Luise Rinser
Wie, wenn wir ärmer würden
oder die Heimkehr des verlorenen Sohnes
FISCHER Digital
Luise Rinser, 1911 in Pitzling in Oberbayern geboren, war eine der meistgelesenen und bedeutendsten deutschen Autorinnen nicht nur der Nachkriegszeit. Ihr erstes Buch, ›Die gläsernen Ringe‹, erschien 1941 bei S. Fischer. 1946 folgte ›Gefängnistagebuch‹, 1948 die Erzählung ›Jan Lobel aus Warschau‹. Danach die beiden Nina-Romane ›Mitte des Lebens‹ und ›Abenteuer der Tugend‹. Waches und aktives Interesse an menschlichen Schicksalen wie an politischen Ereignissen prägen vor allem ihre Tagebuchaufzeichnungen. 1981 erschien der erste Band der Autobiographie, ›Den Wolf umarmen‹. Spätere Romane: ›Der schwarze Esel‹ (1974), ›Mirjam‹ (1983), ›Silberschuld‹ (1987) und ›Abaelards Liebe‹ (1991). Der zweite Band der Autobiographie, ›Saturn auf der Sonne‹, erschien 1994. Luise Rinser erhielt zahlreiche Preise. Sie ist 2002 in München gestorben.
Luise Rinser hofft auf die Weiterentwicklung der Menschheit, sie stellt zur Diskussion – zeigt aber auch, was verspielt werden kann, wenn sich die Einstellung der Menschen zum Besitz nicht ändert.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
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ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561290-3
LUISE RINSER
Wie, wenn wir ärmer würden
oder die Heimkehr
des verlorenen Sohnes
„Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Kreislaufes, den die moderne Industrie durchläuft und deren Gipfelpunkt: die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien.“
Karl Marx
zur 2. Auflage des „Kapital“, 1873
„Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte ist der Mensch so vollständig wie heute durch den Grund seines Seins selbst an den Wert und die Vervollkommnung aller anderen um ihn herum gebunden gewesen.“
Teilhard de Chardin, 1950
„Menschliches hat immer die Zukunft im Blick. Der Mensch lebt denkend und handelnd, indem er sein Sein ständig in die Zukunft hinausdehnt. Er verdeutlicht sich im Vorhaben, und eine entscheidende Dimension dieser Zukünftigkeit ist die Hoffnung.“
P.L. Berger
Prof. für Soziologie an der
New School for Social Research
New York, 1968
„In der Welt herrscht das Absurde, aber die Liebe rettet davor.“
Albert Camus
Diese Arbeit schrieb ich 1973 auf 1974. Das Buch wurde wenig beachtet. Es war zu früh erschienen. Sieben Jahre zu früh. Nach dem Schock der ersten Ölkirse haben sich unsre Wirtschaft und unser politisch-soziales Gewissen wieder beruhigt: ist ja alles nicht so ernst, keine Suppe wird so heiß gegessen wie gekocht, und die Ölkrise war ja nur künstlich, um die Preise hochzutreiben, Öl ist genug vorhanden, und wird es wirklich knapp, so haben bis dahin unsre Techniker die schon vorhandenen alternativen Energiequellen benutzbar gemacht, uns wird nichts mangeln, unser hoher Lebensstandard wird uns bleiben, der Fortschritt wird nicht enden.
Wir waren rasch beruhigt und machten ungestört weiter mit dem Energieverbrauch, mit der Vergiftung von Wasser, Luft und Lebensmitteln, mit unserm Luxus, den wir nicht mehr als Luxus erkennen.
Aber jetzt, 1981: die Krise ist eine offene Wunde geworden. Sie ist das Tagesgespräch auf Konferenzen der Politiker und Techniker und in den Massenmedien. Wir werden aufgerufen zu sparen, man gibt uns dafür Anweisungen. Es ist nicht mehr wegzulügen: wir werden ärmer. Keine hypothetische Frage mehr, was denn wäre, wenn wir ärmer würden, sondern eine nüchterne Feststellung, daß wir dabei sind zu verarmen.
Ob wir mit Notwendigkeit ärmer werden müssen, ist freilich eine andere Frage. Ob nicht eine vernünftige Weltwirtschaft, das heißt die Beendigung der unsre Volksvermögen und Rohstoffe verschlingenden Rüstungen und die gerechte Verteilung der Güter, zeigen würde, daß wir, wenn auch ohne Luxus so doch ohne Mangel an Lebenswichtigem recht gut existieren könnten von dem, was unser Planet hergibt?
