Bill S. Ballinger
Die Totenshow
Aus dem Amerikanischen von Helmut Anders
FISCHER Digital
Bill S. Ballinger (1912–1980), eigentlich William Sanborn Ballinger, war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Drehbuchautor.
Wenn ein so schönes Showgirl wie Coffee Stearns unter sehr seltsamen Umständen ermordet wird, sind plötzlich manche Herren sehr verdächtig:
Ein angesehener verheirateter Geschäftsmann zum Beispiel, ein alternder Theaterdirektor mit dem scharfen Blick für gewisse Talente, ein Messerwerfer, der mit tödlicher Gelassenheit sein Ziel visiert.
Privatdetektiv Barr Breed, ebenfalls ein Verehrer der einst so lebendigen Coffee, beginnt eine erbarmungslose Mörderjagd – und ein geheimnisvoller Unbekannter gibt ihm den ersten heißen Tip ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561291-0
Vorgebeugt, die Arme an der Seite, schwang sie in einem weiten Bogen aus. Die Strahlen der Scheinwerfer ließen sie golden aufglänzen. Dann schlug sie mit einem merkwürdigen dumpfen Laut auf den Boden – als hätte jemand einen Sack Kartoffeln aus einem hochgelegenen Fenster geworfen. Ausgestreckt lag sie da, ihr Körper golden und fast nackt.
Aus ihrem Rücken ragte der Griff eines großen Messers. Rot rann das Blut über ihren goldenen Rücken.
Dann brach ein Höllenlärm los.
Und mir gingen eine Menge Dinge durch den Kopf. Ich dachte an den Abend, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Es war schon spät, und ich schaute noch zu Gibby’s hinein, um einen Schluck zu trinken. Gibby’s ist eine Bar im zweiten Stock eines Hauses in der Loop – ein großer Raum mit einer runden Theke in der Mitte und mehreren Nebenräumen mit Tischen. Es ist weder besser noch schlechter als die meisten Lokale, doch man trifft dort immer eine Menge Bekannte, vor allem Showbusiness- und Zeitungsleute. Ich schaute hinein, weil es nicht weit von der Stelle war, wo ich meinen Wagen geparkt hatte. Ich hatte mich kaum an die Theke gesetzt und einen Drink bestellt, als Benny Adams auf den Hocker neben mir kletterte. Benny ist Publicity-Agent, und ich kannte ihn schon sehr lange.
»Hallo, Barr«, sagte er. Er war ziemlich blau. Wir redeten eine Weile über dies und jenes und vertilgten ein paar Drinks. Dann schaute Benny auf die Uhr und trank schnell sein Glas aus.
»Ich hab eine Verabredung«, sagte er. »Mit einer Puppe vom Marlowe-Theater. Eine Wucht, sag ich dir, Mann!« Benny ist ein großer, magerer Bursche mit einem krummen Rücken. Er hat eine lange, dünne Nase und große braune Augen, die immer traurig blicken.
»Komm mit«, sagte er und schlug mich auf den Rücken. »Ich werd Rusty sagen, sie soll ein Mädchen für dich organisieren …«
»Wer ist Rusty?« fragte ich.
»Meine Puppe«, sagte er. »Rusty Greer. In dem Theater gibt’s haufenweise Mädchen. Sie wird einen prima Zahn für dich aussuchen.«
»Das kenn ich«, sagte ich. »Ich kauf nicht gern die Katze im Sack.«
Benny schüttelte feierlich den Kopf. »Rusty wird dir einen tollen Käfer besorgen!« Er packte mich am Arm und zerrte mich von der Theke weg.
Ich hatte nichts vor. Wenn sie mir nicht gefiel, konnte ich immer noch abhauen. Ich zuckte die Achseln. »Okay«, sagte ich. »Auf ein oder zwei Drinks komm ich mit.«
Wir fuhren zum Marlowe-Theater. Als wir ankamen, war die Show schon zu Ende. Die Lampen vor dem Eingang waren aus, das Publikum war gegangen. Wir gingen durch die lange schmale Gasse zur Bühnentür. Die Gasse war mit uralten holprigen Kopfsteinen gepflastert, und wir stolperten im Dunkeln. Am hinteren Teil des Gebäudes hing über einer Metalltür eine Lampe. Darunter war mit weißer Farbe ein Rechteck auf die Ziegelmauer gepinselt, auf dem in schwarzen Buchstaben BÜHNENTÜR stand. Ein kleiner Wäschereiwagen parkte davor, und ein Bursche schleppte große Wäschesäcke heraus. Ensemblemitglieder kamen zu zweit und zu dritt aus der Tür. Ihre Stimmen hallten in der dunklen Gasse wider, als sie sich gute Nacht zuriefen.
