Produziert mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien,
MA7 / Literaturförderung und des Landes Vorarlberg
Knecht, Doris: Langsam, Langsam, nicht so schnell! – Geschichten vom
Leben unter Teenagern / Doris Knecht
Wien: Czernin Verlag 2016
ISBN: 978-3-7076-0583-9
© 2016 Czernin Verlags GmbH, Wien
Umschlagfoto: Ingo Pertramer
Autorenfoto: Heribert Corn
Satz: Burghard List
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0583-9
ISBN Print: 978-3-7076-0582-2
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien
Langsam, langsam, nicht so schnell!
Ab wann kann man von Kindern erwarten, dass sie die Erwerbstätigkeit ihrer Mutter respektieren? Ich warte jetzt seit acht Jahren darauf und es passiert: nichts. Jedes Jahr denke ich: Heuer wird es gehen. Ab heuer werden sie meine Berufstätigkeit mit Respekt und einem gewissen Stolz anerkennen. Nix. Denn offenbar tut man den Kindern keinen Gefallen damit, dass man sich müht, in den Ferien zwei Monate lang mit ihnen zusammen an einem schönen Ort zu sein, wo man in der Früh ewig mit ihnen im Bett kuschelt, mit ihnen ins blöde Freibad schwimmen fährt, ihnen ein Dutzend Mal am Bauernhof beim Reiten zuschaut (was hübsch fad ist), mit ihnen Kanu fährt, Schwammerl suchen geht und abends am Feuer sitzt. Nein. Was vom Tage übrig bleibt: Die Mutter sitzt ununterbrochen vorm Computer. Und das ist sooo megagemein.
Zwei Monate lang habe ich den Mimis gleichmütig immer wieder erklärt, dass ich zwar nicht im Büro sein, aber dennoch ein paar Stunden am Tag arbeiten muss. Zwei Monate lang haben sie mich nach Lust und Laune dabei unterbrochen. Am letzten Ferientag sind zwei Dinge passiert: Die Mutter setzt sich hinter ihren Laptop und verkündet, dass sie jetzt arbeitet. Bitte nicht stören. Nach fünf Minuten kommt Kind eins und will über Jedi Ritter reden. Die Mutter erklärt, sie muss jetzt arbeiten. Nach zehn Minuten kommt das Kind und will wissen, wann sein Lieblingsleiberl endlich gewaschen wird, das liegt jetzt schon seit 20 Minuten im Wäschekorb, ohne dass sich irgendwer darum kümmert. Die Mutter erklärt in etwas entschlossenerem Tonfall, dass sie jetzt arbeiten muss, jetzt also nicht. Nach zwölf Minuten kommt das Kind, stellt sich so lange neben die Mutter, bis diese ihren Gedanken unterbricht, ihren Gedanken fallen lässt, für immer und ewig und unwiederbringlich im finsteren Loch des Vergessens verliert und sagt: Schau, ich kann mit beiden Händen gleichzeitig schnipsen.
Gut, ich gestehe, da bin ich ein wenig ausgerastet. Du bist acht! Einer Achtjährigen mit Garten ist eine arbeitende Mutter zumutbar! Kapier das jetzt endlich! Was das zweite Kind auf den Plan rief beziehungsweise weckte, welches sich sodann vor seinen Kakao und sein Nutellabrot setzte und mit progressiv nässenden Augen sein grausames Schicksal beklagte. Dass es eine Mutter habe, die permanent arbeite und sich nie nie nie kümmere. Und nie könne man mit ihr einfach so sprechen. Und jeden Tag müsse man bis halb vier, manchmal bis vier (!!!!) im Hort bleiben. Und die Mutter hielt den Mimis wieder einmal eine Batzen Rede über Privilegiertheit und Verwöhntsein, und es war wie immer vollkommen für den Hugo.
In einer deutschen Studie beklagten sich 17 Prozent der Kinder Vollzeit arbeitender Erziehungsberechtigter darüber, dass ihre Eltern sich zu wenig um sie kümmerten. Bei den Kindern nicht arbeitender Eltern waren es 28 Prozent. Das glaube ich sofort.
Das Waldviertler Bullerbü-Idyll eskaliert. Es spielt Osthof gegen Westhof. Wasserbomben flogen und unreifes Obst. Gartenschläuche wurden eingesetzt. Und Fäuste. Am Ende gewannen, oder jedenfalls glauben sie das, die mit dem Testosteron. Die ohne spielen jetzt halt nicht mehr mit ihnen, was den Testosterönlern wurscht ist: noch.
