ISBN: 978-3-95428-644-7
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
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Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Die Erzählung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.
Für meine Frau Ana
Das riesige Regal stürzte um. Lawinenartig rollten die Salatköpfe auf den Flüchtenden zu. Flink wie ein Hase schlug er einen Haken und rannte ins angrenzende Erdbeerlager. Dort stand in riesigen Plastikkisten die wohlsortierte Ware zur Vermarktung bereit. In zwei Stunden würden Mohammed und Bekir die Kisten auf den Lieferwagen laden und die 10 km bis in die Mannheimer Innenstadt fahren. Dort, im frühmorgendlichen Verkehrschaos am Marktplatz, würden sie anhalten, wie immer, auf dem schmalen Streifen hinter der Tiefgarageneinfahrt. Sie würden die Ware rasch ausladen und dann den Stand aufbauen. Jeder Handgriff war eingespielt. Zum Schluss würde Bekir das Schild aufhängen: Frische Erdbeeren aus der Pfalz
Das umfallende Regal verursachte ein schepperndes Geräusch. Aber das war hier nichts Besonderes. Im Lager gab es oft Lärm, selbst mitten in der Nacht. Jetzt wurde in manchen Nächten durchgearbeitet und keiner würde sich über diesen Lärm wundern.
Ein drahtiger Mann versteckte sich hinter einer Wand aus Kartoffelsäcken. Dort wehte ihm der Duft von frischem Spargel entgegen. Plötzlich krachte ein Schuss. Er streifte seine Schulter. Mit einem katzenartigen Sprung nahm der Mann hinter einem Regal Deckung. Der nächste Schuss kam aus einer anderen Richtung.
‚Der Angreifer ist also nicht allein, aber sie vermuten mich weiter links’, folgerte er sachlich. Blitzschnell arbeiteten seine Gedanken. Ein Projektil schlug neben ihm in die Wand.
Wenn er nur eine Waffe hätte. Wie naiv war er gewesen zu glauben, sie würden ihn in Ruhe lassen, sie würden ihn einfach sein Leben leben lassen, hier zwischen den Salatköpfen und den Kartoffelknollen. Selbst die beste Tarnung bedeutete nur einen Zeitgewinn. Er würde sie bis an sein Lebensende im Nacken haben. Es sei denn, er käme ihnen zuvor, er würde sie zuerst umbringen und zwar alle.
Sie hatten ihn eingekreist, aber aufgeben würde er dennoch nicht. Er hatte noch Möglichkeiten zu entkommen, die würde er nutzen. Noch war er nicht am Ende.
Scheppernd fiel etwas zu Boden. Stimmen ertönten vom anderen Ende des Lagers. War es Bechtel, der mitten in der Nacht Kontrollgänge machte? Hatte er den Lärm trotz seines tiefen Schlafs doch bemerkt? Bechtel war ein gebranntes Kind im wahrsten Sinne des Wortes. Deswegen war es gut möglich, dass er plötzlich nachts hier aufkreuzte.
Vor zwei Jahren hatte ein Großbrand fast das ganze Lager vernichtet. Ein übermüdeter Erntearbeiter war nachts mit einer brennenden Zigarette im Mund eingeschlafen. Der Mann hatte zum Glück den Rauch noch bemerkt und konnte dem sicheren Tod entkommen, aber es war ein großer Schaden entstanden. Seither machte Bechtel manchmal Kontrollgänge. Meistens ging er mit einem Stock in der Hand, weil sich, wie er sagte, auch allerhand Gesindel auf seinem Hof herumtreibe.
‚Bechtels Kontrollgänge wären jetzt mein Glück’, ging es dem Flüchtenden durch den Kopf.
Wie hatte er Bechtel gehasst, die unverschämte Art der Demütigung. Er hatte es hingenommen, hatte es sich gefallen lassen, von diesem primitiven Bauern „Kameltreiber“ genannt zu werden. Auch das gehörte zu seiner Tarnung. Er durfte nicht auffallen, durfte nichts Besonderes sein, musste genauso im Dreck leben, wie die vielen, namenlosen kurdischen Iraker, die in Deutschland eine neue Heimat suchten. Sogar die Hände hatte er sich kaputt gemacht bei der Spargelernte.
Zuerst hatte er den Klang der deutschen Sprache ordinär gefunden. Die vielen gutturalen Laute, die besonders im Dialekt der Vorderpfalz zu hören waren, stießen ihn ab. Am Anfang hatte er das Gefühl gehabt, die Leute sprachen nicht, sondern sangen, aber brachten bei ihrem Gesang die Tonleiter total durcheinander.
Leider hörte er jetzt nicht die gutturalen Laute Bechtels, der es fertigbrachte, das Nachbardorf Friedelsheim ohne Vokale auszusprechen. Frdlsm, sagte er immer. In seinem Versteck erinnerte er sich, wie er zusammen mit einem russischen Kollegen einen halben Tag unterwegs war, um das Dorf Owwerkum zu suchen, das „Obrigheim“ geschrieben wurde.
Die Sprache, die jetzt im Lager zu hören war, klang auf eine andere Art derb als jenes Pfälzisch. Und die Stimme war die eines Menschen, der es gewohnt war, Befehle zu geben. Kurz und schneidig klangen die Worte, die sich durch den Raum schnitten wie hartes Metall. Er spürte regelrecht, wie diese Schnitte immer näher kamen und wie sie seinen Lebensraum zerschnitten. Lange würde er hier nicht mehr bleiben können.
