Aus einem senegalesischen Dorf kommt Ken Bugul mit einem Stipendium nach Europa. Sie beginnt ein Studium an der Universität, und sie endet in den Bars. Hier wird sie schließlich zur Philosophin schwarzer und weiblicher Kultur. Sensibel und schonungslos schildert sie, was es bedeutet, unter Weißen schwarz und schön zu sein.
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Ken Bugul (eigentlich Mariétou Biléoma Mbaye, *1947) studierte im Senegal und in Belgien. Ihr Künstlername bedeutet »eine, die unerwünscht ist«. Nach ihrer Rückkehr aus Belgien heiratete sie und wurde die 28. Frau im Harem. Als ihr Mann starb, zog sie nach Benin und war als Kunsthändlerin tätig.
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Die Nacht des Baobab
Eine Afrikanerin in Europa
Autobiografischer Bericht
Aus dem Französischen von Inge M. Artl
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Originaltitel: Le Baobab Fou (1984)
© by Ken Bugul 1982
© by Unionsverlag, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop
ISBN 978-3-293-30471-0
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Fode Ndao war es gelungen, die heiß begehrte Frucht loszuschlagen. Er brüllte vor Freude, als er sah, wie sie hoch aus dem Baum herunterfiel, in senfgelben Samt gehüllt, eine Farbe wie der Bauch eines Löwenjungen, eine Farbe wie die Savanne. Die Frucht fiel in Spiralen, schien in der Luft zu zögern, landete auf dem wurzelbedeckten Boden. Der kleine Fode hob sie vorsichtig auf, tastete sie ab, um festzustellen, ob sie im Sturz aufgeplatzt war. Die Frucht war unbeschädigt.
»Komm schnell«, sagte er zu seiner Schwester Kodu. »Schau mal, wie lang sie ist, und diese Samthaut zeigt, dass sie reif und saftig sein muss. Du darfst die Früchte vom Baobab erst pflücken, wenn sie diese dunkle Farbe haben. Der Savannenwind und die Sonne haben sie dick und reif gemacht. Komm, wir essen sie gleich. Ich werde sie aufschlagen.«
Sie gingen in den Hof zwischen den Hütten und fanden in einem leeren Vorratsschuppen einen ungestörten Platz.
»Hol ein bisschen Wasser«, sagte Fode. »Und wenn du die Mutter um Zucker fragen kannst, dann machen wir uns daraus einen Fruchtsaft.«
Fode Ndao streichelte die Frucht, bis der falsche Flaum auf der Schale ihn juckte. Er suchte sich einen Stein und kauerte sich auf die Fersen, den Oberkörper vornübergebeugt, neigte sich über die Frucht, die ihn faszinierte und erregte.
Die Mutter bereitete gerade die Hirse für das Mittagsmahl vor, das sie dann aufs Feld tragen musste, zum Vater, der früh am Morgen mit den beiden großen Söhnen aufgebrochen war und den ganzen Tag fortblieb.
Es war die Zeit des Pflügens vor der nächsten Aussaat von Hirse und Erdnüssen.
»Mutter, gibst du mir Zucker?«, bat Kodu, Fodes Schwester.
Die Mutter hörte nicht. Sie saß auf einem Ziegenfell, eine Kalebasse zwischen den kräftigen Schenkeln, die seit dem Tag, an dem der Vater kam und seinen Heiratsantrag machte, schon so oft gebebt hatten, und war über der in Wasser eingeweichten Hirse eingenickt. Die eine Hand hielt das Gefäß, die andere steckte in der Hirse; ihre Beine waren entblößt, der Oberkörper nackt, und die Brüste hingen wie leere Beutel herunter.
