Horst Siebert

Selbstgesteuertes Lernen und Lernberatung

Konstruktivistische Perspektiven

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.   Selbstgesteuertes Lernen – zur Geschichte einer reformpädagogischen Idee

1.1  Paradigmenstreit in der Weimarer Volksbildung

1.2  Die Siebzigerjahre: Selbstorganisation statt Verschulung

1.3  Mitte der Neunzigerjahre: Von der Weiterbildung zum lebenslangen Lernen

2.   Theoretische Aspekte

2.1  „Selbstgesteuertes Lernen“ – eine Wende der Wahrnehmung

2.2  Selbstorganisation und die Modellierung des Selbst

2.3  Selbstinstruktion und Selbstevaluation

2.4  Entkopplung von Lehren und Lernen

3.   Empirische Befunde zum selbstgesteuerten Lernen

3.1  Subjektive Lerntheorien Erwachsener

3.2  Kognitive und emotionale Lernvoraussetzungen

3.3  Selbstgesteuertes Lernen in der Lehr-Lernforschung

3.4  Stile selbstgesteuerten Lernens

3.5  Selbstgesteuertes Lernen im Internet

3.6  Lernen in der Wissensgesellschaft

4.   Lernberatung

4.1  Lernen in einer Ratgebergesellschaft

4.2  Systemisch-konstruktivistische Grundlagen der Lernberatung

4.3  Ein Stufenmodell der Beratung

4.4  Kompetenzen und Verhaltensweisen des Beraters

4.5  Lernberatung: die Frage nach Sinn

4.6  Lernberatung durch Metakognition

4.7  Moderation als Lernhilfe

4.8  Lernarrangements

4.9  Lerndiagnosen

4.10  Kollegiale Beratung in Lerngruppen

5.   Lernkulturen

5.1  Lernkulturen als Wissenssysteme

5.2  Milieuspezifische Lernkulturen

5.3  Lernende Organisationen

5.4  Erwachsenenbildung in Zeiten der Postmoderne

6.   Literaturverzeichnis

Einleitung

Lebenslanges Lernen erfüllt unterschiedliche Funktionen: es fördert die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit und berufliche Karrieren, es ermöglicht gesellschaftliche Partizipation, es erleichtert eine kluge Lebensführung und unterstützt eine reflexive Identitätsentwicklung. Lebenslanges Lernen findet nicht nur in institutionalisierten seminaristischen Formen statt. Gelernt wird ebenso in informellen Kontexten und auch „en passant“. Lebenslanges Lernen ist umso effektiver, je vielfältiger die Selbstlernkompetenzen sind. Nachhaltiges Lernen ist selbstgesteuertes Lernen – diese These wird von der konstruktivistischen Erkenntnistheorie bestätigt. Aber: auch selbstgesteuertes Lernen will gelernt sein und erfordert Unterstützung. Deshalb ist es konsequent, das Plädoyer für selbstgesteuertes Lernen mit der Forderung nach Lernberatung und nach unterrichtsbegleitenden Lernhilfen zu verbinden.

Selbstgesteuertes lebenslanges Lernen macht institutionalisierte Erwachsenenbildung nicht überflüssig, aber neue Lehr-Lernkulturen erscheinen erforderlich. Diese Kulturen des Lernens sind Bestandteil postmoderner Gesellschaften: sie sind erlebnisintensiv, kreativ, multikulturell, mehrperspektivisch, handlungsorientiert, nichtnormativ und vernetzt.

In den folgenden Kapiteln wird versucht, diese Zusammenhänge theoretisch, empirisch und bildungspraktisch zu verdeutlichen.

1. Selbstgesteuertes Lernen –
zur Geschichte einer reformpädagogischen Idee

1.1  Paradigmenstreit in der Weimarer Volksbildung

1.2  Die Siebzigerjahre: Selbstorganisation statt Verschulung

1.3  Mitte der Neunzigerjahre: Von der Weiterbildung zum lebenslangen Lernen

 

1.1

Paradigmenstreit in der Weimarer Volksbildung

Auch pädagogische Schlüsselbegriffe machen Karriere. Sie werden ins Gespräch gebracht, sind in aller Munde, geraten wieder in Vergessenheit, tauchen – oft auf Umwegen – wieder auf, erleben – in veränderten sozialhistorischen Kontexten und in modernisierter Terminologie – eine Renaissance. Solche verschlungenen Pfade lassen sich für „ganzheitliches Lernen“, für „emanzipatorische Pädagogik“ und auch für selbstgesteuertes Lernen aufspüren. Auf die Entstehungsgeschichte des selbstgesteuertes Lernens verweist der „Richtungsstreit“ der Weimarer Volksbildung.