Keine Deckung war gut genug, um auf Dauer darin verharren zu können. In der modernen Kriegsführung waren Raum und Zeit eins und verschmolzen im dynamischen Fluss der Ereignisse. Das richtig zu erkennen war die Voraussetzung, um zu überleben. Er wusste das und er wusste, dass es auch die beiden Angreifer wussten, denn sie kamen in die Halle zurück.
Sie hatten rasch bemerkt, dass er nicht durch das große Tor geflohen war, das wäre zu einfach und zu offensichtlich gewesen. Auch sie kannten ihn und wussten, was er wusste. Folglich musste er sich noch im Inneren des Lagers aufhalten, dort in diesem dynamischen System von Raum und Zeit, in das sie ebenso eingebunden waren wie der, den sie verfolgten.
Sie wussten, dass ihr Opfer unbewaffnet war. Die Makarow PM, auf die er so stolz gewesen war, lag noch unter seiner Matratze. Er hatte keine Zeit gehabt, sie zu holen.
Er versuchte, herauszufinden, wo seine beiden Verfolger Deckung genommen hatten. Kein Laut war jetzt zu hören und in der Halle war es stockdunkel bis auf das Fenster an der rechten Wand, durch das ein spärliches Licht vom Hof fiel. Aber die Vermutung lag nahe, dass sie ihn einkreisen würden. Einer würde sich vermutlich von links in Richtung Notausgang bewegen. So würden sie rasch die Raumbeherrschung zurückgewinnen, die sie verloren hatten, als sie aus der Halle gingen. Der Notausgang war die einzige Möglichkeit, zu entkommen. Viel Zeit blieb ihm aber nicht mehr. Zwei, drei Minuten noch. Zwei, drei Minuten zwischen Leben und Tod. Alles hing davon ab, den kleinen Notausgang zu erreichen, den Bechtel nach dem Brand hatte einbauen lassen.
Hinter dieser Tür war freies Feld. Kein Licht. Der Himmel war verhangen. Er würde rennen, blitzschnell, 500 Meter Spurt bis zum Bach.
‚Sie werden mich nicht treffen. Kein Licht, nur der Mond.’
Mit einem katzenartigen Sprung schnellte er aus seiner Deckung heraus. Die Angreifer waren überrascht, wieder waren sie mit ihrer Einschätzung falsch gelegen. Noch 20 Meter bis zum Notausgang. Die Schützen hatten sich umgedreht. Sie hoben ihre Pistolen.
Als er den Knall hörte, hatte er bereits die Tür erreicht. Er drückte die Klinke herunter, doch etwas leistete Widerstand. Erst in diesem Moment spürte er den Schmerz in seinem Unterschenkel, erst jetzt stellte sich die Lähmung ein und er sackte zusammen. Aber auch ohne diese Verletzung hätte er seinen Verfolgern nicht entkommen können, denn die Tür ging nicht auf. Jemand hatte den Ausgang von außen mit Erdbeerkisten zugestellt. Das war bequem, denn von dort konnte die Ware leicht auf den Lastwagen geladen werden, der am nächsten Morgen zum Mannheimer Wochenmarkt fahren sollte.
Im Fallen bemerkte der Verletzte noch einen anderen Schmerz. Eine zweite Kugel hatte ihn getroffen. Blut quoll aus seiner Brust.
Durch das Fenster des Zimmers 202 im Mannheimer Polizeipräsidium strahlte die Sonne eines wunderbaren Morgens. Das Wetter versprach herrlich zu werden.
Kommissar Jürgen Bauer rückte sich seinen Schreibtischstuhl zurecht. Kommissarin Anette Schreiber war bereits am Telefonieren.
Bauer hatte die letzten paar Tage damit verbracht seinen Schreibtisch aufzuräumen, was ihm schließlich halbwegs gelungen war. An seinem Arbeitsplatz sah es ordentlich und ungewohnt übersichtlich aus.
Die aufgeschobenen Berichte waren geschrieben und zum Schluss hatte er noch, aus statistischen Gründen, eine Aufstellung seiner Überstunden gemacht.
Er lehnte sich zurück und schaute zu Anette hinüber.
„Ja, ja“, hörte er sie sagen. Sie telefonierte und blickte so zu ihm herüber, als ob sie wolle, dass er mithöre. Als er nickte, schaltete sie den Lautsprecher an. Kommissar Bauer erkannte die Stimme Mandels, des Polizeichefs.
„Ich kenne den Ort: Maxdorf“, sagte Anette, nachdem sie sich versichert hatte, dass Bauer zuhörte.
„Ein langweiliges Gemüsedorf keine halbe Stunde von hier. Aber das liegt doch in Rheinland-Pfalz, dürfen wir denn dort überhaupt ermitteln?“
Bauer hörte Mandels Stimme. „Wir dürfen“, sagte er. „Die Kollegen haben uns um Amtshilfe gebeten, weil der Tote, offenbar ein Migrant, seinen Wohnsitz in Mannheim hat. Sie wollen, dass wir den Fall mit ihnen gemeinsam bearbeiten, weil wir möglicherweise Informationen haben, die zur Aufklärung des Falles beitragen könnten. Außerdem brauchen sie die Unterstützung unserer Kriminaltechnik. Nehmen Sie unseren Spezialisten gleich mit. Die drüben scheinen ja viel von Herrn Baumann zu halten. Was macht Kommissar Bauer gerade, arbeitet er an einem Fall?“
„Zurzeit liegt bei uns nichts Dringendes vor und wenn der Ermordete in Mannheim gewohnt hat, dann ist das ja im gewissen Sinn auch unser Fall. Wir machen uns gleich auf den Weg.“
Der Polizeipräsident diktierte ihr die Adresse des Bauernhofs. Dann legte sie den Hörer auf und wandte sich an Bauer.