Der Horwath sagt, ihm is auch wurscht, hat er weniger Kinder am Hals. Der Horwath hat im Moment minder gute Laune, weil der Nachbarbauer schüttet eine riesige Wiese direkt neben dem Horwath mit Dreck auf. Er tut es zu dem Zweck, dass die Wiese danach mit Dreck aufgeschüttet ist. Der Dreck kommt von einem, der am anderen Ende des Dorfs einen Hügel wegbaggert, der seinem Carport im Weg steht. Seit zwei Wochen brettern unablässig schwere Lkw voller Dreck durchs Dorf und leer wieder zurück. Wir lassen die Kinder nicht mehr auf die Straße, es ist zu gefährlich. Der Horwath kann vor lauter Staub nicht mehr in seinem Garten sitzen und kriegt immer dickere Kabel am Hals. Zum Glück hat er noch einen Innenhof zum Sitzen, nur rennen dort mittlerweile derart viele Sulmtaler in allen Größen herum, dass die Menschen kaum mehr durchkommen.
Gegessen haben wir immer noch keins. Weihnachten, sagt der Horwath, und dass die ersten Hendln jetzt leider schon zu alt sind und die andern noch zu klein. Jaja. Die Horwath’sche Hühnerzucht wird die weltweit erste sein, in der Hennen alle glücklich an Altersschwäche verscheiden. Eins hat sich schon im Hühnerstall hingelegt und ist friedlich und gewaltfrei entschlafen, zufällig, als die Horwaths einen Tag nicht da waren, und so hat es eines der Mimis gefunden, als es in meinem Auftrag drüben Eier fladern sollte. Aber Eier gibt es auch keine mehr, die werden jetzt alle bebrütet. Nächstes Jahr wird der Horwath eine Batzen Hendlfarm haben, weil es der Populationsexplosion sehr förderlich ist, wenn weder Hendln noch Eier verzehrt werden. Ich werde nie erfahren, wie ein Sulmtaler schmeckt.
Hoffentlich ist dann die Dreckswiese vom Bauern wieder mit Gras überwachsen, sonst weiß ich nicht, wo der Horwath sitzen soll, außer drinnen. Oder bei uns. Aber zu uns kommt er seit dem Kinderkrieg auch nicht mehr. Seit dem Krieg gehen die Mimis nicht mehr zu den Horwaths, und der kleine Horwath kommt zu uns sowieso nicht, auch nicht in Friedenszeiten, weil er sich, soweit es das Gesetz erlaubt, nur auf Grundstücken aufhält, wo er das Sagen hat. Oder wo wenigstens das Personal wesentlich besser spurt als bei uns, wo Kinder mitunter Brutalitäten wie den Worten »nein«, »jetzt nicht« und »du bist acht Jahre alt, hol/mach/streich es dir selber« ausgesetzt sind. Was den Horwath kürzlich zu der Bemerkung verleitete, es wundere ihn nicht, dass die Kinder bei uns nicht gern seien … Jaja. Ich bin Kindern im Prinzip gar nicht zumutbar. Nur die Mimis wissen das nicht: noch nicht.
Unlängst traf ich auf der Straße eine alte Bekannte, die ich lange nicht gesehen hatte. Na, halloooo, wie geht’s, wie geht’s, danke, danke, jetzt eh wieder gut. Aha, warum. Ja, sie hat sich getrennt. Ach, nein, wirklich und weshalb? Na, rundheraus gesagt: wegen dir.
Da war ich ein bisschen überrascht. Weil nicht, wie Sie jetzt glauben. Ich kannte den Kerl gar nicht, nur einmal aus der Ferne gesehen. Aber die Bekannte hatte mein letztes oder vorletztes Buch gelesen und bei einer Kolumne (ich glaube, es ging darum, dass die Mütter nicht selten alles machen müssen, den Hauptteil des Haushaltsbudgets verdienen, die Wäsche waschen, mit dem Kind zum Arzt gehen und zum Elternsprechtag und dann auch noch am Spielplatz sitzen, um den Kindsvater nicht zu entmannen) gedacht: Scheiße, genauso ist es bei mir. Und hatte daraufhin einen ordentlichen Streit mit dem Mann angefangen. Und der Streit führte unmittelbar zur Trennung, und zwar nach sieben Jahren Beziehung. Und die Bekannte sagte, sie ist jetzt frisch verliebt und wirklich froh, dass sie den anderen los ist, aber es sei auch ganz gut gewesen, dass wir uns die letzten zwei Jahre nicht getroffen haben. Das finde ich auch.