Zur pädagogischen Diskussion trafen sich in den Zwanzigerjahren im „Hohenrodter Bund“ sozialreformerisch engagierte „Volksbildner“ – insbesondere Mitarbeiter von Volkshochschulen und Heimvolkshochschulen –, um eine „neue Richtung“ der Volksbildung zu realisieren. Die beiden kontroversen „Richtungen“ der Bildungsarbeit lassen sich wie folgt gegenüberstellen (wobei in der Praxis die Übergänge fließend waren und sich beide Konzepte oft vermischten):

Die „alte Richtung“ definierte Volksbildung „extensiv“ als Vermittlung, Verbreitung, Popularisierung wissenschaftlichen und kulturellen Wissens. Es überwog eine Vortragstätigkeit, der ein materialer, positivistischer, enzyklopädischer Bildungsbegriff zu Grunde lag. Im 19. Jahrhundert war der Zugang zu modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen einer privilegierten Minderheit vorbehalten. Die Verfügung über neues Wissen wurde mit Bildung gleichgesetzt, und dieses Wissen verlieh ökonomische und politische Macht. „Wissen ist Macht“ – eine These von Francis Bacon – wurde von Wilhelm Liebknecht auch als Motto der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung propagiert. Liebknecht definierte das Verhältnis von Wissen und Macht als wechselseitig: Wer über neues Wissen – zum Beispiel der Technik, der Ökonomie, der Psychologie – verfügt, ist dadurch anderen überlegen. Und zugleich: Wer politische und ökonomische Machtpositionen einnimmt, kontrolliert den Zugang zum Wissen (und den Bildungseinrichtungen).

Das „Wissen vermittelnde Paradigma“, wie es sich unter anderem in der „Universitätsausdehnungsbewegung“ manifestierte, war zumindest partiell demokratisch und reformerisch motiviert. Insofern lässt sich der Richtungsstreit zwischen extensiver Wissensverbreitung und intensiver Bildungserarbeitung – damals wie heute – nicht auf den Dualismus „konservativ – progressiv“ reduzieren.

Die Kritik an dieser Wissenschaftspopularisierung hatte drei Wurzeln:

  1. Vor allem während des ersten Weltkriegs wuchsen die Zweifel an der optimistischen Gleichung „Wissenschaft = Industrialisierung + Demokratisierung = Emanzipation und Wohlstand auch für Benachteiligte“. Dieser Fortschrittsoptimismus wurde durch die ökonomische und politische Entwicklung in Frage gestellt.

  2. Die Reformpädagogik schärfte den Blick für die Mängel einer stofforientierten „Paukschule“. Schon N. S. Grundtvig, der Begründer der dänischen Heimvolkshochschulidee, hatte für eine „lebendige“, lebensweltorientierte Schule plädiert.

  3. Die frontale Vermittlung wissenschaftlichen und kulturellen Wissens an Erwachsene, insbesondere an Arbeiter, erwies sich als wenig bildungswirksam. Die Rationalität des wissenschaftlichen Wissens blieb den meisten Erwachsenen verborgen, das Wissen blieb ihnen „äußerlich“, es blieb – wie es die Kognitionspsychologie nennt – „träges Wissen“.

Vertreter der „neuen Richtung“ wie R. von Erdberg, W. Flitner, E. Weitsch, A. Mann, F. Laak, H. Lotze setzten sich für einen pädagogischen Perspektivenwechsel ein. Bildung wurde als Selbstbildung definiert, als Reflexion und Kommunikation von Erfahrungen, Deutungsmustern und Alltagswissen. Inspiriert wurde diese subjekt- und gemeinschaftsorientierte Konzeption durch reformpädagogische Ideen, aber auch durch den Lebensweltbegriff E. Husserls. Viele entdeckende, kreative, projektorientierte, auch narrative Arbeitsformen – zum Beispiel sokratische Gespräche, ökologische Erkundungen, erlebnispädagogische Veranstaltungen – sind heute in neuer Verpackung wieder modern.

