ISBN: 978-3-903059-36-8
1. Auflage 2016, Krems an der Donau
© 2016 EDITION ROESNER
EDITION ROESNER - artesLiteratur
Bybliotheca
Im Lektorat: Mag. Sabine Stalujanis
Titelbild von Christian Locker ©: „Setzen! Nicht genügend!“, Öl auf Leinwand, 70 x 80 cm
Alle Rechte vorbehalten.
Christian Locker,
geboren 1963 in Wien; Unterricht in klassischer Ölmalerei bei Elis Stemberger; Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis; lebt heute als realistischer Maler und surrealistischer Schriftsteller in Wien und Schwarzau im Gebirge, Niederösterreich.
1984 – 1988 Mitarbeit an dem von Jörg Mauthe herausgegebenen Wiener Journal; zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften; Romane: Einfach jeder, 2011; Wann endet die Gemütlichkeit?, 2012; Im Berg(l), 2013.
Gefördert durch
das Land Niederösterreich
und das Bundeskanzleramt
Wenn das Leben einem präsumtiven Autor
die Möglichkeit gibt,
den dahingehend richtigen Lehrer zu finden,
kann man sich glücklich schätzen.
Hoffentlich bin ich ein gelehriger Schüler von
David Axmann (1947 – 2015)
gewesen.
Ich wage deswegen,
ihm dieses Buch zu widmen!
Im Grunde genommen bleibt man ein Leben lang Kind, jedenfalls wird einem diese psychologische Binsenweisheit ununterbrochen aufs Aug gedrückt. Ladinoski hätte freilich berücksichtigen sollen, dass die gute Fee nicht nur metaphorisch im Märchen existiert und manche Wünsche kein frommer Wunsch bleiben, auch wenn das weitaus besser gewesen wäre. Aber wie, und das Thema kaut er schon zum abertausendsten Mal durch, sollte man vorher wissen, dass überhaupt nichts von dem, was seit Menschengedenken über den Tod gesagt oder geschrieben worden ist, stimmt?
Wieso ist es möglich, dass sämtliche Religionsstifter und ihr bis heute tätiger Anhang so einen absoluten Unsinn über die letzten Dinge verzapft haben? Es kann doch nicht sein, dass sie alle einem Irrtum erlegen sind, weil sie sich in ihren Prophezeiungen entweder auf eine göttliche Eingebung oder sogar direkt auf den Schöpfer persönlich bezogen haben. Wenn man böse wäre, könnte man sogar meinen, die Menschheit wurde mit solch gängigen Anschauungen bewusst in die Irre geleitet, weil es einfach praktisch ist, sich den Himmel voller Geigen und den Tod als Hinübergleiten in eben diesen vorzustellen.
Ladinoski geht das ständige Im-Kreise-Drehen schon ziemlich auf die Nerven, das Dumme ist nur, er hat so unendlich viel Zeit, weil er den lieben langen Tag nur mit Fressen und Scheißen beschäftigt ist. Auch wenn ein Akademiker sich üblicherweise einer gepflegteren Ausdrucksweise befleißigt, kann man besonders für die Nahrungsaufnahme keinen euphemistischeren Begriff als diesen finden. Denn, wenn man tagtäglich das absolut Gleiche vorgesetzt bekommt, kann einem das eindeutig zum Hals heraushängen. Gerade die Art und Weise, wie das Essen in den Körper gelangt, erscheint bei seinem Alter eher fragwürdig.
Doch welches Alter hat er denn wirklich? Wenn er seinen Erinnerungen trauen kann, und diese erstrecken sich nahezu über ein ganzes Leben, gibt es ein eindeutiges Geburtsdatum mit einer amtlich festgelegten Jahreszahl inklusive Tag und Monat. Natürlich feierte er in den letzten Jahren seine Geburtstage nicht mehr so ausschweifend wie früher, was klarerweise damit zusammenhängt, dass er in den letzten Dezennien viel weniger Alkohol als früher vertragen hat. Ja, mit zwanzig ist ein Club 2, also die Vernichtung eines Doppelliters Wein noch kein Problem, nur mit 50+ muss man der Leber leider etwas Tribut zollen, und man spürt beim siebenten Spritzer schon eine ziemliche Nebelsuppe im Schädel. Doch diese körperliche Problematik liegt gegenwärtig so unendlich weit entfernt, dass er es sogar genießen würde, einen ordentlichen Brummschädel auszufassen.
Leider beginnt er in diesem Moment zu rechnen, da auch diese Gabe weiterhin vorhanden scheint, obwohl die Finger dazu noch nicht verwendet werden können. Selbst, wenn man das Jugendschutzgesetz, welches man als Jugendlicher sowieso auf die leichte Schulter nimmt, missachtet, sollte es noch an die zehn Jahre dauern, bis der erste heimliche Schluck aus dem Likörschrank im Wohnzimmer genommen wird, worauf natürlich, weil man sich dummerweise erwischen lässt, ein schreckliches Donnerwetter folgt. Ebenso kann man den Schimpftiraden nicht entkommen, wenn man vom Hof mit leichter Schlagseite zum Abendessen auftaucht, weil einem der ältere Bub von der Nebenstiege Bier eingeflößt hat. Von dem Zeitpunkt an wird es wieder ewig lange dauern, so sechs bis sieben Jahre, bis man das Geld, welches man für die Tanzschule anlegen sollte, in Wein umsetzen wird. Deswegen bekommt man zusätzlich weitere Probleme, weil man nicht einmal den einfachsten Tanzschritt beherrscht, aber gefordert wird, dass man mit seiner Cousine den Opernball eröffnet
Christoph denkt mit süßer Bitternis an jene Zeit zurück, die seine Zukunft werden wird. Allerdings ist die Erbaulichkeit getrübt, wenn man, wie in der augenblicklichen Handlungsunfähigkeit, mit elendiglicher Langeweile gestraft wird, zumal es nicht einmal gelingt, im Kopf Schach zu spielen, um den schrecklich langen Tag hinzubiegen. Auch macht es keinen sonderlichen Spaß, immer und immer wieder den momentanen Zustand mit Schuldzuweisungen aufzufetten, weil er natürlich zu keiner Lösung kommen kann, selbst wenn er eine konkrete Person in Verdacht hat, ihm diese verdammte Chose eingebrockt zu haben.