Und ich finde weiters: Dergleichen kann man nach der Lektüre meiner Bücher natürlich machen, muss man aber nicht. Ich sage das, weil ich für allfällige Nebenwirkungen meines neuen Kolumnen-Bandes nicht zur Verantwortung gezogen werden will, gell.
Wobei die Gefahr, dass meine Texte als Ratgeberliteratur missverstanden werden, normalerweise extrem gering ist. Was einerseits schade ist, weil damit ließe sich, wie mir mein Verleger periodisch versichert, wirklich schönes Gerschtl machen. Andererseits ist es gut, weil es mir eine gewisse Faktenuntreue und einen sehr lockeren Umgang mit der Wahrheit erlaubt. Zum Beispiel ist die Sache mit dem Verleger frei erfunden, so einen Unsinn würde der natürlich nie sagen.
Sie hätten ihn aber erleben sollen, wie ich kürzlich, bei einer uchpräsentation zu ihm sagte: Heast, lieber Verleger, diesmal will ich Werbung für mein Buch. Zuerst hat er nach links und nach rechts geschaut, ob ich vielleicht jemand anderen meine. Dann: brüllendes Gelächter, wie ich es sonst nur von der Anna und der Polly kenne. Turbo-Gewieher und Brutal-Schenkelgeklopfe, dass die Leute sich rundherum hergedreht haben, ob bei uns alles in Ordnung ist. Das ist auch nicht wahr. In Wirklichkeit hat er mich nur angeschaut, als sei ich ein bissl juchee, hat mir einen großen Spritzer bestellt und gesagt: Eine Party gibt’s, wie immer, sonst nix, cheers! Und danach wurde es wieder so, dass ich sagen muss: Bitte machen Sie das daheim auf keinen Fall nach. Aber lustig war’s, das schon.
Am Heimweg erzählt mir das Mimi, es sei heute von seiner Lehrerin angeschnauzt worden. Warum. Es hatte etwas verloren. Na ja, vielleicht hatte sie einfach einen schlechten Tag, und du verlierst ja bei Gott nicht zum ersten Mal etwas. Aber die Lehrerin habe schon ziemlich geschnauzt, sagt das andere Mimi. Woher weißt denn du das? Es war in der Klasse von dem einen Mimi, sagt das andere Mimi. Aha, und wieso das? Es konnte nicht am Turnen teilnehmen. Warum nicht?? Kein Turnzeug. Warum kein Turnzeug, ich habe dir doch … Das eine Mimi hatte sich das Turnzeug ausgeborgt, und dann war es leider verschwunden. Warum hat sie dein Turnzeug ausgeborgt? Weil sie ihres verloren hatte. Was? Und jetzt hat sie deins auch verloren? MIMIIIIII!!! Meine Güte, ich solle mich nicht so aufregen, es sei jetzt eh alles wieder da.
Ich rege mich aber auf. Der September war noch nicht vorbei, musste ich schon ein Schulbuch (€ 15,-) nachkaufen und im Elternheft drei Rügen wegen fehlendem Dies und vergessenem Das unterzeichnen. Letzten Donnerstag kam das Kind ernsthaft ohne seine Hose heim. Was hast du da an? Das ist aus dem Ersatzgewandsackl von der Milena. Wo ist deine Hose? Weiß nicht, ist verschwunden. Wie verliert man eine Hose? Und warum hast du nicht etwas aus deinem Ersatzgewandsackl an? Das ist auch irgendwie weg. Wie: weg? Ja, weg halt. Gut, sie hat auch das in der Genetik.
Ich habe im Laufe meines Lebens CDs verloren, Bücher, Gitarren, Studiennachweise, Steuererklärungen, Schlafsäcke, Sessel, Fahrräder, Schminktaschen, Meldezettel und Reisepässe im Dutzend, Kochgeschirr, ausgeborgte DVDs, und erst im Juli in Kroatien mein Geldbörsel mit absolut allem drin, als ich es irrtümlich neben die Tasche gesteckt habe. Bitte, ein ehrlicher Mensch hätte es vis-à-vis beim Tourist-Office abgegeben, leider hat es der nicht gefunden, sondern ein anderer, man kann hier also schon eher von Fladern sprechen als von Verlieren. TROTZDEM! Man kann doch nicht alles auf eine verhatschte Genetik schieben! Man bringt doch auch selber etwas mit ins Leben. Ich zum Beispiel habe die Schlamperei in meinen Familienstammbaum überhaupt erst eingebracht, ich entstamme einem überaus ordentlichen, praktisch durch und durch rechtwinkligen Geschlecht.
