Reinhard Maß, Renate Bauer

Lehrbuch
Sexualtherapie

Mit einem Geleitwort von Steffen Fliegel und einem Beitrag von Dirk Revenstorf und Elsbeth Freudenfeld

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Ole Graf/Corbis

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94933-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10057-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20342-4

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage 2016 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Geleitwort von Steffen Fliegel

Kapitel 1
Einführung

Kapitel 2
Übersicht über die wichtigsten sexualtherapeutischen Konzepte

2.1 Das revolutionäre Konzept von Masters und Johnson

2.1.1 Vorbemerkungen

2.1.2 Beschreibung

2.1.3 Diskussion

2.2 Die neue Sexualtherapie von H. S. Kaplan

2.2.1 Vorbemerkungen

2.2.2 Beschreibung

2.2.3 Diskussion

2.3 Das Hamburger Modell

2.3.1 Vorbemerkungen

2.3.2 Beschreibung

2.3.3 Diskussion

2.4 Syndyastische Sexualtherapie

2.4.1 Vorbemerkungen

2.4.2 Beschreibung

2.4.3 Diskussion

2.5 Sexual Crucible

2.5.1 Vorbemerkungen

2.5.1.1 Das Konzept der Selbstdifferenzierung (Bowen-Theorie)

2.5.2 Beschreibung

2.5.3 Diskussion

2.6 Systemische Sexualtherapie

2.6.1 Vorbemerkungen

2.6.2 Beschreibung

2.6.3 Diskussion

2.7 Sexocorporel

2.7.1 Vorbemerkungen

2.7.2 Beschreibung

2.7.3 Diskussion

Kapitel 3
Hypnose in der Paar- und Sexualtherapie

3.1 Einleitung

3.1.1 Hypnotische Offenheit

3.1.2 Direkte hypnotische Suggestion

3.1.3 Sex als Trance

3.2 Sexuelle Differenzierung

3.3 Störungen der weiblichen Sexualität

3.3.1 Gelungene weibliche Sexualität

3.3.2 Das selbstbestimmte Verfügen über den eigenen Raum

3.3.3 Das Wiedererlangen der Subjekthaftigkeit

3.3.4 Die liebevolle Beziehung zu sich selbst

3.4 Störungen der männlichen Sexualität

3.4.1 Gelungene männliche Sexualität

3.4.2 Männliche Verweigerung

3.5 Mangel an sexuellem Verlangen

3.6 Fazit

Kapitel 4
Mangelndes sexuelles Verlangen als kulturelles Phänomen

Kapitel 5
Medikalisierung von Sexualität und sexuellen Problemen

5.1 Einfluss der Pharmaindustrie auf Politik, Gesundheitswesen und Forschung

5.2 Medikalisierung der Sexualität am Beispiel von »Pink Viagra«

5.3 Profitorientierte Definition sexueller Krankheitsbilder

5.4 Medikalisierung der Psychotherapie

Kapitel 6
Vorschlag einer modifizierten Sexualtherapie nach Masters und Johnson

6.1 Theoretische Überlegungen

6.1.1 Ist Sexualtherapie eine Spezialform der Verhaltenstherapie?

6.1.2 Was ist der Sensate Focus?

6.1.3 Wie wirkt der Sensate Focus?

6.2 Praktisches Vorgehen

6.2.1 Indikationen und Kontraindikationen

6.2.2 Besonderheiten bei der Arbeit im Therapeutenteam

6.2.3 Rahmenbedingungen bei Beginn der Therapie

6.2.4 Explorationssitzungen und Störungsmodell

6.2.5 Roundtable

6.2.6 Sensate Focus I, Phase 1

6.2.7 Sensate Focus I, Phase 2

6.2.8 Im Sensate Focus Wünsche äußern

6.2.9 Sensate Focus II

6.2.10 Erkundung der Genitalien

6.2.11 Sensate Focus III: Spiel mit der sexuellen Lust und Erregung

6.2.12 Sensate Focus IV: Coitus

6.2.13 Ergänzende Einzelübungen

6.2.14 Ausklang der Therapie

6.3 Störungsspezifische Aspekte der Sexualtherapie

6.3.1 Ejaculatio praecox

6.3.2 Erektionsstörung

6.3.3 Mangelndes sexuelles Verlangen

6.3.4 Vaginismus

6.4 Schlussbemerkungen

Literatur

Sachregister

Geleitwort von Steffen Fliegel

Sexuelle Störungen zählen zu den häufigsten psychischen Problemen bei Männern, Frauen und insbesondere Paaren, wenngleich bei weitem nicht alle diese Probleme behandlungsbedürftig sind. Warum wagen sich aber nur wenige Praktikerinnen und Praktiker, egal welcher Berufsgruppe, an Beratungen und Behandlungen dieser Thematik heran?

Da ist zum einen die oft sprachliche Hemmschwelle, die Patienten und Therapeuten den Zugang zur Befassung mit einem intimen Lebens- und Alltagsbereich gleichermaßen erschwert. Und dies, obwohl wir in einer Epoche leben, in der Sex bis in die feinsten Verästelungen befreit scheint, in der es eine Flut von geschriebenen und visuellen Ratgebern zum Sex und seinen Störenfrieden gibt, das Internet keine sexuelle Präferenz auslässt und auch das Fernsehen kaum sexuelle Tabus kennt.

Sexualität ist immer auch ein Kulturphänomen, eines, das gestaltet werden will und sich dynamisch weiterentwickelt. Partnerschaftliche Sexualität braucht Spielräume, in denen beide Partner einander fordern und herausfordern. Zugleich gibt es viele Rahmenbedingungen, die diese Prozesse stören, gesellschaftlich vorgegebene Bilder etwa oder auch individuelle Lern- und Lebensgeschichten mögen die Entfaltung erschweren und durch Ängste blockieren.