»Mutter!« Kodu legte ihr die Hand auf die Schulter. Die Mutter wachte mit einem Ruck auf. »Oh, was willst du?«
»Ein bisschen Zucker für Fruchtsaft.« Sorglos fügte Kodu hinzu: »Fode hat die schönste Frucht vom Baobab heruntergeholt.«
Die Mutter wurde ärgerlich. »Ah, jetzt reichts mir aber. Komm und hilf mir hier! Zünde das Feuer an, und hol den Kochtopf!« Sie zog die Kalebasse an sich und brummelte in sich hinein: »Oh Gott, womit hab ich das verdient, so eine Tochter, zu nichts ist sie nutze! Den ganzen Tag rennt sie mit den Jungen herum und fängt Vögel und Ratten.«
Kodu wollte den Augenblick nutzen und sich davonmachen.
»Oh nein, jetzt reichts, du bleibst hier, du Sündenmädchen. Zuerst rufst du mir Fode Ndao. Ich hab ihm schon einmal gesagt, er soll mir Holz hacken. Er ist auch ein Faulpelz, ich werde seinem Vater sagen, er soll ihn mit aufs Feld nehmen. Ein Mann, der daheimbleibt, hat man so etwas schon gesehen? Wird er nicht bald acht Jahre alt? Jetzt geh ihn holen, und komm sofort wieder, du nutzloses Ding, das nichts tut und nichts kann!«
Die Mutter begann wieder, den Hirsebrei zu kneten, unterbrach sich plötzlich und rief Kodu zurück, die langsam zur Vorratshütte hinüberschlenderte und dabei spielerisch die Füße durch den feinen Sand schleifte, der die Schritte dieser Familie schon seit einer Generation trug.
»Komm mal schnell her, mich sticht etwas im Rücken. Beeil dich, du Faulpelz!«
Kodu kam zurück und beugte sich über sie.
»Da unten, ach, was bist du dumm, ich hab gesagt, zwischen … daneben … und da …«
»Aber Mutter, ich seh nichts, es ist nichts da«, sagte Kodu.
»Dein Herz ist so schlecht.« Die Mutter schien verzweifelt.
Sie ließ die Kalebasse mit einer Hand los, griff nach dem Besen und kratzte sich damit den Rücken.
Kodu hatte schon kehrtgemacht und rannte zur Speicherhütte. Auch Fode war dabei, sich überall zu kratzen; die Samthaut der Baobabfrucht verursachte Juckreiz.
»Ah, Kodu, da kommst du endlich, was hast du so lange gemacht? Wo ist der Zucker?« Er kratzte sich noch immer.
»Du hast die Frucht angefasst, und jetzt schmierst du dir das juckende Zeug selbst überallhin. Fode, Mutter hat Nein gesagt. Und du sollst kommen und das Holz hacken!«
»Gut, dann machen wir den Saft eben später«, tröstete Fode sich notgedrungen. »Ich werde Mutter den Zucker klauen, ich weiß, wo sie ihn aufbewahrt.«
Und der Tag verging mit kurzen Augenblicken der Fröhlichkeit oder des Träumens, mit Arbeit und Rast, bis die Nacht einfiel.
Der Vater und die Brüder kehrten um die gleiche Zeit vom Feld zurück wie die Herde, die Mbunje, der Dorfhirte, den ganzen Tag lang in die Savanne zur Weide führte.
Mit der Dämmerung breitete sich Erschöpfung aus. Dunkelheit hüllte die Instinkte und Träume ein.
Dieser Augenblick. Die Stunde der Stille. Schatten. Träume. Die Welt ging schlafen.
Die Mutter lag ausgestreckt auf der raschelnden Matratze; der älteste Sohn hatte sie vor einer Woche mit frischem Stroh gefüllt. Sie war müde, die Mutter: die Sonne, die reglose Luft, nicht die kleinste Brise, das Schneiden und Trocknen der Hirse, das Mahlen und Kochen für die Familie. Sie war jeden Abend die Letzte, die sich schlafen legte, aber auch erst, nachdem sie nochmals nachgeschaut hatte, ob alles hereingeholt und aufgeräumt war.