Benny und ich stellten uns in den kleinen Lichtkreis unter der Lampe. Es war kalt, und ich stellte meinen Mantelkragen auf. Ich kam mir ziemlich idiotisch vor, wie ich so dastand.
Nach einer Weile ging die Tür auf, und ein großes, schlankes Mädchen kam heraus. Sie hatte dunkelbraunes Haar, das im Licht der Lampe schimmerte.
»Wartest du schon lange?« fragte sie Benny.
»Nein«, log Benny, »wir sind eben erst gekommen. Rusty, ich möchte dir einen Freund von mir vorstellen – Barr Breed.«
Sie wandte langsam den Kopf und sah mich an. Dann sagte sie lächelnd: »Hallo.« Sie hatte eine tiefe, heisere Stimme. Ich sagte auch »Hallo« und kümmerte mich nicht weiter um sie.
»Hör mal«, sagte Benny, »wie wär’s, wenn du für Barr noch ein Mädchen besorgen würdest? Wir könnten alle zusammen noch wohin gehen.«
Sie überlegte. »Die meisten Mädchen sind schon weg«, sagte sie. »Und die, die noch da sind, haben bestimmt alle Verabredungen.«
»Quatsch«, sagte Benny. »Sie können doch nicht alle was vorhaben.«
»Coffee hat keine Verabredung«, sagte Rusty langsam, »aber Coffee hat nie eine.«
»Weshalb? Hat sie einen Buckel?« fragte ich. Ich zündete mir eine Zigarette an. »Lassen wir’s«, sagte ich zu Benny, »ich fahr nach Hause.« Ich wollte mich abwenden.
Rusty zuckte die Achseln. Da ging wieder die Tür auf, und heraus trat das umwerfendste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Sie nickte Rusty zu.
»Wir haben grade von dir gesprochen«, sagte Rusty. »Coffee Stearns, das ist Benny Adams, der Publicity-Mann. Und das ist sein Freund Barr Breed. Wir wollen noch irgendwo einen Schluck trinken. Möchtest du nicht mitkommen?«
Ich stand in der kalten, dunklen Gasse wie ein dummer Junge. Die Zigarette hing am Ende meiner Zunge, und die Zunge hing mir aus dem Mund.
»Nein, danke«, sagte Coffee kühl und schüttelte den Kopf. »Ich hab zu Hause noch zu tun.«
»Du solltest mal deine Memoiren schreiben. Ich wette, die werden sehr interessant«, sagte Rusty.
Coffee blieb stehen und drehte sich rasch um.
»Was meinst du damit?« fuhr sie Rusty an.
»Ich bitte dich, gar nichts«, sagte Rusty. »Aber worüber könntest du schon schreiben? Du gehst nie aus. Du bist nie verabredet. Magst du Männer nicht?«
»Vielleicht ist sie schwul«, sagte ich.
Coffee warf mir einen kurzen Blick zu; dann meinte sie zu Rusty: »Behauptet man das von mir im Theater?«
»Wenn man überhaupt über dich spricht … dann das«, erwiderte Rusty. Sie hatte nicht umsonst rotes Haar.
»Ich wüßte nicht, wen das was angeht«, sagte Coffee.
»Herrgott, hört auf«, sagte ich zu Rusty. »Laßt sie doch gehen. Vielleicht will sie noch ein paar Gerippe wegräumen.«
Coffee biß sich wütend auf die Lippe. Dann lächelte sie, und es war, als drehte jemand das Licht an. Zuerst war ihr Gesicht eine kalte ausdruckslose Maske gewesen, jetzt strahlte es plötzlich wie ein neuer Zehndollarschein. Es war freundlich und lieb und sehr, sehr schön. »Also kommt«, sagte sie, »trinken wir noch einen.« Sie hängte sich bei mir ein.
Wir gingen zum Palmer House, das nur einen Block weit weg war. Als wir einen Tisch gefunden und uns gesetzt hatten, begannen Coffee und Rusty sich über Golden Girls, die Show, zu unterhalten. Langsam setzte Coffee wieder ihre kühle, gleichgültige Maske auf. Sie war ziemlich groß, vielleicht einsachtundsiebzig oder einsachtzig, und hatte ein zartes, fein geschnittenes Gesicht. Doch es sah aus, als sei es aus Wachs modelliert und als hätte der Bildhauer ganz behutsam, durch die Wärme seiner Hand, die Züge abgerundet. Ihr Gesicht wirkte dadurch seltsam jung und lieblich und, obwohl sie das bestimmt nicht war, unschuldsvoll. Ihr Haar war schwarz, blauschwarz wie das Metall eines Revolvers. Und sie besaß die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte.