Zu den Stolpersteinen trägt hier nicht zuletzt bei, wie sexuelle Beeinträchtigungen durch psychiatrische Diagnosesysteme gerahmt werden. Die klassischen Bezeichnungen sexueller »Funktionsstörungen« wie frühzeitige Ejakulation, Orgasmusstörung, ausbleibende Erektion, Dyspareunie, Vaginismus(1), Hypersexualität usw., aber auch die sogenannten Luststörungen vermitteln den Anschein, dass befriedigende Sexualität eine Frage des körperlichen oder psychischen Funktionierens ist. Damit wird jedoch der Blick auf die Beziehung, auf die Partnerschaft verwehrt. Es wird auf den einen gestörten Partner geschaut – nämlich den mit der gestörten Funktion. Dabei ist Funktion nur ein kleiner Teil von Sexualität, eine intakte sexuelle Funktion sagt wenig oder nichts aus über die Intensität und Tiefe des Erlebens, über Intimität und Begehren, über Grundbedürfnisse und erotische Kompetenz.

Sexualwissenschaftler sind sich heute weitgehend einig, dass Sexualtherapie nicht als eigenständige therapeutische »Spezialität« zu sehen sein sollte; sie ist ein Teil der grundlegenden Psychotherapie. Daher wird auch nicht die sexuelle Störung behandelt, sondern die Verursachungen und aufrechterhaltenden Bedingungen der vorgebrachten Symptome sind Ansatzpunkte psychotherapeutischer Interventionen. Und diese zeigen sich organisch, im Verhalten, in den Kognitionen, Einstellungen und Grundannahmen, in den Emotionen und dem Körperbezug und in den Störungsmotiven, den Beziehungen und Lebensbedingungen. Insofern kann keine einzelne therapeutische Schule für sich in Anspruch nehmen, hinreichende und umfassende Konzepte bei der Behandlung sexueller Störungen zu bieten. Therapeutinnen und Berater werden zunächst immer mit der jeweils eigenen therapeutischen Brille an die Behandlung herangehen. Und das ist auch in Ordnung – sofern andere Perspektiven je nach Bedarf zur Erweiterung des therapeutischen Handelns herangezogen werden können.

Und genau hier zeigt sich der besondere Wert des vorliegenden Fachbuchs von Renate Bauer und Reinhard Maß. Denn neben den beschriebenen Zugangsproblemen zu den sexuellen Störungen der Patienten einerseits blockiert andererseits vor allem das fehlende Wissen über spezielle therapeutische Interventionen. Auch wenn es für viele Betroffene bereits eine große Erleichterung bedeutet, für ihre sexuellen Probleme ein offenes fachliches Ohr zu finden, bedarf es für eine gute problemanalytische Diagnostik und die daraus resultierenden therapeutischen Ansatzpunkte auch spezifische Interventionen. Der große Gewinn bei dem hier vorgelegten Lehrbuch Sexualtherapie besteht darin, die klassischen und modernen sexualtherapeutischen Konzepte von Masters und Johnson bis in die Gegenwart verständlich darzustellen und kritisch zu diskutieren.

Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Medikalisierung sexueller Probleme beschreibt das Autorenpaar in einem sehr praxisorientierten Teil auf der Grundlage der Analysen sexualtherapeutischer Ansätze, theoretischer Erwägungen, der empirischen Befundlage und der eigenen klinischen Erfahrungen Überlegungen und Vorschläge für die Durchführung einer vom Masters-und-Johnson-Konzept ausgehenden modifizierten Paarsexualtherapie. Den therapeutischen Schwerpunkt legen Bauer und Maß auf das verhaltenstherapeutische Handeln. Sie zeigen aber die notwendige fachliche Flexibilität insbesondere in der sexualtherapeutischen Arbeit mit Paaren, was auch eine Würdigung des über viele Jahre bewährten Hamburger Paartherapiekonzeptes sexueller Störungen von Gerd Arentewicz, Margret Hauch, Gunter Schmidt und anderen bedeutet.

Zahlreiche Fallvignetten und -beispiele bereichern die praktische Umsetzung der therapeutischen Konzepte, eingebettet in detaillierte Beschreibungen des fachlichen Handelns, die zeigen, wie eine Paarsexualtherapie konkret verläuft. Die einzelnen störungsübergreifenden Komponenten ermöglichen durch ihre Ergänzung mit störungsspezifischen Aspekten auch eine gute Übertragung auf die Einzeltherapie mit Männern und Frauen.

Es gibt zahlreiche Fachbücher zur Sexualtherapie. Diese sind entweder sehr theoriebezogen oder eignen sich eher als Ratgeber für Betroffene. Der große Wert des vorliegenden Buches ist sein »State of the Art« einer modernen Sexualtherapie, der Theorie und Praxis anschaulich verbindet. Sehr geeignet für alle, die sich für die sexualtherapeutischen Konzepte interessieren, besonders aber für Kolleginnen und Kollegen, die wissen möchten, wie die Therapie sexueller Störungen, insbesondere in der Arbeit mit Paaren, wirkungsvoll funktioniert.

Steffen Fliegel

Kapitel 1


Einführung

Das Thema der menschlichen Sexualität, ihrer Störungen und der Behandlung dieser Störungen ist außerordentlich komplex und bewegt sich wie kaum ein anderes in diversen Spannungsfeldern: Psychologie vs. Medizin vs. Soziologie vs. Biologie, Individuum vs. Gesellschaft(1), Psychotherapie vs. Pharmakotherapie, Forschung vs. Praxis, Verhaltenstherapie vs. Psychoanalyse vs. Systemische Therapie vs. Körperpsychotherapie – um nur einige zu nennen. Es gibt dementsprechend zahlreiche Publikationen über Sexualtherapie, geschrieben aus den verschiedensten Perspektiven, so dass man die Frage aufwerfen kann, welchen Zweck ein weiteres Buch noch verfolgen kann.

