ROMAN
EDITION NAUTILUS
Edition Nautilus GmbH
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© Edition Nautilus GmbH
Originalveröffentlichung
Erstausgabe August 2016
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
ePub ISBN 978-3-96054-015-1
»Wir sind voller Dinge,
die uns nach außen stoßen.«
Pascal
Nicht gleich übertreiben, hätte Thilo gesagt, wenn er sich so liegen gesehen hätte, dort, unter seiner Skulptur in einer eher unnatürlichen Haltung. Er hätte, wenn er sich so liegen gesehen hätte, selbst nicht gewusst, ob er noch lebte oder nur eine Haltung angenommen hatte, die an Leben erinnert, wenn auch vergehendes, die Leben letztlich nur imitierte. Wie die Wälder, durch die wir in unserer Jugend streiften, und die eigentlich keine Wälder waren, sondern ausgewachsene Schonungen, Jungbäume, denen man ihre Jugend nicht ansah, die knochig in die Höhe geschossen waren und geraden Wuchs und eben Wälder nur imitierten. Wir müssen da raus, hatte Thilo immer wieder gesagt.
Ich konnte nicht sehen, ob sein Gesicht abgedeckt war, als man ihn wegtrug, und selbst wenn ich gesehen hätte, dass es abgedeckt gewesen ist, hätte ich nichts daraus schließen können.
Und ich hätte die Skulptur nicht abfangen können, ohne mich selbst lebensgefährlich zu verletzen, wahrscheinlich auch nicht, wenn ich gewollt hätte, obwohl ich wie immer, wie fast immer, dicht hinter Thilo gestanden hatte. Vielleicht hätte ich ihre Fallrichtung etwas ablenken und damit verhindern können, dass sie ihn frontal erwischt. Vielleicht.
Vielleicht habe ich aber auch viel zu weit weg gestanden, und die Nähe war eben jene, von der ich dachte, sie wäre angemessen.
Es hatte mir so ein Ausfallschritt zur Seite genügt, um wenigstens mich in Sicherheit zu bringen. Und aus den Augenwinkeln hätte ich wahrscheinlich Kerstin erkennen können, die sich in der Menge der Ausstellungsbesucher langsam bewegte und Haltungen einnahm, als wollte sie die Skulpturen nachahmen.
Und wahrscheinlich hatte Thilo von meiner Anwesenheit gar nichts mitbekommen, obwohl ich direkt hinter ihm stand. Und auch Kerstin hätte mich nicht gesehen.
Die Bücher, die ich ausgeliehen hatte (Kunsttheorien, Philosophie), waren auf den Boden gefallen. Ich trug sie in einem derben Lederbeutel, so dass den Büchern nichts geschehen konnte. Fast nichts. Sie waren an den Ecken leicht angestoßen, maximal am Rücken etwas abgeschabt. Die Bibliothekarin jedenfalls nahm keinen Anstoß daran.
Ich habe die Bücher immer wieder, als hätten sie sich selbst samt Beutel losgerissen, verloren, denn ich hatte an jeder Barriere gescheut, Hindernisse, die Thilo anscheinend mühelos nahm. Mir waren sie zu hoch, der Anlauf unterbrochen. Und wenn ich vorm Bibliothekstresen stand und die Ausleihgebühren nachzahlte, saß Thilo längst, seinen Skizzenblock auf den Knien, an einem Teich im Park, betrachtete die Schwäne und die Passanten, und wie die Passanten die Schwäne fütterten.
Es handelte sich meist um den Schlossteich, ein Gewässer am Fuß einer kleinen Erhebung, die Schlossberg hieß, auf der sich kein Schloss befand, sondern neben der Schlosskirche Reste eines ehemaligen Klosters.
Vielleicht ist es ihm mit mir genauso gegangen. Er hat sich nie dazu geäußert, wie er sich überhaupt nie zu unserem Verhältnis geäußert hat, und vielleicht war er, als er ohne mich in Amerika landete, froh, einen Ballast, mich, los zu sein. Vielleicht hat er aber schon von dem Moment an, da er im Flugzeug saß, das ich von der Besucherplattform des Frankfurter Flughafens aus zu erkennen versuchte, keinen Gedanken mehr an mich verschwendet. Ich selbst aber stand auf der Besucherterrasse, als sein Flugzeug abhob, wie jedes andere Flugzeug auch dort am größten Flughafen Deutschlands startete oder landete. Landete, um zu pausieren und etwas zurückzulassen, das ihm zu schwer war oder zu sperrig, das es am zügigen Fortkommen hinderte. Jedes hob für sich ab, in engem Takt Minute für Minute, einzeln, obwohl die Jets sich in meiner Vorstellung nach ein paar hundert Metern auch zu einem Schwarm hätten zusammenschließen können. Wegsein war ihr gemeinsames Ziel.