Stellvertretend seien einige „Volksbildner“ dieser neuen Richtung als Vorläufer des selbstgesteuerten Lernens zitiert. Zu den Sprechern des Hohenrodter Bundes gehörte Robert von Erdberg, Referent für Volksbildung am preußischen Kultusministerium. Robert von Erdberg unterscheidet 1920 drei Perioden der Volksbildung für Erwachsene: „In der ersten (Periode), die von den Siebzigerjahren bis etwa in die Mitte der Neunzigerjahre reicht, war die Arbeit vom Staate aus eingestellt. In der zweiten Periode, die wir bis in das erste Lustrum des 20. Jahrhunderts rechnen dürfen, war die Bewegung von der Kultur aus eingestellt. In der dritten Periode ist sie vom Menschen aus eingestellt.“ (von Erdberg 1920/1960, S. 17) Er kritisiert an der traditionellen Volksbildung eine „Ehrfurcht vor dem Wissen“, mangelnde Unterscheidung zwischen Wissenswertem und Überflüssigem, eine Rollenverteilung zwischen „Gebenden und Empfangenden“, eine Gleichsetzung von Wissen und Bildung, eine „Überfütterung mit Kulturgütern“. Die „neue Richtung“ bemüht sich um „Individualisierung“ der Bildungs- (und Bibliotheks-) Arbeit. Von der Volkshochschule soll eine „neue geistige Bewegung“ ausgehen. „Von der Auffassung ausgehend, dass Bildung nicht ein geistiger Besitz, sondern eine geistige Form ist, die durch die innere Auseinandersetzung mit der Kultur gewonnen wird, kommt die neue Richtung zu der Forderung einer individualisierenden Volksbildungsarbeit, die auf die im einzelnen Menschen gegebenen Voraussetzungen auf bauen muss.“ (v. Erdberg 1921/1960, S. 52)

Ähnlich wie Robert von Erdberg plädiert auch Eugen Rosenstock, unter anderem Direktor der Akademie der Arbeit in Frankfurt, für einen lebensweltorientierten Bildungsbegriff. Rosenstock unterscheidet drei „Bildungswelten“:

a) eine „geistliche Bildung der christlichen Welt“,

b) eine akademische wissenschaftliche Bildungswelt der Privilegierten,

c) eine gesellschaftsbildende Volksbildung.

Seine Kritik an der akademischen Volksbildung ist sozialpolitisch begründet. „Was also im Zeitalter der akademischen Bildung an Volksbildung geleistet wird, das ist immer Brosamen von der Herren Tische, Abfütterung des unteren Mittelstandes mit populärer Literatur und mit Humboldt-Akademien.“ (Rosenstock 1920/1960, S. 71) Auch Rosenstock plädiert für eine subjektorientierte Didaktik. „Die Frage des Schülers tritt zum ersten Male an die erste Stelle vor die Antwort des Lehrers.“ (ebenda S. 77)

Unter dem Eindruck des Weltkriegs und des politischen Chaos schreibt er pathetisch: „So macht erst der gemeinsame Leidensweg alle Deutschen zu Teilhabern eines gemeinsamen Lebenslaufs. (…) Dieser Lebenslauf stellt die ersten Fragen, die von der neuen Bildung zu beantworten sind. (…) In dem Zusammenbruch aller äußeren Bildung ist nun ein Maßstab gegeben für alles wahrhaft Bildende.“ (ebenda S. 79) Rosenstock spricht von einer „Lebensbildung“, die sozialorientiert und biografisch ausgerichtet ist. „Neben den Lebenslauf der Gemeinschaft muss sich ergänzend der Lebenslauf des einzelnen Menschen stellen.“ (ebenda S. 84) Seine Bildungsidee ähnelt dem, was wir heute als „Lebensführungskompetenz“ bezeichnen. Bevorzugte Organisationsform dieser Lebensbildung ist die Arbeitsgemeinschaft, in der „Verschiedendenkende“ gemeinsam lernen und eine gemeinschaftliche Zukunftswerkstatt etablieren.