Genauso gut hätten also auch meine Kinder ordentlich werden können. Das Problem ist, dass ich die Einzige in dieser Familie bin, die diese Socken, völlig konträr zu meiner Veranlagung, am fünften Tage schließlich aufhebt und in die Wäsche schmeißt. Ich muss quasi, damit diese Wohnung überhaupt bewohnbar bleibt sowie zur äh maternalen Vorbildtauglichkeit, meine gottgegebene Unordentlichkeit brutal unterdrücken. Gesund ist das sicher nicht.
Sätze, die ich auch gerne einmal sagen würde: »Ah, das Palais Coburg. Da aß mein Treuhänder immer gern.« Allerdings sind nur meine Zürcher Freunde in der finanziellen Position, derlei in eine Konversation zu werfen: im aktuellen Fall Dizzy Campolongo, während wir nicht im Coburg sitzen, sondern im Saigon im Brunnenviertel. Dizzys Ron-Mael-Schnurrbärtchen ist nachgewachsen, was mich froh macht, denn das Bärtchen hatte mich zwei Tage zuvor im Rebhuhn irgendwie nervös gemacht: Links war es beim Rasieren ein wenig kürzer geraten als rechts, ich konnte gar nicht wegschauen und starrte Dizzy, während wir sprachen, permanent auf den nicht ausbalancierten Moustache, der mein natürliches Gefühl für Symmetrie beträchtlich irritierte. Dizzy ist auf Besuch, erwägt nun aber, sich hier niederzulassen.
Denn im Unterschied zu Honzo, der Wien für die mieseste Stadt der Welt hält und sich deshalb ganz nach Berlin verfügt hat, finden die meisten meiner ausländischen Freunde, dass Wien gerade im Moment eine der lässigsten Städte der Welt sei. Finde ich auch, aber ich sitz ja immer an denselben Orten mit denselben Leuten herum.
Natürlich begrüße ich die neue politische Situation außerordentlich und richte all mein Flehen an die Protagonisten des rot-grünen Bündnisses, das bitte nicht in den Sand zu setzen. Unter anderem deshalb, weil sonst Honzo oben in Berlin in ein Hab-ich’s-doch-gesagt-Mantra verfällt, das bis nach Wien herunterhallen wird. Honzo war zwar auch für Rot-Grün, glaubt aber gleichzeitig, Rot-Grün bedeute so viel wie der Triumph der Bobos (Honzo: der Scheißbobos) über die von ihnen verkannte Realität und sei zum Scheitern verurteilt, weil die Scheißbobos ihre utopischen Scheiß-Multikulti-Tralala-Fantasien nun der ganzen Stadt überstülpen würden und damit alles nur noch schlimmer machen und am Ende der extremen Rechten zu einer absoluten Mehrheit verhelfen; jetzt einmal überspitzt formuliert.
Ich dagegen glaube erstens, dass sich einige dieser vermeintlichen Fantasien in der Realität ganz gut bewährt haben, nämlich zum Beispiel an jenen Stellen der Stadt, wo es gelungen ist, unterschiedliche Interessen und Lebensstile so zu mischen, dass dort alle relativ zufrieden zusammenleben, und zwar deshalb, weil jeder das Gefühl hat, vom jeweils anderen auf lebensqualitätsfördernde Weise zu profitieren. Siehe das hier schon öfter strapazierte Brunnenviertel, ein Beispiel für gelungene Stadtentwicklungs- und Wohnbaupolitik. Zweitens glaube ich, dass die Wirklichkeit nicht betoniert, sondern korrigierbar ist, unter anderem deshalb, weil Wien, als ich vor 25 Jahren hierherkam, eine ziemlich langweilige, ziemliche alte, ziemlich einförmige, ziemlich in ihren Traditionen verhedderte Stadt war. Jetzt ist es, laut mir und meinen ausländischen Freunden, eine der lässigsten Städte der Welt. Und es kann noch lässiger werden, pass auf.
Und dann bin ich backstage im Rabenhof ausgezuckt. Einfach so ausgezuckt. Seien wir uns ehrlich; wegen nichts, total überzogene Reaktion auf genau gar nichts.