In den einschlägigen Zeitschriftenartikeln, Monographien und Herausgeberwerken werden zwar die gängigen Therapiekonzepte mehr oder weniger ausführlich dargestellt und oft mit zahlreichen Kasuistiken illustriert, jedoch findet dabei kaum eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweils vorgestellten Konzepten statt. Das liegt vermutlich daran, dass in der Fachliteratur die Therapiekonzepte üblicherweise von ihren eigenen Vertreterinnen und Vertretern beschrieben werden. Eine unabhängige Bewertung und ein objektiver Vergleich der verschiedenen Ansätze sind auf diese Weise schwer zu erreichen. Das ist eine Lücke, die mit diesem Buch geschlossen werden soll. Bei der Auswahl der von uns in Kapitel 2 betrachteten Konzepte sind wir nach deren Bedeutung und Verbreitung im deutschsprachigen Raum vorgegangen. Wir haben uns auf seriöse Konzepte mit wissenschaftlichem Anspruch beschränkt. Zudem haben wir nur intensivere Formen der Behandlung berücksichtigt. Im sogenannten PLISSIT-Schema (Annon, 1976) werden mögliche Interventionen bei sexuellen Problemen in vier Stufen steigender Intensität unterteilt:

  1. Permission,

  2. Limited Information,

  3. Specific Suggestions und

  4. Intensive Therapy.

Die von uns berücksichtigten Konzepte gehören in diesem System zu der letztgenannten Stufe. Trotz dieser Auswahlkriterien entspricht die Auswahl unserer persönlichen Sichtweise; andere Autoren würden möglicherweise zu anderen Ergebnissen kommen.

So, wie aus unserer Sicht Sexualität oft eine Bühne ist, auf der Beziehungsprobleme eines Paares in Form sexueller Symptome dargestellt werden, so spiegelt auch in einem größeren Maßstab der Umgang einer Gesellschaft(2) mit Sexualität bestimmte soziale Zustände wider. Darum können sexuelle Störungen und Sexualtherapie nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden. Diese Perspektive kommt in verschiedenen Passagen unseres Buches zum Ausdruck. Kapitel 4 stellt im Zusammenhang mit mangelndem sexuellen Verlangen die Kulturabhängigkeit sexueller Normen dar. Zu unserer modernen Kultur gehört auch die allgemeine Tendenz zur Medikalisierung immer weiterer Lebensbereiche. Kapitel 5 zeigt, wie sehr die Sexualität davon betroffen ist.

Im zweiten Hauptabschnitt dieses Buches in Kapitel 6 präsentieren wir theoretische Überlegungen und praktische Vorschläge zur Durchführung einer modifizierten Sexualtherapie für Paare auf der Grundlage des Konzepts von Masters und Johnson. Im Zentrum steht dabei der Sensate Focus(1). Unsere Wirkfaktorenanalyse zeigt, dass diese Technik ein ungemein effektives Instrument ist, dessen therapeutische Bandbreite heute oft unterschätzt wird.

Kapitel 3 ist ein Gastbeitrag von Dirk Revenstorf und Elsbeth Freudenfeld, in dem sie den Einsatz hypnotherapeutischer Interventionen in der Paar- und Sexualtherapie veranschaulichen. Sie präsentieren zahlreiche Beispiele für die Trance-Arbeit an spezifischen Problemen der männlichen und weiblichen Sexualität.

Das vorliegende Buch befasst sich mit Störungen sexueller Funktionen und ihrer psychologischen Behandlung, und zwar primär in paartherapeutischen Settings. Viele andere Themen können dabei nicht berücksichtigt werden, etwa die Endokrinologie oder Physiologie der Sexualität, Paraphilien, Trans- und Intersexualität oder forensische Fragen. Wir verweisen diesbezüglich auf hervorragende wissenschaftliche Nachschlagewerke wie Sigusch (2007) oder Briken & Berner (2013).

Unser Buch wird wahrscheinlich Widerspruch von vielen Seiten auslösen und wir sind uns bewusst, dass wir uns gewissermaßen zwischen die Stühle setzen. Manchen Lesern und Leserinnen wird das von ihnen selbst favorisierte Therapiekonzept in unserer Bewertung zu schlecht abschneiden (oder auch einfach fehlen), andere werden unsere Betrachtungen zu wissenschaftlich bzw. zu klinisch finden oder sich unseren konzeptuellen Vorschlägen nicht anschließen. Das lässt sich leider nicht ändern. Wir hoffen, dass es in diesem Buch für jeden zumindest ein paar Abschnitte von Wert gibt. Wir würden uns freuen, wenn auch unsere kritischen Anmerkungen als Ausdruck unseres Respekts vor den Leistungen der Kolleginnen und Kollegen verstanden werden würden, die sich schon lange vor uns mit Sexualtherapie auseinandergesetzt haben.

Es ist schwer einzuschätzen, wie eng Sexualtherapeuten sich an die Vorgaben des Konzepts halten, in dem sie ausgebildet wurden; vermutlich gibt es dabei beträchtliche Unterschiede. Viele Therapeutinnen und Therapeuten arbeiten eklektizistisch und benutzen in ihrer alltäglichen therapeutischen Arbeit eine Mischung unterschiedlicher therapeutischer Schulen. Manchmal ist es auch gar nicht möglich, Konzepte in ihrer »reinen« Form anzuwenden; so setzt ein paartherapeutisches Konzept die Arbeit mit einem Patientenpaar voraus, aber nicht immer sind beide Partner bereit, sich auf die Therapie einzulassen, oder der Patient ist alleinstehend. Es ist dann selbstverständlich möglich, nur die Teile eines Konzepts zu verwenden, die für eine Einzeltherapie geeignet sind. Die Analysen und Bewertungen in diesem Buch beziehen sich allerdings immer auf die ursprünglichen Therapiekonzepte, so wie sie in der verfügbaren Originalliteratur beschrieben wurden.