Auch Alfred Mann, Volkshochschulleiter in Breslau, formuliert einen „volkstümlichen“ Bildungsbegriff, der soziales Lernen mit Individualisierung verknüpft. Auch Manns Bildungsbegriff orientiert sich nicht an dem Kanon und der Rationalität der Wissenschaftsdisziplinen, sondern an dem „Ich-Gesichtswinkel“ der Teilnehmer. Alfred Mann erörtert fünf didaktische Grundsätze der Volkshochschularbeit, darunter „die Forderung der Schüler-Selbsttätigkeit“. In diesem Begriff klingt vieles an, was der Terminus Selbststeuerung beinhaltet, nämlich Spontaneität, Selbsterkenntnis, auch Selbstkontrolle. „Echten Bildungswert hat für einen Menschen nur die Erkenntnis, die er selbst aufzubauen vermag, nur der Gedanke, den er selbst zu denken weiß, nur das Kunstwerk, das er selbst erleben kann, nicht dasjenige, worüber ein anderer lediglich ihm etwas vorredet.“ (Mann 1928/1948, S. 26) Hier werden konstruktivistische Thesen einer „Autopoiese des Erkennens“ und einer „Emergenz der Kognition“ angedeutet.

Es geht hier nicht um eine umfassende Darstellung und kritische Würdigung der Bildungstheorie der Weimarer Volksbildung. Ich wollte lediglich auf eine „Anschlussfähigkeit“ der aktuellen Diskussion über Selbststeuerung des Lernens hinweisen. Auf diese Zusammenhänge macht auch Hans Tietgens in seiner Analyse der „Teilnehmerorientierung in Vergangenheit und Gegenwart“ (1983) aufmerksam. In der „neuen Richtung“ „trat an die Stelle des Transports in ihrem Rang als gesichert geltender Kulturgüter die Suche nach der subjektiven Wahrheit. (…) Als Konsequenz eines nicht mehr zu verdeckenden Pluralismus der Normen wurden Suchbewegungen nach vorwärts und rückwärts angeregt.“ (Tietgens 1983, S. 10)

Abb. 1:

Paradigmenstreit

 

1.2

Die Siebzigerjahre: Selbstorganisation statt Verschulung

Anfang der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, im Gefolge der Studentenbewegung, begann die Karriere des „Selbst“ – zumindest in Westdeutschland.

Selbstbestimmung war die emanzipatorische Leitidee der progressiven Pädagogik.

Selbstverwirklichung beinhaltete die Befreiung aus entmündigenden und entfremdenden Strukturen.

Selbsterfahrung war das didaktische Programm eines Lernens in Gesinnungsgemeinschaften.

Selbstorganisation war eine Alternative zu den verfestigten bürokratischen Strukturen des öffentlichen Bildungssystems.

Selbstbewusstsein sollen gegen autoritäre Fremdherrschaft immunisieren. Inspiriert wurde diese systemkritische Pädagogik unter anderem von lateinamerikanischen Pädagogen wie Paulo Freire und Ivan Illich. Vor allem Illich, der in Wien aufgewachsen war und nicht nur die lateinamerikanischen, sondern auch die europäischen Kulturen bestens kannte, wurde zum Sprecher einer Modernisierungs- und Zivilisationskritik. Er kritisierte vehement die kapitalistisch-industriegesellschaftliche Rationalität, die sich zunehmend aller Lebensbereiche bemächtigte. Zu dieser Ideologie gehörten ein Machbarkeitswahn und eine Technikgläubigkeit, ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus und ein Denken in Profitkategorien. Das Prinzip des „mehr desselben“ wurde verabsolutiert: mehr Autobahnen für mehr Mobilität, mehr Krankenhäuser für mehr Gesundheit, mehr Waffen für mehr Frieden, mehr Schulpflicht für mehr Bildung etc. Diese Fortschrittsspirale – so Ivan Illich – wurde zunehmend kontraproduktiv und kontraintentional, die zum Teil unbeabsichtigten Nebenwirkungen konterkarierten die gut gemeinten Absichten.

