Briefe aus Amerika
Roman
KLÖPFER&MEYER
Für meine Eltern
And this is why it seems to me that the kind of anti-narrative non-stories of the kind produced by literary modernism offer the only prospect for adequate representations of the kind of »unnatural events« – including the Holocaust – that mark our era and distinguish it absolutely from all of the »history« that has come before it.
Hayden White, »The Modernist Event and the Flight from History«, in Hana Wirth-Nesher, ed., The Sheila Carmel Lectures:1988–1993.
Im Büro des Professors hängt eine riesige Karte, so groß wie eine Weltkarte, doch es ist keine Weltkarte, sondern eine Weltbildkarte. »Das ist ein gewaltiger Unterschied«, sagte er einmal. »Keine Karte der Welt, sondern die Karte eines Bildes von der Welt.« So steht es auch in großen Buchstaben auf der Karte geschrieben: DAS MITTELALTER. KARTE EINES WELTBILDS.
Ganz oben auf dieser Karte thront eine bärtige Gestalt auf einem mächtigen Stuhl. Klammer auf: Gott. Klammer zu. Seine Füße liegen auf einem efeuumrankten Reifen, der die ganze Karte umschlingt, dem sogenannten Primum Mobile, die erste Bewegung des Universums, welche die Planeten, die Erde und die Gezeiten antreibt. Unter dem Primum Mobile kommen die sieben Himmel oder Sphären, und darin gebahnt sind die sieben Planeten. Von Gottes Füßen aus gesehen sind es: Saturn, Jupiter, Mars, die Sonne, Venus, Merkur und schließlich der Mond. Klammer auf: Vorsicht! Unsteter Planet. Klammer zu. An dieser Stelle ist eine dick markierte Grenze in die Weltbildkarte eingezeichnet. Jenseits des Mondes ist alles Sein stetig, stabil und vollkommen. Mit dem Mond aber beginnt die Vergänglichkeit und Wechselhaftigkeit der diesseitigen Welt, in deren Lüften sich noch einige flatterhafte Pseudogestalten des Himmels herumtreiben, Dämonen und Longaevi, doch man täusche sich nicht, sie gehören bereits zum Diesseits, zur Vergänglichkeit und Begrenztheit unserer Erde. Die Seinskette des Universums verzweigt sich hier in verschiedene mehr oder weniger wertvolle Sparten des Seins, die alle hierarchisch geordnet sind: vom Wackerstein bis zum Gold, vom Unkraut bis zur Eiche, vom Wurm bis zum Löwen … – und dann der Mensch. Jede Abstufung der Menschheit ist mit deutlichen Worten und Bildern auf der Weltbildkarte vermerkt. Da thront nicht nur ein König, sondern sitzt auch eine Königin, die mit einem Taschentuch den Bart des Königs wischt. Da sieht man nicht nur einen Bauern, der pflügt, sondern auch einen Bauern, der auf allen vieren den Karren seines Herrn zieht. Da steht nicht nur der älteste Sohn, sondern läuft auch der Zweitälteste, den Hunde aus dem Haus jagen.
Und innerhalb dieser wohlgeordneten Stufen des Ranges erhebt sich ein gesondert gezeichnetes Gefüge, das mit Universität überschrieben ist, die Universität als Wiederholung des Universums im Besonderen, denn Universum und Universität bedeuten letztendlich Gleiches: das Viele in dem Einen, jedoch wohlgeordnet und bedacht. An der Spitze dieser Rangordnung ragt wieder ein bärtiger Mann, hier mit Brille, der auf einem Stuhl sitzt, hier hinter einem gewaltigen Schreibtisch. Daneben steht geschrieben: der Ordinarius beziehungsweise der Professor. Es ist nicht irgendein Professor, sondern ein Professor ohne Zweifel und ohne jede Einschränkung, ein Professor auf Lebenszeit; umgeben von zahlreichen Türen und Mitarbeitern. Darunter kommen dann die Büros der anderen Professoren: Professoren ohne eigenen Lehrstuhl und ohne eigene Mitarbeiter, zweitrangige Professoren, drittrangige Professoren oder Juniorprofessoren; darunter dann die Büros, in denen schon gar keine Professoren mehr sitzen, sondern nur noch Wissenschaftliche Mitarbeiter … Immer größer werden die Einschränkungen, und immer kleiner werden die Schreibtische.