»Möchten Sie nicht tanzen?« fragte ich.
»Nicht sehr gern«, sagte sie. »Ich bin heute abend schrecklich müde. Sie sind mir hoffentlich nicht böse?« Ich wußte, daß sie nicht müde war. Ich wußte, daß sie wußte, daß ich das wußte. Und ich wußte auch, daß es ihr egal war, ob ich ihr böse war oder nicht.
»Na, dann nicht«, sagte ich. »Ich bin Ihnen furchtbar böse. Aber was soll ich machen?« Ich nahm mein Glas und trank es aus. Sie wartete aus Höflichkeit noch ein paar Minuten; dann nahm sie ihre Tasche und ihre Pelzjacke.
»Ich muß gehen«, sagte sie. »Wirklich.«
Ich half ihr in die Jacke. »Ich bring Sie nach Hause.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Wenn Sie mir nur bitte ein Taxi besorgen würden?« Ich laß mich nicht gern behandeln wie eine Schaufensterpuppe. Von ihr aus konnte ich mir aussuchen, ob ich ein Tier, eine Pflanze oder ein Mineral war.
Wir gingen hinunter vors Hotel, und ich setzte sie in ein Taxi Ich hörte, wie sie dem Fahrer ihre Adresse sagte, als sie losfuhr.
Ich ging auch nach Hause. Ich wohne auf der North Side von Chicago, und das ist nah genug, um zu Fuß zu gehen – wenn einem ein verdammt langer Marsch nichts ausmacht. Mir machte er nichts aus, denn ich war immer noch sauer. Also ließ ich meinen Wagen in der City stehen und machte mich auf die Socken. Den ganzen Weg durch Wabash über die Brücke und durch die North Side redete ich mit mir.
Als ich zu Hause ankam, war ich so weit, daß ich mir sagte: »Ich krieg sie, und wenn ich mir ein Bein ausreißen muß!« Da wußte ich, daß sie mich geschafft hatte.
Die nächste Woche hielt ich mich zurück. Ich schob Rusty vor. Manchmal fand ich, daß Rusty sich ein bißchen zu sehr für die Sache interessierte, aber sie tat, was sie konnte. Irgendwie brachte sie Coffee dazu, an drei Abenden mit ihr, Benny und mir auszugehen.
Ich kam jedoch keinen Schritt weiter. Jeden Abend war es dasselbe. Coffee war unnahbar und völlig desinteressiert. Sie konsumierte drei Drinks. Keinen einzigen mehr. Sie tanzte nie. Die meiste Zeit sprach sie mit Rusty über die Show; Benny existierte überhaupt nicht für sie, und ich durfte bloß einen Tisch aussuchen und den Mund halten.
Ich tanzte also mit Rusty, während Benny und Coffee dasaßen und in ihre Gläser starrten.
»Was paßt ihr eigentlich nicht an mir, verdammt noch mal?« fragte ich Rusty.
Rusty drückte freundschaftlich meinen Arm. »Ich finde dich okay«, sagte sie.
»Sie aber nicht«, erwiderte ich.
»Keine Sorge«, sagte Rusty. »Laß ihr Zeit. Übrigens kannst du dir was einbilden. Seit wir zusammen in der Show spielen, bist du der einzige Mann, mit dem sie ausgegangen ist.« Sie legte ihre Wange an meine, tätschelte meinen Arm, und wir tanzten weiter. Als wir zum Tisch zurückgingen, sagte ich: »Das einzige Thema, für das sie sich interessiert, ist die Show. Vielleicht würde ich besser an sie rankommen, wenn ich mal mit ihr allein ausgehe.«
»Warum fragst du sie nicht, ob sie nicht mal ohne uns mit dir ausgehen will?«
»Hab ich schon«, sagte ich. »Nichts zu machen.«
Rusty zuckte die Achseln. »Überlaß das mir«, sagte sie. »Ich werd das deichseln.«
Am nächsten Tag telefonierte ich mit Rusty. »Es ist alles eingefädelt«, sagte sie. »Ich hab Coffee gefragt, ob sie heute abend mit uns ausgehen will, und sie war einverstanden. Ich hab ihr gesagt, wir gehen auf ein paar Drinks in deine Wohnung. Hol sie abends vom Theater ab. Um Benny werd ich mich kümmern. Wir werden nicht kommen. Dann bist du mit ihr allein.«
Ich holte Coffee nach der Show ab und sagte ihr, daß Benny noch zu tun habe und daß er und Rusty in einer halben Stunde nachkommen würden. Wir würden uns alle in meiner Wohnung treffen.