„Um was geht es eigentlich?“ Bauer hatte den Anfang des Gesprächs nicht mitbekommen.
„Wir sollen nach Maxdorf fahren. Ein Toter wurde auf einem Bauernhof gefunden. Erschossen, in der Nacht oder am frühen Morgen. Mehr weiß ich auch nicht. Hannes soll mitkommen, aber das hast du ja gehört.“
Baumann wartete schon unten auf dem Hof und stieg in den silberfarbenen Dienstwagen der beiden Kommissare ein. Der Kriminaltechniker wirkte an diesem Morgen besonders missmutig und unaufgeräumt. Anfangs war der Badener Baumann dem aus Norddeutschland stammenden Kommissar Bauer gegenüber sehr reserviert, aber das hatte sich rasch gelegt und mittlerweile waren die beiden sogar fast zu Freunden geworden. Deshalb wunderte sich Bauer über die schlechte Laune des Kriminaltechnikers. An dessen Einsilbigkeit hatte er sich mittlerweile schon gewöhnt.
Hannes Baumann war, wenn es um Dinge außerhalb seiner Spezialgebiete ging, ungewöhnlich wortkarg. Nur wenn er über sehr komplexe Spurenlagen, Hinweise oder Konstellationen an einem Tatort zu berichten hatte, lebte er regelrecht auf und kam manchmal, wie Bauer fand, sogar ins Schwafeln. An diesem Morgen zeigte Hannes ein faltenzerfurchtes Gesicht, das Bauer an die E.T.-Puppe erinnerte, mit der er in seiner Kindheit gespielt hatte.
War Hannes schlechter Laune, gebot es sich, ihn besser gar nicht anzusprechen. Das wusste Anette, das wusste Bauer mittlerweile auch.
Die Fahrt nach Maxdorf verlief also schweigend. Sie fuhren am Schloss vorbei, über die Rheinbrücke in Richtung Bad Dürkheim.
Kurze Zeit später bogen sie ab. Die Landschaft ähnelte der in Bauers Heimat und ein Gemüsefeld reihte sich an das nächste. Der Kommissar fühlte sich an Bardowick erinnert, wo seine Tante wohnte. Diese Tante war mit dem Gemüseanbau reich geworden.
Vor einer großen Lagerhalle auf freiem Feld standen bereits Polizisten. Bauer kannte einige Neustädter Kollegen von seinem letzten Fall her, der ihn an die Weinstraße geführt hatte. Im Zusammenhang mit diesem Fall hatte er seine jetzige Lebensgefährtin kennengelernt, die auf sehr tragische Weise in jene Ereignisse verstrickt gewesen war. Neustadt war ihm, trotz der Brutalität jenes Verbrechens, dennoch in guter Erinnerung geblieben. Und auch jene kumpelhaften, pfälzischen Kollegen mochte er sehr.
Sie waren ganz anders als die Beamten aus Norddeutschland. Trotz der Schwere ihrer Aufgaben wirkten diese Süddeutschen locker und lebensbejahend. Bauer drückte ihnen freundschaftlich die Hand. Auch Hannes schien seine pfälzischen Kollegen gut zu kennen, denn er duzte sich mit einigen Beamten. ‚Komisch´, dachte Bauer. ‚Unter diesen Pfälzern blüht der alte Griesgram richtig auf.´
Sie wurden in die Lagerhalle geführt. Es roch nach frisch gepflückten Erdbeeren, die aus den aufgestapelten Kisten grellrot hervorleuchteten.
Vor einer Tür mit der Aufschrift: Notausgang. Bitte immer freihalten! lag der Ermordete.
Bauer schaute den Leichnam genau an. Eine schlanke, drahtige Gestalt, nicht viel größer als 1,70 Meter. Er trug seine schwarzen Haare glatt und hatte einen dünnen Oberlippenbart. Die Augen, die weit aufgerissen ins Leere starrten, hatten einen hellen Ton. Gekleidet war er in eine schwarze Lederjacke. Die war jetzt voller Staub und an der Seite etwas abgeschabt.
Von ihren Neustädter Kollegen, die sie bei der Ankunft begrüßten, hatten die Mannheimer Beamten erfahren, dass es sich bei dem Getöteten um einen Mann aus dem Irak handelt. Dieser Mann hatte auf dem Hof als Erntehelfer gearbeitet.
Hannes Baumann begab sich in der Halle auf Spurensuche. Er führte immer eine Art Zwiegespräch mit den Spuren und rekonstruierte mittels seiner überdurchschnittlich ausgeprägten Imaginationskraft den Tathergang. Jedes noch so kleine Detail nahm er auf und fügte es in seinem Kopf zusammen. Er kam durch seine Art der Tatortanalyse manchmal zu den erstaunlichsten Schlussfolgerungen, die ins Stocken geratene Ermittlungen auf ungeahnte Weise wieder in Gang brachten.
Davon hatte sich der Kommissar bei seinem ersten Mordfall in Mannheim selbst überzeugen können. Dabei war es um einen als Selbstmord getarnten Mord gegangen. Nach wochenlanger Analyse aller Spuren war Hannes auf ein winziges Detail gestoßen – den Blütenstaub einer seltenen Orchideenart, von der der Täter nichts wissen konnte.
Dadurch war zu beweisen gewesen, dass der tote Bankier keinesfalls freiwillig aus dem Leben geschieden war.