Diesen Moment, in dem nur Atemzüge sprechen und die Seelen in sich gekehrt sind, nutzte Fode, um noch einmal aufzustehen, leise wie die Nacht, seine Komplizin, und in die Kalebasse zu greifen, in der die Mutter den Zucker aufbewahrte. Er brauchte dazu beide Hände, und deshalb konnte er den Deckel nicht wieder schließen.
›Oh, das dauert zu lange, die Mutter wird aufwachen. Ich werde die Kalebasse einfach offen lassen und den Deckel morgen in aller Frühe wieder drauf tun, wenn die Mutter draußen im Hof ist. Sie steht immer als Erste auf, bei Tagesanbruch, und geht gleich hinaus und öffnet den Hühnerstall und bindet die Ziegen los und geht melken, damit wir Milch für das Morgenmahl haben‹, dachte sich Fode und legte sich wieder hin.
Der Quinquéliba-Tee, schon am Abend zuvor vorbereitet, wurde nun auf den glühenden Scheiten im Hof heiß, der im Sonnenaufgang heiter und hell wurde.
Fode schlief noch; sein Vater rüttelte ihn: »Fode, Mann ohne Haltung, steh auf, Sündensohn!«
Fode räkelte sich, und der Vater fuhr fort: »Wer hat die Kalebasse aufgemacht? Der ganze Raum ist voll Ameisen. Warst du das, der am Zucker war?«
»Nein, ich hab nichts getan, du mein Vater«, antwortete Fode.
»Aber wer hat dann die Kalebasse aufgemacht? Das ist doch seltsam, sie hat sich doch sicher nicht allein geöffnet!«
»Vielleicht war es sie, meine Mutter«, sagte Fode etwas vorwitzig und unsicher.
In diesem Augenblick kam die Mutter herein. »Wo ist der Zucker? Wo hab ich ihn nur hingetan? Und wo kommen all die Ameisen her?« Sie wurde zornig. »Fode, du warst das, du Sündendieb; gib sofort den Zucker her, oder du wirst etwas erleben. Der Zucker ist so schwer zu beschaffen und so schrecklich teuer. Du bekommst zur Strafe kein Frühstück.«
Fode schämte sich. Er hätte gerne um Verzeihung gebeten und den Zucker zurückgegeben, der unter seiner Decke versteckt war, doch dann dachte er an den Fruchtsaft und schwieg.
Die Sonne war so prächtig aufgegangen wie an allen anderen Tagen. Das Dorf Guye belebte sich, und mit einem Konzert aus Geräuschen und Stimmen begann das Leben neu.
Fode nahm den Zucker, holte die Baobabfrucht aus der Vorratshütte und preschte wie ein junges Pferd davon zu seinem Vergnügen. Er schlug die Frucht auf einem Stein auf; die Schote öffnete sich wie ein Mund, der die Welt verschlingen will, und zeigte die im Fruchtfleisch eingehüllten Kerne.
Fode lief das Wasser im Mund zusammen. Er holte ein wenig Wasser aus dem Krug, der immer vor dem Hoftor stand, damit jeder, der vorüberging, sich erfrischen konnte, falls er Durst hatte, oder seine rituellen Waschungen vornehmen konnte, wenn er sich unrein fühlte. Fode vermischte das Wasser, den Zucker, die Kerne und das Fruchtfleisch gleich in der Fruchtschale; er kostete ein wenig und verschluckte beinahe seine Zunge. Das war ein guter Saft, wie leichte, frische Sahne, von hellgelber Farbe, und die glatten Kerne schwammen darin herum. Fode behielt einen Kern im Mund und spielte mit der Zunge damit.
Während Kodu ihr Frühstück aß, fragte sie sich, wo ihr Bruder geblieben war. ›Geschieht ihm recht, er bekommt kein Morgenmahl; er wird auf der Schwertschneide ausrutschen‹, dachte sie. Aber sie wunderte sich, weil ihr Bruder sich nicht beklagte, und da fiel ihr der Fruchtsaft ein. Sie aß schnell fertig und lief davon.