Alle, die dabei waren, haben sich gedacht: Hat die noch alle? Geht’s der noch gut? Ich kann diese Frage wie folgt beantworten: Nein, der ging’s nicht mehr gut, und hinterher hat die im Taxi losgeflennt wie ein Baby, dass der Taxler sich nicht mehr in den Rückspiegel hat schauen getraut. Weil, wie unangenehm ist das denn, so eine heulende Frau am Rücksitz. Und ich weiß nicht einmal genau, warum ich so ausgezuckt bin, es war ja nichts, nichts, was mir normal nicht scheißwurscht gewesen wäre. Aber an diesem Abend nicht. Mein Herz übersteuerte. Mein Kopf brauste. Meine Ruhe war hin.
Ich weiß auch nicht. Ein schlechter Tag halt. An diesem schlechten Tag hat sich wohl lauter so Zeug, das mir in den letzten Monaten irgendwie zu viel geworden ist, zusammengeknäult, und am Abend backstage Rabenhof ist es dann in einem Batzen Wutausbruch konzentriert aus mir herausgeschossen dass sich alle denken mussten: So, jetzt schnalzt die also auch durch. Aha. So schaut das aus, wenn die die Nerven wegschmeißt, kläglich, tragisch und interessant.
Ja, genau, so schaut das aus. Aber der ganze Tag war schon scheiße. Den ganzen Tag hätte ich schon wegen nichts davonrennen wollen, aber kann man ja nicht machen, geht ja nicht, keine Zeit: arbeiten, Zeug organisieren, Einmaleins üben mit den Kindern. Und man ist bitte erwachsen. Man kann nicht einfach mitten am Tag an der Wand entlang auf den Boden rutschen, dort hocken bleiben, nur ein- und ausatmen und Wasser aus dem Gesicht rinnen lassen, erstens würde es die Kinder beunruhigen, zweitens ist man so jemand nicht. Man ist nicht so eine. Man ist eine von denen, die alles im Griff haben und alles schaffen, das, das und das, und wie nix mit Rauchen aufhören und dazu fünf Kilo abnehmen, alles kein Problem. Man ist ja so eine Alles-eine-Frage-guter-Organisation-Person. Eine von diesen No-Nanny-no-Granny-Müttern, die es für unsportlich halten, sich helfen zu lassen, bitte, man schafft das schon. Plus: Man ist ja auch privilegiert, es geht einem ja prächtig, man hat ja alles, das wäre ja undankbar und würdelos, wenn man mit so einem Leben sagen würde: Also, das ist mir jetzt kurz alles zu viel, ich bin dann mal überfordert und gehe jetzt bisschen weinen. Weil warum? Wegen was? Gibt ja keinen Grund. Geht einem ja gut. Ist ja alles großartig, alles bestens, danke.
Und es stimmt auch: 364 Tage im Jahr. Am 365. flippt man wegen einer völligen Lappalie wie eine Geisteskranke aus, derwischt durch die Garderobe vom Rabenhof und beschimpft wahllos jeden, der sich nicht rechtzeitig in eine Konversation oder aufs Klo flüchtet. Ja. Hm. Entschuldigung. Das war nicht mein Tag.
Ich kaufte ein neues Handy und eine neue Nummer. Ich tippte am alten Handy eine Nachricht: Guten Tag, ich habe eine neue Handynummer, dann die Nummer, liebe Grüße, DK.
Ich ging mein Adressbuch durch und markierte alle Namen, denen ich die neue Nummer schicken wollte. Es waren ungefähr 260. Es dauert, 260 Nummern zu markieren. Als ich alle markiert hatte, informierte mein Handy mich, dass ich die Nachricht nur an 20 Nummern gleichzeitig schicken könne. Ich fing von vorne an, und schickte die Nachricht dreizehn Mal an je 20 Leute. Das dauerte mehr als eine Stunde. Dann rief mich eine Freundin an, auf meiner alten Nummer, sie sagte, danke für die neue Nummer, leider funktioniert sie nicht. Ich sah mir die Nachricht noch einmal an und, dasdarfdochnichtwahrsein, ich hatte hinten zwei Ziffern vertauscht. So eine peinliche Scheiße. Unglaublich.
Ich tippte eine neue Nachricht: Zefix, die Nummer war falsch, hier jetzt die richtige. Ich überprüfte die Ziffern der neuen Nummer acht Mal, dann schickte ich die Nachricht dreizehn Mal an je zwanzig Leute, das dauerte ungefähr eine Stunde. Höhnische SMSe wurden retourniert, an meine alte Nummer. Die Freundin rief erneut an, erneut auf der alten Nummer und sagte mir erneut, leider funktioniere meine neue Nummer immer noch nicht. Das war nun nicht möglich, trotzdem las ich mir die Nachricht noch einmal durch, wobei mir auffiel, dass ich die Vorwahl mit 0669 anstatt 0699 angegeben hatte. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Bienenstock, wenn’s dort richtig Ärger gibt.