Dieses Buch richtet sich an Sexualtherapeutinnen und Sexualtherapeuten in eigener Praxis, in Beratungsstellen, Ambulanzen oder Kliniken, die hier möglicherweise Anregungen für die eigene Tätigkeit finden können. Es richtet sich ebenso an Psychologische und Ärztliche Psychotherapeuten, Sozialpädagogen und andere psychotherapeutisch qualifizierte Kolleginnen und Kollegen, die in ihrer alltäglichen Arbeit immer wieder mit sexuellen Problemen konfrontiert werden und die sich vielleicht für eine Spezialisierung in Sexualtherapie interessieren. Darüber hinaus soll es Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in Ausbildung eine Orientierung bieten und sie an das sexualtherapeutische Arbeitsfeld heranführen.

Wir haben uns beim Schreiben um eine einfache, klare Sprache bemüht, so dass das Buch auch für interessierte Laien verständlich sein sollte. Wir haben überlegt, wie wir mit dem Problem unangemessener geschlechtsspezifischer Sprache umgehen wollen und haben uns entschieden, zugunsten einer besseren Lesbarkeit auf alternative Sprachregelungen mit dem Binnen-I (»PsychologIn«), dem Schrägstrich (»Patient/-in«) oder mit Klammern wie bei »Therapeut(inn)en« zu verzichten. Wir benutzen zumeist das generische Maskulinum, sofern die Geschlechtszugehörigkeit unwichtig ist; gelegentlich verwenden wir Doppelnennungen, wenn besonders hervorgehoben werden soll, dass beide Geschlechter gemeint sind.

Kapitel 2


Übersicht über die wichtigsten sexualtherapeutischen Konzepte

2.1 Das revolutionäre Konzept von Masters und Johnson

2.1.1 Vorbemerkungen

Die sexualwissenschaftlichen Studien von William H. Masters (1915 – 2001) und Virginia E. Johnson (1925 – 2013) begannen 1954. Es lohnt sich, einen Blick auf den gesellschaftlichen Kontext dieser Zeit zu werfen.

Der Kalte Krieg hatte begonnen. Die sogenannte McCarthy-Ära, benannt nach dem republikanischen US-Politiker und »Kommunistenjäger« Joseph McCarthy (1908 – 1957), war noch nicht zu Ende gegangen. Es war ein Jahrzehnt, das durch paranoide Ängste vor dem Kommunismus und durch die inquisitorische Verfolgung politisch Verdächtiger geprägt war. Insbesondere das berüchtigte »Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe« hatte daran wesentlichen Anteil. In einer modernen Hexenjagd wurden nicht nur Marxisten, sondern auch liberale Intellektuelle und Filmschaffende verfolgt, es wurden »Schwarze Listen« geführt, Berufsverbote und Haftstrafen ausgesprochen.

Die soziologischen Arbeiten des Zoologen und Sexualwissenschaftlers Alfred Kinsey(1), die heute als Auslöser der sexuellen Revolution(1) der 1960er Jahre gelten, hatten heftige gesellschaftliche Kontroversen ausgelöst. Kinsey(2) und Mitarbeiter hatten in zwei großen Buchpublikationen zum Sexualverhalten des Mannes (1948) bzw. der Frau (1953), die als Kinsey Reports bekannt wurden, mit gesellschaftlichen Tabus gebrochen. Die durch Interviews an über 11 000 Männern und Frauen gewonnenen Ergebnisse zeigten beispielsweise, dass homosexuelle Erfahrungen auch bei heterosexuellen Personen häufig vorkommen und Bisexualität somit weit verbreitet ist, dass Masturbation (zumindest bei Männern) häufig vorkommt und unschädlich ist, also nicht zu psychischen Störungen führt, und dass vor- und außereheliche sexuelle Kontakte weit verbreitet sind.

Für konservative und christliche Kreise stellten die beiden Bücher eine unerträgliche Provokation dar, die Reaktionen waren entsprechend drastisch. Der ebenso einflussreiche wie fanatische Evangelikale und Erweckungsprediger Billy Graham, Präsidentenberater und Befürworter des Vietnamkrieges (heute würde man ihn einen »Hassprediger« nennen), hetzte ab 1950 in einer eigenen Radiosendung gegen den Kommunismus und gegen die Feinde des Christentums. Insbesondere die Studien Kinsey(3)s bekämpfte er, weil er sie als verheerend für die amerikanische Moral ansah. Das Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe sah auch in den Kinsey(4)-Studien kommunistische Aktivitäten und übte Druck auf die Rockefeller-Stiftung aus. Diese Stiftung hatte bis dahin die umfangreichen Untersuchungen Kinsey(5)s finanziert und stellte unter dem Druck des Komitees 1954 ihre Förderung ein. Das bedeutete faktisch das Ende von Kinsey(6)s Forschung. Der frühe Tod dieses unpolitischen Sexualforschers im Jahr 1956 wird in Zusammenhang mit den erlittenen Repressalien gebracht.1

Masters und Johnson hatten ihre Arbeit in den 1950er Jahren aufgenommen. Sie gründeten 1964 die Reproductive Biology Research Foundation; die Einrichtung wurde 1978 in Masters and Johnson Institute umbenannt und 1994 mit dem Eintritt von William Masters in den Ruhestand geschlossen. In der Stiftung bzw. dem Institut führten Masters, Johnson und ihre Mitarbeiter ihre sexualwissenschaftlichen Studien durch. Dabei verwendeten sie eine völlig andere Methodik als Kinsey(8). Es wurden experimentelle Laboruntersuchungen durchgeführt, zunächst mit männlichen und weiblichen Prostituierten, später auch mit »gutbürgerlichen« Personen und Ehepaaren, während diese masturbierten oder Geschlechtsverkehr hatten. Des Weiteren wurden Messungen physiologischer Reaktionen vorgenommen und systematische Beobachtungen durchgeführt. Bis dahin hatte noch kein Forscher und keine Forscherin gewagt, so zu arbeiteten. Im Zentrum des Forschungsinteresses von Masters und Johnson standen zunächst Anatomie und Physiologie der normalen sexuellen Reaktionen, später wurden auch die sexuellen Funktionsstörungen einbezogen. 1966 legten Masters und Johnson in ihrem ersten Hauptwerk Human Sexual Response ihre Ergebnisse vor. Darin beschrieben sie einen typischen sexuellen Reaktionszyklus für Männer und Frauen. Sie identifizierten vier getrennte Abschnitte, die sich trotz vieler Variationen (Dauer, Intensität) stets in dieser Abfolge zeigten: 1. Erregung, 2. Plateau, 3. Orgasmus (ggf. wiederholt) und 4. Rückbildung. Dieses Vier-Phasen-Modell der sexuellen Reaktion war für Sexualforschung und Sexualtherapie lange Zeit vielleicht ähnlich richtungweisend wie das Standardmodell für die Elementarteilchenphysik. Masters und Johnson betrachteten die sexuelle Reaktion als natürlichen biologischen Vorgang, der sich bei gesunden Menschen von selbst einstellt, sofern er nicht gestört wird.