Wir haben bisher nicht vernünftig gedacht, wir haben blindwütig an unserm Untergang gearbeitet. Jetzt stehen wir betroffen vor den Folgen und haben Angst. Angst vor dem Verlust unsrer gewohnten Bequemlichkeiten. Angst davor, daß uns unser Besitz, den zu teilen wir uns weigerten, als es eine sozialistische Politik vorschlug, jetzt durch die Weltwirtschaftskrise gewaltsam entrissen wird, also nicht durch die politisch gezielte „Enteignung der Enteigner“, sondern als zwangsläufige Folge unsrer eigenen Fehler.
Im Hintergrund unsrer Angst vor der materiellen Verarmung lauert die andere: Angst vor der radikalen Unsicherheit. Woran kann man sich denn noch halten, wenn der Besitz keine Sicherheit mehr gibt? Holen wir vielleicht jetzt erst die Philosophie des Existenzialismus ein, die während des Zweiten Weltkrieges sich den Denkenden aufdrängte angesichts der Katastrophen? Begreifen wir jetzt erst, nachdem wir meinten, die Existenzphilosophie zu den akademischen Akten gelegt zu haben, daß der Atheist Sartre, der Agnostiker Camus und der christliche Marcel den realistischen Zukunftsblick hatten, als sie von dem „Geworfensein des Menschen“ redeten und uns sagten, daß wir, befangen in Traditionen, Gewohnheiten, mühsam aufrechterhaltenen Ideologien uns eine trügerische Sicherheit aufbauen und unser Leben in Selbsttäuschungen hinbringen? Wird uns jetzt erst wirklich bewußt, daß wir ins Universum Hineingeschleuderte sind, Ungeborgene, unheimlich Gefährdete? Und ist vielleicht das, was wir Energiekrise und Weltwirtschaftskrise nennen, in Wirklichkeit und Wahrheit eine ganz andere Krise? Gehts um eine andre Art von Energie? Gehts um unsre Lebensenergie, um unsre Vitalität, um unsern Mut zum Weitermachen? Schleicht nicht rund um den Erdball die Versuchung zum passiven kollektiven, langsamen Selbstmord der Menschheit, zur allgemeinen Resignation, zur Kapitulation vor dem Übermaß an Schwierigkeiten, zu leben? Sind wir es endgültig satt, Sisyphos-Arbeit zu tun: den Felsbrocken bergauf zu stemmen, der dann alsbald wieder bergab rollt? Aufbau, Zerstörung, Gewinn, Verlust, Wiederaufbau, neue Zerstörung, und so fort, immer so fort, wozu? Wer zwingt uns dazu? Wer kann uns hindern, aufzuhören, aufzugeben?
Als die Existenzphilosophie wie ein Bazillus umging, war Krieg und Verwüstung. Nun: haben wir uns nicht recht bald und recht gut wieder heraufgearbeitet? Und war dann nicht alles besser als zuvor, wenigstens in Europa? Nach dem zweiten Krieg, wie sah es da aus bei uns? Zerstörte Städte, unbrauchbare Industriezentren, eine Wirtschaft auf dem Nullpunkt, ein besiegtes, verwirrtes, tief gedemütigtes Deutschland, und die Siegerstaaten ringsum ebenfalls verarmt.
Und wenige Jahre danach begann der Boom, der allgemeine Wohlstand. Was damals gelang, das muß doch heute auch gelingen. Oder nicht?
Die Lage ist eine andre: die Verarmung ist weltweit und wir können nicht mehr auf die US-Dollars rechnen, die uns damals retteten. Wer wird uns heute retten?
Aber wovon ist da die Rede? Doch nur von Materiellem. Von der Wirtschaft, von Absatzmärkten, von Währungen, von mehr oder minder vorhandenem Wohlstand. Als ob das Leben der Menschheit identisch wäre mit der „Wirtschaft“, mit dem Geld, mit der Technik, mit dem Materiellen. Als ob Leben nur lebenswert sei, wenn es „Wohlleben“ ist. Als ob unser Glück von unserm Besitz abhinge. Als ob die Rettung der Menschheit in der Rettung des Wohlstands bestünde.