Es schien ihr nicht das mindeste auszumachen, allein mit mir in meine Wohnung zu gehen. Ich legte ein paar Platten auf, schaltete die Automatik ein, mixte ein paar Drinks, und wir setzten uns. Coffee sah sich um.
»Eine nette Wohnung haben Sie«, sagte sie förmlich.
»Gefällt sie Ihnen?«
»Ja, wirklich. Warum machen Sie kein Feuer im Kamin?«
»Okay«, sagte ich und machte Feuer.
»Was sind Sie eigentlich von Beruf?« fragte sie.
»Ich habe eine Agentur«, sagte ich.
»Versicherung?«
»Nein. Detektiv.«
Einen Moment war es ganz still, und man hörte nur die Musik. Vielleicht bildete ich mir das bloß ein, aber ich hätte schwören können, daß meine Antwort sie überraschte.
»Sie müssen sehr erfolgreich sein«, sagte sie. »Sie geben eine Menge Geld aus.«
»Ich komme ganz gut zurecht«, erwiderte ich.
Sie starrte nachdenklich vor sich hin. Ich stand auf und mixte noch einen Drink. »Haben Sie schon mal jemanden umgelegt?« fragte sie, als ich zurückkam.
»Ja.«
»Wie war das?«
»Ich hab meine Kanone gezogen und abgedrückt. Eine Patrone explodierte, und den Rest besorgt eine Kugel. Es ist ganz einfach. Jeder kann’s.«
Wir saßen eine Weile da und tranken und blickten ins Feuer. Schließlich stand ich auf und ging zum Plattenspieler, um die Platten zu wechseln. Coffee saß auf dem halbrunden Sofa vor dem Feuer und starrte hinein. Das Licht fiel auf ihr Gesicht und ließ ihr Haar glänzen. Mir wurde ganz heiß, als ich sie ansah. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte sie in die Arme genommen.
Sie wandte den Kopf und sah mich an. Dann streckte sie mir ihr Glas hin. »Bitte, noch einen …«
Ich war überrascht. Sie hatte bereits ihr Quantum von drei Drinks für den Abend. Ich sagte es ihr.
»Vielleicht weil ich Sie allmählich ein bißchen besser kennenlerne?« sagte sie und bedachte mich mit einem Zehntausend-Volt-Lächeln. Ich schenkte ihr ein und gab ihr das Glas zurück. Sie nippte daran, und ich ging zu ihr und setzte mich neben sie.
Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und drückte ihn leicht. »Kämpfen Sie gern?« fragte sie.
»Nicht besonders«, sagte ich.
»Sie würden aber?« Ich sah sie erstaunt an. »Kämpfen, meine ich.«
»Wenn’s nicht anders geht, oder wenn’s zu meinem Job gehört … oder wenn ich gerade nichts Besseres zu tun hab«, sagte ich.
»Sie sind ein komischer Mensch. Ich glaube, ich hab Sie falsch eingeschätzt …« Sie neigte sich zu mir, strich mit ihrer Hand über meinen Ärmel und legte sie auf meine. Mein Blick wanderte über ihren schöngeschwungenen Hals hinab zu ihren Brüsten, und ich sah den blauen Schatten dazwischen. Es gab nichts auf der Welt, was ich so begehrte wie sie. Und sie wußte das.
Sie stand auf, und ich erhob mich mit ihr. Sie hob die Hand und strich zärtlich über meine Wange. Ich legte meine Arme um sie, doch sie stemmte ihre Hände gegen meine Brust.
»Nein«, sagte sie leise, »nicht heute abend. Rusty und Benny werden bald dasein.« Ich konnte ihr nicht sagen, daß sie gar nicht kommen würden, also versuchte ich es auf eine andere Tour.
»Gehen wir woanders hin«, sagte ich.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Außerdem müssen Sie zuerst etwas für mich tun.«
»Was?« fragte ich. Ich hätte alles für sie getan. Möglicherweise wollte sie mich bloß ausnützen, aber das war mir egal.