Auf der Grundlage des Vier-Phasen-Modells entwickelten Masters und Johnson ab 1958 ihr berühmtes Therapieprogramm zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen, bei dem eine bestimmte Paarübung, der sogenannte Sensate Focus(2), von zentraler Bedeutung war. Ab 1959 wurden Frauen mit Vaginismus(2) oder Orgasmusstörung sowie Männer mit Erektionsstörung(1) oder vorzeitiger bzw. verzögerter Ejakulation behandelt. Die Ergebnisse wurden 1970 publiziert. Das Konzept war offenbar »die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt« (Clement, 2014). Der rationale, körperfreundliche Therapieansatz passte zu dem Zeitgeist der sexuellen Revolution(2), der mit dem Zurückdrängen sexualfeindlicher Moralvorstellungen, der Enttabuisierung von Sexualität und einer wachsenden Toleranz gegenüber sexuellen Bedürfnissen einherging. Ein weiterer Grund für den spektakulären Erfolg des Programms von Masters und Johnson war seine Konkurrenzlosigkeit. Zwar gab es vereinzelt schon spezifische Techniken zur Anwendung bei bestimmten sexuellen Funktionsstörungen (siehe Übersicht bei Arentewicz & Schmidt, 1980), jedoch kein umfassendes Therapiekonzept. Kurioserweise tat sich auch die Psychoanalyse, in der die Sexualität traditionell zentrale Bedeutung hat (z. B. Freud, 1905), mit der Behandlung sexueller Funktionsstörungen schwer (vgl. Richter-Appelt, 1999).

Ein besonderes Verdienst von Masters und Johnson ist die Beschreibung der Performance Anxiety(1) (sinngemäß zu übersetzen mit Leistungsdruck bzw. Versagensangst) und ihrer Bedeutung bei der Entstehung sexueller Funktionsstörungen. In der Performance Anxiety sahen sie den primären ätiologischen Faktor; weitere Bedingungen wie z. B. eine restriktive Sexualmoral sind sekundär und entfalten ihre schädliche Wirkung nur in Zusammenhang mit der Performance Anxiety (vgl. Apfelbaum, 1977). Deren Ursachen liegen in den impliziten Erwartungen an das eigene »richtige« sexuelle Verhalten und Erleben, also die eigenen sexuellen Skript(1)e (Gagnon & Simon, 1973) und das in uns allen tief verwurzelte Bedürfnis, sozialen Erwartungen zu entsprechen:

» . . . die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit [fear of inadequacy, Anm. d. A.] ist das größte bekannte Hindernis für effektives sexuelles Funktionieren, einfach weil sie das angstvolle Individuum so vollständig von seiner natürlichen Reaktionsfähigkeit ablenkt, indem die Wahrnehmung sexueller Reize, die vom Partner ausgehen oder zurückgegeben werden, abgeblockt wird« (Masters & Johnson, 1970, S. 12 f.; Ü. d. A.).

Vielleicht war diese Überlegung der Grund für Masters und Johnson, ihrem Buch von 1970 den eigenartigen Titel »Human Sexual Inadequacy«2 zu geben: Der Eindruck der eigenen sexuellen Unzulänglichkeit führt direkt zu Angst und Druck. Die wahre Bedeutung und Tragweite der Performance Anxiety(2) wird nach Apfelbaum (2001) bis heute von vielen Sexualtherapeuten nicht richtig verstanden.

2.1.2 Beschreibung

Ein wesentliches und innovatives Prinzip des Ansatzes von Masters und Johnson war die Grundhaltung, keine Einzelperson, sondern die Paarbeziehung als »Patienten« zu betrachten. Die Einbeziehung des symptomfreien Partners in die Behandlung wurde als ebenso wichtig betrachtet wie die Behandlung des Symptomträgers selbst:

» . . . so etwas wie einen unbeteiligten Partner in einer sexuell gestörten Ehe gibt es nicht« (Masters & Johnson, 1970, S. 2, Ü. d. A.).

Masters und Johnson wussten, dass die Sexualtherapie auch für den symptomfreien Partner mit intensiven Erfahrungen verbunden ist; wenn z. B. die Frau eines Mannes mit verzögertem Samenerguss erstmals erlebt, dass dieser in ihr ejakuliert, oder wenn der Mann einer vaginistischen Frau erstmals seinen Penis in ihre Vagina einführen kann. Darum ist es in einer Sexualtherapie wichtig, stets beide Partner im Auge zu behalten. Selbst Symptomrückgänge können unerwartete Folgen haben.

Die Paardynamik wird immer von einem etwaigen sexuellen Symptom beeinflusst, ist aber nicht automatisch dessen Ursache (vgl. Kolodny et al., 1979). So kann die Ursache eines Symptoms, z. B. die prägende Erfahrung einer Grenzüberschreitung, in der Kindheit liegen und lange Zeit ohne erkennbare Folgen bleiben. Zur Symptombildung kommt es möglicherweise erst dann, wenn die betreffende Person erstmals eine feste Partnerschaft eingeht und dann gleichsam von der bisher verborgenen Traumatisierung »eingeholt« wird.

