die Tochter offensichtlich keine Probleme mit ihrer auditiven Wahrnehmung zeigt, treten immer wieder saftige Verständigungsschwierigkeiten auf. Allerdings hat Sabine irgendwie die Entscheidung getroffen, nicht weiter in der Parallelwelt ihrer Tochter herumzubohren.

Es grenzt zwar an eine Frechheit, dass der Chef die Unverfrorenheit besitzt, sie in ihrer Freizeit telefonisch und noch dazu frühmorgens zu belästigen, doch dessen Aussage, dass er heute nicht ins Ministerium kommen werde, birgt schon etwas Erfreuliches, zumal die Zusammenarbeit mit diesem eitlen Gecken nie Erbauung verspricht. Wenn er wenigstens irgendetwas am Kasten hätte, aber dieser Dr. Prunnhübner ist dumm wie Bohnenstroh. Falls er sein Doktorat nicht in der Lotterie gewonnen hat, müsste man ernsthaft hinterfragen, wie er überhaupt zu akademischen Weihen kam?!

Dass die Küche wie nach einem Bombenattentat aussieht, dürfte wohl von einer nächtlichen Fressattacke der Tochter herrühren. Natürlich könnte man froh darüber sein, dass das eigene Kind wenigstens nicht an Anorexia nervosa leidet, aber eigentlich bräuchte man selber starke Nerven, um bei so einem chaotischen Anblick keinen Magenkrampf zu bekommen.

Sabine nimmt es aus gegebenem Anlass heiter, findet wenigstens noch eine Scheibe Brot und lässt sich den Häferlkaffee schmecken. Natürlich wäre es möglich, mit dieser tadellosen Laune Ordnung in die Küche zu bringen, doch das wird sie partout nicht machen. Die Julia soll endlich erleben, wie sich der Weltenlauf in eine andere Richtung bewegt, und Sabine entscheidet sich mit innerer Belustigung, in nächster Zeit …, sagen wir einmal die kommenden drei Wochen …, gar nicht mehr aufzuräumen. Um diese Entscheidung zu bekräftigen, schickt sie gleich eine SMS an ihre Haushaltshilfe, dass diese den Rest des Monats nicht mehr zu kommen brauche. Natürlich tut es Sabine etwas leid, weil sie weiß, dass Zorica das Geld für die vier Stunden wöchentlich dringend benötigt …, aber sie wird sich bei ihrer guten Fee schon irgendwie anderweitig revanchieren.

Von Julia braucht sie sich gar nicht zu verabschieden, denn die schläft um diese Tageszeit fest wie ein Murmeltier und steht meist erst dann auf, wenn Sabine aus dem Ministerium nachhause kommt, um ein warmes Essen zu erhalten. Das wird‘s heute genau so nicht spielen. Denn erstens gilt es als ungesund, nach 15 Uhr schwer zu essen (Kardinal König zum Beispiel hat ab diesem Zeitpunkt nur mehr ein Joghurt zu sich genommen und wurde beinahe 100 Jahre alt), und zweitens ist man nicht der Teschek für eine gesunde 17-Jährige, die sich dem Tachinieren hingibt und dabei ordentlich Taschengeld kassiert. Was wäre, und Sabine wird in ihren Überlegungen langsam übermütig, wenn sie die Geldzuwendungen an die Tochter merklich reduzierte? Sie erinnert sich aus dem Philosophiestudium an das Ursache-Wirkung-Prinzip. Ob sich dann aus der Monokausalität eine Kausalkette ergibt, wird man möglicherweise bald feststellen, aber es wäre endlich einmal die Gelegenheit zu beobachten, was für eine Reaktion Julia dann zeigte.