Bauer zweifelte daran, ob in Hamburg, wo er seine erste Dienstzeit verbracht hatte, irgendjemand einen solch raffiniert vertuschten Mord hätte aufklären können.
An der Eingangstür stand ein gestikulierender Mann, offenbar der Chef des Betriebes, wie der Kommissar vermutete. Zusammen mit Anette ging er auf den Mann zu.
„Guten Morgen!“, grüßte der Kommissar den breitbeinig dastehenden Landwirt.
„Mein Name ist Kommissar Bauer, das ist meine Kollegin, Kommissarin Schreiber. Kennen Sie den Toten?“
Der Angesprochene hatte graugrüne Arbeitskleidung an und eine uniformartige Mütze auf dem Kopf, die Bauer an die älteren Männer aus seiner Kindheit erinnerte, die in Bardowick die Erdbeerfelder vor den räuberischen Kinderhorden und den einfallenden Zugvögeln schützten.
Bechtel, der Besitzer der Maxdorfer Gemüsehallen und der Felder, nahm mit einer theatralischen Geste die Mütze vom Kopf und kratzte sich an seiner Glatze.
„Ja, natürlich kenne ich den Mann. Wie man die Leute hier so kennt, die einem das Arbeitsamt schickt. Der kam aus Mannheim. Aber er hat seit einiger Zeit sogar hier gewohnt. Ibrahim heißt er. Ibrahim war ziemlich in Ordnung, ein Kurde halt, Iraker glaube ich, aber das steht alles im Personalordner. Hinten, im Obstlager, hat er sich ein Zimmer eingerichtet. Er wollte morgens immer bei den Ersten sein, die in der Halle waren und die erste Rhein-Haardt-Bahn kommt hier immer erst gegen halb sechs an. Das war ihm zu spät. Deshalb hat er mich gefragt, ob er hier übernachten könne. Wie gesagt, er war ein guter Arbeiter. Ich habe es ihm erlaubt. Da hatte ich wenigstens jemanden, der nachts das Lager bewachte.“
„Warum bewachen Sie Ihr Lager? Wird hier denn eingebrochen?“, wollte Anette wissen.
„Ach, Sie glauben ja nicht, was hier alles gestohlen wird. Wir haben hier ordentliche Arbeiter, die sehr fleißig sind. Aber es treibt sich auch eine ganze Menge Gesindel auf Europas Straßen herum. Da muss man aufpassen. Manche klauen wie die Raben. Deshalb habe ich ruhiger geschlafen, seit Ibrahim nachts im Lager war. Der hielt die Augen offen. Auf ihn konnte ich mich verlassen. Und wenn er nachts mal wegblieb, erschien er morgens immer pünktlich zur Arbeit.“
„Wissen Sie außer dem Vornamen auch die Adresse des Toten?“
Bauer hatte seinen Notizblock gezückt.
„Natürlich!“, entgegnete Bechtel.
„Er heißt Ibrahim Abbas und alles, was Sie über ihn wissen wollen, finden Sie in dem Personalordner, der drüben im Büro für Sie bereit liegt. Meinen Sie, bei mir geht es illegal zu? Ohne Papiere stelle ich keinen ein. Die Unterlagen aller Leute, die hier arbeiten, sind sauber abgeheftet. Meine Frau hat Ihnen den Ordner von Abbas schon herausgesucht. Sie können ihn gleich mitnehmen.“
„Danke. Wissen Sie, ob der Tote Angehörige in Deutschland hat?“
„Ich glaube, er hatte keine Familie. Jedenfalls ist mir nichts davon bekannt. Im Personalbogen hat er auch angegeben, dass er ledig sei. Ich habe mir dieses Formular heute Morgen extra noch mal angesehen. Ich dachte, wenn er Familie hat, muss die ja als Erstes benachrichtigt werden. Er hatte scheinbar keine. Aber ich glaube, dass er eine Freundin hatte. Er wurde ein paar Mal mit einem Auto abgeholt. Eine schöne, schlanke, junge Frau mit langen schwarzen Haaren. Ich glaube, das war keine Irakerin. Sie war vom Typ her eher eine Osteuropäerin. Man bekommt ja mit der Zeit einen Blick für die unterschiedlichen Menschentypen. Es könnte eine Serbin gewesen sein oder eine Bulgarin. Eine Polin glaube ich nicht, auch keine Ukrainerin. Aber man kann sich leicht täuschen. Kürzlich war eine hellhäutige, blonde Frau bei mir. Blaue Augen, schlankes Gesicht. Ich dachte, die kommt bestimmt aus der Ukraine, aber sie kam aus Marokko und sprach kaum ein Wort Deutsch, nur Arabisch.“
Bauer war noch am Aufschreiben, als Anette schon ins Büro auf der anderen Seite des Hofes ging. Dort lag der Ordner mit den Unterlagen des Toten für sie bereit. Sie fand eine Reihe von Bescheinigungen der ARGE. Dann den Personalbogen auf dem eine Adresse im Mannheimer Jungbusch angegeben war. Als Herkunftsland war auf diesem Bogen in fein säuberlicher Handschrift „Irak“ vermerkt.
Der Tote war 1970 in Kirkuk geboren, im kurdischen Nordteil des Landes. Er hatte vor zwei Jahren Asyl beantragt, das ihm auch bewilligt worden war. Als Flüchtling kam er nach Baden-Württemberg. Er bekam eine kleine finanzielle Unterstützung und konnte sich durch die landwirtschaftliche Arbeit noch einige hundert Euro dazuverdienen, die mit der Unterstützung verrechnet wurden.