Überall sieht man auf der Karte Treppen und Leitern, die nach oben oder unten oder wieder nach draußen führen. Man erkennt Stufen und Zwischenstufen, auf denen geschrieben steht: Habilitiert oder noch zu habilitieren. Promoviert oder noch zu promovieren … Man entdeckt gebeugte Gestalten unter gewaltigen Lasten. Man sieht Flaschenzüge, an denen Bücherkörbe hängen, die von unten nach oben gezogen werden, vom Mitarbeiter zum Professor, von den kleinen Schreibtischen zu den großen Schreibtischen. Man erblickt Brieftauben, die Nachrichten vom Ordinarius bringen – mit der Bitte um Beeilung. Man erkennt eingezeichnete Jahreszahlen. All die Jahre, die an einem einzigen Schreibtisch vergehen können – sie vergehen in dieser Welt wie Minuten. Und man sieht die absonderlichsten Planeten, die um das Universitätsgefüge kreisen.
Ein Planet ist mit dem Wort Luna Miniatura beschriftet. Das ist ein winziger Mond, der kaum Platz für den Schreibtisch bietet, der auf diesem Mond steht. Der Schreibtisch steht in größter Schräglage, als könnte er jederzeit herunterfallen. Ein einsamer Mitarbeiter harrt an diesem Schreibtisch; es ist eher ein Balancieren als ein ruhiges Arbeiten. Mit einem Bein steht er auf einer Stuhllehne; seine Hand fasst nach dem Seilende eines Flaschenzugs, mit dem er Bücher nach oben schafft: Bücher über Bücher über Bücher …
Es ist dieser Mond, der eine dick markierte Grenze auf der Weltbildkarte bildet. Denn ab dem Mond beginnt der translunarische Bereich, und dieser Bereich ist ein Aufstieg, ein atemberaubender Aufstieg, während alles unterhalb des Mondes ein Abstieg ist, ein sublunarischer Abstieg. Auf den obersten Stufen dieses Abstiegs begegnet man den studentischen Hilfskräften, zuerst den geprüften Hilfskräften, dann den ungeprüften; weiter unten kommen die gewöhnlichen Studenten, zuoberst die Examenskandidaten, darunter die Studenten im Hauptstudium, dann die Studenten im Grundstudium; noch weiter unten die Sekretärinnen und Verwaltungskräfte, und ganz unten die Hausmeister, die in einem Kellerraum eingezeichnet sind. Soviel zur Weltbildkarte im Büro des Professors.
Um die Wahrheit zu sagen, nicht er, sondern ich habe mir diese Weltbildkarte ausgedacht. Ich habe jahrelang von ihr geträumt, an ihr getüftelt und gearbeitet, sie in meiner Vorstellung immer weiter ausgestaltet und verfeinert, Stufe um Stufe hinzugefügt … – auch um die Fragen meiner ahnungslosen Verwandtschaft besser beantworten zu können: Was studiert er? Was soll das? Was kann man damit anfangen?
»Nichts.«
»Wie bitte?«
»Nichts kann man damit anfangen.«
Und ich erklärte ihnen, dass die Universität eine eigene Welt sei, eine eigene, schwierige, komplexe Welt, und zeigte ihnen, wie weit ich es in dieser Welt gebracht hatte: bis zum Schreibtisch auf dem Mond, auf dem besten Wege in den translunarischen Bereich.