Selbst wenn es wirklich Freude macht, gewisse Eventualitäten durchzuphilosophieren, was Sabine schon äußerst lange nicht mehr tat, ruft doch das Hamsterrad. Natürlich war es nicht schlecht, dass sie vor beinah 16 Jahren diesen Job im Ministerium bekam, weil es leider keine Binsenweisheit ist, dass das Studium der Philosophie keinerlei Qualifikation für ir­gendetwas bedeutet. Natürlich, sie hätte Politikerin werden können, denn diese Berufsgruppe zeichnet ein besonderer Dilettantismus in allen Dingen aus. Aber Sabine hat es nie geschafft, mehr als einmal zu irgendeiner Parteiveranstaltung zu gehen, weil es ihr unerklärlich erschien, wie Menschen stundenlang um den heißen Brei schwafeln können. So war es nicht selbstverständlich, diese Arbeit im Staatsdienst auszufassen, zumal normalerweise ein richtiges Par­teibuch als eigentliche Befähigung des österreichischen Beamten gilt. Allerdings, und das muss sie zugeben, konnte sie zumindest auf das in Österreich nicht unübliche Vitamin P (Protektion) zurückgreifen, weil ein Onkel von ihr einigen Ministern als beliebter Heurigenwirt galt und deswegen ein gutes Wort für sie einlegen konnte. Onkel Alois hatte dabei den Vorteil, dass die Minister in Weinlaune leicht bereit waren, allerlei zu versprechen. Und ein kleines Mädel in einer untergeordneten Position unterzubringen, auch wenn nicht von der eigenen, sondern von gar keiner Partei, war doch wahrhaft keine Schwierigkeit. (Dass Dr. Prunnhübner seinen Zahn justament in Onkel Aloisens Heurigen verlor, ist freilich Zufall.)

Zusätzlich hatte ja Sabine immerhin einen Magister vorzuweisen, selbst wenn ihr bald nahegelegt wurde, diesen im Ministerium lieber nicht zu führen, weil es diversen Ober-, Amts-, Hof- und Ministerialräten schwer zumutbar wäre, eine gewöhnliche Sekretärin mit Titel anzusprechen. Aber diese Tätigkeit ermöglichte ihr als alleinerziehende Mutter zumindest, das Kind relativ sorgenfrei großzuziehen, auch wenn sich das Produkt dieser Erziehung derzeit eher hinter einem Mantel des Schweigens verbirgt.

Irgendwie verspürt Sabine heute Lust, die Eingangstür mit Karacho zuzuwerfen, um Julia vielleicht ein bisschen in ihrer Traumwelt zu stören, hält sich aber zurück, weil sie von der Sinnlosigkeit dieser Maßnahme überzeugt ist.

Dennoch steigt in ihr das Gefühl auf, dass es ein angenehmer Tag wird. Das beginnt schon damit, dass in der Straßenbahn ein freier Sitzplatz wartet und kein uraltes Mutterl herumsteht, dem man diesen gleich wieder anbieten muss. Es setzt sich fort, weil gerade in dem Augenblick, wo sie die Tram verlässt, die Sonne durch den Herbstnebel dringt und eine angenehme Wärme auf ihrem Gesicht spendet. Als Schönstes gilt vorläufig die Tatsache, dass sie ein Bureau betritt, wo heute kein übellauniger Herr Doktor, der an jedem ihrer Schriftsätze etwas auszusetzen hat, hereinkommen wird. Dabei weiß Sabine genau, dass der Herr Dr. Prunnhübner höchstens das Schreibtalent eines minderbegabten Volksschülers besitzt, weil sie oft genug aus den stümperhaften Aufzeichnungen des Vorgesetzten gerade Sätze bilden musste. Allerdings verwendet Prunnhübner in letzter Zeit sowieso nur mehr das Diktaphon und macht sich nicht mehr die Hände mit einem Kugelschreiber oder einem Bleistift schmutzig. Dennoch ist die Arbeit für die Sekretärin dadurch nicht leichter geworden. Eher das Gegenteil trifft zu. Der Herr Doktor zeigt sich zwar in freier Rede relativ sattelfest, was bedeutet, dass die Sätze Hand und Fuß, also wenigstens Subjekt und Prädikat haben, doch was den Sinnzusammenhang angeht, befindet sich Prunnhübner meist in einem böhmischen Dorf. Wenigstens hat Fräulein (ohne Magister) Leuchtl eine mehr als grundsätzliche Ahnung, worum es in dieser Abteilung geht und hält das Radl eher in Alleinverantwortung am Laufen.