Ich tippte eine neue Nachricht: Das ist jetzt schwer zu glauben, aber. Und die neue Nummer, und: unpackbar, DK. Ich glaube, ich habe, wegen des Bienenschädels, das SMS an ungefähr 180 Leute doppelt geschickt, was von den meisten fröhlich aufgenommen wurde, und an ungefähr 80 gar nicht mehr, weil mir einer antwortete, ob ich ihn verarschen wolle, und wenn er was von mir will, schickt er mir ein Mail. Da schaltete ich das Telefon einfach für immer ab und verkroch mich unter der nächstbesten Decke, weil ich fand, dass die Karmabilanz dieser Woche bereits ungünstig genug sei.
Am Abend war ich bei der Nachbarin von unten zu Geburtstagsfeierlichkeiten eingeladen, Dresscode fesch. Ich machte mich fesch, rief ein Taxi und beim Einsteigen platzte mein fescher Bleistiftrock bis übern Hintern auf. Ich ließ das Taxi warten und zog mich um. Als ich mich auf der Party mit dem Gastgeber unterhielt, fiel dem einfach so sein Rotweinglas aus der Hand, zerplatzte am Parkett und versaute seinen feschen weißen Anzug. Danach streifte ich einen Lichtschalter, was eine Glühbirne und die Sicherung von Küche und Vorraum zur Explosion brachte. Die Leute gingen auf Distanz zu mir. Aber ich spürte: Jetzt ist es erledigt, jetzt wird’s wieder besser, und das wird es auch.
Einmal habe ich Nein gesagt. Die Sonia hat gesagt: Kommts doch mit, ich kann euch Karten besorgen, das ist total nett, den Mimis wird das gefallen. Ich habe gesagt: Nein, nie im Leben, außerdem geht das an dem Tag terminlich nicht. Die Sonia hat gesagt: Na, schade. Die Mimis kippten jedes Mal mehr in »Helden von Morgen«, nur den Chris fanden sie deppert, also der Chris, iiiii, echt. Bei der »Unschuldsvermutung« im Rabenhof habe ich dann die Anja getroffen, die hat gesagt: Kommts doch einmal zur Generalprobe, am Nachmittag, ich besorge euch Karten, das wird den Mimis gefallen, das ist total nett. Da habe ich gesagt, okay, es ist Advent, ich habe tüchtig Miese-Mutter-Defizite wettzumachen, ich schenke das den Mimis und ein paar von ihren Freundinnen, dass ich mit ihnen da hingehe, okay, wir kommen.
Wir sind am Freitagnachmittag auf den Küniglberg gefahren. Die Mimis und ihre Freundinnen waren total aufgeregt und sammelten im Foyer schon einmal Autogrammkarten ein. Wir hatten prima Plätze, ganz nah an der Bühne. Während der Show brüllten die Mädels und trampelten und winkten mit ihren Autogrammkarten, und ich fand es ziemlich peinlich. Aber ich war auch gerührt, denn zwischendurch saßen sie ganz still und schauten und hatten genau dieses Kinderaugenstrahlen im Gesicht, wegen dem man überhaupt Kinder bekommt. Als es vorbei war, kam die Anja, brachte noch mehr Autogrammkarten und sagte, so jetzt gehen wir nach hinten.
Zuerst holten sie sich noch schnell ein Autogramm von der Doris, und ich durfte danach den Edding nur am Ende anfassen, weil weiter vorne hatte ihn die Doris berührt. Hinten trafen wir zuerst den Thomas, der mit dem Falco in der Band gespielt hat, was das eine Mimi, das gerade eine Falco-Phase durchsteht, sehr beeindruckte, und es kam bei den Mimis nicht schlecht an, dass der Mann ihre Mutter busselte. Dann kam der Mario aus der Jury und großes Hallo und weiteres Gebussel, was der Reputation der Mutter auch nicht schadete. Woher kennst du den??? Na, von früher halt. Und dann kamen der Jonathan und der Lukas und die Sara und die Katharina und die Conny und der Chris, und alle schrieben lieb und geduldig Autogramme für sechs Neunjährige, vor allem der Chris, der, wenn es nach den Mimis geht, jetzt unbedingt gewinnen muss.