Ein kleiner Magen kann bedenklich knurren, und um ein Bäuerchen zu machen, muss man ja vorher nur …
Verdammt noch mal, scheiß auf die ewig gleiche Milch! Falls der Teufel hungrig ist, frisst er auch Fliegen!
Muss jemand diese Welt verlassen, kann man logischerweise erwarten, dass er nicht so bald wiederkommt. Jedenfalls nicht derart, wie er abgetreten ist. Denn die meisten Menschen sterben buchstäblich keineswegs gustiös. Entweder sind sie in einem körperlichen Zustand jenseits von Gut und Böse oder sie werden so unvorteilhaft aus dem Leben gerissen, dass ihr Anblick bei einer möglichen Wiederkehr nicht ästhetischen Prinzipien entsprechen würde.
Natürlich gibt es seit Menschengedenken Überlegungen, wie Menschen, die der Unterwelt entstiegen sind, auszuschauen haben, und es hat durchaus originelle Lösungsansätze gegeben, von Zombie-Figuren in den Horrorfilm-Welten bis zu verklärten Leibern in diversen Heiligen Büchern. Plausibel sind sie allesamt nicht. Aber der Grund für das Interesse dürfte darin liegen, dass man einfach wissen möchte, wie es sein kann, wenn es einmal mit dem vorbei ist, was man so kennt. Und die Vorstellung, dass es ohne Völlerei und anschließendem Stuhlgang ein Weiterleben, in welcher Form auch immer, geben könnte, ist eher umstritten. Natürlich kann man es sich einfach machen und apodiktisch behaupten, dass mit dem Tod ohnehin alles vorbei sei. Otto Gneringer hat schon oft genug mit dieser Ansicht geliebäugelt und sie immer wieder in Debatten grundsätzlich vertreten.
Manches Mal ist ihm das gar nicht so schlecht gelungen, jedenfalls stets dann, wenn er mit seinem ehemaligen Schulkollegen Albrecht Winter diskutierte. Das hat auch damit zu tun, dass der Winter seit der Jungschar seine Treue zur katholischen Kirche nie verlor und dem Gneringer immer wieder mit den gleichen Argumenten kam, dass es nämlich gar nicht anders möglich wäre, denn, wenn es kein Leben nach dem Tod gäbe, hätte das diesseitige so gar keinen Sinn.
Dabei führt Albrecht Winter nach Gneringers Einschätzung überhaupt kein Leben. Nach der Matura ist er im sicheren Staatsdienst untergekommen, hat dann bald darauf eine schon damals überaus dicke Dame geheiratet und gleich darauf zwei, bei der Geburt überdurchschnittlich schwere Kinder gezeugt, die zu zwei adipösen Erwachsenen herangewachsen sind. Seine Freizeit verbringt er zuhause vor dem Patschenkino mit seiner überwuzelten Gattin, und jeden ersten Dienstag jedes dritten Monats trifft er sich seit über dreißig Jahren in immer demselben Kaffeehaus, welches trotz mehrmaliger Renovierung nahezu unverändert geblieben ist, mit einigen ehemaligen Klassenkameraden.
Der Gneringer ist nicht immer dabei, eigentlich nur dann, wenn er sich wieder einmal von alten Freunden etwas leihen möchte, was in letzter Zeit aufgrund der allgemeinen Wirtschaftslage wieder häufiger vorkommt. Dafür kann seine Biographie durchaus mit spannenden Varianten glänzen, obwohl niemand recht weiß, wovon er eigentlich lebt. Natürlich haben die meisten Mitschüler sein großes philosophisches Werk „Wann offenbart sich die Wirklichkeit?“ gelesen, welches als Parodie auf die Naturwissenschaften gedacht war, von den Kritikern aber leider nicht verstanden worden ist. Gekauft haben es jedenfalls nach Gneringers Erinnerung alle Schulkollegen, und der Winter erstand sogar vier Exemplare, eins für jedes Familienmitglied. Auch haben manche Kommilitonen auf Gneringers zahlreichen Vernissagen an den originellsten Orten seine psychedelischen Ölbilder erworben und diese vielleicht sogar irgendwo aufgehängt, wenn auch nicht in den Wohnzimmern. Ebenso hat Otto beharrlich alle Schulkameraden zu seinen Hochzeiten, fünf an der Zahl, eingeladen, und viele sind sogar gekommen. Nur der Winter, der stets den standesamtlichen Trauzeugen spielen musste, hat einmal angemerkt, dass für ihn nur die erste, die kirchliche, eine wahre Gültigkeit habe. Taufen ließ Gneringer nur seine älteste Tochter, die anderen drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, sollten sich später entscheiden, welchem transzendentalen Bekenntnis sie anhängen möchten. An eine geregelte, einkommensgebundene Tätigkeit freilich kann sich niemand in seiner Kollegenschaft erinnern, wenn man die zweimalige Ferialarbeit bei der österreichischen Post einmal beiseitelässt.
Heute steht wieder einmal so ein Treffen am Programm, und obwohl Gneringer nicht völlig abgebrannt ist, entscheidet er sich doch, den Jour fixe wahrzunehmen. Einerseits, weil die Arbeit an seinem ersten großen Roman äußerst schleppend vorangeht und andererseits, weil er schon seit drei Tagen dem Alkohol entsagt und ein paar weiße Spritzer sicherlich seine Ganglien in Schwung bringen würden. Obschon er heute sogar seine Zeche bezahlen könnte, wird er wie üblich die Großzügigkeit Winters zu schätzen wissen, der ihn schon zwischen Schule und Nachmittagsturnen zum Würschtelstand eingeladen hat und es in lieber Tradition auch heute noch tut.
Das Schwarthaler liegt nicht weit von Gneringers Einzimmerwohnung, und so betritt er nach einem gemütlichen Fünfzehn-Minuten-Spaziergang dieses zeitlose Etablissement. Otto, übrigens der einzige Raucher der Gruppe, hat durchgesetzt, dass sich die Kameraden in der Raucherzone hinten bei den Billardtischen versammeln, weil sie immer schon dort gesessen sind. Solch eine Tradition sollte man doch beibehalten, und obwohl besonders der Obrechtsberger, aber natürlich auch der Nowotny deswegen murrten, hat er sich mithilfe Winters behaupten können. Im vorderen Bereich tut sich gastmäßig nicht viel, aber als sich die elektrische Türe zum hinteren Raum öffnet, blickt Gneringer in ein bekanntes Gesicht. Es handelt sich um den schweigsamen Spurny. Auch in Schulzeiten saß er schon eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn im Klassenzimmer, als ob man etwas versäumen könnte. Schon damals wusste Otto nie, was er mit dem Wolfgang Spurny reden sollte, weil die Kommunikation mit diesem Kollegen stets zäh und langatmig war. Jetzt, da er selbst überraschenderweise überpünktlich erschienen ist, muss er sich mit dem faden Zopf abgeben.