»Das sag ich Ihnen später«, sagte sie. Sie nahm ihre Handschuhe und ging in die Diele. Ich half ihr in den Mantel.
»Morgen abend?« fragte ich. Sie lächelte mich an und erhob sich plötzlich auf die Zehen. Ihre Lippen streiften meinen Mund, kühl und herausfordernd.
»Morgen abend …«, flüsterte sie, »morgen abend werde ich vielleicht sehr nett zu Ihnen sein …« Sie wandte sich ab und öffnete die Tür. Ich wollte ihr folgen. »Sie brauchen nicht mit runterzukommen«, sagte sie. »Ich nehme ein Taxi.« Die Tür ging zu.
Sie war fort.
Der nächste Tag nahm kein Ende. Ich dachte, der Abend würde nie kommen. Als es endlich Abend war, beschloß ich, mir Golden Girls anzusehen und Coffee danach abzuholen. Ich hatte die Show noch nicht gesehen, und ich hatte Coffee noch nicht auf der Bühne gesehen.
Das Marlowe-Theater, wo Golden Girls gegeben wurde, ist ein alter Schuppen, der vor ein paar Jahren renoviert wurde. Man legte den hufeisenförmigen Zuschauerraum mit einem braunen Bodenbelag aus und hängte an die hinteren Wände dazupassende schwere Vorhänge. Die Ein- und Ausgänge befinden sich auf den beiden Seiten des Gebäudes. Die früher roten Logen und Balkone wurden mit einem stumpfen Weiß übermalt, und man ließ nur ein paar goldene und braune Verzierungen daran. Das Theater, das früher ausgesehen hatte wie eine Hochzeitstorte, wirkte jetzt nüchtern und modern.
Als ich kam, waren das Parkett und die drei Balkone schon gerammelt voll. Die Vorstellung war ausverkauft. Ich hatte eine Karte für die dritte Reihe Mitte, die mich 12,40 Dollar gekostet hatte. Mein Platz war zwischen dem zweiten Gang und dem Mittelgang. Ich quetschte mich in den verdammt kleinen und höchst unbequemen Sitz. Zwei dicke Damen, zwischen denen ich saß, quollen über die Armstützen. Wir glotzten einander an, und ich wünschte, sie wären zu Hause geblieben. Dann gingen die Deckenleuchter aus und die Scheinwerfer an. Der Vorhang hob sich, und die erste Nummer begann.
Die Bühne war riesengroß und in goldenes Licht getaucht. Zwanzig Mädchen in goldenen Kostümen mit kurzen Ballettröckchen kamen vom hinteren Teil der Bühne nach vorn getanzt. Die Kostüme waren mit kleinen goldenen Plättchen bestickt, die im Licht der Scheinwerfer glitzerten und funkelten.
Nach einer Weile marschierten von rechts und links zwanzig Männer auf die Bühne und schlossen sich den Mädchen an. Sie trugen Fracks und weiße Schleifen und Zylinder. Dann begannen alle vierzig den Schlager »Nur ein Vogel in einem goldenen Käfig« zu singen, doch sie sangen es so, als ob alles okay wäre, wenn bloß genug Gold an dem Käfig war.
Etwa in der Mitte der Bühne erhoben sich sechs große, golden bemalte Vogelkäfige vom Boden. Jeder Käfig hing an einem goldenen Seil, um das Rosenknospen geschlungen waren. Die Käfige waren vorne offen, und in jedem saß ein am ganzen Körper mit Goldfarbe bemaltes Mädchen. Sie trugen lange goldene Perücken und riesige Muffs aus goldenen Federn. Soviel ich sehen konnte, war das alles, was sie trugen.
Ich versuchte unter den Mädchen Coffee herauszufinden, doch sie sahen alle gleich aus. Ich wußte nicht genau, ob sie eins von den Mädchen in den Käfigen war. Sie hatte mir nicht gesagt, was sie machte.
Als die Käfige etwa fünf Meter hoch in der Luft waren, begannen sie vor und zurück zu schwingen … zuerst ganz langsam. Miami Winters, der Star der Show, trat, in strahlendes Scheinwerferlicht gehüllt, auf die Bühne. Sie trug ein sehr kurzes Kleid und bekam großen Applaus. Während sie ihr Auftrittslied sang, fiel mein Blick auf einen der schwingenden Käfige.
Aus der rechten Kulisse schoß ein Lichtstrahl und ließ den dritten Käfig von rechts, der fast direkt vor mir war, aufblitzen. Das war alles.