Wiewohl ich behaupten kann, dass ich nicht nur ein Ballast für Thilo gewesen bin: Schließlich war ich es, der das Päckchen Schweißdraht gefunden hatte, aus dessen Inhalt die ersten Studien für Thilos spätere Arbeiten entstanden. Kleine gebogene Gebilde, von denen jene Dynamik ausging, die mich bewegte, ja erschütterte in ihrer Fremdheit.
Thilo formte mit wenigen Handgriffen etwas aus einem Stück biegsamen Stahls, das mir wie der Abdruck eines Außerirdischen vorkam, etwas, das jedenfalls nicht hierher gehörte. Das von einem Leben jenseits unserer Vorstellung zeugte. Wie auch ich nicht hierher gehöre, sagte Thilo, als ich ihm von meinem Eindruck erzählte.
Manchmal, wenn Thilo mir allzu schnell voranschritt, habe ich gehofft, derweil ich außer Puste war, er hielte inne, drehte sich um und schaute, wo ich geblieben wäre. Aufmunternde Worte habe ich mir gewünscht. Genau so. Aufmunternde Worte, auch wenn ich nicht weiß, welche Worte für mich aufmunternd gewesen wären.
Vielleicht gab es auch gar keine Worte für mich, auf die das Prädikat aufmunternd gepasst hätte. Vielleicht gab es ja nur Anfeuerungsrufe, wie: Los Alter, und: Komm schon! Und Thilo hat sich ja auch nicht umgedreht, höchstens einmal kurz über seine Schulter geblickt.
Wahrscheinlich war mein Zurückbleiben nicht der Anlass für diesen Schulterblick, und er hat nur versucht, seine Nackenmuskulatur ein wenig zu lockern, die durch das langwährende starre Geradeausschauen verspannt war. Ich aber habe gehofft, habe glauben wollen, er warte auf mich. Aber warten war seine Sache nicht.
Thilos Skulpturen kann man nicht bemalen, höchstens behängen, beklecksen, zerstören. Und in den verchromten Rundstählen spiegelt sich die Welt. Aber sie spiegelt sich nicht wider, wird nicht zum Abbild. Das, was sich in den glänzenden und gewölbten Oberflächen fängt, ist derart verzerrt, dass man es mit dem besten Willen nicht mehr erkennen kann. Und dieser Umstand verleiht den Skulpturen ihre Leichtigkeit und ihre Dynamik, die (zugegeben) durch das Statische der Gegend noch mehr verstärkt werden. Die Gebilde bleiben Fremdkörper, aber die Landschaft verändert sich durch sie. Sie tritt in Aktion, will sie nicht aufnehmen und scheint an ihnen abzuprallen und schlimmstenfalls verödet neben ihnen liegen zu bleiben. Neben Thilos Skulpturen gibt es nur Erosion und Verfall. Und wenn das Spiel des Sonnenlichtes sich in den Oberflächen der Rundstähle reflektiert, stellt es eine Beziehung zum Himmel und zum Wolkenzug her, und die Arbeiten bekommen etwas Ziehendes, Ortloses, das ihrer physischen Schwere entgegensteht.
Komm schon, Schroth, hatte Thilo tatsächlich manchmal gerufen, jedenfalls meinte ich, diese Worte zu hören. Er hatte es gerufen, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Komm schon, könnte es geheißen haben (wenn ich die Töne richtig interpretiere, die von weiter vorn kamen).
Ich komm ja schon, rief ich hinter ihm her, und es war, als hätte ich gegen den Wind gebrüllt. Immer kleiner schien mir Thilos Körper zu werden. Immer kleiner, er schien immer mehr zu verschwinden in einer Gegend, die meine werden sollte und durch dieses Verschwinden immer unwirklicher zu werden drohte.
Ich blieb auf einer Besucherterrasse zurück, obwohl ich in dem Land, das Thilo verließ, ja zum Inventar geworden bin oder es immer schon war, etwas, das zurückblieb und einwuchs, mit der Gegend verwuchs, der Architektur, und vielleicht für den, der von irgendwoher zurückkehrte, gar nicht mehr zu erkennen war als hinzugekommen. Ein Fremdling vielleicht, aber bestens getarnt. Vom Besucher wurde ich zum Stuhl, auf dem der Besucher sitzt oder neben dem er steht, weil er der Standfestigkeit des Stuhles nicht traut.
Ich werde ihn dieses Mal warten lassen (wenn er wartet), ich werde nicht mehr versuchen, ihn so schnell wie möglich einzuholen, und wenn ich den Rest meines Lebens auf diesem Hof verbringe, an diese Mauer gelehnt, die die Sonnenwärme gespeichert hat.
Ich werde ein Erinnerungsregister anlegen, eine Bibliothek, verzeichnen, kategorisieren, und das Leben in den Griff bekommen, wenigstens das vergangene, jetzt und hier in diesem bei Tag so überschaubaren Hof hinter dem Haus meiner Mutter.