Ich schreibe dieses Vorwort zu Beginn des Jahres 1981, nachdem ich die Reden der Politiker verschiedener Nationen zum Jahreswechsel gehört und gelesen habe und auch die Vorhersagen von Futurologen, Hellsehern, Astrologen und Kabbalisten, und die vox populi, die Gespräche meiner Nachbarn und Freunde, Menschen verschiedenster Schichten und politischer Richtungen: allenthalben auch eine müde Gleichgültigkeit, Pessimismus. Kein Politiker und auch kein Theologe hielt es für opportun, uns zu sagen, wie es wirklich um uns steht. Man sagte die Wahrheit in Weihnachtspapier verpackt. Mein Eindruck: man lehrt uns das Überspielen der Wirtschaftskrise. Wer auch wollte sich so unpopulär machen und sagen: Freunde, das Jahr 1981 wird noch ein Aufschub sein, ein Hinhalten, eine kleine Vorübung nur, Ihr werdet noch manche Tröstung finden und von euern Vorräten recht gut leben, aber eure Vorratskammern leeren sich und niemand wird sie auffüllen, das Schicksalsrad dreht sich, Frau Reichtum steigt ab, Frau Armut steigt auf, bereitet euch darauf vor.
Vorbereiten ja, aber wie?
Wir haben uns schon einmal vorbereitet auf einen Härte- und Katastrophenfall: auf den Zweiten Weltkrieg und die Rationierungen, die er, ehe er ausbrach, schon forderte. Wir deckten uns ein, wir deckten uns zu, wir sicherten uns. Und inmitten der Vorräte und Sicherheiten wurde der tausendfache Tod gestorben: unter Bomben, Flaksplittern, stürzenden Häusern, an den Kampffronten, in Gefängnissen, in den Konzentrationslagern, an Fensterkreuzen in verzweifeltem Entschluß, unter fahrenden Zügen, mit zuviel Schlafmitteln … Es erwies sich ein für alle Male, daß Vorräte materieller Art und Sicherungen nichtig sind.
Aber viele überlebten die Katastrophe trotz des Mangels an Lebenswichtigem, sogar in den Lagern Nazideutschlands und Sibiriens. Was gab ihnen die Kraft dazu?
Nennen wir diese Kraft mit dem französischen Philosophen Bergson den „élan vital“, den Lebensschwung, die Hoffnung, die Zuversicht.
Aber mit welchem Recht, mit welch gutem Grund waren Menschen damals voller Zuversicht? Sie konnten nicht wissen, ob der Krieg einen von ihnen überleben ließ. Eher das Gegenteil war anzunehmen. Was also trieb sie, was trieb uns, darf ich sagen, denn ich war eine von ihnen.
Es war nicht nur der einfache nackte Überlebenswille des einzelnen, nicht nur der Instinkt des gewitzten Jagdwilds, das auch noch unter größten Schwierigkeiten Beute und Fluchtweg findet. Es war ein ober- und untergründiges Bewußtsein davon, daß keineswegs „alles zu Ende“ sein, sondern daß das Leben weitergehe.
Es ging weiter.
Dann aber kam das große Mißverständnis: das Leben, was war denn das?
Es war: hektische Arbeit, Geldverdienen, technischer Fortschritt, kurzum haben, immer mehr haben.
Und das soll Leben sein? Dieses Auf und Ab, dieses bißchen Vergnügen, diese Sisyphosmühe ohne Ende? Lohnt sich dieses Leben überhaupt? Sind wir wirklich dazu auf Erden? Wo ist da der Sinn?
Heute beginnen wir nachzudenken, mitten im angstvollen Vorwärtsstürzen innehaltend: was ist es denn eigentlich, das wir wollen und sollen? Was ist denn mit uns, wenn wir nicht mehr „Fortschritt machen“ können?
Noch wollen wir nicht darüber ernsthaft nachdenken, noch meinen wir, es gehe schon noch eine gute Weile so weiter, und was dann kommt, das werden wir sehen.
Aber wenns wirklich nicht mehr so weitergeht? Was dann? Ist dann das Leben sinnlos? Oder beginnt dann etwas Neues, was sinnvoll ist? Ist das Unheil vielleicht unser Heil? Ist die äußere Verarmung vielleicht gar kein Schrecken und Mangel, sondern die große Befreiung? Ist das, was als Todeskampf der Menschheit erscheinen kann, nicht eine Geburt? Liegen wir nicht in Wehen? Auf diese Frage gibt es keine einfache Ja- oder Nein-Antwort. Da gibt es nur Glauben oder Nichtglauben, Hoffnung oder Verzweiflung.