Miami Winters hatte eben die letzte Strophe ihres Liedes begonnen, als der Käfig nach vorn ausschwang. Das Mädchen, das darinsaß, beugte sich vor … und blieb vorgebeugt, als der Käfig zurückschwang. Sie stürzte aus dem Käfig heraus und flog in einem weiten Bogen durch die Luft. Ihr goldener Körper drehte sich, als die Scheinwerfer ihn erfaßten. Sie flog über den Bühnenrand und landete mit einem merkwürdig dumpfen Geräusch im Orchesterraum. Ein lautes Krachen folgte: ein Stuhl war zerbrochen und ein Musiker auf eine Trommel gestürzt.
Tiefe Stille herrschte. Die Mitwirkenden standen wie erstarrt auf der Bühne. Das Orchester brach mitten in einem Takt ab.
Dann begriff das Publikum, und da und dort begannen Frauen zu schreien, und andere stimmten in das Geschrei ein. Ich drängte mich zwischen den Leuten durch und versuchte, zum Orchesterraum zu kommen.
Der Orchesterraum lag etwa einen halben Meter tiefer als die erste Reihe. Ein kleines Eisengeländer, bedeckt mit rotem Samt oder Plüsch, umgab ihn. Die Musiker drängten sich um das auf dem Boden liegende goldene Mädchen, und der Bursche, der auf die Trommel gestürzt war, hielt sich stöhnend und fluchend die Schulter. Ich sprang über das Geländer und arbeitete mich zu dem Mädchen vor.
Sie lag auf der Seite. Ich rührte sie nicht an. Das war nicht nötig. Ich sah auf den ersten Blick das große Messer, das in ihrem Rücken steckte.
Und dann spürte ich, wie sich in meinem Nacken die Haare sträubten. Mein Magen drehte sich um, und mir wurde übel.
Ich konnte nicht erkennen, ob sie es war. Mit all der Schminke sah ihr Gesicht aus wie eine goldene Maske, und es war halb von einem Arm bedeckt. Ich packte den Kapellmeister am Arm. »Passen Sie auf, daß sie niemand anrührt«, sagte ich. »Verstanden?«
Er nickte.
Ich reckte mich hoch, packte die Bühnenkante, zog mich hinauf und wälzte mich drüber. An einer Metallplatte, die ein glühendheißes Fußlicht schützte, verbrannte ich mir das Handgelenk. Die Zuschauer drängten zu den Ausgängen. Ich trat an den Bühnenrand und hob die Hände.
»He! Einen Moment!« schrie ich.
Niemand kümmerte sich darum. Ich stieß mit dem Fuß an eine Lampe, und sie explodierte mit lautem Knall.
Alle blieben stehen und blickten auf die Bühne. Wieder herrschte tiefe Stille.
»Meine Damen und Herren«, sagte ich, »würden Sie sich bitte wieder auf Ihre Plätze begeben. Niemand darf das Theater verlassen!«
»Wer sind Sie?« schrie jemand.
»Polizei!« schrie ich zurück. Das stimmte nicht, aber so genau kam es nicht darauf an. »Die Platzanweiser werden in der nächsten halben Stunde niemanden hinauslassen. Ist das klar?«
Die Leute strömten zu ihren Plätzen zurück.
Als ich zum hinteren Teil der Bühne ging, stürzte ein weißhaariger Mann auf mich zu.
»Sind Sie der Inspizient?« fragte ich.
»Ja«, sagte er, »mein Name ist Ryan.«
»Rufen Sie sofort Sergeant Cheenan vom Morddezernat an!«
Er nickte.
»Lassen Sie den Vorhang runter und sorgen Sie dafür, daß niemand von den Mitwirkenden verschwindet.«
Er nickte wieder und lief zum Telefon. Unterwegs rief er nach einem Burschen namens Clements. Ich rannte zur Bühnentür. Gleich hinter der Tür stand ein schäbiger alter Schreibtisch, hinter dem ein alter Mann saß. Er trug einen zerdrückten grauen Hut und hatte wässerige Säuferaugen.
»Sind Sie der Portier?« fragte ich ihn.
»Ja.«
»Ist in den letzten fünf Minuten jemand rausgegangen?«
»Keine Ahnung.«
»Sie haben die ganze Zeit hier gesessen?«
»Ja.«
»Auch als Sie den Tumult hörten, sind Sie sitzengeblieben?«
Er zupfte an seiner großen roten Nase. »Ich hab mal schnell rausgeschaut«, gab er schließlich zu.