Gneringer steckt sich erst einmal eine Zigarette an, bevor er näher an den Tisch tritt.
Irgendwas stimmt da aber nicht!
Eigentlich haben sie sich alle fürchterlich verändert, Glatze, Bauch, Falten oder dicke Brillen. Nur Wolfgang Spurny hat wie eh und je sein flachsblondes, gewelltes Haar und ein völlig faltenfreies Gesicht. Auch die roten Pausbäckchen strahlen eine ungemeine Jugendlichkeit aus.
Jugendlichkeit?!
Gneringer laboriert zwar schon länger an einem saftigen Raucherhusten, doch was jetzt aus ihm herauskrächzt, verdankt er einer akuten Atemnot.
Hat er jetzt so etwas wie eine Vision? Ist er vollkommen betrunken, was nicht sein kann, oder augenblicklich verrückt geworden? Letzteres haben ihm schon manche Menschen angedichtet, besonders Exfrau Nummer zwei und Nummer drei, aber eigentlich kann er ein Irre-Sein ausschließen, weil sich noch nie ein psychologischer Spezialist, nicht einmal dieser Schnösel Mistelbacher, dahingehend geäußert hat.
„Setz dich doch, Otto!“ Dass der Spurny freiwillig den Mund aufmacht, ist die nächste Ungereimtheit an dieser Sache, und irgendwie bekommt Gneringers Kreislauf eine ziemliche Schlagseite. Er torkelt ein paar Schritte vorwärts und lässt sich auf die zerschlissene Sitzbank fallen.
„Schön, dich zu sehen.“ Schon wieder dringen Worte aus dem sonst stets geschlossenen Mund, und die stahlblauen Augen sehen Otto freundlich an. Aber der begnadete Dauerredner kämpft plötzlich mit Wortfindungsstörungen. Schweißperlen rinnen von seiner kahlen Stirn. „Wie geht es dir?“ Wie es Gneringer geht?
Er musste dem Wahnsinn nahe sein, denn, was sich hier gerade abspielt, kann einfach nicht sein. Ja, es darf gar nicht sein. Und auch wenn Gneringer das Philosophie-Studium weit vor der Dissertation abgebrochen hat, nimmt er doch für sich in Anspruch, soweit logisch denken zu können, dass die Begegnung hier keiner Realität entspricht.
Die eben eingetretene Kellnerin, die dem Spurny eine Melange vor die Nase stellt und Otto nach seinem Begehr fragt, scheint nichts Ungewöhnliches festzustellen. Nur muss sie mehrmals nachfragen, was denn der Herr zu trinken gedenke, bis er ein relativ stimmloses Einen-weißen-Spritzer-bitte äußert.
„Könntest du mir vielleicht eine Zigarette schnorren?“ Dass gerade der Wolfgang raucht, hätte Otto nicht gedacht, weil er damals in den Siebzigerjahren der Einzige war, der sich am Schikurs nicht die Tschick am Sessellift anheizte und die Stummel zum Ärger Professor Nebenbrunners in der Natur entsorgte.
„Ich bräuchte auch Feuer.“ Gneringer schiebt zögerlich sein Feuerzeug über die Marmorplatte.
Als die Servierkraft endlich mit dem Wein erscheint und ein großer Schluck seine Kehle hinunterrinnen kann, normalisiert sich der Pulsschlag etwas. Er blickt sich nun verstohlen um, ob nicht endlich ein weiterer Schulkollege auftaucht, der sieht, wen er gerade vor sich hat, nämlich den Spurny.
„Irgendwie bist du alt geworden, Otto …“ Was soll denn das für eine Beobachtung sein? Sie alle sind alt geworden, und so schaut man einfach aus, wenn man den Fünfziger überschritten hat …
Gneringer schiebt seine Brille hoch und fährt sich mit den Fingern über die Augen, um diesen vielleicht einen genaueren Durchblick zu verschaffen. Alt geworden ist er, der Spurny, nicht. Natürlich ist er nicht alt geworden. Er konnte gar nicht alt werden. Bei diesem Gedanken setzen verständliche Panikattacken ein. Es war doch auf der einjährigen Maturafeier, als der Obrechtsberger, der Klassensprecher, einen Zeitungsausschnitt vorgelesen hat. Gneringer erinnert sich noch sehr genau daran, weil er damals witzelte, der Spurny wäre der Erste der Klasse, über den etwas in der Zeitung stünde. Gelacht haben darüber nur wenige, und einen sehr strengen Blick bekam er damals vom Klassenvorstand Dr. Helga Schneeberger, weil die Bemerkung eindeutig völlig unpassend daherkam. Man macht eben keine Witze, wenn jemand unter mysteriösen Umständen geknebelt, gefesselt und ermordet auf einem Feld im Umland von Wien aufgefunden worden ist.
Noch immer zeigt sich weit und breit kein anderer Schulkollege. Wenigstens steht der weiße Spritzer parat, und in Anbetracht der Situation wird das Glas in einem Zug geleert. Zum Glück ist die Kellnerin aufmerksam, als er ihr deutet, ein weiteres Gebinde zu bringen. Allerdings weiß Otto nur zu gut, dass er wahrscheinlich zwanzig Mischungen trinken müsste, um einen Zustand der Gelassenheit zu erreichen. Denn es gibt keinen Zweifel mehr, dass er jemanden vor sich hat, der nach menschlichem Ermessen nicht im Schwarthaler sitzen dürfte.
Sollte das zu denken geben?