Heute wird zwar auch als Allererstes Kaffee zubereitet, aber diesen braucht sie nicht im Repräsentations-Bureau nebenan servieren, wo sie gewöhnlich statt eines Dankeschön mit einem rüden Ton bedacht wird, weil etwa zu wenig oder zu viel Milch in der Tasse schwimmt oder der Löffel auf der falschen Seite der Untertasse liegt. Auch wird nicht fordernden Untertons gefragt, ob sie den Akt sowieso schon erledigt habe, obwohl sie diese Information bereits mehrmals, so zum Beispiel gestern kurz vor Dienstschluss, also gegen 17 Uhr gegeben hat. Dahingehend ist Dr. Prunnhübner im Gegensatz zu anderen höheren Ministerialbeamten schon gewissenhaft, weil er wirklich selten früher die Abteilung verlässt. Allerdings weiß Sabine, dass der Herr Doktor von 13 bis 16 Uhr 30 durchschläft, weil die Schnarchgeräusche bis zu ihr ins Sekretariat vordringen.

Natürlich hätte sie ausreichend zu tun, da sich die Akten bis zur Decke stapeln und sie gar nicht darauf angewiesen wäre, zu warten, welchen Auftrag der Herr Doktor erteilen würde, weil jener keinen blassen Dunst besitzt, welche Causa gerade ansteht. Seine einzige wesentliche Funktion besteht darin, die erledigten Papiere mit seiner Füllfeder persönlich zu unterfertigen. Den Stempel hat dann wieder das Fräulein Leuchtl zu affichieren.

Die ungewohnte Ruhe sollte doch entspannen, aber in Sabine nagt das Pflichtbewusstsein, mit der täglich gewohnten Arbeit zu beginnen. Sie startet ihren PC und fährt mit der Maus zu den Dokumenten, als sie sich die berechtigte Frage stellt: „Wieso mach ich das eigentlich?“ Von ihrer Position her wäre sie nur verpflichtet, den Anordnungen Dr. Prunnhübners Folge zu leisten, denn wenn man so ein mageres Gehalt ohne Zulagen lukriert, darf niemand erwarten, dass selbstständig gedacht und eigenmächtig gehandelt wird. Und da ihre Ohren noch nicht mit dem widerlichen Organ des Doktors belästigt worden sind, besteht doch eigentlich keine Veranlassung, irgendetwas in einer dienstlichen Richtung zu tun. So wird sie auch keine amtlichen E-Mails lesen, denn es ist ja sowieso keines an sie persönlich gerichtet. Eigentlich berücksichtigt niemand, dass keiner von den höheren Tieren die Mails selber schreibt, liest oder geschweige denn beantwortet. Das haben immer die kleinen Schackeln zu machen.

Sabine tut einmal nichts. Nach menschlichem Ermessen wird weder die Republik in sich zusammenbrechen, noch dieses Ministerium Konkurs anmelden, wenn sie auch einmal die Patschen hochlegt und Däumchen dreht. Im Grunde genommen ist doch das meiste, was hier aktenmäßig abgehandelt wird, von einer geradezu himmelschreienden Unwesentlichkeit und dient lediglich dazu, gewisse Werkel in Gang zu halten, die dann garantieren, dass sich wiederum weitere Werkel bewegen, damit man glaubt, dass hinter all dem, was so geschieht, eine Sinnhaftigkeit steht. Aber was kratzt es jene Menschen, denen zum Beispiel tagtäglich die Bomben um die Ohren fliegen, ob in diesem Pimperlland Österreich ein fragwürdiges Projekt mit einer Förderung bedacht wird, nur weil sich dort eine Gruppe von Politikern die Solidarität mit der Dritten Welt auf die Brust heftet?! Oder kann man von Menschen, die nicht einmal einen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, Verständnis dafür erwarten, dass nur zertifizierte Weine auf offiziellen politischen Banketten angeboten werden sollen?!

Mag. Leuchtl hätte noch tausende Argumente auf Lager, mit denen sie ihren und besonders Prunnhübners Tätigkeitsbereich ad absurdum führen könnte, aber bereits in Studienzeiten hat sie es als sinnlos angesehen, dass die Philosophie sich hauptsächlich mit der Absurdität der menschlichen Existenz beschäftigt, anstatt einfach klipp und klar die Erkenntnis zu postulieren, dass …

Da ist doch jemand im Bureau nebenan! War das nicht eben ein Pumperer? Sollte sich der Prunnhübner doch entschlossen haben, seinen Krankenstand zu beenden? Aber er müsste doch an ihr vorbeigekommen sein, denn es existiert kein weiterer Zugang zu seinem Schreibtisch beziehungsweise der Ledergarnitur mit dem Mahagoni-Couchtisch. Dennoch glaubt Sabine eindeutig noch ein leichtes Hüsteln hinter der Tür zu vernehmen, was die Überlegung nährt, ob man vielleicht Nachschau halten sollte.