Masters und Johnson führten auch das Prinzip der Behandlung eines Patientenpaares durch ein gemischtgeschlechtliches Therapeutenteam ein. Dieses soll gewissermaßen die Rolle »guter Eltern« übernehmen (vgl. Kolodny et al., 1979, S. 477 ff.). Masters und Johnson gingen davon aus, dass kein Mann je die Sexualität oder die sexuelle Störung einer Frau, keine Frau die Sexualität oder die sexuelle Störung eines Mannes vollständig verstehen kann. Außerdem könne ein männlicher Patient in besonderer Weise von den Erläuterungen der Therapeutin profitieren und vice versa. Das Vierer-Setting verhindert, dass ein Mann mit einer sexuellen Dysfunktion zwei Frauen bzw. eine Frau mit einer sexuellen Dysfunktion zwei Männern gegenüber sitzt und sich unterlegen fühlt. Ein weiterer Grund für die Arbeit mit gemischtgeschlechtlichen Therapeutenteams war die Sorge, es könne aufgrund von Übertragungsphänomenen zu einer Sexualisierung der therapeutischen Beziehung kommen:

»Eine zusätzliche, günstige therapeutische Konsequenz der Präsenz beider Geschlechter im Therapeutenteam betrifft den klinischen Aspekt der Übertragung. Übertragung vom Patienten auf den Therapeuten als Autoritätsperson findet immer statt. [. . .] Anstatt emotionale Strömungen zwischen Patientenpaar und Therapeutenteam zu erzeugen, sind die Therapeuten sehr daran interessiert, die emotionale und sexuelle Bewusstheit zwischen den beiden Partnern zu verstärken . . .« (Masters & Johnson, 1970, S. 7, Ü. d. A.).

Beide Therapeuten sind gleichberechtigt und tragen im Therapieprozess die gleiche Verantwortung, ob sie nun gerade mit einem Patienten sprechen oder zuhören. Masters & Johnson (1970) beschrieben die Erfahrung, dass ein Team bessere Ergebnisse erzielen kann als ein Therapeut oder eine Therapeutin allein. Allerdings fanden LoPiccolo et al. (1985), die 81 Paare mit sexuellen Funktionsstörungen behandelten, keine Unterschiede zwischen Behandlungen durch einen vs. zwei Therapeuten – wie zuvor bereits Clement & Schmidt (1983); auch machte es keinen Unterschied, ob der Therapeut in Bezug auf Symptomträger gleich- oder gegengeschlechtlich war. In späteren Jahren räumten Masters und Johnson ein, dass die Arbeit in einem Therapeutenteam zwar ideal zur Ausbildung von Sexualtherapeuten ist, aber

» . . . ein erfahrener Therapeut bzw. eine erfahrene Therapeutin ist vollständig in der Lage, sexuelles Leiden zu beheben, wenn er bzw. sie sich der klinischen Tendenzen bewusst bleibt, die sich aus seinem oder ihrem individuellen Geschlecht ergeben« (Masters & Johnson, 1986, S. 6, Ü. d. A.).

Das Therapieprogramm wurde bei Masters und Johnson in einem Intensivsetting mit täglichen Sitzungen über zunächst drei, überwiegend aber zwei Wochen durchgeführt. Zumeist verbrachten die Patienten diese Zeit außerhalb ihrer gewohnten Umgebung, z. B. in einem Hotel, gingen nicht zur Arbeit etc., so dass die Konzentration auf den therapeutischen Prozess ungestört von Alltagsanforderungen war. Diese Isolation galt als eine wesentliche Voraussetzung für den Therapieerfolg. Prinzipiell wurden Paare behandelt, aber Masters & Johnson (1970) berichteten auch von der Behandlung alleinstehender Personen (54 Männer, 3 Frauen), die von sogenannten Replacement Partners (Personen, die vom Patienten selbst ausgewählt wurden, z. B. ein Ex-Partner aus einer früheren Beziehung) oder Partner Surrogates (Freiwillige, die von den Therapeuten ausgewählt wurden; keine Prostituierten) begleitet wurden.

Beim Einstieg in die Therapie wurden die Paare über den weiteren Ablauf mit Interviews, medizinischen Untersuchungen und der Roundtable-Sitzung aufgeklärt, auch darüber, dass alle Sitzungen auf Tonband aufgezeichnet werden.

In den ersten beiden Tagen des Therapieprogramms wurden beide Partner ausführlichen Interviews unterzogen. Über insgesamt ca. sieben Stunden wurden die Partner einzeln befragt, am ersten Tag vom gleichgeschlechtlichen, am zweiten Tag vom gegengeschlechtlichen Therapeuten. Dabei ging es unter anderem um die aktuellen sexuellen Symptome und deren Bedeutung für die Paarbeziehung, außerdem um Einstellungen zur Sexualität, psychosexuelle Entwicklung, Masturbationsphantasien, Lebensgeschichte, besondere Lebensereignisse, Religiosität, Beziehungen zu Familienangehörigen, schulisch-berufliche Entwicklung, Arbeitssituation, Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit vor und in der aktuellen Beziehung, Selbstbild, Körperlichkeit sowie Bedeutung von Sinneswahrnehmungen. Besonderes Augenmerk wurde darauf gerichtet, die sexuelle Entwicklung in Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung des Individuums zu verstehen:

»Der häufigste Fehler bei der Erhebung einer Sexualanamnese ergibt sich aus der Annahme, dass die sexuelle Vorgeschichte unabhängig von der medizinischen und psychosozialen Vorgeschichte ist, welche das Individuum als ganze Person widerspiegelt« (Masters & Johnson, 1970, S. 24, Ü. d. A.).

Der vorgeschlagene Fragenkatalog zur Erhebung der Anamnese ist ungewöhnlich detailliert und umfasst 17 Seiten des Buches von 1970. Die Paare sollten bis zur Roundtable-Sitzung keine Diskussion über die Inhalte der in ihren Interviews behandelten Themen führen.