Ich bin dort im Gang vom Küniglberg gestanden und habe mir angeschaut, wie meine Kinder begeistert lauter Sachen machen, die mir peinlich sind und die ich eigentlich ablehne. Und ich ließ sie, weil das ist wie Barbiespielen, das geht von selbst vorbei. Und alle waren so freundlich und so süß zu den Kindern, und jetzt bin ich total korrumpiert. So leicht ist das.
Und das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich dem einen Mimi auf dessen nachdrücklichen Wunsch eine türkisfarbene Mütze mit den Buchstaben H E L D E N gestrickt habe. Mhm. Frohes neues Jahr.
Das Jahr fing gut an, richtig gut eigentlich. Vorsätze? Ja. Erstens. Zweitens. Drittens. Viertens: Nicht so streng mit sich selber sein. Was für erstens, zweitens und drittens eventuell nichts Gutes heißt, aber. Aber eine Freundin machte mich kürzlich mit der Good-Enough-Theorie vertraut, die mich mit spontanem Enthusiasmus überschwemmte. Es geht, wenn ich das richtig verstanden habe, darum, das Leben gut genug, einigermaßen passend hinzukriegen, nicht, es perfekt zu machen, und das kann ich ja eh schon perfekt und bedurfte sozusagen nur noch einer wissenschaftlichen Absicherung. Diese Perfektionsansprüche, bei berufstätigen Müttern im Übermaß anzutreffen, die ruinieren uns doch eh nur.
Kürzlich hatte eins der Mimis als Hausübung einen Was-weißt-du-über-deine-Mutter?-Fragebogen auszufüllen. Was hat deine Mutter nicht gern und was mag sie an dir und so, eh nett. Aber dann: Wie viele Stunden arbeitet sie pro Tag? Wie viele Stunden pro Tag kümmert sie sich um den Haushalt? Wie viele Stunden am Tag beschäftigt sie sich mit dir? Ja, hej? Wir leben im Zeitalter des Kreativ-Unternehmertums, da lappt das eine über das andere, da kann man das nicht so genau sagen! Aber natürlich trotzdem schlagartiges Gewissensgebeiße nackenwärts, weil, was ist denn das für eine Mutter, die das nicht sagen kann, wie schaut denn das aus, was werden die sich denken? Wie es einem die eigene Mutter schon mit acht implantierte, als man immer auf frische, nicht komplett ausgeleierte Unterhosen zu achten hatte, weil du könntest bei einem Unfall schwer verletzt werden, und was denken sich dann die Sanitäter, wenn sie diese Unterhose sehen? Ja, du.
Und das machen wir jetzt anders. Sind die Kinder einigermaßen glücklich und riechen nicht allzu aufdringlich? Ruft die Schule nicht öfter als in einer 14-Tage-Frequenz an? Können die Kinder außer TV-Werbespots auch ein paar richtige Lieder singen? Sind noch ein paar abgewaschene Teller im Schrank? Kann man in der Wohnung zwei vollständige Schritte machen, ohne auf Spielzeug zu treten? Kann man sich erinnern, was frische Luft ist und was das Wort Fitnessstudio bedeutet? Lässt sich noch ein Loch in den Gürtel nageln? Und ist man selbst manchmal glücklich? Hat man ein paar gute Freunde? Dann: gut; gut genug. Und eine sehr schöne Basis, um es an manchen Tagen noch besser hinzukriegen und das als selbstgebackenes Erfolgserlebnis zu verbuchen, bravo! Das Glas ist halb voll! Und es ist immer halber achte (und die Kinder werden es deshalb eh rechtzeitig in die Schule schaffen). Passt schon, alles easy und immer im Kopf behalten, was einst ein überaus gelassener Beamter am Check-in-Schalter des mexikanischen Kleinflughafens sagte: If not today, maybe tomorrow. Yes, yes. Das wird ein gutes Jahr.
Während ich eben erst das Konzept der Good-Enough-Mother von Good-Enough-Kids entdeckt und für eklatant daseinserleichternd befunden habe, zeigt Amy Chua der Welt, dass einer wirklich guten Mutter niemals etwas gut genug ist, besonders nicht ihre Kinder. Chua bringt mit ihrem Buch »Battle Hymn of the Tiger Mother« (deutsch: »Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte«) das Modell der »chinesischen Mutter« in die globale Erziehungsdebatte ein, und hallo, die würde nicht in der Zeugnisbesprechung sitzen und finden, es sei doch eh okay, wenn das Mimi eineinhalb Jahre vor dem Übertritt ins Gymnasium auf einer Eins und einer Eins und einer guten Zwei steht. Da würden daheim bei Chuas die Fetzen fliegen, da würde Grammatikdrill exerziert, bis das sitzt in dem Kind, Essensentzug und Kloverbot inklusive.