Dass eine unbefugte Person eventuell über ein Fenster eingestiegen sein könnte, kommt ihr gar nicht in den Sinn, weil es unlogisch erscheint, am helllichten Tag im dritten Stock eines Ministeriums einzubrechen. Außerdem, was sollte man dort drinnen mitgehen lassen? Dass ein Gauner die schweren Möbel mitnimmt, die natürlich dem Steuerzahler einiges gekostet haben, braucht man gar nicht andenken, und ob die großen Ölbilder mit verschiedenen Wienansichten einen großen Verkaufswert haben, kann sich Mag. Leuchtl ebenso wenig vorstellen. (Ein halb vom Vorhang bedecktes Bild allerdings passt thematisch nicht dazu, es handelt sich um das römische Kolosseum.)

So betritt sie mit einer Unsicherheit den Raum, ob ihre heitere Stimmung ins Bodenlose fallen könnte, wenn sich der Prunnhübner doch irgendwie anwesend zeigte.

Dass sich jemand im Raum befindet, ist klar. Dass es nicht der Herr Doktor ist, könnte man mit einigen Pluspunkten werten, die sich allerdings wieder reduzieren dürften, zumal die Person, die momentan vor ihr steht, neben der persönlichen Unbekanntheit eine ziemlich wenig vertrauenswürdige Ausstrahlung an den Tag legt. Das könnte damit zusammenhängen, dass man solche Kleidung zwar aus Kostümfilmen kennt, aber im normalen Leben eigentlich nie sieht. Sabine stößt sich nie daran, was andere Leute anziehen, weil es ihr selbst wurscht ist, was sie trägt, wenn man von Kleid oder Rock absieht. Weshalb diese fremde Frau ein bodenlanges Kleid präferiert, ist natürlich ihre eigene Angelegenheit …, aber die weißrosa Spitze, die himmelblauen Blumenornamente und die abenteuerlich eng geschnürte Taille haben schon etwas Lächerliches, weil man mit Garantie annehmen muss, dass hier gerade kein historischer Film gedreht wird. (Die fast durchsichtigen Handschuhe mit der Blumenborte sind noch der Drüberstreuer.) Diese Gewissheit wirft freilich die Frage auf, wer diese Person ist, was sie hier macht und wie sie ungesehen hereinkam? Sabine fühlt sich befugt, danach zu fragen.

Dass der Unterton nämlicher Frage eher barsch rüberkommt, kann man durch die merkwürdige Situation begründen. Denn wenn sich jemand unbefugt in Amtsräumen aufhält, noch dazu in einem Faschingsstyle, müsste man doch erwarten können, eine befremdete Reaktion hervorzurufen. Mit Sicherheit wollte Sabine dieser Person keine Tränen entlocken und schon gar nicht, dass Wasserfälle dieser salzhaltigen Körperflüssigkeit aus den Augen strömen.

Natürlich folgt nun der Satz: „Beruhigen Sie sich doch …, ich mache Ihnen ja nichts …“ Allerdings sollte Mag. Leuchtl nun selbst Ruhe bewahren, weil ihr möglicherweise eine Verrückte gegenübersteht. Wahrscheinlich hat ohnehin jeder Mitarbeiter dieses Ministeriums einen Hieb, aber eher im noch nicht völlig pathologischen Rahmen. Hier jedoch scheint es sich um einen schwereren Fall zu handeln, sodass Sabine versucht, mit marginalen psychologischen Kenntnissen die Situation zu meistern: „Setzen Sie sich erst einmal …, und erzählen Sie …“

Während Sabine überlegt, was sie eigentlich wissen möchte, fällt ihr Blick auf den großen Ölschinken hinter dem Schreibtisch, mit der Ansicht der Ringstraße vor der Oper um etwa 1900. Wenn die Augen ihr jetzt keinen Streich spielen, ist da doch einiges nicht koscher. Denn sie kennt dieses Bild insofern gut, weil sie sich angewöhnt hatte, jedes Mal, wenn Dr. Prunnhübner mit Schimpftiraden einherkommt, auf das Gemälde statt in die Schweinsäuglein dieses Ungustls zu blicken. Im Vordergrund promenieren Menschen in eben solchen bodenlangen weißen oder rosa (ältere Damen auch in violetten) Kleidern beziehungsweise dunklen Gehröcken oder Uniformen. Auf den Köpfen befinden sich bei den Damen breite und bei den Herren hohe Hüte – oder Militärkappen. Der Ring wird mehrheitlich von Kutschen befahren, aber auch eine von Pferden gezogene Straßenbahn hat ihre Fahrgäste. Die Oper im Hintergrund scheint irgendwie perspektivisch verzogen, was weniger für die Qualität des Künstlers spricht, weil es sich insgesamt um eine realistische Szenerie handelt.