Eines Tages zitierte mich mein Professor ins Büro. Ich wartete auf einem Stuhl vor der Tür, und mancher Student, der vorbeikam und mich sah, blickte nicht ohne Respekt zu mir, denn es war für jeden Eingeweihten offensichtlich, dass ich außerhalb der üblichen Sprechstunden einen Termin hatte. Nicht irgendjemand wartete also vor diesem Büro, sondern ich, der Assistent des Professors. Ich war es gewesen, der sein letztes Buch nach Tippfehlern durchgesehen hatte – es ist mit meinem Namen im Vorwort vermerkt. Die Tafelanschriebe in seinen Vorlesungen hatte ich gemacht. Die Bücher, über die er schrieb, hatte ich aus der Bibliothek geholt. Ich war es gewesen, der unter seiner Aufsicht eine Doktorarbeit geschrieben hatte, denn er war nicht nur mein Chef, sondern auch mein Doktorvater, die Betonung liegt auf Vater: Doktorvater.
Nach einer kurzen Weile des Wartens öffnete sich die Tür. Ich wurde hereingerufen und überschwänglich begrüßt.
»Hereinspaziert!«
»Setzen Sie sich.«
Ich setze mich.
»Kaffee?«
Ich wusste nicht so recht …
»Nur keine Hemmungen.«
Und ich setzte Kaffeewasser auf.
Er fragte zunächst nach privaten Dingen: Wie es mir gehe? Ob alles gut sei? Wie alt ich sei? Um dann plötzlich von meiner Doktorarbeit zu sprechen, die ich ihm vor einiger Zeit übergeben hatte. Ja, er habe die Arbeit nun gelesen. Nach Monaten habe er sie endlich gelesen. Keine Angst. Aber nein, im Gegenteil. Eine gute Arbeit! Eine überzeugende Arbeit! Eine fundierte Arbeit! In der Tat eine Arbeit. Man sehe der Arbeit auf den ersten Blick an, dass Arbeit in ihr stecke. Und er zitierte Edison: »Meine Erfindungen sind nicht zufällig entstanden – ich habe gearbeitet.«
Das wollte er mir zunächst einmal sagen, und er betrachtete die gebundene Doktorarbeit. Sie lag einsam auf seinem Schreibtisch: »Ja, eine Doktorarbeit, wieder eine Doktorarbeit«, und er fügte hinzu: »Laufbahnschrift.« Meine Arbeit sei in der Tat eine Laufbahnschrift, das gebräuchliche Wort für all das, was an der Universität geschrieben werde, und es werde keine Zeile geschrieben, die nicht für irgendeine Laufbahn tauge. Jedes Wort auf der Welt möge verschwendet sein, nicht jedoch an der Universität, denn dort gebe es Laufbahnen. »Nehmen Sie meine eigene Doktorarbeit. Haben Sie meine Doktorarbeit je gelesen?« Ich nickte heftig. »Ich auch«, lächelte der Professor, doch er habe alles wieder vergessen. »So beginnen an der Universität Laufbahnen.« Was schreibe dieser oder jener viele Jahre lang über eine Fliege bei Shakespeare? Es sei eine Laufbahnschrift. Warum war Shakespeare nicht an der Universität? Er schrieb keine Laufbahnschrift. Ob auch ich eine Laufbahn verfolgte? Ich wagte keine Antwort. »Nur keine Hemmungen!« Sein Finger zeigte vage nach oben. »Warum nicht auch Sie eine Laufbahn? Warum nicht?«
Ja, warum nicht?
Und er lobte mich und lobte mich, nicht nur meine Arbeit, sondern auch mein Englisch und meine Fähigkeiten. Immer mehr Lob wurde ausgesprochen, ja, über mich ausgeschüttet, und ich wusste kaum, wie ich meine Hände halten sollte, um diese Anpreisungen in aller Bescheidenheit abzuwehren. Ich suchte nach Worten – auch Worte der Selbstkritik, die er jedes Mal mit ausholenden Gesten verscheuchte. Aber nein, nicht meine Arbeit sei zu kurz – das Leben sei zu kurz. So lobte er.