Als Bauer das Nachtquartier des Toten untersuchen wollte, traf er auf Hannes, der sich bereits mit den Hinterlassenschaften des Ermordeten in dem kleinen, spartanisch eingerichteten, aber sauberen Raum auseinandergesetzt hatte. Der Kriminaltechniker hatte die Matratze umgedreht und untersuchte die Spuren auf ihrer Unterseite.
„Hier könnte ein harter Gegenstand, vielleicht eine Pistole, gelegen haben. Schau dir mal diesen Eindruck an. Der hat genau die Form. Das werden wir genauer untersuchen müssen.“
Bauer nickte anerkennend.
„In der Lagerhalle haben wir mehrere abgeprallte Projektile entdeckt. Es muss da eine ziemliche Ballerei gegeben haben. Mich wundert´s, dass niemand etwas gehört haben will. Selbst wenn sie Schalldämpfer benutzt haben, es scheppert doch ziemlich, wenn Kugeln von den Metallregalen abprallen.“
„Kannst du schon etwas zum Hergang der Tat sagen?“, fragte Bauer nach.
„Noch nicht viel. Nur so viel vielleicht, dass es ihm wahrscheinlich gelungen ist, vor seinen Verfolgern, ich vermute, dass es mindestens zwei gewesen sind, in die Halle zu fliehen. Die Art und Weise, wie er sich nach der Spurenlage in der Halle bewegt haben könnte, lässt einige Rückschlüsse auf seinen Charakter zu: Er hat entweder ein ziemliches Glück gehabt, oder er konnte mit solchen Situationen professionell umgehen. Vielleicht hatte er eine militärische Ausbildung. Jedenfalls hat er über mehrere Stationen Deckung gesucht und sich systematisch zum Notausgang vorgearbeitet. Er hätte ja auch zum Haupttor rennen können. Das hätte mit Sicherheit fast jeder getan. Aber dass er das nicht gemacht hat, spricht für die Intelligenz, mit der er reagiert hat. Der zugestellte Notausgang wurde ihm dann zum Verhängnis. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Wäre es ihm gelungen, durch diese Tür zu fliehen, hätte er seine Verfolger wohl abschütteln können. Getroffen wurde er, soweit ich das jetzt feststellen konnte, von zwei Kugeln. Eine ging in den Unterschenkel und die zweite mitten ins Herz. Ich schätze aus einer Entfernung von vielleicht 50 Metern. Pistolen sind aus dieser Distanz oft nicht so zielgenau. Der tödliche Schuss könnte aber auch ein Abpraller gewesen sein, der erst das Regal getroffen hat. Das müssen wir erst noch genauer untersuchen.“
„Was ist mit der Waffe, die du unter der Matratze vermutet hast? Könnte sie das Opfer benutzt haben?“, fragte Bauer weiter.
„Das wäre möglich, aber das wissen wir erst, wenn wir seine Hände nach Schmauchspuren untersucht haben. In seiner Nähe haben wir ja keine Waffe gefunden. Wenn sie da gewesen war, ist sie jetzt verschwunden. Die Mörder könnten sie mitgenommen haben oder vielleicht war sie schon vorher weg. Wie gesagt, die Schmauchspuren könnten uns da weiterhelfen. Wir werden sehen.“
Hannes machte sich wieder an die Arbeit und Bauer sah sich im Zimmer um.
Ein Bett, ein Tisch, ein kleines Regal auf dem nur ein Buch lag. Dieses Buch war in ein grünes Tuch eingeschlagen. Bauer nahm ein Paar Gummihandschuhe vom Tisch und streifte sie über. Er wollte keine Spuren verwischen. Vorsichtig nahm er das Buch aus dem Regal. Er entfernte das Tuch und entdeckte, was er erwartet hatte – einen in wunderschöner arabischer Kalligrafie gedruckten Koran.
Die Koranausgabe wies überhaupt keine Gebrauchsspuren auf. Bauer blätterte vorsichtig darin. Im hinteren Drittel des Buches entdeckte er das Foto einer Frau. Er schätzte sie auf Ende zwanzig oder höchstens Anfang dreißig. Lange, glatte, dunkle Haare. Sie hatte ein zartes Gesicht mit hellem Teint. Den Gesichtszügen nach konnte die Frau aus Südosteuropa stammen. Vom Typ her könnte sie mit der Frau identisch sein, von der Bechtel erzählt hatte.
Auf dem Foto sah Bauer einen der für die Gegend typischen Waldwege. In dieser Art gab es Hunderte im Pfälzer Wald. Auch die Vegetation und die Topografie hatten auf den ersten Blick nichts Besonderes: Mischwald, dazwischen roter Buntsandstein. Die Frau hatte sich an einen solchen Felsen angelehnt und lächelte in die Kamera. Er würde die Pfälzer Kollegen fragen, ob sie sagen könnten, wo das Foto entstanden war. Dann erkannte Bauer an dem Stein im Foto eine Markierung. Diese Markierung würde die Suche nach dem Ort sicher erleichtern.
Der Kommissar holte eine Lupe aus Baumanns Werkzeugkiste. Nach und nach entzifferte er die Inschrift: Gerichtsstätte. Beim Wandern war Bauer öfter auf solche Hinweissteine gestoßen. Begriffe, die auf ein historisches Ereignis, einen Platz oder einen Ort hindeuteten, waren auf diesen zu lesen. Hier hatte es also einmal eine Gerichtsstätte gegeben. Der Hinweis war in den Stein hineingemeißelt und mit gelber Farbe hervorgehoben. Aufgrund dieser Markierung müsste leicht herauszufinden sein, an welcher Stelle im Pfälzer Wald das Foto aufgenommen worden war.