Ivan Illich sprach von „Fortschrittsmythen“, er versuchte zu zeigen, „wie das industrielle Wachstum lediglich zur Modernisierung der Armut führt.“ (Illich 1983, S. 7) „Wir verlieren den Überblick über unsere Mittel, wir verlieren die Kontrolle über unsere Umweltbedigungen (…), wir verlieren den Geschmack an selbstvertrauender Bewältigung äußerer Gefahren und innerer Ängste.“ (ebenda S. 9) Die Modernisierung durch Experten entmündigt die Menschen. Die expandierende Gesundheitsversorgung macht krank, die Expansion des Erziehungswesens „verdummt“. Verloren geht die Fähigkeit zur „Konvivialität“, das heißt zum Miteinander-Leben, und die Bereitschaft zur „Selbstbegrenzung“. Ivan Illich verfolgt mit seinen Veröffentlichungen drei Ziele: „Erstens, ich will den Charakter einer waren- und marktintensiven Gesellschaft beschreiben, in der die Überfülle an Waren die autonome Erzeugung von Gebrauchswerten lähmt; zweitens, ich will aufzeigen, welche verborgene Rolle die Experten in dieser Gesellschaft spielen, indem sie deren Bedürfnisse prägen; drittens, ich will Illusionen aufdecken und Strategien vorschlagen, um die Macht der Experten zu brechen, die unsere Abhängigkeit vom Markt zu verewigen droht.“ (ebenda S. 15)

In Deutschland bestätigt und differenziert Heinrich Dauber diese modernitätskritische Gesellschaftsdiagnose. Dauber erkennt einen Zusammenhang zwischen „gesäuberter Erfahrung, industrieller Sterilisation und professioneller Reinigung“. Daraus resultiert ein „Dilemma des professionellen Erwachsenenbildners“: „Je weiter die Entmündigung der eigenen Lernfähigkeiten vorangeschritten ist, desto mehr bedarf es an nachfolgender pädagogisch-therapeutischer Arbeit, um Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit wiederherzustellen.“ (Dauber in Breloer et al. 1980, S. 118)

Ivan Illich plädiert für eine „Entschulung der Gesellschaft“, ja sogar für eine Abschaffung der Schule (wobei diese Forderung eher als Provokation und als heuristisches Planspiel zu verstehen ist). Seine Fundamentalkritik hat in der Pädagogik einen Sturm der Entrüstung, aber auch viel Zustimmung und Nachdenklichkeit hervorgerufen. Illich kritisiert die Schulpflicht, das Monopol der staatlich kontrollierten Schule und den Anspruch, durch Unterricht Bildung zu erzeugen. „Als Institution ruht die Schule auf dem Grundsatz, dass Lernen ein Ergebnis von Lehren sei. (…) Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir alle außerhalb der Schule gelernt.“ (Illich 1973, S. 42) Und: „Unsere derzeitigen Bildungseinrichtungen dienen den Zielen des Lehrers. Wir brauchen aber Beziehungsstrukturen, die es jedermann ermöglichen, sich selber dadurch zu entwickeln, dass er lernt und zum Lernen anderer beiträgt.“ (ebenda S. 80)

Solche Thesen wurden von vielen Pädagogen als Kränkung empfunden. Selbstverständlich liegen viele Einwände auf der Hand. Für die Erwachsenenbildung kann geltend gemacht werden, dass ihr Institutionalisierungsgrad so gering war (und ist), dass von einer Weiterbildungspflicht und Fremdbestimmung noch kaum die Rede sein kann, dass eine Entinstitutionalisierung sich zu Lasten der Bildungsbenachteiligten auswirken würde.

Dennoch sind die Entschulungsentwürfe keine praxisfernen Gedankenspiele geblieben. So haben zwei „Bewegungen“ die westdeutsche Gesellschaft und das Bildungssystem nachhaltig verändert: Die 68er Studentenbewegung und die „neuen sozialen Bewegungen“. Die ÖKOPAX-Bewegung (Umwelt, Frauen, Frieden, Dritte Welt, Antikernkraft etc.) war (und ist) auch eine „Bildungsoffensive“. Ihre Kernthese lautete: Lebensweltorientierte, selbstbestimmte, gesellschaftsverändernde Bildungsarbeit ist vor allem außerhalb der etablierten Institutionen möglich. Bildungsarbeit im Kontext der neuen sozialen Bewegungen muss selbstorganisiert sein.