Denn eigentlich muss er sich eingestehen, dass er keine engere Beziehung und schon gar keine positive zu Spurny aufgebaut hatte. Der war zwar nicht eines der typischen Opfer seiner pubertären Streiche, dafür war ihm der Kamerad viel zu langweilig, doch mit irgendeiner Form von Nettigkeit überschüttete er den Burschen sicher niemals. Einmal, jetzt steht plötzlich die Erinnerung wie ein Bild vor Otto, hat er ihm sogar die Deutsch-Hausübung weggenommen und den Text als seinen eigenen vorgelesen, und der Spurny verzog dabei nicht die geringste Miene, auch nicht, als die Schneeberger dem Gneringer für seine tadellose Behandlung des Themas ein „Sehr gut“ notierte. Doch dass Wolfgang gerade jetzt auftaucht, um ihm das zum Vorwurf machen zu wollen, passt in keinem Fall zu diesem Phlegmatiker.
Welchen anderen Grund könnte es dann geben, dass jemand, der Anfang der Achtziger den Löffel abgegeben hat, nun hier im Kaffeehaus eine eindeutige Körperlichkeit an den Tag legt? Natürlich könnte Gneringer vom Spurny jetzt eine konkrete Information hierzu einholen, aber irgendwie scheint er heute aufs Maul gefallen zu sein. Vielleicht lockert sich seine Zunge, wenn er sich einen schnellen Rausch anzüchtet. Deswegen steigt er jetzt auf Viertel pur um, doch außer, dass er durch die Trinkgeschwindigkeit einen ordentlichen Schluckauf bekommt, tut sich wenig. Bei Gneringer kommt es selten vor, dass sein brillanter Geist an Lähmungserscheinungen leidet. Zur Entschuldigung gesteht er sich ein, dass eine solche Begegnung für jeden völliges Neuland wäre. Wann trifft man schon jemanden, der von dort gekommen ist, wo man selbst einmal wird hingehen müssen? Und wie verhält man sich korrekt so einem gegenüber?
Otto blickt nervös auf die Uhr, aber die Zeit scheint stillzustehen. Die Zeiger zeigen noch immer nicht die siebente Stunde, und für neunzehn Uhr ist das vierteljährliche Treffen angesagt. Jetzt wäre es von großem Vorteil, wenn wenigstens der Winter erschiene, der ihm seit Myriaden von Jahren ununterbrochen das Mysterium der Auferstehung näherbringen will. Verdammt noch mal, wo bleibt denn dieser Spezialist des Katholischen heute? Und auch die anderen Pappenheimer lassen sich noch immer nicht blicken. Es könnte den Anschein haben, als ob da eine Verschwörung im Spiel wäre und jemand einen ungläubigen Thomas, oder besser ungläubigen Otto auf irgendeine Weise bekehren möchte.
Wenigstens läutet sein Handy. Normalerweise würde er die Marianne gleich wegdrücken, da sie sowieso nur mit den üblichen Forderungen nach Alimenten daherkommt, aber er nimmt die Gelegenheit wahr, einerseits seinen Geisteszustand zu überprüfen und andererseits zu klären, ob er sich überhaupt noch in der realen Welt befindet.
Das hasserfüllte Geifern am anderen Ende vermittelt ihm die Erkenntnis, dass er keineswegs die Dimensionen gewechselt hat und sich immer noch dort befindet, wo seine Probleme zuhause sind. Da sein Nervenkostüm gerade etwas sensibel reagiert, kürzt er das Gespräch ab und drückt die Ex weg. Als er in der Folge sein Mobiltelefon einfach auf den Tisch legt, erntet er einen erstaunten Blick seines Gegenübers.
„Was ist denn das? Zeig’s mir mal!“ Spurny greift hinüber, nimmt sich den Apparat und sieht das Ding mit kindlichem Erstaunen an. „Das gibt es doch gar nicht … Das ist ja wunderbar!“
Gneringer erinnert sich peripher, dass der Spurny immer schon ein gesteigertes technisches Interesse zeigte, er war sogar einer der wenigen, die freiwillig einen sogenannten Computerkurs in der Schule besuchten, was damals so viel hieß wie Lochkarten herzustellen.
„Kannst du mir das näher erklären …? Wie funktioniert denn das?“
Otto sieht sich klug genug, das eigentliche Thema, welches ihm natürlich auf der Zunge liegt, nicht anzuschneiden. Jedenfalls hört er sich selbst jemandem die Funktionsweise eines Mobiltelefons erklären, und dieser jemand fragt dann auch noch ganz naiv: „Und damit könnte ich jetzt meine Mutter anrufen?“ Otto gibt spontan noch den Hinweis, dass man null-eins vorwählen müsse, wenn man gedenke, über das Wiener Festnetz zu telefonieren. Und da Spurny die Funktion der Tastensperre begriffen hat, das Handy also in Betrieb nehmen kann, werden schon die Ziffern der mütterlichen Telefonnummer eingetippt.
„… Da spricht jemand … Aber das ist nicht die Mutter …“
Wolfgang reicht das Telefon zu Otto hinüber. Er vernimmt: „Herzlich willkommen! Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist uns nicht bekannt, bitte überprüfen Sie die Rufnummer nochmals, vielen Dank.“
„Und die Nummer stimmt?“
„Natürlich, die haben wir schon seit sieben oder acht Jahren …“ Otto besieht sich die Zahlen, die Wolfgang gewählt hat und die er vor ihm auch verbal wiederholt. Merkwürdig erscheint allerdings, dass neben der Vorwahl nur sechs Ziffern am Display stehen, und Gneringer gibt zu bedenken, dass so kurze Nummern eigentlich längst nicht mehr existieren.
Jetzt legt sich ein leichter Schleier von Traurigkeit über das Gesicht des Schulkollegen. „Ich bin ehrlich zu dir, Otto …, irgendwie ist heute ein komischer Tag. Eigentlich hat alles damit angefangen, wie du hier hereingekommen bist … Entschuldige … Ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll … Wir haben nie viel miteinander geredet … Na ja …, ich red halt nicht so gern, das weißt du eh … Aber ich muss dich jetzt wirklich etwas fragen … Ich weiß nicht …, wieso schaust du heute so aus?“
Ich schau ganz normal aus, denkt sich der Gneringer, ich schau aus wie immer, jedenfalls wie jetzt immer! Er ist doch von den Toten auferstanden, weiß er das denn gar nicht …? Gneringer hat nun ernsthaft zu saufen begonnen und verschüttet schon ein Drittel des vierten Glases Wein, bevor die Flüssigkeit in den Mund gelangen kann.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich geh. Die anderen wollen mich ja auch nicht … Es war nett, mit dir einmal ein paar Worte zu sprechen, Otto. Du kannst natürlich meine Hausübung vorlesen. Die Schneeberger fragt mich eh nie danach.“ Der Spurny erhebt sich vom Sessel, legt noch zwei Zehn-Schilling-Münzen auf den Tisch, nimmt die Jacke von der Lehne und zieht diese im Fortgehen an.