Vorsichtig nahm Bauer die Fotografie aus dem Buch. Er steckte sie in einen leeren Briefumschlag, den er in seiner Jacke fand. Den Koran packte er so gut er konnte wieder in das Tuch und legte das Paket in die Kiste, die Hannes für das Einsammeln des Eigentums des Toten bereitgestellt hatte.
„Wie lange wirst du noch brauchen?“, wollte der Kommissar von Hannes Baumann wissen, der zusammen mit einem Kollegen aus Neustadt Fingerabdrücke von den Gegenständen im Raum abnahm.
„Das kann ich nicht genau sagen. Aber ich schätze, dass wir hier mindestens noch bis zum Abend zu tun haben werden.“
„Und wie kommst du dann zurück?“
„Mit dem Leichenwagen. Ich habe veranlasst, dass der Tote nach Mannheim überführt wird. In der Pathologie dort haben wir mehr Möglichkeiten, den Leichnam zu untersuchen. Außerdem hat er ja in Mannheim gewohnt. Er gehört also uns.“
Bauer verabschiedete sich von den beiden Rechtsmedizinern mit einem kurzen Kopfnicken und ging in Bechtels Büro, wo er seine Kollegin über die Personalakte gebeugt sah. Bechtel saß neben ihr auf einem Stuhl und schien ihr etwas zu erklären.
Der Kommissar hielt Bechtel das Foto vor die Nase:
„Kennen Sie diese Frau?“, wollte er von ihm wissen.
Der Angesprochene rückte seine Brille zurecht.
„Ja, das ist sie“, rief er spontan. „Das ist die Frau. Sie hat Ibrahim mehrfach abgeholt. Er hat sich immer sehr fein gemacht, wenn er mit ihr ausgegangen ist. Ibrahim achtete immer auf sein Äußeres. Aber wenn diese schöne Frau kam, setzte er noch eins drauf.“
Bechtel schmunzelte verständnisvoll.
„Wissen Sie, was für ein Auto diese Frau gefahren hat?“
„Nein, nicht so genau. Aber es war nichts Besonderes, ein alter Golf oder so. Ich glaube, ihr Fahrzeug war rot. Aber wenn Sie mich so fragen, es könnte auch blau gewesen sein. Und auf das Nummernschild habe ich auch nicht geachtet. Ich spioniere den Saisonarbeitern nicht hinterher. Da hätte ich ja viel zu tun.“
Anette nahm die Personalakte des Toten an sich und folgte Bauer zum Fahrzeug.
Als sie und Jürgen Bauer im Mannheimer Präsidium ankamen, war es 14 Uhr. Sie gingen zuerst einmal in die Kantine und holten das versäumte Mittagessen nach. Bauer zählte gerade auf, was er bis zum Abend alles in die Wege leiten wollte: „Zuerst werde ich bei der ARGE …“, aber seine Kollegin bremste seinen Eifer, indem sie energisch den Kopf schüttelte:
„Das kannst du alles alleine machen. Ich verabschiede mich nämlich jetzt und fahre nach Hause. Ich habe so viele Überstunden angesammelt, die mal abgebaut werden müssen. Außerdem muss ich meinen Schwiegereltern bei der Erdbeerernte helfen. Etwas Bewegung tut mir gut. Ich roste nämlich langsam ein. Und die Erdbeerernte ist da der richtige Ausgleich.“
Anette wirkte glücklich, als sie sich Richtung Ausgang entfernte.
Seufzend nahm Bauer die Entscheidung seiner Kollegin zur Kenntnis.
Nachdem er in der Geschäftsstelle der ARGE mehrfach mit verschiedenen Mitarbeitern verbunden worden war, die sich alle für nicht zuständig erklärt hatten, landete er schließlich bei einer Dame, die am Telefon einen sehr kompetenten Eindruck machte.
Sie sei die „Fallbetreuerin“ von Ibrahim Abbas, sagte sie bedeutungsvoll und betonte jede einzelne Silbe dieses Wortes. Bereitwillig erzählte sie über ihren „Kunden“, wie sie ihn nannte: „Abbas ist vor zwei Jahren als Kontingentflüchtling nach Mannheim gekommen. Er war damals einer der letzten gewesen, die einreisen durften, denn der Krieg war ja schon länger vorbei. Er kam im Winter vor zwei Jahren das erste Mal zu mir. Ich glaube, das war Ende Februar. Er hatte Transferleistungen beantragt und diese offensichtlich auch bekommen. Wir hatten ihm allerdings zur Auflage gemacht, dass er einen Deutschkurs besuchen sollte, einen Vorbereitungskurs zur B1-Prüfung. Das hat er anfangs abgelehnt.“ Sie blätterte in ihren Akten.
„Zweimal habe ich ihm mit der Kürzung der Transferleistungen gedroht, einmal habe ich sie sogar tatsächlich gekürzt. Ich wollte, dass er die deutsche Sprache wenigstens einigermaßen lernt. Jung genug war er ja noch. Ich hatte keine Nachsicht mit ihm. Das hat gewirkt. Er hat sich gefügt und den Integrationskurs besucht.“
Sie lachte und Bauer war sich nicht sicher, ob dieses Lachen liebevoll oder gehässig war.