Als Prototyp dieser selbstorganisierten Bildungsarbeit gilt die Volkshochschule Wyhler Wald. Mitte der Siebzigerjahre formierte sich ein Widerstand der betroffenen Bauern gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl in der Nähe Freiburgs. Es etablierten sich Bürgerinitiativen, die ihre eigenen Lernprozesse organisierten, um sich mit ihrem Protest gegen die Experten der Atomlobby argumentativ behaupten zu können. Die Bürgerinitiativen gründeten ihre eigene, alternative Volkshochschule. Sie luden Referenten ein, bildeten Arbeitsgruppen und organisierten Exkursionen. (Vgl. Michelsen/Siebert 1985, S. 149 ff.)

Diese Bildungsarbeit ist „selbstinitiiert“, das heißt selbstveranlasst. Die Initiative geht von den Betroffenen aus, so dass eine hohe intrinsische Motivation vorhanden ist. Die Lerninhalte ergeben sich nicht aus einem Fächer- oder Wissenschaftskanon, sondern aus lebensweltlichen Problemen und Verwendungssituationen. Lernmotive müssen nicht „geweckt“ werden, sondern die vorhandenen Bedürfnisse nach einem gesunden und befriedigenden Leben motivieren zum Lernen. Diese Bildungsarbeit ist selbstorganisiert, das heißt, die Teilnehmer/innen entscheiden selber die ihnen angemessenen Veranstaltungsformen, Umgangsformen, Lernarrangements.

Je mehr diese ökologisch-alternative Bildungsarbeit an Umfang und Bedeutung gewann, desto unvermeidlicher wurden eine Institutionalisierung und eine Einschränkung der Selbstorganisation. Sobald staatliche Zuschüsse in Anspruch genommen wurden, war eine Anpassung an Vorgaben und Auflagen des Gesetzgebers unvermeidbar.

Martin Beyersdorf hat diesen ambivalenten Institutionalisierungsprozess der selbstorganisierten „alternativen“ Bildungsarbeit empirisch rekonstruiert. Er macht die Grenzen der Selbstorganisation deutlich, vor allem dann, wenn eine Breitenwirkung der Bildungsarbeit angestrebt wird. „Selbstorganisierte Bildungsarbeit hat neue Themenfelder, Arbeitsweisen und Teilnahmegruppen für die Erwachsenenbildung erschlossen.“ (Beyersdorf 1991, S. 220) Um einer größeren Wirksamkeit willen ist aber eine Institutionalisierung – einschließlich einer dauerhaften Finanzierung – unerlässlich. So erscheint es wenig Erfolg versprechend, Selbstorganisation und Institutionalisierung als Gegensätze zu begreifen. Vielmehr kommt es darauf an, neue Formen der Institutionalisierung mit möglichst viel Selbstorganisation zu erproben.

Jean Paul Sartre: Der Autodidakt

„Plötzlich fallen mir alle Autoren ein, deren Bücher er letzthin gelesen hat: Lambert, Langlois, Larbalétrier, Lastex, Lavergne. Es überkommt mich wie eine Erleuchtung: Ich habe die Methode des Autodidakten verstanden – er bildet sich in alphabetischer Reihenfolge.

Ich sehe ihn an, und es packt mich so etwas wie Bewunderung. Welcher Wille gehört dazu, um auf diese Weise, langsam und verbissen, ein so ungeheures Vorhaben zu verwirklichen! Eines Tages vor sieben Jahren (er sagte mir, er studiere seit sieben Jahren) hat er feierlich diesen Raum betreten. Sein Blick schweifte über die ungezählten Bände in den Regalen, und er muss sich, ähnlich wie Rastignac, gesagt haben: ‚Und jetzt heraus zum Kampfe, menschliches Wissen!‘ Dann hat er das erste Buch auf dem ersten Bücherbord ganz rechts ergriffen und hat es auf der ersten Seite aufgeschlagen, erfüllt von Ehrfurcht und Schrecken und einer wilden Entschlossenheit. Er ist jetzt bei L. Auf J folgte K, auf K folgte L. Unvermittelt ist er übergegangen vom Studium der Käfer auf die Quantentheorie, von einem Werk über Tamerlan auf eine katholische Schmähschrift gegen den Darwinismus: Es hat ihn nicht einen Augenblick aus der Fassung gebracht. Er hat alles gelesen. Er hat die Hälfte von allem, was man über die Jungfernzeugung weiß, die Hälfte aller Argumente gegen die Vivisektion in seinem Schädel eingelagert. Hinter ihm und vor ihm liegt ein Weltall. Und der Tag ist nicht mehr fern, an dem er das letzte Buch des letzten Regals auf der äußersten Linken schließen und zu sich selbst sagen wird: ‚Und jetzt?‘“ (Sartre 1968, S. 36 f.)