Die Mutter schalt hinter ihr her, sie solle zurückkommen und Fode holen, damit er Holz hacke. Der Vater und die ältesten Söhne waren schon früh aufgebrochen und hatten das Morgenmahl mitgenommen.
Die Mutter fuhr wie im Selbstgespräch fort: »Sündenkinder, Kodu, ruf mir sofort Fode, gleich gibts ein Unglück, ich hab genug, ich bin müde, ich bin kaputt mit diesen Nichtsnutzen.« Sie machte »Kssssss!« und warf den Deckel des Teetopfes nach den Hühnern und Hähnen, die im Sand nach Krümeln von Hirsefladen pickten und versuchten, in die Kalebasse voll Fladen zu gelangen. »Herr, erbarme dich … Gut, ich werde Trockengemüse für das Mittagessen holen und den Trockenfisch machen, den sie, meine Mutter, mir geschickt hat. Es ist noch ein Rest da … Kodu, Fode, kommt her, und zwar ein bisschen schnell.« Sie konnte sich nicht beruhigen.
Inzwischen hatte Kodu ihren Bruder gefunden. »Mutter hat gesagt, du sollst kommen, Fode!«
Fode hob nicht einmal den Kopf und fuhr fort, seinen Fruchtsaft zu rühren.
»So ist das also, du machst dir deinen Fruchtsaft heimlich, du gibst mir nichts davon ab; wart nur, bis ich auch mal etwas habe, dann geb ich dir auch nichts, wenn du mich fragst.« Sie schien böse auf ihn zu sein, aber ihre Stimme wurde doch sanfter: »Na, Fode, gib mir auch ein bisschen, lass mich mal versuchen.«
Ihr Bruder behandelte sie wie Luft.
Ärgerlich hob Kodu wieder die Stimme: »Fode, Mutter hat gesagt, du sollst Holz hacken kommen! Ich werde ihr sagen, dass du dich weigerst.«
Fode hatte es satt, seiner Schwester zuzuhören. Wütend spuckte er den Kern aus, den er noch immer im Mund hatte. »Du mit deinen vielen Worten, jetzt reichts.«
Es war kurz vor dem Beginn der Regenzeit. Das Dorf Guye nahm eine durchscheinende Farbe an. Die Hütten waren gelb, die hohen Pflanzen, der Sand, die Tiere, die Menschen, alles war gelb. Es war sehr trocken und so heiß, dass der Sonnenschein leise zu knistern schien. Und so gingen die Tage im Leben des Dorfes und seiner Bewohner dahin.
Einmal ging die Mutter am Spätnachmittag zum Brunnen, um Wasser zu holen. Auf dem schmalen Pfad, den im Laufe der Jahre all die Schritte eingekerbt hatten, ging sie in sich versunken dahin; sie fühlte nichts. So war es immer; ihr Blick war vorwärts gerichtet, aber sie schaute ins Leere, sie sah nichts. Diese Ruhe, diese Gelassenheit herrschte in allen Dörfern, lag in allen Gesichtern. War das Resignation oder Friede?
Das Geräusch des Galopps überraschte sie erst eine Weile, nachdem sie es schon gehört hatte. Im Dorf war noch niemals zuvor das Geräusch eines Galopps zu hören gewesen, denn hier besaß niemand ein Pferd. Dieses seltsame Ereignis erstaunte sie so, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte, als sie sich danach umdrehte; sie verlor das Gleichgewicht, der Wasserkrug entglitt ihr und fiel auf den Boden. Sie selbst fing sich noch und fiel nicht hin. Das Brunnenwasser, süß wie die Frucht des Baobab, schien einen Moment innezuhalten und begann dann, wie ein winziger Fluss dahinzufließen.