„Ja, er hat gute Fortschritte gemacht. Vor allem in den letzten Monaten hat sich sein Deutsch sehr verbessert. Das lag sicher auch daran, dass er sich immer besser integriert hat. Er hat für sein Aufnahmeland eine Sympathie entwickelt, die zu Beginn einfach nicht da war. Am Anfang hat er nur geschimpft, vor allem auf die Amerikaner, die sich überall in der Welt alles herausnehmen könnten. Die Deutschen seien nicht viel besser. Sie ließen sich von den Amerikanern alles gefallen. Mich hat damals Ibrahims negative Ausstrahlung besonders gestört. In den letzten Monaten hat er sich aber auch in diesem Punkt ziemlich verändert. Wie verwandelt kam er mir vor, als ich ihn nach einigen Monaten wiedergesehen habe. Guten Gewissens konnte ich ihm dann diese Arbeit in Maxdorf vermitteln. Ich habe mich mehrfach bei Herrn Bechtel über ihn erkundigt. Herr Bechtel war mit Ibrahim sehr zufrieden. ‚Ein verantwortungsvoller Mann’, hat Bechtel gesagt. Ein Mann, auf den man sich verlassen könne.“
Es entstand eine kurze Gesprächspause, in der die Fallbetreuerin scheinbar die Sprechmuschel ihres Hörers zuhielt und mit jemandem in ihrem Büro tuschelte.
„Sie sagen, Abbas sei ermordet worden?“, fragte die Fallbetreuerin nach einer kurzen Weile und mit einem Ton, der auf Mitgefühl schließen ließ: „Das tut mir leid.“
Sie hielt kurz inne.
„Seine Akte kann ich dann wohl schließen. Bitte schicken Sie mir noch etwas Offizielles, etwas, das ich abheften kann.“
Bauer versprach es.
Das helle Morgenlicht fiel in das verglaste Treppenhaus.
Kurz nach acht betrat Betrana Stojeva das Lehrerzimmer und hängte ihren leichten Übergangsmantel an den Kleiderhaken. Sie nahm einige Kopiervorlagen aus ihrem Ordner. Präpositionen mit Dativ und Akkusativ wollte sie heute durchnehmen. Sie ging in den Kopierraum und stellte am Gerät die Zahl 16 ein.
„Achten Sie darauf, dass Sie alles zweiseitig kopieren“, hatte ihr Herr Wellig, der Leiter des Institutes, letzte Woche zum wiederholten Male eingeschärft. Sie hatte schuldbewusst genickt. Schuldbewusst, weil sie am liebsten jede Seite einzeln kopierte, damit die Schüler den Erklärungsteil und die Aufgaben nebeneinander legen und sich so immer wieder vergewissern konnten, dass sie bei ihren Antworten die Grammatikregeln befolgten. Außerdem blieb der Kopierer immer hängen, wenn sie die warmen Blätter noch einmal durchlaufen lassen wollte. Das kostete Zeit und Wellig legte Wert auf absolute Pünktlichkeit beim Unterrichtsbeginn.
Es war zwanzig nach acht, als sie mit dem Kopieren fertig war. Im Lehrerzimmer waren bereits andere Kollegen eingetroffen, die sich die Unterrichtsmaterialien aus dem Regal holten. Betrana grüßte distanziert. Sie hatte zu den Kolleginnen und den wenigen Kollegen, die an diesem Institut den Migranten Deutsch beibrachten, kaum Kontakt. Das lag weniger an den Kollegen, sondern an ihr. Sie hielt bewusst Distanz. Wenn die anderen Lehrer im Lehrerzimmer plauderten, suchte sie immer das Weite.
Kurz vor halb neun war sie in ihrem Klassenzimmer. Einige ihrer Schüler waren bereits eingetroffen. Ronak aus dem Irak war ihr aus dieser Gruppe am liebsten. Sie könnte Ronak fragen, ob sie etwas von Ibrahim gehört hatte. Er war seit Tagen nicht mehr zum Unterricht erschienen. Das war ungewöhnlich und beunruhigte sie.
Wenig später trafen weitere Schüler ein. Ein Chinese, höchst intelligent, wie sie fand, Ingenieur von Beruf, aber kaum in der Lage, deutsche Laute zu artikulieren. Dann noch Slawa, ein sehr engagierter und ehrgeiziger Russe, der immer seine Hausaufgaben machte, was die anderen nur selten taten. Die meisten hatten auch gute Gründe dafür. Die Mütter waren oft von den Kindern in Anspruch genommen. Die Männer arbeiteten meist nebenher für geringen Lohn bei irgendwelchen Verwandten, die kleine Geschäfte betrieben.
Um 8:40 Uhr kam eine sympathische Kubanerin, die einen viel älteren deutschen Mann geheiratet hatte und jetzt in einem Vorort von Mannheim in einem Reihenhaus lebte. Sie war, so war Betranas Eindruck, zufrieden mit ihrem Los.
Insgesamt standen 16 Schülerinnen und Schüler auf Betranas Liste, aber selten waren alle da. Meistens fehlten einige, weil die Kinder krank waren oder sie irgendwo einen Job hatten, der sie so sehr beanspruchte, dass sie den Unterricht nicht besuchen konnten.
Ibrahim Abbas fehlte äußerst selten und wenn, dann hatte er sich bisher vorher immer entschuldigt. Seit Donnerstag letzter Woche war er aber verschwunden. Sie wusste, drüben in Maxdorf gab es jetzt viel zu tun: Erdbeerernte, aber bisher konnte er seine Schicht immer so legen, dass er zum Unterricht kommen konnte.
