Adam Zamoyski
Phantome
des Terrors
Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit
1789–1848
Aus dem Englischen
von Andreas Nohl
C.H.Beck
Mit seinen Napoleon-Büchern «1812» und «1815» ist Adam Zamoyski auch in Deutschland zum Bestsellerautor geworden. Nun erzählt der polnisch-britische Historiker, wie nach dem Ende Napoleons aus der Angst der Herrschenden vor Terror und Revolution eine paranoide Politik der Unterdrückung wird. Spannend wie immer schildert Zamoyski das Ringen zwischen den Kräften der Reaktion und der liberalen Bewegung. Und er lässt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite er steht: Auf der Seite der Freiheit.
Für die Herrschenden und Besitzenden waren die Jahre nach der Französischen Revolution und Napoleon ein Zeitalter höchster Besorgnis. Die gekrönten Häupter lebten in der permanenten Furcht vor erneuten Rebellionen und waren überzeugt davon, dass ihre Macht auf dem Spiel stand. So entstand eine Politik, die mit einem immer aufwendigeren System von Bespitzelung, Zensur und Repression gegen reale und imaginäre Feinde vorging. Doch das Resultat war anders, als es sich die Mächtigen erhofft hatten. Der Polizeistaat und eine verfehlte Politik brachten – damals wie heute – genau das hervor, was sie verhindern wollten.
Adam Zamoyski wuchs in England auf und studierte Geschichte und Sprachen in Oxford. Seine adlige Familie floh 1939 nach der deutschen und sowjetischen Invasion aus Polen. Er lebt als freier Autor und Historiker in London und ist Fellow der Society of Antiquaries, der Royal Society of Arts und der Royal Society of Literature. Seine Bücher «1812. Napoleons Feldzug in Russland» (102012)und «1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress» (2014) waren international erfolgreich und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Vorwort
1: Exorzismus
2: Angst
3: Ansteckungsgefahr
4: Krieg gegen den Terror
5: Regieren durch Hysterie
6: Ordnung
7: Frieden
8: Hundert Tage
9: Spitzelwesen
10: Britische Schreckgespenster
11: Moralische Ordnung
12: Mystizismus
13: Deutschtümelei
14: Selbstmordterroristen
15: Zersetzung
16: Das Reich des Bösen
17: Synagogen des Satans
18: Comité directeur
19: Der Herzog von Texas
20: Das Apostelamt
21: Meuterei
22: Säuberung
23: Konterrevolution
24: Jupiter tonans
25: Skandale
26: Kloaken
27: Das China Europas
28: Ein Fehler
29: Polonismus
30: Der entfesselte Satan
31: Nachspiel
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungen
1. Exorzismus
2. Angst
3. Ansteckungsgefahr
4. Krieg gegen den Terror
5. Regieren durch Hysterie
6. Ordnung
7. Frieden
8. Hundert Tage
9. Spitzelwesen
10. Britische Schreckgespenster
11. Moralische Ordnung
12. Mystizismus
13. Deutschtümelei
14. Selbstmordterroristen
15. Zersetzung
16. Das Reich des Bösen
17. Synagogen des Satans
18. Comité directeur
19. Der Herzog von Texas
20. Das Apostelamt
21. Meuterei
22. Säuberung
23. Konterrevolution
24. Jupiter tonans
25. Skandale
26. Kloaken
27. Das China Europas
28. Ein Fehler
29. Polonismus
30. Der entfesselte Satan
31. Nachspiel
Literatur
Quellen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Die Schlacht bei Waterloo war das letzte Urteil über Napoleon und zugleich die Niederlage jener Kräfte, die von der Französischen Revolution 1789 entfesselt worden waren. Die Revolution hatte die Grundlagen der gesamten sozialen Ordnung und alle politischen Strukturen Europas erschüttert und die Büchse der Pandora grenzenloser Möglichkeiten und Schrecken geöffnet. Das Heilige wurde entweiht, das Gesetz mit Füßen getreten, ein König und seine Königin wurden rechtsförmig (in einem Prozess vor dem Nationalkonvent) ermordet und Tausende Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt oder Opfer der Guillotine ohne einen ernsthaften Grund. In den darauf folgenden zweieinhalb Kriegsjahrzenten stürzten Throne, verschwanden Staaten, und Institutionen aller Art wurden ausgehöhlt, während die subversiven Ideen der Revolution durch Europa und seine Kolonien fegten.