»Wie lange waren Sie weg?«
»Vielleicht eine Minute. Ich konnte nichts sehen.«
»Könnte in dieser Minute jemand hier rausgerannt sein?«
»Ich weiß nicht. Kann sein …«
»War irgendwer hier bei Ihnen, als Sie rausgingen, um nachzusehen?«
»Nein, niemand.« Er sah mich traurig an.
»Haben Sie jemand dort drüben bei der Kulisse gesehen?« Ich deutete auf den rechten Teil der Bühne.
»Nur Ensemblemitglieder …«
»Wen?«
»Ich weiß nicht mehr. Ich hab nicht drauf geachtet. Außerdem ist es dort drüben ziemlich dunkel.«
Es stimmte. Die Kulisse lag in tiefem Dunkel. »Okay«, sagte ich, »lassen Sie niemand raus, bis ich Ihnen Bescheid sage.«
Er nickte.
»Und rühren Sie sich nicht von diesem Schreibtisch weg.«
»Okay.«
Ich ging zurück zu dem Inspizienten, der in einer Gruppe Mädchen stand. Ich drängte mich durch. Er las von einem Zettel Namen ab.
»Wie ich sehe, haben Sie den Vorhang runtergelassen«, sagte ich. »Haben Sie Cheenan angerufen?«
»Was? Ach, ja … ja. Toby Birsch?«
»Hier«, sagte eine verträumte Stimme.
»Monte Keith?«
»Hier.«
»Machen Sie weiter«, sagte ich. »Ich seh mich mal um.«
»Gut«, erwiderte er. »Betty Carson?«
Ich ging hinüber zum Schaltpult, wo sich eine Gruppe Bühnenarbeiter und Beleuchter versammelt hatten.
»Wer ist der Bühnenmeister?« fragte ich.
»Ich«, sagte ein Mann, der links von mir stand. Ich sah ihn an. Er war Anfang Fünfzig und trug eine blaue Hose, ein graues Hemd mit offenem Kragen und eine dicke Hornbrille.
»Ich möchte Sie sprechen«, sagte ich. Wir entfernten uns ein paar Schritte von den andern. »Wie heißen Sie?«
»Weaver.«
»Okay, Weaver. Wie viele Leute haben Sie?«
»Sechzehn.«
»Reden Sie mit den Männern. Mit jedem einzelnen. Stellen Sie fest, wo jeder von Beginn der Show bis zu dem Moment, als das Mädchen aus dem Käfig stürzte, gewesen ist. Fragen Sie sie, ob sie irgendwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört haben.«
Weaver sah mich mit ernster Miene an. »Sie glauben doch nicht, daß einer von uns dran schuld ist?«
»Aber nein!« sagte ich. »Doch die Polizei wird genau wissen wollen, was passiert ist. Also beeilen Sie sich!«
»Okay«, sagte er, doch es paßte ihm gar nicht.
Ich ging wieder zum Inspizienten. Er las immer noch Namen von seiner Liste ab.
»Marilyn Devoe?« rief er.
»Hier …«
Ich nahm ihn am Arm und führte ihn von den Mädchen weg. »Wissen Sie, wer das Mädchen war, das umgekommen ist?« fragte ich.
»Das Mädchen im dritten Käfig war Coffee Stearns.«
»Sind Sie ganz sicher?« Ich spürte einen nagenden Schmerz im Bauch.
»Ich glaube schon«, sagte er. »Sie sollte während der Nummer in dem Käfig sein … und sie hat sich nicht gemeldet, als ich sie vor ein paar Minuten aufgerufen hab.«
»Sind alle Mädchen da?«
»Ja … bis auf die Stearns. Ich hab auch sämtliche Männer aufgerufen. Miami Winters ist oben in ihrer Garderobe, und die Statisten und Nebendarsteller sind auch alle hier.«
»Machen Sie weiter«, sagte ich. Die schwere eiserne Bühnentür ging mit einem lauten Krach auf, und Sergeant Cheenan trat auf die Bühne, gefolgt von einem Haufen Beamten des Morddezernats und ein paar uniformierten Polizisten.
Er sah mich auf den ersten Blick. »Nicht möglich«, sagte er. »Barr Breed persönlich.«
»Hallo, Cheenan«, sagte ich. »Ich schick Ihnen morgen eine Rechnung für all die Arbeit, die ich Ihnen abgenommen hab.« Ich bemühte mich, so zu tun, als ob mich nichts bedrückte.