Die Mutter war stumm vor Schreck und legte die Hand auf den Mund. Jetzt musste noch etwas geschehen. Sie wusste nicht, was, aber in den beinahe dreißig Jahren, die sie schon zum Brunnen ging, um Wasser zu holen, war ihr so etwas noch nie passiert. Der Krug, in tausend Stücken, schien silberne Tränen zu vergießen. Die Mutter nahm das Kopftuch ab, das sie wie einen Turban trug, strich sich über die lange vergessenen Zöpfe, rief die Ahnen an. Sie bat den Schutzgeist, die Familie vor allem Unglück zu bewahren.
Darüber hatte sie den Hufschlag vergessen. Plötzlich: »Ich grüße dich, Frau; ich achte dich und ehre dich mit diesem Kopftuch, das aus meinem Land kommt; ich wohne in dem Land, in dem die Sonne niemals vorüberzieht. Die Frauen dort brauchen ein Jahr, um es anzufertigen, dieses Kopftuch da. Ich bin hergekommen, um mir diese Gegend anzuschauen; ich möchte mich hier niederlassen, hier eine Familie gründen, und meine Entscheidung ist bereits gefallen.«
Dieser energische Mann faszinierte die Mutter; er war so selbstsicher, so entschlossen, so jemand war seit einem halben Jahrhundert nicht mehr hierhergekommen. Sein Pferd war genauso nervig wie er. Beide atmeten heftig.
Die Mutter band hastig ihr Kopftuch wieder um und entschuldigte sich dabei, denn eine verheiratete Frau in ihrem Alter durfte sich nicht ohne Kopfbedeckung zeigen. Sie streckte dem Fremden die Hände entgegen und nahm das Geschenk an. Der Stoff war von Hand gewebt, und auch das Muster handgedruckt, und das Ganze indigoblau gefärbt. Das Tuch duftete nach den verschlossenen Truhen des Nordens, die, mit Weihrauch gefüllt, mehr als ein Königreich durchreist haben. Sie lud den Mann und sein Pferd ein, sich in ihrem Haus zu erfrischen.
Der zerbrochene Krug schaute zu, wie sie zum Haus gingen. Das verschüttete Wasser bedeckte zögernd ein Samenkorn. Es war der Kern der Baobabfrucht, den Fode ausgespuckt hatte, als die Mutter nach ihm schickte, am Morgen jenes ersten Tages, als die Götter eine neue Generation zeugten, welche die Zeit umwälzen würde.
Die Regenzeit begann ohne Warnung mit einem Wolkenbruch, der alles aufweichte, die Sonne, die Lebewesen, die Erde und das Leben. Das ganze Dorf war in Aufruhr. Wasser, wenn es dich nicht gäbe, wie vergeblich wäre dann das Leben! Die Kinder und die Vögel tanzten zusammen und hießen die Regenzeit willkommen.
Kleine Bäche bildeten sich; das Wasser strömte über die schmalen Wege und schwemmte den Abfall der Dürrezeit mit, der überall im Dorf herumlag. Der Kern aus der Baobabfrucht blieb liegen, wo er war, vom verschütteten Wasser der Mutter in den Boden geklebt. Eine Woche nach dem Beginn der Regenzeit keimte der Kern: Ein winziger Stängel trug zierlich ein Blättchen. Regengüsse, Menschenschritte und Tierhufe verschonten ihn wie durch ein Wunder, und bald wachte eine zarte, junge Pflanze mit der Sonne auf und ging mit ihr zur Ruhe.
Zwei Jahre später stand dort ein junger Baobab mit geradem, hohem Stamm und reichem Blattwerk. Wieder kam Trockenzeit, und alles nahm seinen Lauf. Fode war gewachsen und ging mit dem Vater und den großen Brüdern aufs Feld. Er hörte nicht mehr auf den Ruf der Mutter. Er war ein Mann geworden in jenem Jahr, als die Heuschrecken die Region heimgesucht und den größten Teil der Ernte vernichtet hatten. Die Mutter respektierte ihn, und Fode machte keinen Fruchtsaft mehr.