 

1.3

Mitte der 1990er Jahre: Von der Weiterbildung zum lebenslangen Lernen

Mitte der Neunzigerjahre wurde eine globale Weiterbildungskampagne inszeniert. (Vgl. Dohmen 1997, S. 10 ff.; Knoll 1997, S. 27 ff.; Nuissl 1997, S. 41 ff., Krug 1997, S. 50 ff.)

Informelles und selbstgesteuertes Lernen spielt auch in den folgenden Dokumenten und Empfehlungen der EU eine zentrale Rolle:

Diese Häufung der internationalen Konferenzen, Resolutionen, Projekte ist auffällig. Die Bewertung dieser Aktivitäten fällt unterschiedlich aus – je nachdem, ob man zu den Insidern oder den Outsidern gehört, ob man eingeladen wurde oder nicht etc. Die Wortführer sprechen von einer globalen politischen Aufwertung des lebenslangen Lernens, manche außenstehenden Beobachter von einer symbolischen Politik, einer Problemverschiebung und einem Ausstieg aus der öffentlichen Verantwortung für Weiterbildung. Die Vielzahl der Veröffentlichungen zeigt: Kein Schlüsselbegriff, kein Argument ist völlig neu. Für die Notwendigkeit ständigen Weiterlernens hat es immer schon gute Gründe gegeben. Auch die Slogans – zum Beispiel „lifelong learning for all“ kommen uns bekannt vor. Und dennoch sind einige bemerkenswerte Akzentverschiebungen erkennbar. Es deutet sich ein Perspektivenwechsel an:

1.   Es wird eine Umstellung von Weiterbildung auf „lebenslanges Lernen“ vorgenommen.
Weiterbildung ist ein Strukturbegriff. Er bezeichnet einen Bereich des öffentlichen Bildungswesens; in Deutschland den „quartären Sektor“. Lifelong learning betont die biografische Perspektive, die Kontinuität des Lernens von der Kindheit bis ins hohe Alter. Die institutionalisierten Bildungsangebote werden zwar nicht abgewertet, aber es wird betont, dass Lernen nicht identisch mit Weiterbildungsbeteiligung ist.

2.   Der Lernbegriff wird ausgeweitet.
Früher wurde Education oft gleichgesetzt mit dem Erwerb formalisierter Schulabschlüsse. Jetzt wird Lernen nicht nur als schulisches, organisiertes Lernen begriffen, sondern als eine Vielfalt formaler und infomeller Aktivitäten. Der Lernbegriff wird enger mit einem Konzept „kluger Lebensführung“ verknüpft. Der Delors-Bericht unterscheidet vier Dimensionen des Lernens: „Learning to know, learning to do, learning to be, learning to live together.“ (Vgl. Knoll 1997, S. 33.)

3.   Es findet eine Akzentverschiebung von Lehre zur Lernberatung statt.
In den USA kursiert das Motto „more learning – less teaching“. Die OECD propagierte eine Wende „from education to learning“. Statt von Lehrenden ist häufiger die Rede vom „Facilitator“, „Coach“, Lernberater. In Deutschland verdrängt der Begriff „Lernkultur“ den traditionellen Begriff Unterricht. Rolf Arnold spricht von einer „Ermöglichungsdidaktik“ anstelle einer herkömmlichen „Vermittlungsdidaktik“. (Vgl. Arnold 2000.)

4.   Das Konzept der (Schlüssel-)Qualifizierung wird durch das der Kompetenzentwicklung ersetzt.
Soziale, personale, metakognitive Kompetenzen sind komplexer als trainierbare Qualifikationen. (Vgl. Sauer 1997, S. 25; Erpenbeck/Heyse 1999; Arnold/Müller 1999.) Kompetenzen werden „im Leben“, in sozialen und beruflichen Kontexten, durch Erfahrungen erworben. Kompetenzen entstehen durch Mischungen organisierter und informeller Lernprozesse, durch eine Kombination von Sozialisationseinflüssen und intentionalen Bildungsaktivitäten.