Beim Roundtable kamen Patientenpaar und Therapeutenteam wieder zusammen (auch alle weiteren Sitzungen fanden zu viert statt). Die Ergebnisse der Interviews und Untersuchungen waren zuvor von den Therapeuten ausgewertet und daraus ein Erklärungsmodell für die sexuelle Störung abgeleitet worden, welches dem Paar im Roundtable-Gespräch vermittelt wurde. Das Paar war dabei aufgefordert, die Ausführung der Therapeuten ggf. zu korrigieren oder zu ergänzen, wenn diese fehlerhaft war. Im Gespräch wurden die individuellen Lebens- und Beziehungsgeschichten rekapituliert und deren Zusammenhänge mit den sexuellen Funktionsstörungen dargestellt. Dabei wurden etwaige sexuelle Mythen, Fehlinformationen, falsche Erwartungen, Kommunikationsprobleme und dysfunktionale Verhaltensmuster aufgedeckt. Das Störungsverständnis war die Grundlage für die anschließende Behandlung. Das Paar wurde ferner angehalten, bis auf weiteres auf jede offen sexuelle Handlung zu verzichten. Diese Regel hatte den Zweck, den Leistungsdruck zu mindern und das Paar zu entlasten. Abschließend wurden Instruktionen für die ersten Sensate-Focus-Übungen gegeben.

Die Paare sollten sich bis zur folgenden Sitzung am nächsten Tag Zeit für zwei Übungen nehmen, für deren Länge es nur vage Vorgaben gab; wichtig war, die Übungen ohne Druck durchzuführen (»Fünf angenehme Minuten sind besser als eine stressige halbe Stunde«). Die Übungen sollte das Paar allein und ungestört in seinem privaten Bereich durchführen. Die Partner begaben sich dazu unbekleidet auf eine bequeme Unterlage (z. B. das Bett) und begannen damit, abwechselnd3 den Körper des anderen mit den Händen zu berühren und zu erkunden. Dabei durften die Genitalien und die weiblichen Brüste anfangs noch nicht einbezogen werden (»Tabuzonen«). Die taktilen Empfindungen standen im Vordergrund, aber auch die Beachtung aller anderen Sinnesmodalitäten wurde angeregt. Es gab den »gebenden« (aktiven) und den »empfangenden« (passiven) Partner. Der gebende Partner sollte den empfangenden Partner erspüren, massieren oder streicheln, mit der Absicht, sinnliches Vergnügen hervorzurufen und die individuellen Vorlieben des Partners zu entdecken, ohne dabei bestimmte Reaktionen zu erwarten oder zu verlangen (Non-demanding Touch). In zweiter Linie sollte der gebende Partner auch für sein eigenes Vergnügen sorgen, seine eigenen Vorlieben bei den Berührungen erkunden, unterschiedliche Wahrnehmungsqualitäten erfahren und die Resonanz des »empfangenden« Partners wahrnehmen. Ziel des Sensate Focus(3) war das möglichst angstfreie Kennenlernen der Vorlieben und Aversionen des Partners. Zwar waren gezielte sexuelle Stimulationen zu diesem Zeitpunkt der Behandlung per Instruktion noch untersagt, aber dennoch auftretende sexuelle Erregung war durchaus erwünscht und sogar Teil des Konzepts:

»Jede Art von sexueller Ansprechbarkeit in dieser ungezwungenen, nicht auf Leistung ausgerichteten Situation ist selbstverständlich das ultimative Ziel der Übungen« (Masters & Johnson, 1970, S. 89, Ü. d. A.).

Dabei wurde angenommen, dass die Wahrnehmung des Genusses und der sexuellen Erregung, die der eine Partner mit seinen Berührungen bei dem anderen ausgelöst hat, eine stimulierende Rückwirkung auf ihn selbst hat. Bei der Exploration in der anschließenden Therapiesitzung wurde daher auch danach gefragt, welche Zeichen von Erregung man beim Partner beobachtet hat. Es sollte damit die Erfahrung vermittelt werden, dass sich sexuelle Erregung spontan aus den gegenseitigen Berührungen ergibt und nicht gezielt angestrebt werden muss. Der empfangende Partner war selbst dafür verantwortlich(1), bei unangenehmen Berührungen durch entsprechende Rückmeldungen für sich zu sorgen:

»Der Empfänger hat lediglich die Verantwortung dafür, den Partner, der ihm »Vergnügen bereitet«, davor zu bewahren, einen Fehler zu begehen, der zu Unannehmlichkeiten führt, ablenkt oder irritiert« (Masters & Johnson, 1970, S. 72, Ü. d. A.).

Weitere Kommentare, z. B. zu besonders angenehmem Berührungen, wurden als überflüssig erachtet. Masters und Johnson betrachteten den Sensate Focus(4) als eine Methode zum Erlernen nonverbaler Kommunikation(1). Nach einer unbestimmten Zeit (s. o.) sollten die Partner die Übung mit getauschten Rollen fortsetzen, der zunächst aktive Partner sollte die passive Rolle übernehmen und umgekehrt.

Am vierten Tag wurden die Erfahrungen und Beobachtungen aus den ersten Übungen sorgfältig exploriert und ausgewertet. Es wurde herausgearbeitet, inwieweit es dem Paar gelungen war, die Vorgaben umzusetzen und z. B. die Berührungen entspannt und ohne Angst und Druck zu genießen. Der weitere Therapieverlauf war abhängig von den Fortschritten des Paares. Für die nächsten beiden Sensate-Focus-Übungen wurde die neue Regel eingeführt, dass der empfangende Partner die Hand des gebenden Partners führen kann, um diesem zu zeigen, welche Berührung als besonders angenehm erlebt wird. Es sollte ein verbaler und non-verbaler Kommunikationsprozess gefördert werden, in dem sich beide ihre gegenseitigen Bedürfnisse mitteilen und sich verstehen lernen. Die Tabuzonen wurden aufgehoben, aber jede gezielte sexuelle Stimulation war vorläufig noch untersagt. Spontan auftretende sexuelle Erregung war weiterhin willkommen. In dieser Sitzung arbeiteten Masters und Johnson außerdem psychoedukativ, um dem Paar Grundlagenwissen über die Anatomie der Genitalien zu vermitteln, z. B. mit Bildmaterial. Der weitere Therapieverlauf nach dem vierten Tag richtete sich nach den jeweiligen Symptomen.