Als 1980 das große Erdbeben in Süditalien war, machten viele Menschen dieselbe Erfahrung, nennen wir sie die Erfahrung von der Ambivalenz eines Schicksalsschlages. Ich selber, nahe dem Erdbebengebiet, erlebte jene Wochen als große Belehrung: Als es am dritten Tag nach dem Hauptbeben auch noch zu schneien begann und Eiseskälte eintrat, begann ich mit jenem Wesen zu streiten, das wir Gott nennen oder Weltgeist oder wie auch immer. Ich beschuldigte die höchste Instanz in den starken Ausdrücken Hiobs. Es gab einen Augenblick, in dem ich mich von diesem Gott abwandte, der nicht nur dieses Erdbeben zuließ, sondern alle Katastrophen und alle Menschentränen. Als ich mich den finstersten Blasphemien überließ, kam das Lastauto zum Sammeln von Wolldecken für das Erdbebengebiet. In diesem Augenblick traf mich wie der Blitz eine Erkenntnis: die Antwort auf meine Anklage und auf meine bittere Frage nach dem Warum aller Menschenleiden war diese: Wolldecken sammeln.
Betroffenheit, Aufrüttelung, Mitleiden, tätige Liebe. Das war die Antwort. Von Camus stammt der Satz, daß in der Welt das Absurde herrsche, daß aber die Liebe davor rette.
Nie zuvor war Italien so einig wie in den ersten Wochen nach dem Beben, nie waren die Nachbarvölker so hilf- und opferbereit, nie fühlten wir uns so als eine Einheit. Die Katastrophe weckte unsre besten Eigenschaften. Sie löste schlafende Kräfte aus. Sie erwies sich als ein Symptom für das, was größere Katastrophen, Menschheitskatastrophen, bewirken können: Liebe.
Aber wozu diese Liebe? Wozu lieben, wenn immer neue Katastrophen Liebende, Geliebtes und die Liebe selbst zunichte machen?
Bohrendste aller Fragen: die Sinnfrage.
Ist die Liebe inmitten der Katastrophen nicht einfach unsre Erfindung, unsre Illusion, damit wir das Leben ertragen können? Ist sie, wie Religion, unser Opiat? Und wenn es so wäre? Wäre die Erfindung von Religion und Liebe nicht schon die Antwort auf die Sinnfrage? Eine Menschheit, die fähig ist, derlei sich auszudenken um sich zu retten, zu erlösen von der bloßen tierischen Existenz, ist sie nicht schon in sich etwas höchst Sinnvolles. Ist diese Erfindung der Liebe nicht der Beweis für die Kreativität der Menschheit, die, wenn ihr ein Weg versperrt wird, einen andern findet? Die einen weitern Aufstieg vor sich hat? Ist die Energiekrise und was mit ihr zusammenhängt, nur ein Umschalten der menschlichen Energie auf ein anderes Ziel?
Wenn kein Fortschritt der Zivilisation mehr möglich ist, welcher Weg zum Weitergehen bietet sich dann an?
In der ersten Fassung dieser Arbeit sprach ich eingehend über die biblische Erzählung vom „verlorenen Sohn“, von der Rückkehr ins Vaterhaus. Mir gefällt heute das Wort und Bild von der Rück-kehr nicht mehr. Gibt es je ein Zurück? Jede Rückkehr ist eine Phase des Gehens nach vorne. Nie kehrt man zu einem Ausgangspunkt zurück, denn dieser Punkt hat sich verändert während der Abwesenheit dessen, der wiederkommt. Es gibt keine geschlossenen Kreise, es gibt nur Spiralen. Das Warten auf den Sohn hat auch den Vater verändert, das ganze Verhältnis hat sich geändert: das Verhältnis zwischen Gott und Mensch.
Ich habe auch einen andern Mangel meiner Gedanken von damals anzumelden: ich habe nicht in Betracht gezogen, daß zwar das Vaterhaus wartet, daß es aber eines Tages zu spät sein könnte zur Rückkehr, das heißt: daß der Menschheit keine Zeit mehr bleibt, weil die Zeit zu Ende ist mitsamt dem Raum zwischen Fremde und Vaterhaus.
Wir leben schizophren: einerseits reden wir von der Möglichkeit der Zerstörung unsrer Erde durch die Atomwaffen, andrerseits verdrängen wir den Gedanken an das Zeit- und Weltende, von dem im Evangelium und auch in andern Religionen die Rede ist. Man behilft sich mit dem Gedanken, daß man zur Zeit der Abfassung der Evangelien an ein unmittelbar bevorstehendes Ende glaubte, weil man die Aussagen des Christus so verstand. Als dann dieses Ende, von dem die Apokalypse so drastisch klar spricht, doch nicht kam, schob man die Erwartung immer weiter weg, bis sie schließlich nur mehr ein Predigt-Klischee war und da und dort in religiösen Sekten als Nah-Erwartung aufflammte.