Otto hört sich noch fragen: „Haben wir Mathe oder Latein die erste Stunde?“ Aber Wolfgang Spurny ist schon bei der Türe draußen.
„Was ist los mit dir, Otto, bist du jetzt schon betrunken?!“ Der Satz Obrechtsbergers ist keineswegs als interessierte Frage zu verstehen, sondern drückt geradewegs das aus, was es ist, nämlich seine verächtliche Einstellung zu Gneringers Lebensweise.
Bei Obrechtsberger wusste man schon in der Schule, dass er nicht nur Medizin studieren, sondern mit einer hundertprozentigen Garantie das Studium auch zum Abschluss bringen würde. Denn mit was für einer Konsequenz er sich für die Gesundheit seiner Mitschüler einsetzte, kann man durchaus als erstaunlich beschreiben, obwohl es eigentlich eine Zeit war, in der alles, was heute als „bio“ bezeichnet wird, noch keine Existenz hatte. Es gab weder biologisch gezüchtete Hängebauchschweine noch eine laktosefreie Leichtmilch, und die Menschen litten wahrscheinlich dadurch an Krankheiten, von denen man heute glücklicherweise überhaupt nichts mehr hört, weil es eben medizinische Koryphäen wie den Obrechtsberger gegeben hat, die mit allerhärtester Strenge gegen den körperlichen Missbrauch im Allgemeinen vorgegangen sind. Wenn sich etwa jemand von der Autobusstation bis zum Schulgebäude noch schnell eine Zigarette ansteckte und in die Fänge Obrechtsbergers geriet, konnte derjenige sicher sein, einen fundierten Vortrag über das Bronchialkarzinom zu hören. Und das in den Siebzigern! Oder wenn ein besonders Verwegener am Würschtelstand nach der Schule eine Dose Bier getrunken hat und dieses schändliche Vergehen von Obrechtsberger beobachtet worden ist, dann wusste der Angesprochene sofort, eine Belehrung punkto Leberzirrhose wäre nun unabkömmlich. Und wenn der Obrechtsberger besonders in Fahrt war, bekam man als Zukunftsvision auch noch eine typische Trinkerkarriere aufgetischt, die stets damit endete, dass der Protagonist zwangsläufig in der Gosse landen müsste.
Otto hat oft ein Bier nach dem Unterricht getrunken, jedenfalls ab der siebenten Klasse, und dazu meist eine gut abgelegene Käsekrainer und keinen Klarapfel gegessen, ein Obst, das der Obrechtsberger jedem seiner Kommilitonen zwingend für einen guten Lernerfolg empfahl. Was aber auch damit zusammenhängen konnte, dass seine Eltern einen großen Garten im Wiener Grüngürtel bewirtschafteten und dem Obrechtsberger selten eine andere Pausenmahlzeit zur Verfügung stand.
Gneringer beschritt mit Sicherheit einen Lebensweg, den der Obrechtsberger so vorausgesehen hatte, mit der Ausnahme allerdings, dass er heute noch lebt und nicht elendiglich am Tropf hängend verstorben ist. Freilich erhält Otto jetzt von diesem einen Seitenblick, der besagt, dass sein baldiges Ende wohl naht.
Glücklicherweise tauchen jetzt im Minutenabstand alle anderen auf, die gewöhnlich dem kleinen Klassentreffen beiwohnen, und er kann sich präzisere Diagnosen Obrechtsbergers ersparen.
Wie fast immer sitzt auch heute der Winter direkt neben ihm, und während alle anderen der Kellnerin ihre Bestellungen antragen, flüstert er Otto zu: „Hast was? Du schaust verheerend aus.“
Natürlich weiß Winter, dass sein Klassenkamerad immer wieder äußerst tief ins Glas zu schauen pflegt, doch üblicherweise kommen gewisse Aussetzer erst zu einer späten Stunde. Also kann die auffällig fahle Gesichtsfarbe nicht von diesem Laster herrühren. Nur ist leider jetzt nicht die Gelegenheit, ein Zweierprivatissimum zu führen, denn schon wirft der Nowotny sein Lieblingsthema, die große Politik, als Hölzl auf den Tisch, und weil man sich nicht wirklich etwas zu sagen hat und außerdem demnächst Wahlen anstehen, werden der Reihe nach diverse politische Parteien in den Orkus geschickt, natürlich mit gewissen Präferenzen. Der Zima etwa sieht sich selbst als letzten Linken unter den Kameraden, der das Ideal der Umverteilung auch nach dreißig Jahren Erwerbstätigkeit stets hochhält. Freilich schnitt er sich selbst längst ein schönes Stück vom allgemeinen Kuchen ab, weil er in einem Ministerium berufsmäßig Bleistifte spitzt. Allerdings ist ihm dort die Aufgabe gegeben, Gelder zweckgebunden zu verteilen, was seiner Meinung nach seinem Gerechtigkeitssinn durchaus entspricht.
„Was habts ihr denn tatsächlich erreicht?“ Dem Nowotny Sigi kann man nicht so leicht etwas weismachen, weil er stets eine wirtschaftliche Betrachtungsweise vor Augen hatte, was nicht nur damit zusammenhängt, dass er seinerzeit von seinem Vater einen Textilbetrieb vererbt bekommen hat, dies aber sicherlich seinem ökonomischen Bildungsgrad einen Vorteil verschaffte. Sonst hätte der Nowotny die Produktion nicht rechtzeitig ins Asiatische verlegt und heute die Zeit, sich mit politischen Zusammenhängen zu beschäftigen. Das Studium der Politologie war da wohl auch von Vorteil.