Ejaculatio praecox(1). Bei vorzeitigem Samenerguss(2) wurde die sogenannte Squeeze Technique4 eingesetzt. Dabei wurde der Mann, auf dem Rücken liegend, von der zwischen seinen Beinen sitzenden Frau bis zur Erektion stimuliert. Wenn der Mann kurz von der Ejakulation war, sollte die Frau die Technik für drei bis vier Sekunden anwenden, 15 bis 30 Sekunden warten und dann die Stimulation fortsetzen. Der Mann konnte dabei die Hand der Frau führen, z. B. um ihr zu zeigen, wie stark sie zudrücken kann. Zunächst sollte der Mann ihr mitteilen, wenn die Squeeze-Technik(1) erforderlich wurde, aber die Frau sollte nach und nach selbst den richtigen Zeitpunkt erkennen. Der Mann sollte auf diese Weise lernen, seine Erregung besser wahrzunehmen und die Erektion länger aufrechtzuerhalten. In weiteren Sensate-Focus-Übungen legte er sich auf den Rücken, während die Frau sich auf ihn setzte und seinen Penis in sich aufnahm. Das Paar sollte in dieser Position verharren. Zwischendurch konnte bei Bedarf wieder die Squeeze-Technik(2) eingesetzt werden. In den nächsten Übungen sollte der Mann mit vorsichtigen Beckenbewegungen beginnen. Sobald er hinreichende Kontrolle über seine Ejakulation erreichte, wurde die Frau angeregt, selbst ebenfalls Beckenbewegungen zu machen. Später wurde eine andere Stellung für den Coitus empfohlen, bei der das Paar auf der Seite liegt. Hierdurch werde dem Mann die Kontrolle über die Ejakulation erleichtert. Am Ende der Behandlung wurde der weitere Einsatz der Squeeze-Technik(3) für ein halbes bis ein Jahr empfohlen.

Ejaculatio retarda. Bei verzögertem Samenerguss wurde dem Paar dieselbe Stellung empfohlen wie im letzten Abschnitt beschrieben (Mann auf dem Rücken liegend, Frau zwischen seinen Beinen sitzend). Die Frau sollte den Mann nun auf jede für sie selbst akzeptable Weise bis zum Orgasmus stimulieren. Der Mann sollte ihr dabei helfen und ihr z. B. rückmelden, welche Art der Stimulation für ihn gut ist. Nachdem er in einigen Übungen auf diese Weise zum Orgasmus gebracht wurde, sollte die Frau sich in einem nächsten Schritt auf ihn setzen und den Penis rasch einführen, sobald die Ejakulation unmittelbar bevorstand und unvermeidlich war, ohne die Stimulation zu unterbrechen; sie konnte nach dem Einführen mit Beckenbewegungen die Stimulation fortsetzen. Sofern es nicht unmittelbar zur Ejakulation gekommen war, sollte die Frau wieder heruntersteigen und die Stimulation von neuem beginnen. Nachdem es dem Mann auf diese Weise drei- oder viermal in den Übungen gelungen war, in seiner Frau zu ejakulieren, sollte das Paar dazu übergehen, den Penis in einem Zustand nicht unmittelbar vor der Ejakulation einzuführen und so die Zeit bis zur intravaginalen Ejakulation schrittweise zu verlängern.

Erektionsstörung(3). Bei Erektionsstörungen(4) wurde den Männern vermittelt, dass sie (ganz i. S. des Vier-Phasen-Modells) prinzipiell sehr wohl zur Erektion befähigt seien, weil die Erektion eine natürliche Funktion ist. Der bei diesen Männern oft enorme Leistungsdruck und die damit verbundene ängstliche Selbstbeobachtung sollten gemindert werden:

» . . . ein impotenter Mann sollte nie versuchen, seiner Frau allein mit der Absicht Vergnügen5 zu bereiten, von ihr im Gegenzug selbst angenehm stimuliert zu werden. Er muss sich ihr vor allem zu ihrem Vergnügen widmen, und muss dann zulassen, sich in der Wärme und Tiefe ihrer Reaktionen zu verlieren, um auf diese Weise seine unpersönliche Beobachterrolle abzulegen.« (Masters & Johnson, 1970, S. 198, Ü. d. A.).

Kein Mann könne eine Erektion erzwingen, aber er könne sich entspannen und es genießen, wenn die Erektion auftritt. Zentrales Ziel bei der Behandlung von Erektionsstörungen(5) war daher eine Veränderung der inneren Einstellung des Paares; dem Mann sollten Versagensangst und Selbstbeobachtung, der Frau die Sorge um die Leistungsfähigkeit ihres Mannes genommen werden. Die Erektionsstörung(6) wurde somit nicht direkt behandelt, vielmehr ging es um die psychischen Faktoren, welche sie aufrechterhalten. Die Therapeuten betonten beispielsweise bei der Exploration der Übungen, dass sie kein Interesse an »perfekten Ergebnissen« (i. e., an einer Erektion) haben; auch bei der späteren Einbeziehung von Brüsten und Genitalien wurde betont, dass es auch jetzt nicht auf Lubrikation oder Erektion ankommt. – Im weiteren Verlauf wurde schrittweise die gezielte Penis-Stimulation eingeübt, bis schließlich die Einführung des Gliedes in die Vagina und der Coitus möglich wurden.

Weibliche Orgasmusstörung.(2)(7)