»Klar«, sagte Cheenan. »Wenn’s ein paar Dollar zu verdienen gibt, dann lassen Sie sie sich nicht entgehen.« Er stieg vorsichtig über die Kabel auf dem Fußboden. »Was gibt’s?« fragte er.
Ich erzählte ihm, daß während der Show ein Mädchen mit einem Messer im Rücken aus einem Vogelkäfig gefallen war. Darauf stellte er mir die Frage, die ich erwartet hatte: »Kennen Sie das Mädchen?«
Ich war auf der Hut. Wenn ich jetzt zugab, daß ich sie kannte, würde Cheenan mich die ganze Nacht verhören. Ich wollte aber weg, und zwar schnell. An irgendeinen Ort, wo ich die Spinnweben von meinem Hirn abschütteln und ein bißchen nachdenken konnte. Er hatte mich noch nicht nach ihrem Namen gefragt; also bestand noch eine Chance, ihn hinzuhalten. Ich nützte sie.
»Kennen Sie das Mädchen?« wiederholte er.
»Ich weiß nicht, ob ich sie kenne«, erwiderte ich.
»Schon mal von ihr gehört?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Und was wissen Sie?«
»Schauen wir sie uns mal an«, sagte ich.
»Okay«, sagte Cheenan. Er rief zwei Bullen zu sich und befahl ihnen, das Publikum zu überprüfen. »Lassen Sie sich die Ausweise zeigen«, sagte er, »und notieren Sie sich die Namen und Adressen sämtlicher Leute in den ersten vier Parkettreihen und in den vorderen Logen. Außerdem verhören Sie die Bühnenarbeiter und Musiker.«
»Wird gemacht«, sagte der eine Bulle und winkte seinem Kollegen. Cheenan und ich traten vor den Vorhang. Auf der linken Seite der Bühne war eine kleine Treppe, die zum Parkett führte. Wir gingen hinunter zum Orchesterraum. Der Kapellmeister stand neben der Toten. Er bewegte dauernd seinen Kopf hin und her wie eine mechanische Eule, als fürchte er, jemand könnte sie ihm unter der Nase wegschnappen.
»Vielen Dank, Maestro«, sagte ich. »Rufen Sie bitte Ihre Leute zusammen und bleiben Sie in der Nähe. Sergeant Cheenan möchte Sie nachher sprechen.« Cheenan deutete mit dem Kopf auf den schmalen Gang, der das Parkett mit dem Orchesterraum verband. Der Kapellmeister ging darauf zu, und die Musiker folgten ihm.
Cheenan hockte sich neben die Leiche und sah sie sich an. Zwei Polizeifotografen packten ihre Geräte aus.
Die Leiche lag, wie ich Cheenan gesagt hatte, halb auf der Seite und halb auf dem Bauch. Der eine Arm lag über dem Kopf auf dem Boden, und das Gesicht ruhte darauf. Der andere Arm – der rechte – war nach hinten ausgestreckt, so daß die Brust prall hervorstand. Ich blickte mich nach dem Muff um und sah, daß er am Rand der Bühne lag. Ihr kleines, enges Höschen, das dieselbe goldene Farbe hatte wie die Schminke auf ihrem Körper, war am Rücken etwas heruntergerutscht. Darunter war sie nicht geschminkt, und man sah die reine weiße Haut.
Cheenan stand auf, und wir traten neben sie. Das Messer in ihrem Rücken hatte einen langen glatten Metallgriff und eine sehr schmale Griffblende. Die Klinge zwischen der Griffblende und der Wunde war etwa fünf Zentimeter breit.
»Na, Breed, kennen Sie sie?« fragte Cheenan.
Ich zuckte lässig die Achseln, brachte aber kein Wort heraus. Meine Kehle war trocken, und mein Kopf und mein Magen taten weh.
»Wie soll ich das wissen, verdammt noch mal«, stieß ich schließlich hervor.
»Haben Sie das Mädchen schon mal gesehen?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen, Cheenan.« Ich brauchte Zeit, genug Zeit zum Nachdenken. Morgen würde ich mit Cheenan reden können, aber nicht heute abend. Ich hielt ihn also hin. »Mit all der Goldfarbe auf ihrem Gesicht würde ich sie nicht mal erkennen, wenn ich eben mit ihr gesprochen hätte«, sagte ich.
»Das ist kein Problem«, sagte er. »Wenn wir sie zur Autopsie bringen, wird der Doktor die Schminke entfernen. Vielleicht erkennen Sie sie dann.«