Kodu war ein gut entwickeltes und hübsches junges Mädchen von kräftiger Gestalt geworden. Sie glich einer Skulptur, die aus der Landschaft des Ndukumane entstanden war. Eine Landschaft aus Feuer und Gold. Sie kochte und half der Mutter bei allen Hausarbeiten.
In der Lebensweise des ganzen Dorfes verschmolz das Schöne mit dem Alltäglichen und den Träumen. Am Abend, bei Sonnenuntergang, brachten die Alten den Schatten Opfer dar. Von Weitem betrachtet, schien sich das Dorf, nichts als Lehm und dürre Strohdächer, dem Leben anzubieten wie eine Jungfrau. Es wirkte wie reglos leer, aber trotzdem wimmelte es darin wie in einem Termitenbau. Alle dort waren glücklich, denn alle teilten alles miteinander. Die Geburt, das Leben, den Tod. Schmerzen und Kummer, Glück und Freude. In diesem Dorf lebten die Menschen miteinander. Die Alten wurden älter, und die Geburten wurden als Zeichen der Unsterblichkeit willkommen geheißen. Das Neugeborene war immer eine Reinkarnation. Doch eines Nachmittags kehrte das Verhängnis im Dorf ein.
Kodu bereitete Hirsekrapfen zu, wie man sie zum Morgenmahl isst und an die Nachbarn verschenkt. Die Pfanne mit dem Öl stand schon eine Weile auf dem Feuer und wurde heiß. Kodu träumte über der Arbeit Mädchenträume, von einem Hochzeitstag mit dem Sohn des Dorfhirten, sie zitterte jedes Mal, wenn sie seine hohe stattliche Gestalt sah.
Das Öl geriet in Brand. Der Wind, der zu Beginn der Trockenzeit weht, um die Erde zu reifen, packte die Flamme und trug sie in die Strohdächer. Im gleichen Augenblick war das ganze Dorf ein Flammenmeer, angefacht vom Wind, den ein böser Geist geschickt hatte, um die Harmonie zu zerstören.
In die schrillen Schreie der Frauen mischte sich das Knacken der hölzernen Dachbalken. Alle Männer waren auf den Feldern. Die Frauen führten die Alten und die Kinder aus dem Dorf; ein unheilvolles Bild. Dann begann die Trostlosigkeit. Das Dorf wirkte wie eine Bühne: Die Ruinen der Lehmmauern stellten auf ihr die verkohlten Gestalten in tragischen Posen dar.
Es gab keine Toten.
Die Bäume verloren ihr Blattwerk, und das Feuer setzte seinen Weg ungestört fort über die offene Savanne, nahm die Träume von gestern und die Illusionen der Gegenwart mit.
Der Baobab blieb wieder einmal verschont. Das Feuer war vor ihm ausgebrochen, und die Winde wandten ihm den Rücken zu. Die Familien verließen das, was einmal ihr Dorf gewesen war, und ließen sich etwas weiter weg nieder.
Es gab nur noch den kleinen Friedhof und den treuen Baobab. Der Wind sang in der Leere.
Im gleichen Jahr kam wieder der energische Mann mit seiner kleinen Familie, der eine neue Heimat suchte. Mit dabei war die Mutter, die ewige, nie versiegende Quelle, die unentbehrliche Frau, ohne die es kein Leben gibt, und drei Kinder. Bestürzung überfiel ihn vor dieser Leere. Er ließ seine kleine Familie unter dem Baobab warten, und in dessen Schatten schnürte die Mutter ein Bündel auf und holte Mundvorrat heraus. Die Kinder waren erschöpft vor Müdigkeit und Hunger. Der Mann machte einen Rundgang durch die Leere.