Ibrahim war ehrgeizig und wollte Deutsch lernen. Das war nicht immer so. Anfangs hatte er eine ziemliche Verweigerungshaltung an den Tag gelegt. Doch von einem Tag auf den anderen trat dann eine Veränderung ein. Er konkurrierte mit Slawa, aber das war, wie Betrana fand, gut für ihn. Er brauchte die Herausforderung. Für die B1-Prüfung in zwei Wochen hatte er sich schon angemeldet. Mit diesem Zertifikat konnte er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.
In den acht Monaten, in denen sie ihn kannte, hatte sich seine Einstellung zu Deutschland nicht besonders verändert. Er wollte die Staatsbürgerschaft nicht, weil ihm an diesem Land so viel lag, sondern weil er glaubte, das Leben würde durch den deutschen Pass leichter werden.
Dass Ibrahim einfach nicht zum Unterricht kam, nicht anrief und auch sonst nichts von sich hören ließ, passte nicht zu der disziplinierten Art, die sie von ihm kannte.
Betrana begann den Unterricht und verdrängte ihre Sorgen um Ibrahim. Sie war eine gute Lehrerin. Bei den meisten Schülern kam ihre kommunikative Methode gut an.
Anders als die meisten ihrer Kollegen war Betrana Stojeva keine Quereinsteigerin, die über Zusatzqualifikationen ihre Zulassung erworben hatte. Sie hatte das Fach „Deutsch als Zweitsprache“ an der Mainzer Universität sogar mitbegründet und hatte großen Anteil daran gehabt, dass das Curriculum vom Kultusministerium überhaupt anerkannt wurde. Als „Deutsch als Zweitsprache“ dann an der Hochschule eingeführt wurde, hatte sich der Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Didaktik plötzlich dafür interessiert.
„Sie könnten ja als wissenschaftliche Mitarbeiterin bleiben“, hatte er Betrana vorgeschlagen. Aber sie war zu stolz, um darauf einzugehen und begann als Lehrerin bei verschiedenen Kursträgern zu arbeiten.
Die Vermittlung trockener Grammatikregeln war für Betrana eher nebensächlich. Grammatik stand bei ihr in einem engen Zusammenhang mit der Kommunikationsabsicht. Trotzdem kam sie nicht umhin, einfache grammatikalische Zusammenhänge an die Tafel zu schreiben.
Für die irakischen Frauen war die Grammatik kein Problem. Ronak war in ihrer Heimat Ärztin gewesen und ihre Mitschülerin Alaa hatte Physik studiert. Beide waren Kurdinnen und der Krieg, geführt, um den furchtbaren Diktatur Saddam Hussein zu stürzen, hatte ihre Lebensgrundlage zerstört.
Rivalisierende Banden hatten den Nordteil des Landes in ein Bürgerkriegsgebiet verwandelt. Deshalb hatten sie sich in den langen Flüchtlingstreck eingereiht, der nach Westen zog.
Die Menschen, die Betrana unterrichtete, waren klug und ehrgeizig. In kaum zwei Jahren hatten sie trotz vieler Probleme ein passables Deutsch gelernt. Sicher würden sie die anstehende B1-Prüfung problemlos schaffen.
In der zweiten Unterrichtseinheit an diesem Morgen spielte Betrana ein paar Hörtexte vor. Mit dem Hörverstehen hatten ihre Schülerinnen und Schüler die meisten Schwierigkeiten. Sie riet ihnen immer dazu, deutsche Fernsehprogramme einzuschalten. Aber da waren die meisten Männer dagegen, weil sie Sendungen wie Verbotene Liebe für schamlos hielten.
Die kurze Pause, 15 Minuten, verbrachte Betrana im Stehcafé gegenüber der Schule.
Sie lehnte sich an die Wand neben dem Stehtisch und beobachtete das Treiben an der Theke. Um diese Zeit kamen auch einige ihrer Schüler, die sich mit Kaffee versorgten. Ronak war darunter. Ronak sah sie lächelnd an. Sie mochte ihre Lehrerin, die immer so ernst und traurig aussah, und kam für einen Moment an ihren Stehtisch.
„Haben Sie in letzter Zeit Ibrahim gesehen?“, fragte die Lehrerin.
Wellig legte Wert darauf, dass zwischen Schülern und Lehrern ein sehr distanziertes Verhältnis bestand, das sich im Siezen ausdrückte, obwohl die meisten Schüler ihre Lehrer auch im Unterricht oft duzten.
„Er war schon seit Tagen nicht mehr im Unterricht. Er ist zwar gut und wird die Prüfung problemlos schaffen. Aber die Vorbereitung ist doch wichtig“, erklärte Betrana.
Die Angesprochene schüttelte den Kopf.
„Sie wissen ja, seit er einmal für zwei Wochen bei uns gewohnt hat, verstehen wir uns nicht mehr so gut. Mein Mann hat mir auch verboten, außerhalb des Unterrichts mit ihm zu verkehren. Er hält ihn für einen politischen Idioten, der immer noch an Saddam glaubt.“
„Aber in letzter Zeit hat er seine Meinung doch ziemlich geändert, oder?“, nahm ihn Betrana in Schutz.
„Ihnen zuliebe vielleicht. Er mag Sie. Deshalb redet er auch nicht mehr so viel dummes Zeug wie früher. Aber mein Mann meint, der tut nur so. Innerlich habe er sich nicht geändert.“
Betrana lächelte und fragte nicht weiter. Sie trank ihren Kaffee aus und ging zusammen mit Ronak zum Institut zurück.