Normalerweise hält der Gneringer solche hohlen Diskussionen gerne am Köcheln, weil er dadurch seinen gesettelten Kollegen mit seinen provokant radikalen Ansichten kommen kann, die ihrerseits wieder dieses fade Gespräch in Gang halten. Heute allerdings gehört Otto der Fraktion der Schweigsamen an, und das verwundert jetzt nicht nur Winter und Obrechtsberger, sondern selbst die drei weiteren, die am Tisch sitzen. Der etwas naive Brünner freilich ist der Erste, der diese ungewohnte Situation bereinigen und Gneringer dringend in die Konversation einbinden möchte. „Glaubst du nicht auch, Otto, dass die Koalition so keine Zukunft hat?“
Interessanterweise gibt es Gneringer beim Wort „Zukunft“ einen ziemlichen Stich in die Seite, und er muss unwillkürlich zucken. Um sich selbst von dieser körperlichen Erscheinung abzulenken, zündet er sich augenblicklich eine Zigarette an. Natürlich wandert der Rauch sofort Richtung Obrechtsberger, obwohl der ganz am anderen Ende sitzt. Jetzt hätte er beinahe den Anlass dazu gegeben, dass der Klassensprecher a. D. das allgemeine Thema wechseln und auf sein Lieblingssujet, die Gesundheit, zu sprechen kommen darf. Der Sprachansatz von Obrechtsberger ist fast da, aber weil dieser immer zuerst demonstrativ hüstelt und dann mit den Händen wachelt, wenn es um das Thema Rauchen geht, hat Gneringer genügend Zeit, etwas zu sagen: „Äh …“ So ein banaler Füllbuchstabe ist für ihn ein ungewöhnlicher, doch nach einem kurzen Räuspern gelingt ihm die Frage: „Erinnert ihr euch noch an den Spurny?“
Ein kurzes Schweigen aller könnte andeuten, dass man jetzt nachdenkt.
Das Hereinbringen diverser Getränke unterbricht die allgemeine Nachdenkphase etwas, weil die Kellnerin nachfragen muss, wer was bekommt. Außer Gneringer hat nur noch Schebesta ein alkoholisches Getränk bestellt, nämlich ein großes Bier. Allerdings fühlt der sich immer bemüßigt, dem Obrechtsberger zu erklären, dass das heute eine Ausnahme sei, da er ja sonst (normalerweise) nichts trinke. Eine ähnliche Erklärungsmodalität kommt dann später beim Essen, wo er immer zwei Beilagen urgiert, was man im Speziellen nur dem besonderen Tag zu verdanken habe. Freilich war der Schebesta schon früher kein Spargel, sondern eher ein festes Bröckerl, und er hat heute die Figur einer ausgewachsenen Schlachtsau. Dadurch aber ist er gerade derjenige, der noch nie über Gneringers manchmaligen größeren Alkoholkonsum abschätzige Worte gefunden hat. Maßlosigkeit verbindet eben. Und vielleicht ebenso das Interesse am Spurny, denn wie er hat auch Schebesta einen Hang zum Fach Physik gezeigt und ist darum manchmal sogar außerhalb des Schulgebäudes mit dem Spurny ins Gespräch gekommen. Deswegen sagt er auch jetzt: „Wieso fragst du danach? Der ist doch schon lange tot.“
Das bestätigen nach der Reihe nun alle anderen, nur wird jetzt darüber zu diskutieren begonnen, mit was man den Spurny ermordet habe. Einige plädieren für eine Pistole oder eine sonstige Feuerwaffe, andere wollen wissen, dass damals in der Zeitung gestanden habe, dass es eine Nylonschnur gewesen sei. Nun ist Obrechtsbergers Autorität als gewählter Klassensprecher gefragt, weil er es ja war, der damals den Zeitungsartikel gefunden und auch mitgebracht hat.
Ein Wissenschaftler, ein Mediziner, sieht sich mit Sicherheit als einer, soll immer strikte Objektivität wahren, und einer solchen muss sich Obrechtsberger leider beugen. Er weiß es ebenso nicht mehr. Aber das ändert nichts daran, dass damals etwas Fürchterliches geschehen sein muss und noch dazu mit einem Menschen, der keiner Fliege etwas zuleide tat.
„Wir haben eigentlich überhaupt nichts von ihm gewusst“, wendet der Brünner vorsichtig ein, und Siegfried Nowotny hakt nach: „Jeder Mensch kann ein Doppelleben führen, von dem man keine Ahnung haben kann.“ Diese Binsenweisheit wird von Schebesta mit einem Kopfnicken bedacht, während er zugleich mit Handzeichen bei der Kellnerin ein neues Krügel fordert.
„Ein schlechter Mensch war er sicher nicht.“ Dieserlei Worte aus Winters Mund kennt man ebenso, da Albrecht grundsätzlich andere nicht heruntermacht, das verbietet natürlich die katholische Erziehung, allerdings hat auch er nie ernsthaft den Kontakt zum Spurny gesucht. Traurigerweise kann Winter nicht einmal sagen, ob der Wolfgang überhaupt katholisch war, denn bei den Schulmessen sah man ihn nie, obwohl er dem Religionsunterricht durchaus beigewohnt hat. Getauft muss er also wenigstens gewesen sein, und auszutreten traute sich in den Siebzigern ohnehin fast niemand.
„Du wolltest doch mit ihm studieren, oder?“ Jetzt wird Schebestas Kontakt zu Spurny geprüft. Der bestätigt das sogar, man habe einmal sogar darüber geredet, sich jedoch nach der Matura sofort aus den Augen verloren.
„Der ist ja nicht einmal bei der Maturafeier gewesen. Hat er jetzt eigentlich beim ersten Antritt bestanden oder die Matura erst im Herbst gemacht?“ Das weiß nun auch niemand, und selbst Brünner, der im Herbst Darstellende Geometrie wiederholen musste, kann darüber keine Auskunft geben. „Vielleicht weiß da die Schneeberger noch was.“
„Ja, wann sehen wir die wieder, wir haben erst in ein paar Jahren wieder eine runde Maturafeier …, hast du nicht manchmal Kontakt mit ihr gehabt, Otto?“ Gneringer traf sie wirklich einige Male außertourlich, weil sie nicht weit von ihm entfernt wohnt und manchmal in der gleichen Konditorei wie er einen Kaffee trinkt. Aber damit hat das Lehrer-Schüler-Verhältnis auch schon sein Ende und eine Telefonnummer einer ehemaligen Professorin hat er sicher nicht. Er betätigt dies so.