Mir fehlt es an Ehrgeiz, was die Förderung meiner Kinder betrifft. Rechtzeitig ins Bett zu gehen war das Einzige, was ich den Mimis bislang mit allem nötigen Nachdruck beibrachte, und zwar, damit ich meine Abende weiterhin in apathischer Ehrgeizlosigkeit verbringen kann. Das wirft kein gutes Licht auf mich, ich weiß schon. Wobei meine Ehrgeizlosigkeit vermutlich schon ein Produkt meiner glücklichen, von lieben, unterehrgeizigen Eltern versauten Kindheit ist, die letztendlich in einer sozialen Abwärtsspirale enden wird, die meine Ururenkel zurück auf die Bäume treibt, wo sie sich von den Läusen ernähren werden, die sie sich grunzend gegenseitig aus dem Fell picken. Ich ruiniere, lerne ich von Chua, die Mimis und ihre Zukunft mit meinem verantwortungslosen Laissez-faire. Indem ich sie, anstatt sie unermüdlich zu Supermenschen zu formen, ihre Nachmittage mit sinnlosem, ja, existenzgefährdendem Spielen verbringen lasse, verstelle ich ihnen schon als Achtjährige ein Dasein als angesehene Investmentbankerinnen, Immobilienhaie, Wirtschaftsjuristinnen, als bewunderte Finanz-, Justiz- oder Innenministerinnen. Mea culpa, mea maxima culpa.
Was übrigens der einzige lateinische Satz ist, den ich beherrsche. Und wenn wir uns nicht endlich um das bestmögliche Gymnasium für die Mimis kümmern, wird es denen nicht besser gehen. Obwohl, dafür ist es längst zu spät, das hätten wir wahrscheinlich schon bei der Wahl der Krabbelstube mitbedenken sollen oder als wir fahrlässig ignorierten, dass sie im Alter von drei Jahren weder lesen noch schreiben noch bruchrechnen konnten. Tja. Jetzt ist es zu spät.
Und so wie das im Moment aussieht, sind den Mimis alle Chancen, Großartiges zu erreichen, für immer zerstört und sie werden wie ihre Eltern zufriedene, ambitionslose Mittelfeldversager, die in Altbaumietwohnungen kreativ auf ihren Gitarren schrammeln, komisches Zeug schreiben und versuchen, nett zu sein.
Es tut mir leid, Mimis, das hab ich nicht gewollt.
Also es ist so. Ich habe ja diesen Roman geschrieben, »Gruber geht«, der ist jetzt erschienen, wurde besprochen und alles. Gut. Und es gab dieses Interview letzte Woche hier im Falter. Auch gut, bis auf eine Kleinigkeit, die mir aber wichtig ist. Weil der Titel von dem Interview lautete: »Der Schweinkram ist mir peinlich«, und das nun habe ich nie gesagt. Denn: Der Schweinkram ist mir nicht peinlich oder, wie der ungschamige Herr Rottenberg, der den »Gruber« gelesen hat, dankenswerterweise fragte: Welcher Schweinkram? Ja, es kommt Sex vor in dem Buch, weil es geht da um lebensfrohe Leute Mitte, Ende 30, und soviel ich weiß, hat man in dem Alter nebst anderem auch Sex. Natürlich könnte man sich, wie das Karl-Markus Gauß empfiehlt, über das Thema auch drüberpunkteln, finde ich aber feig. Egal. Es kommt also Sex vor in »Gruber geht«. Man kann auch »Schweinkram« dazu sagen, jeder, wie er will.
Jedenfalls. Der freundliche Falter-Fasthuber fragte in dem Gespräch, ob denn die Kinder auch zur Präsentation kämen. Ich sagte: nein; fragte er: »Den Schweinkram müssen Sie bei der Lesung also nicht weglassen?« Ich sagte: »Den lese ich sowieso nicht vor, das ist mir peinlich.« DAS ist mir peinlich: das Vorlesen von Sexszenen, ich bin schüchtern, nicht alles, was ich allein daheim in ein Buch hineinschreibe, lese ich auf einer Bühne vor Zuhörern auch gerne vor. Allerdings stand im Falter dann nicht, DAS sei mir peinlich, sondern: »… der ist mir peinlich.« Also quasi, wie es dann im Titel stand, der Schweinkram als solcher.