Doch dort rechts im Bild befindet sich nun ein weißer Fleck, der zwar in den Konturen eine menschliche Gestalt erahnen lässt, aber eindeutig gestern noch nicht da war. Sollte die nun immer bitterlicher flennende Frau dieses Bild etwa beschädigt haben? Man weiß ja, dass manche Geistesgestörte ihre Aggressionen gegen Kunst wenden, aus welchen Gründen auch immer …

Dennoch geht Sabine der Dame langsam, aber vorsichtig entgegen, nimmt sie leicht am Arm und geleitet sie zu einem der wuchtigen Fauteuils der Ledersitzgarnitur. Beinahe wäre sie dabei noch über den breitkrempigen Damenhut, der am Parkett herumkugelt, gestolpert. Als sie den Hut aufhebt und sich neben diese merkwürdige Frau setzt, bewirkt ein weiterer Seitenblick auf das Bild einen völlig abwegigen Verdacht. Dieser wird auch durch die Tatsache genährt, dass oben auf der Malerei buchstäblich eine Gestalt fehlt.

Aber dass diese irgendwie herausgefallen sein soll, übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Klug wäre es möglicherweise, sich leicht auf den Hinterkopf zu klopfen. Sabine reibt sich jedoch nur die Augen, als ob dadurch dieser Spuk ein Ende hätte. Leider nicht. Die Dame befindet sich immer noch hier, scheint aber ihre Emotionalität etwas in den Griff zu bekommen, weil die Tränen versiegen. Allerdings beginnt sie sich nun auf das Bild zu fixieren, wobei ihre behandschuhte Hand zur farbenfreien Stelle im Gemälde weist. Dazu kommen jetzt auch noch Wortfetzen, denen man erst einen Sinn zuordnen müsste: „Dort …, Oper …, wieso …, das gibt es doch nicht …!“

Sabine, durch stete Kommunikation mit einer Jugendlichen durchaus im Decodieren unverständlicher Wortfetzen (hier paaren sich diese noch mit einem seltsamen Dialekt) geübt, reimt sich Folgendes zusammen: Wenn man einmal die Tatsache weglässt (und Philosophen müssen manchmal mit radikalen Denkansätzen beginnen), dass es völlig unmöglich sein kann, aus einem Bild herauszukommen, könnte diese Frau womöglich leibhaftig vor kurzem über den Ring stolziert sein. Jedenfalls werden ihre Aussagen nun insofern verständlicher, weil sie Stein und Bein behauptet, eben einen Spaziergang unternommen zu haben und sich nicht vorstellen zu können, wo sie jetzt überhaupt sei.

Sabine erklärt der Unglückseligen wahrheitsgemäß, wohin es sie verschlagen hat. Doch diese Information dringt zwar höchstwahrscheinlich über das Trommelfell in das Innere des Kopfes, kann aber dort vom Gehirn nicht verarbeitet werden. Sabine, der dieses Unverständnis nicht entgeht, versucht sich nun vorzustellen, wie sie diese Situation meistern würde und kommt zum Schluss, dass es selbst für sie nicht alltäglich ist, jemanden in Fleisch und Blut inklusive Spitze neben sich zu haben, der eigentlich in Essig und Öl gemalt wurde. Freilich hat sie irgendwie das Gefühl, dass ihr die Aufgabe zuteil kommen soll, Licht ins Dunkel zu bringen. Möglicherweise sollte sie einmal so beginnen: „Ich bin die Sabine …, wer bist du?“

Große grüne Augen sehen Sabine an, als ob sie deppert wäre. Es stimmt, diese Fragestellung hatte schon etwas Dümmliches an sich, aber wenn man sich gegenseitig vorstellt, schafft das möglicherweise eine Ebene des Vertrauens. Jedenfalls kommt tatsächlich eine Antwort, allerdings in einer Sabine unverständlichen Sprache: „Tregotschnigg …“ Vielleicht handelt es sich bei dieser Person um eine Österreicherin mit Migrationshintergrund, die in Anbetracht der Situation in ihre Muttersprache wechselte …?