In diesem Augenblick, und warum sollte ich es übergehen, es war ein schöner Augenblick, eine Erleichterung nach Jahren ständiger Anspannung und Arbeit, in diesem Augenblick erinnerte ich mich an die Äußerungen eines Kollegen, der über ihn einmal gesagt hatte: er sei ein Mann zupackender Kritik. In einer Minute könne er vernichten, was andere nach jahrelangen Mühen ihm vorlegten, und die meisten Arbeiten, die er zu lesen bekam, waren schlecht, unsäglich schlecht. Doch bei einer guten Arbeit würde er sich zu einem gütigen Gutachter wandeln. Er sei ein Mann der selektiven Güte, eine wählerische Güte, die nicht jedem gelte, sondern nur wenigen, vielleicht nur einem einzigen, eine Güte, die warten könne und in der Tat auch wartete, um schließlich bei einem Menschen stehen zu bleiben, dem man alles zum Besten auslegt. Es schien, dass nun mir diese selektive Güte zuteilwurde.
Ich stellte diesen Eindruck auf die Probe und fragte, ob die Argumentation des ersten Kapitels haltbar sei? Es war ja nicht irgendein, sondern ein grundlegendes, ein wegweisendes und umfassendes Kapitel, und er erwiderte, fast aufbrausend: Nicht nur das erste Kapitel, sondern die gesamte Arbeit sei durchgehend haltbar. Und das klang fast so, als hätte die Arbeit durchaus auch an der einen oder anderen Stelle offen sein können, selbst für Unhaltbares. So klang das. Nach allen Seiten hätte ich mich abgesichert, so der Professor. Es handle sich in der Tat um eine fundierte Arbeit, die man in den Händen halte wie eine Vollkaskoversicherung. Eine fehlerfreie Arbeit, eine druckreife Arbeit, die man drucken könnte, ohne Bedenken, jederzeit, sollte jemand die Arbeit drucken wollen; sollte irgendjemand ein solches Buch tatsächlich lesen wollen. Und er lobte mich weiter. Außerordentlich aufschlussreiche Ausführungen, die ich der Fachwelt vorgelegt hätte. Auch die vielen Fußnoten hätten ihn beeindruckt – das zeuge von Gründlichkeit und Tiefe. Das Wesen der Geisteswissenschaft hätte ich erfasst, denn sie schreibe nur über das, was bereits geschrieben wurde, und jede Zeile, die ich geschrieben hätte, sei andernorts verbürgt, und das zeuge von Ausgewogenheit und Objektivität. Und das klang so, als hätte ich durchaus auch über Dinge schreiben können oder schreiben dürfen, die noch nicht andernorts verbürgt oder die noch nicht völlig gesichert seien. So klang das. Jedenfalls ein wenig.
Er fragte, wie lange ich an meiner Doktorarbeit geschrieben habe?
»Fünf Jahre.«
»Fünf Jahre?«
»Ja, fünf Jahre.«
Und er fügte fast unhörbar hinzu: fünf Jahre, und keine Fehler.
Ich wollte erwidern, dass mir anfänglich durchaus Fehler unterlaufen seien, die ich aber im Laufe der Jahre selbst entdeckt und ausgemerzt hätte …
Doch er begann nun in rascher Folge Fragen zu stellen: Wie viele Bücher ich für die Arbeit gelesen hätte? Was mir der Name Stefan Stiefelhagen sage? Ob ich das Elend des Historizismus gelesen hätte? Was ein Roman sei? Was Wissenschaft sei? Woraufhin er sich plötzlich erhob, meine Hand schüttelte und mich beglückwünschte. Er beglückwünschte mich zu meinen Antworten, die ich ihm gegeben hatte: promotionsreife Antworten, wie er meinte. Antworten, mit denen man durchaus in einer Promotionsprüfung bestehen könne. Denn nichts anderes sei eine Doktorprüfung: zügige Antworten auf ein paar unerwartete Fragen zu geben. Das sei eine Doktorprüfung, eine Art Fachgespräch, das man aus dem Stegreif führe. Er sehe dieser Prüfung nun mit Zuversicht entgegen, nachdem sich gezeigt habe, dass ich auf intelligente Art ein Gespräch führen könne, fast schon von Kollege zu Kollege, und eine Doktorprüfung sei genau das, eine intelligente Unterhaltung, nicht mehr, aber auch nicht weniger, eine Unterhaltung.