„Wieso kommst du gerade heute auf den Spurny?“ Da ausgerechnet der Obrechtsberger diese Frage stellt, kann Gneringer natürlich nicht antworten, dass der Spurny gerade auf jenem Platz saß, wo er jetzt sein Hinterteil ausbreitet. Denn diese Erzählung hätte die garantierte Diagnose eines Delirium tremens‘ inklusive weißer Mäuse zur Folge. So muss er jetzt einfach herumdrucksen: „Ich weiß nicht. Ich hab heut einfach darüber nachgedacht, dass es ungewöhnlich ist, einen Schulkollegen so früh zu verlieren …“
Natürlich gibt einem das zu denken, weil man ja schon ein Alter erreichte, welches die Mittellinie wohl überschritten hat, obwohl man sich selbst mit knapp über fünfzig durchaus noch jugendlich sieht. Außerdem kann man gar nicht so alt sein, wenn man Professoren kennt, die noch leben. Neben der Schneeberger sind es die ProfessorInnen für Latein, Mathematik, Darstellende Geometrie, Religion, Physik und Chemie.
„Ja, nur, der Spurny ist keines natürlichen Todes verstorben!“ Jetzt doziert wieder der Mediziner und ein kurzer COPD-Anfall Gneringers hat einen mahnenden Fingerzeig und eine weitere Feststellung Obrechtsbergers zur Folge: „Aber es kann sehr schnell gehen. Ein Herzinfarkt ist schneller da, als man denkt!“
Doch diese Mahnung verfehlt selbst beim Schebesta ihre Wirkung, da er jetzt die gerade am Nebentisch servierende Kellnerin um die Speisekarte bittet. Diese wird dann ausreichend studiert und auch mit dem immer wiederkehrenden Kommentar versehen: „Eine große Auswahl haben die hier nicht!“
„Das ist ja ein Kaffeehaus und kein Gourmettempel!“ Selbst diese Antwort Zimas wiederholt sich eigentlich jedes Mal. Dennoch gibt es genug Tagesspeisen, heute sind es Rindsrouladen, und Schebesta bestellt neben der üblichen Nudelbeilage noch eine Portion Petersilerdäpfel. Die anderen begnügen sich mit den typischen Kaffeehausgerichten wie Würstel mit Saft oder Kleinem Gulasch. Nur der Gneringer möchte partout nichts essen, obwohl der Winter leise andeutet, dass er natürlich beabsichtigt, Ottos Zeche zu zahlen.
Auch wenn man durch das Studium der Speisekarte einige Momente vom großen Thema Tod abgekommen ist, findet man recht bald wieder dahin zurück.
„Heute bestell ich mir selber mal ein Achtel.“ Was ist denn da in den Winter gefahren, scheint sich der Obrechtsberger zu denken, was man an seinen erstaunten Augen erkennen mag, aber der Winter liefert selbst eine Begründung, weshalb er heute ungewöhnlicherweise dem Alkohol frönt, allerdings handelt es sich nicht um das Gleichnis der biblischen Weinvermehrung: „Es ist eigentlich gar nicht so schlecht, einmal darüber nachzudenken, dass wir alle endlich sind.“
„Der Alkohol fördert sicher nicht ein langes Leben!“ Der Obrechtsberger kann es einfach nicht lassen.
„Lass ihn doch einmal ausreden!“ Dass der Brünner einmal etwas gegen den Klassensprecher sagt, ist reichlichst selten vorgekommen. Natürlich kennt man Winters Ansichten in Glaubensangelegenheiten zur Genüge, doch dass einmal das elende Thema Politik vom Tisch gewischt wurde, scheint niemanden zu stören.
„Natürlich haben wir schon genug Tode erlebt und viele von unseren Eltern sind auch nicht mehr am Leben …“ Hier wird natürlich murmelnd beigepflichtet, denn einige von ihnen sind sogar schon Großväter. „… Aber es ist immer seltsam, wenn es um Personen geht, die so alt sein könnten wie wir.“ Auch bei diesem Gedanken gibt es keine Gegenrede.
„Glaubt ihr etwa, dass der Spurny zu uns ins Café Schwarthaler käme, wenn er noch leben würde …?“ Ein multiples Verneinen mit den Köpfen gibt zu verstehen, dass dem wahrscheinlich nicht so sei.
„Ja, aber wir sind ja nicht die ganze Klasse. Wir sind ja eigentlich nur ein kleiner Kreis, der sich regelmäßig trifft, und die anderen sehen wir auch nur alle heiligen Zeiten …, so im Fünfjahresabstand zu den runden Maturafeiern.“ Natürlich behält da der Nowotny Recht, denn sie sind ein Freundeskreis, der hier im Grätzel rundherum aufwuchs und den Schwarthaler bereits zu Schulzeiten aufsuchte. Und der Spurny hat doch ganz woanders gewohnt. Oder nicht?
„Ich weiß, dass er einmal da war.“ Dieses Wissen stammt nicht vom Gneringer, sondern vom Schebesta.
„Nach der Mathematik-Matura sind wir hierher gegangen, und ich habe den Spurny mitgenommen.“ An den ratlosen Blicken erkennt man, dass sich niemand daran erinnern will oder kann.
„Ich weiß es noch ganz genau, weil ich mit dem Spurny die Ergebnisse vergleichen wollte.“ Schebesta ist sich da hundertprozent sicher: „Ich wollte nicht blöd auf der Gasse herumstehen und hab den Spurny richtiggehend am Sakko hierhergezogen …“
„Wir waren auch da?“
„Du auf jeden Fall, Max!“ Maximilian Brünner legt die Stirnhaut in Falten, freilich, eine Erleuchtung kommt nicht.
„Und auch du bist da gewesen, Herr Doktor!“ Selbst der Obrechtsberger scheint sich nicht sicher zu sein, macht aber eine Geste des Möglichen.
„Du nicht, Otto, weil du gleich zum Sinkovic gegangen bist.“
Der Sinkovic war eine übel beleumdete Wirtsstube, die nur wagemutige Schüler betraten, weil es dort schon Schlägereien gegeben haben sollte. Allerdings soff man in dieser Kaschemme das Bier zu einem weit günstigeren Preis als beim Schwarthaler.