„Äh …, wie bitte?“

„Mein Name sei Tregotschnigg …, Alma von Tregotschnigg …, kann Sie, bitte …, kann Sie mir Hilfe geben …!“ Lei­der beginnen schon wieder die Tränendrüsen mit einer Flüssigkeitsproduktion, was aber Sabine veranlasst, zu versprechen, alles nur Mögliche zu tun. Vorher müsse sie aber noch einiges in Erfahrung bringen. Auch wenn Mag. Leuchtl psychoanalytische Sitzungen nur aus dem Fernsehkastl kennt, tut sie so, als verstünde sie etwas von der Sache. Sie beginnt damit, dass diese Alma einfach frei von der Leber weg erzählen solle, was so in den letzten Stunden oder auch nur Minuten geschehen wäre.

„Das sei meinem Verständnis entglitten …“ Wenigstens vertragen sich reden und weinen keineswegs, und durch den Redefluss wird der Tränenfluss geringer. „Wir …, also meine werte Frau Tante Henriette und ich …“

Sabine hört eine ziemlich banale Geschichte, die in einigen unnötigen Ausschweifungen gipfelt, wie, dass der Einspänner eine zu dünne Schlagobershaube gehabt haben soll oder dass die Frau Tante von einem Zipperlein geplagt wird. Allerdings kommt es auf Folgendes hinaus: Nach dem Kaffeehausbesuch habe man sich entschlossen, in der Herbstsonne (das Bild ist wirklich in ein herbstliches Licht getaucht, wie sich Sabine noch einmal vergewissert) einen Spaziergang zu unternehmen. Man wollte vom Café an der Hofoper vorbei und dann bei den Museen einen Fiaker mieten, weil es der Frau Tante mit ihren angeschwollenen Füßen schwer zumutbar gewesen wäre, länger auf den Beinen zu sein. Mit dieser Kutsche habe man dann die Absicht gehabt, die Heimfahrt anzutreten. Doch gerade, wie sie sich gegenüber der Oper befanden, sei der Frau Tante der Gehstock aus den Händen entglitten, und just wie sich Alma bücken wollte, wurde ihr schwarz vor den Augen.

Kein Wunder, bei dem eng geschnürten Mieder, muss Mag. Leuchtl sofort denken.

Dann sei es so gewesen, als würde der Boden unter den Schuhen weich werden. Das Straßenpflaster habe wie ein Kautschuk nachgegeben. Plötzlich tat sich dann noch ein Spalt auf, und ehe sie sich irgendwo festhalten konnte, ist sie dann da hinten unter dem Bild gelegen. „Ja …, dort …, ja, dort …“ Alma fuchtelt mit den Fingern Richtung Gemälde. „Das ist doch die Tante …, ihr Kleid …, ihr Kleid … und der Stock …“ Die Tante hält freilich die Gehhilfe mit dem silbernen Knauf nicht in Händen, sondern diese scheint ihr gerade aus selbigen zu fallen.

Als ob die Anwesenheit dieser Alma von Tregotschnigg nicht schon genug der Absurdität wäre, verschwindet der Stock augenblicklich – und das sehen sowohl Sabine als auch Alma – aus dem Bild, wobei ein ganz schmaler weißer Streifen übrig bleibt. Im selben Moment purzelt er schon, nunmehr in voller Größe, unten aus dem Bild heraus.

Wer von den beiden Frauen mehr erschrickt, ist schwer zu beurteilen, doch bei Alma äußert es sich in einem hysterischen Schrei. Sabine hingegen fühlt nur einen Stich in der Magengegend, behält jedoch die Fassung. Nicht nur das, sie erhebt sich sogar von der Fauteuillehne, auf der sie neben Alma gesessen ist, und nähert sich dem Stock. Leider hat sie dabei nicht die Rechnung mit der Tatsache gemacht, dass die ganze Chose noch nicht vorbei ist. Wenigstens zeigt Sabine eine tadellose Reaktion und kann sich gerade noch in Sicherheit bringen, als der nächste Körper aus dem Bild purzelt. Es handelt sich um die Tante!