Woraufhin er auf meine Zukunft zu sprechen kam. Warum nicht jetzt schon auf diese Zukunft zu sprechen kommen statt erst später. Die Enge der Lehrjahre sei vorbei. Die Weiten neuer Welten lägen vor mir, vielleicht sogar eine Art Karriere, jedoch nicht unbedingt hier. Ich hätte durchaus Talent, wenn auch kein Ver waltungstalent, und ein Professor müsse auch verwalten können. Ich solle den großen Befreiungsschlag jetzt wagen. Die Glocken neuer Welten würden rufen. Es gebe Möglichkeiten, ja, meine Möglichkeiten seien nicht so begrenzt, wie man sage, doch gebe es nicht überall diese Möglichkeiten. In einem Land wie Amerika gebe es deutlich bessere Möglichkeiten, jedenfalls für einen Menschen wie mich. Es handle sich in der Tat um ein Land nahezu unbegrenzter Möglichkeiten: Amerika. Das Land sei ein Traum, vielleicht ein schlechter Traum oder ein gescheiterter Traum, doch immerhin noch ein Traum. Die größten Geister Deutschlands seien dort hingegangen; die besten Universitäten der Welt lägen in Amerika, und in die beste Universität Amerikas, da schicke er mich hin. Kein Aber. Er habe mich bereits vorgeschlagen. Ein Brief von ihm sei unterwegs. Mein Name sei gemeldet. Empfehlungsschreiben und Gutachten schon auf dem Weg. Hier sei eine erste Bestätigung, da Informationen zu Visa-Bestimmungen – und ein Merkblatt für den Zoll.
Was ich dazu sage?
Ich sagte nichts.
Wie ich mich fühle?
Ich fühlte nichts.
»Amerika.«
»Ich …«
»Mein Gott, Sie in Amerika.«
Und er begann, mich nach draußen zu geleiten.
»Ich …«
»Ja?«
Ich wollte mich dagegenstemmen, doch mir fiel kaum etwas ein …
»Sehen Sie.«
Nur mein Englisch fiel mir ein.
»Aber mein Englisch.«
»Wie bitte?«
»Mein Englisch.«
Ich sprach von meinem britischen Englisch.
Doch er erwiderte: Ein solch ausgeprägtes Englisch könne man gar nicht verlieren. Nicht einmal in Amerika könne man ein solches Englisch so ohne Weiteres verlieren. Im Gegenteil. Die Amerikaner würden mich für mein Englisch lieben. Und er lobte mein Oxford English, das ich bitte behalten solle. »Unbedingt behalten.« Und ich erinnerte mich nun an seine Polemiken gegen das Amerikanische. Wie oft hatte er gegen das schauderhafte Genäsel und Gequake des Amerikanischen gesprochen und sich mit körperlichem Ekel auf dem Stuhl gewunden, wenn Studenten in seinen Seminaren auch nur im Entferntesten Amerikanisch sprachen. War es nicht er gewesen, der gemeint hatte, das Amerikanisch sei ein widerwärtiges Pilotenenglisch, und wer so sprechen wolle, der solle doch sein Seminar verlassen und zur Lufthansa gehen.