Überspitzt formuliert: In der Vergangenheit waren bildungspolitische Konferenzen und Verlautbarungen meist auf die Konsolidierung des formalisierten Weiterbildungssystems ausgerichtet. Jetzt wird dieses Bildungssystem relativiert, institutionalisiertes Lernen wird nicht mehr als der Königsweg, sondern als ein Baustein in einem komplexen lebensweltlichen „curriculum vitae“ „positioniert“. Das lernende Individuum rückt in das Zentrum der Betrachtung: Es ist lernfähig, mündig, aber auch verantwortlich für seine Lernerfolge und Lernverweigerungen.

Die Metapher der Delors-Kommission „learning: the treasure within“ signalisiert: Unser Reichtum liegt in unseren Köpfen. Wer seine eigenen Möglichkeiten nicht nutzt, hat selber Schuld. „Leitender Gesichtspunkt der Delors-Kommission war die Notwendigkeit, die nach Schätzungen der Faure-Kommission zu 50 % brachliegenden Kompetenzpotenziale der Menschen durch ein lebenslanges Kompetenz entwickelndes Lernen zu mobilisieren, das heißt, den Kompetenz-Schatz im Inneren der Menschen durch kontinuierliches Lernen zu heben.“ (Dohmen 1997, S. 11)

Die vorrangige Botschaft lautete: Die Lerngesellschaft benötigt nicht unbedingt einen weiteren Ausbau traditioneller Bildungseinrichtungen, sie benötigt neue Lernkulturen, in denen vielfältige Formen des selbstgesteuerten Lernens unterstützt werden. Man kann diese Position als Relativierung und Reduzierung der öffentlichen Verantwortung für die Weiterbildung verstehen. Man kann sie aber auch als eine Aufforderung zur Entwicklung neuer Angebotsformen und Netzwerke des Lernens begreifen. Aufgrund der ursprünglich vorherrschenden Befürchtungen scheint sich nun die zweite Sichtweise durchzusetzen.

Bemerkenswert schnell hat das Konzept des selbstgesteuerten Lernens Eingang in die bildungspolitische Diskussion gefunden. So wird in der Bundestagsdebatte über Weiterbildung am 11. Mai 2000 von einem Paradigmenwechsel gesprochen. Ernst Küchler, der Experte für Weiterbildung in der SPD-Fraktion, betont in seiner Begründung des Koalitionsantrags die notwendige Verknüpfung von selbstgesteuertem Lernen mit institutionalisierter öffentlicher Weiterbildung: „Selbstgesteuertes Lernen und informelles Lernen werden sich in die klassischen Lernstrukturen einbinden. Dabei kommt der ‚Eigenverantwortung‘ (…) des Einzelnen eine größer werdende Bedeutung zu. (…) Vielmehr müssen Eigenverantwortung und öffentliche Verantwortung angemessen korrespondieren.“ (Deutscher Bundestag Drucksache 14/3127, S. 9607) Empfohlen werden neue Netzwerke der Bildungsanbieter und „Anreizsysteme“ (zum Beispiel Bildungskonten) für die Interessierten. In dem Antrag zur Weiterbildung wird unter anderem gefordert:

Ortfried Schäffter hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff selbstgesteuertes/selbstorganisiertes Lernen in unterschiedlichen Diskursen thematisiert wird (Schäffter 1997, S. 30 f.):

a) in einem bildungspolitischen Diskurs

„Hier beschäftigt man sich (…) damit, ob es wünschenswert oder gefährlich sei, wenn neo-liberale Ordnungsvorstellungen bei der Konzipierung von Weiterbildung stärker zum Zuge kämen.“

b) in einem pädagogisch-programmatischen Diskurs

„Selbstorganisiertes Lernen wird normativ gefasst und aus der alteuropäischen Dualität von Autonomie und Fremdbestimmung bewertet.“

c) in einem alltagsgebundenen Praktikerdiskurs

„Der Diskurs reagiert auf offenkundige Wirksamkeitsgrenzen institutionalisierten Lernens nach dem Instruktionsparadigma, das nicht mehr auf der Höhe der heutigen Lerntechnologie ist.“

d) in einem paradigmatisch ausgerichteten Diskurs

Systemtheoretische Ansätze machen auf die Selbstreferenzialität des Lernens und des pädagogischen Handelns aufmerksam.