„Jedenfalls war der Spurny hier und das sicher nicht zum ersten Mal. Ich erinnere mich noch daran, dass der Herr Fritz ihn gekannt haben muss …,“ der Herr Fritz war ein Oberkellner vom alten Schlag, der jeden Stammgast, unabhängig davon wie sympathisch er ihm war, mit Vornamen ansprach,
„… denn der Herr Fritz hat den Wolfgang namentlich angeredet und gefragt, ob er denn wie immer eine Melange haben wolle.“
„Ich hab ihn hier nie gesehen“, wendet der Zima ein.
„Ja, aber du hast nach der Schule immer sofort nach Hause gehen müssen und bist erst durch uns nach der Matura zum Stammgast geworden.“ Zima bestätigt dies ungern, doch es stimmt, weil er eine sehr strenge Mutter hatte, die darauf bestand, dass er spätesten zwanzig Minuten nach Unterrichtsende in der Wohnung wäre. Diese Wegzeit war, besonders im Winter, extrem knapp bemessen, und da gab es natürlich nie eine Gelegenheit, irgendeinen Abstecher zu machen. Selbst zwischen Schule und Nachmittagsturnen musste er unter Mutters Obsorge stehen.
„Ich hab ihn aber auch nie hier angetroffen und war beinahe täglich hier!“ Der Nowotny nahm die Schule äußerst leicht, weil es ihm klar war, dass er selbst ohne Abschluss die Stofffabrik seines Vaters erben würde, und er ist deswegen ein absoluter Spezialist des Billardspiels geworden.
„Du warst immer hier hinten, und vielleicht ist der Spurny vorne gesessen.“
Eigentlich hat man den Spurny auch im Klassenzimmer oft übersehen, selbst die Lehrer. Wenn ein beliebiger Professor mit dem berüchtigten roten Büchlein vor der Klasse stand und sich manche schon halb unter die Bank duckten, um nicht dranzukommen, war der Spurny gänzlich von dieser Widrigkeit befreit. Das kann entweder sein, wenn man als Pädagoge weiß, der Schüler kann die Frage sicher beantworten, oder … er wird einfach nicht gesehen!
„Das wird’s sein.“ Der Nowotny besitzt nicht die Energie, dahingehend weiter zu diskutieren, vielleicht, weil bei diesem Thema nicht die Politik im Spiel ist.
Plötzlich steht die Kellnerin am Tisch: „Entschuldigen Sie, wenn ich störe …, gibt es unter den Herren einen Herrn Knerzinger …?“
„Wie bitte?“, fragt der Obrechtsberger neugierig, und die Kellnerin wiederholt den Namen in einer leicht anderen Variante. „Damit kannst nur du gemeint sein, Otto.“
„Ja, ich heiße Gneringer!“
„Entschuldigen Sie, Sie werden am Telefon verlangt.“
Gneringer ist etwas verdattert und schaut auf das Display seines Handys, ob er etwa einen Anruf überhört hätte, aber diesbezüglich liest er nichts. So erhebt er sich von seiner Bank und folgt der Servierkraft in den vorderen Bereich, wo sich in der Ecke eine altertümliche Telefonzelle befindet.
„Hier, bitte!“ Sie weist ihm den Weg, obwohl er gerade von diesem Apparat aus sicher hundertmal seinen Eltern vorgelogen hat, dass er etwas später nach Hause käme, weil er mit seinen Kollegen für die Schularbeit streberte, dabei hatte er höchstens mit dem Selbiger gesoffen, ohne eine Schulthematik anzuschneiden.
Der Hörer liegt daneben. Gneringer hält ihn ans Ohr: „Ja bitte, Gneringer. Grüß Gott!“
„Entschuldige, dass ich dich störe, Otto, aber ich habe meinen Vergil liegen lassen. Kannst du mir das Buch bitte morgen in die Schule mitnehmen?“
Normalerweise gilt Otto als ziemlich gefällig, doch nachdem er die Stimme gehört und zugleich erkannt hatte, lässt er den Hörer einfach fallen.
„Was ist denn mit dem Gneringer …, wo ist er denn?“ Es sind sicher schon einige Minuten vergangen, und der Otto ist noch immer nicht zu seinem Platz zurückgekehrt, obschon sein Weinglas noch eine erhebliche Fülle zeigt. Natürlich sieht es der Winter als Selbstverständlichkeit an, Nachschau zu halten, wo denn der Freund abgeblieben sei. Von der Kellnerin erhält er die seltsame Auskunft, dass dieser geradezu aus dem Lokal gestürmt sei. Etwas verloren kehrt Albrecht wieder zur Gesellschaft zurück.
„Ist er schon gegangen?“
„Es scheint so.“ Winter macht sich ehrliche Sorgen, weil der Otto doch etwas absonderlich wirkte. Zwar hat er sich schon seit Jugendtagen immer wieder um diesen Chaoten kümmern müssen und sollte deshalb wegen seines raschen Abgangs nicht sonderlich besorgt sein. Aber irgendetwas sagt ihm innerlich, dass jener eine andere Sonderlichkeit als üblich an den Abend legte. Und eine plötzliche Entdeckung Brünners lässt Winter auch keine beruhigende Erklärung finden.
„Schaut mal, was da auf der Bank gelegen ist!“ Er legt ein kleines, rotes Bändchen auf den Tisch, welches alle sofort am typischen Einband erkennen. Es ist die lateinische Lektüre der Oberstufe, denn nachdem man zwei Jahre in der „Austria Romana“ herumübersetzte, kamen in der Oberstufe die Schriftsteller und Dichter dran. In diesem Falle handelt es sich um Publius Vergilius Maro, und jeder durchschnittliche Schüler hat mit Grausen den Abschnitt mit der „Aeneis“ im Gedächtnis.
„Hat das einer von euch mitgebracht?“ Da die Allgemeinheit strikt verneint, kommt man zu dem natürlichen Schluss, dass es nur Gneringer gewesen sein konnte.
„Aber wieso hat er das heute dabeigehabt?“
„Zeig mal her!“ Zima ist sofort mit den Fingern am Buch. „Das ist merkwürdig!“
„Was denn?“ Der Obrechtsberger zeigt eine gesteigerte Neugier.
„Seht mal, das ist ja gar nicht vom Gneringer, schaut mal, was da steht …“ Zima hat das Buch aufgeschlagen und zeigt die Seite, wo der Eigentümer üblicherweise seinen Namen hinschreibt. Nach der Reihe können es alle lesen, mit Füllfeder steht geschrieben: Wolfgang Spurny 8A.