Er geleitete mich weiter zur Tür: Ich solle standhaft bleiben. Mit meinem Englisch. Und auch in anderen Dingen. Durchaus auch mit mir selbst. Und er fügte hinzu: Wissenschaft sei nun einmal mehr als nur Fehlervermeidung. Es sei durchaus auch ein Abenteuer und ein Wagnis – und einiges mehr. Um dann wieder von Amerika zu sprechen: von der Landschaft, den Weiten, den Menschen und den vielen Möglichkeiten. Möglichkeiten über Möglichkeiten.
Ich versuchte es mit weiteren Bedenken. Es komme alles ein wenig überraschend. Amerika sei so …
»Ja?«
»So weit.«
»Es gibt Flugzeuge!«
Amerika sei so groß …
»Es gibt Landkarten.«
Ich sei nicht geimpft …
»Dann lassen Sie sich impfen.«
Meine Familie …
»Schicken Sie Postkarten.«
Meine Stelle hier an der Universität …
»Es gibt keine Stelle für Sie.«
Ich …
»Es gibt keine Stelle für Sie.«
Ich erwähnte meine Doktorarbeit …
»Eine Doktorarbeit ist eine Doktorarbeit«, antwortete er. »Aber auch nicht mehr.« Nein, auch der Schuldienst komme nicht infrage. »Reden Sie nicht ständig von Schulen. Warum so ängstlich?« Ich solle mir über mein Leben einmal Gedanken machen. Wer ich denn sei? Ob ich den Führerschein hätte?
»Nein.«
»Nicht einmal das.« Er öffnete die Tür. »Es bleibt bei Amerika.« Und wenn er mich persönlich zum Flughafen fahren müsse. Er schob mich nach draußen und schüttelte meine Hand. »Sie halten mich auf dem Laufenden!« Und übergab mir weitere Unterlagen. »Sie werden bald Post bekommen.« Und klopfte mir auf die Schulter. »Und machen Sie den Führerschein!« Und er rief mir nach: »Geradelaufen!«
Am Ende des Korridors warteten Kollegen mit Sektflaschen. Sie feierten schon vor meiner Prüfung, und sie feierten auch noch nach der Prüfung. Sie sangen: zum Doktor viel Glück, zum Doktor viel Glück, zum Doktor …
Meinen Lebenslauf sollte ich in die USA schicken und andere Unterlagen. Baldmöglichst. Auch sollte ich mich zu einer bestimmten Uhrzeit für ein Telefoninterview bereithalten. Man wollte von Amerika aus persönlich mit mir sprechen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen: von mir und meinem Englisch. Ich saß in meinem Büro und wartete, machte Sprechübungen. Oxford English. Um den bestmöglichen Eindruck zu hinterlassen. Oxford English. Mit lang gezogenen Mundbewegungen. Und einem leichten Naserümpfen. Das Telefon klingelte.Ich nahm den Hörer ab und hörte eine Stimme.
»Mister Zelter?«
»Yes.«
»This is Yale.«
Zum ersten Mal hörte ich die Tragweite dieses Namens. Yale.
»I am the Head of the Language Department.« »Yes.«
»Your surname is Zelter?«
»Yes.«
»Are you in any way related with the Zelter?«
»Which Zelter?«
»Carl Friedrich Zelter?«
»Yes.«
»The composer? Goethe’s friend?«
»Yes. I am in a way related.«
»In which way?«
»In a direct way.«
»Yes?«
»Yes, in a most direct and immediate way.«
»Are you really?«
»Yes, I am indeed.«
»Excellent, that will do.«
Er stellte noch einige andere Fragen. Doch diese Fragen schienen nur noch reine Formalität, ein bloßes Nachspiel zu dem Satz: »Excellent, that will do.«
Kurz darauf erhielt ich Post. »Dear Sir.« Man bedankte sich für die Unterlagen, die ich geschickt hatte, und beglückwünschte mich – auch zu dem erfolgreichen Interview. »A good interview. A very good interview indeed.« Und freute sich, mir mitteilen zu können, mich bereits im kommenden Semester in Amerika begrüßen zu dürfen … »Welcome. Yours sincerely.