Wenn es mir gelingt, könnte ich diesen Sessel, der übrigens um einiges unbequemer ist, als ich noch vor Stunden gedacht habe, ich könnte ihn endlich zurückstellen zu den zerschlissenen Matratzen und kaputten Fernsehgeräten.
Dann, kommt es mir vor, könnte ich eingreifen, könnte etwas verändern, retten gar, was längst hinabgetrieben ist. Aber nur für einen kurzen Moment; und die Luft am Abend wird kühler, wie immer. Doch dass es zum Regnen kommt, glaube ich nicht.
Kleinigkeiten, Dinge, deren Bestand von so geringer Dauer ist, dass sie verschwinden, während man ihren Namen ausspricht. Sie bilden Barrieren. Barrieren, die ich umgehen musste, die meinen Weg bestimmten, die ihm eine Form gaben, weit weg von meiner Vorstellung des Weges und jenseits des Zieles, welches wir, Thilo und ich, angepeilt hatten, und dem Thilo sich, und nur er, wie mir scheint, auf einer Geraden näherte.
Nennen wir es Amerika, nennen wir es Kunst. Ein Ziel jedenfalls fernab von jeder Erfahrung, von unserer Erfahrung.
Ich selbst habe ihm die Umwege abgenommen. Und ich habe im Osthafen an Trägern und Schrauben manipuliert, so dass Thilos Skulptur kippen und ihn treffen konnte, nicht musste. Denn ich konnte ja nicht wissen, wo Thilo stehen würde, in jenem Moment, da sie fällt. Ein Unfall.
Über die Klingelanlage des Hauses, das ich in Frankfurt bewohnte, und das ich jetzt für immer verlassen habe, um hier hinter dem Haus meiner Mutter zu sitzen, hatte jemand, kurz bevor es passierte, mit rostrotem Lack einen Paviankopf gesprüht. Der Affe sah missmutig aus, fletschte die Zähne, die Augen hatte er katzenhaft zusammengekniffen.
Einige Zeit vorher noch hätte ich das Graffito betastet, an ihm gerochen und bei frischer Farbe gehofft, dass mir irgendjemand etwas hatte mitteilen wollen, so wie wir uns in der Schulzeit gegenseitig kleine Zettel in die Taschen gesteckt hatten. Keine einfachen Worte, kryptische Zeichen, Kritzeleien. Botschaften, für deren Entschlüsselung der Empfänger stundenlang hatte brüten müssen, für die man über ein Wissen verfügen musste, das in der Schrift keine Entsprechung fand, ein Wissen, das ohne ein geschriebenes Wort auskommt, das »direkt aus dem Leben sich ergibt«, das heißt, unmittelbar ist.
Wären wir gläubig gewesen, hätten wir von Erleuchtung gesprochen. Aber wir waren nicht gläubig, und bei Erleuchtung kam uns nicht Christus in den Sinn, sondern der Weihnachtsbaum, den wir, Thilo und ich, mit Kochlöffeln und Garnrollen behängten. Wir fanden das witzig.
Aber man kann die Dinge nicht einfach in die Texte kleben. Der Abguss als Zeichnung. Es war ein Dakerwissen, denn auch dieses Volk kannte die Schrift nicht, aber Chiffren, die dem Außenstehenden nur Strichmännchen waren oder eben gebogener Draht. Als sei die Stadt in ihrer Gänze auf mich bezogen gewesen, als sei sie meine Behausung gewesen, ein mittelalterlicher oder noch älterer Kosmos voller Ahnungen und Ahnen und keine vorübergehende Zufluchtsstätte, überdeckt nur von Bahngleisen und Ausfallstraßen. Ein Verkehrsstern, der anzog, oder die Fliehkraft einer Wäschetrommel. Obwohl Frankfurt mir genau Letzteres war.
Aber wie soll man das wissen, bevor man einen Ort (für immer vielleicht) verlässt. Und wäre ich damals aus dieser Stadt verschwunden, dann ohne etwas zurückzulassen, ich wäre spurlos verschwunden. Inzwischen sehe ich in den Wandbildern und Graffiti nur noch jene Zufälligkeit, die auch in den Formen der Wolken liegt.
Im Treppenhaus roch es nach Urin, und ich war darauf gefasst, den Junkie zu treffen, der für gewöhnlich unter der Kellertreppe saß, sich ein Schienbein bandagierte und der nie auch nur den Kopf hob, wenn ich den Hausflur betrat. Ich überlegte, wie immer, ob ich ihn grüßen sollte. Gewissermaßen gehörte er ja zur Hausgemeinschaft, und sogar die alte Frau Elfen, die im Erdgeschoss wohnte, hatte es schon lange aufgegeben, nach der Polizei zu rufen und ihn entfernen zu lassen. Er kam ja doch immer wieder, saß unter der Kellertreppe, kochte sein Heroin in einem kleinen Löffel aus Aluminium über einer Haushaltskerze und stank.