Die politische Neuordnung des Kontinents durch die Mächte, die 1815 über Napoleon triumphiert hatten, setzte sich zum Ziel, all dies zu revidieren. Die Rückkehr zu einer sozialen Ordnung, die auf Thron und Altar gründete, wollte die alten christlichen Werte wiederherstellen. Das Europäische Konzert, ein Pakt zwischen den Herrschern der führenden Mächte, sollte sicherstellen, dass solche Wirren sich niemals wiederholten.
Doch die folgenden Jahrzehnte waren durchdrungen von der Furcht, dass die Revolution weiterlebte und jederzeit wieder ausbrechen konnte. In Briefen und Tagebüchern aus jener Zeit findet sich immer wieder das Bild einer vulkanartigen Eruption, welche die gesamte soziale und politische Ordnung verschlinge; sie drücken eine geradezu pathologische Angst davor aus, dunkle Mächte unterminierten das moralische Fundament, auf dem diese Ordnung beruhte. Dies kam mir sonderbar vor, und ich begann zu forschen.
Je tiefer ich in die Materie eindrang, desto klarer zeigte sich, dass diese Panik in gewissem Maß von den damaligen Regierungen selbst geschürt wurde. Mir wurde bewusst, in welchem Umfang der angeblich notwendige Schutz der Ordnung die Einführung neuer Kontroll- und Repressionsmethoden begünstigte. Ich fühlte mich an jüngere Beispiele erinnert, in denen es den jeweiligen Machthabern opportun erschien, Angst in der Bevölkerung zu schüren – vor Kapitalisten, Bolschewisten, Juden, Faschisten oder Islamisten – und durch Maßnahmen, die die Bürger vor einer unterstellten Bedrohung schützen sollten, die individuelle Freiheit zu beschneiden. Der Wunsch, mehr über dieses Phänomen von historischer Tragweite – so erschien es mir jedenfalls – zu erfahren, verwandelte sich unter der Hand zu einem immer ernsteren Projekt, als mir klar wurde, dass das Thema enorme Bedeutung für unsere Gegenwart hat.
Gleichwohl habe ich der zuweilen starken Versuchung widerstanden, im Text auf Parallelen zwischen Fürst Metternich und Tony Blair oder George W. Bush und den russischen Zaren hinzuweisen. Abgesehen von der damit unweigerlich verbundenen Gefahr, ins Lächerliche abzugleiten, schien es mir für die Leser reizvoller, ihre eigenen Parallelen zu ziehen.
Um eine Überhäufung des Texts mit störenden Fußnoten zu vermeiden, habe ich alle Anmerkungen, die sich auf Zitate und Fakten beziehen, in einer einzigen Ziffer zusammengefasst, die sich am Ende des jeweiligen Absatzes befindet. Aus Gründen der Einfachheit habe ich durchgängig den gregorianischen Kalender verwendet, auch wenn es um russische Geschehnisse oder Quellen ging. Nicht ganz so konsequent war ich bei der Transkription russischer Namen, wo ich die Schreibweise wählte, von der ich glaube, dass sie dem Leser am vertrautesten ist; die Familie Golizyn ist über dreihundert Jahre in lateinischer Schrift als Galitzin aufgetreten, weshalb ich diese Schreibweise beibehalten habe, die sie übrigens selbst immer noch gebraucht.
Aus Zeitmangel konnte ich nicht so ausgiebig in den Archiven forschen, wie ich es gern getan hätte, und so war ich gezwungen, mir Unterstützung zu suchen. Ich möchte Pauline Grousset dafür danken, dass sie manchen meiner Hinweise in den Archives Nationales in Paris nachgegangen ist; Veronika Hyden-Hanscho dafür, dass sie mehrere Fährten in Wiener Archiven verfolgt hat; Philipp Rauh dafür, dass er eine große Zahl von Büchern auf deutsch gelesen hat; Thomas Clausen für sein enthusiastisches Durchforsten der Archive in Stuttgart, Wiesbaden und Darmstadt; Hubert CzyŻewski für seine sorgfältige Arbeit im Nationalarchiv in Kew; Sue Sutton für weitere Arbeiten dort und Jennifer Irwin für ihre Recherche im Public Record Office of Northern Ireland.
Auch möchte ich Chris Clark Dank sagen für seine Beratung in deutschen Fragen, Michael Burleigh für seine moralische Unterstützung in einem Augenblick, als die surreale Qualität meines Themas mich an meiner geistigen Gesundheit zweifeln ließ, Charlotte Burdenell, die meine Aufmerksamkeit auf den Ausbruch des Vulkans Tambora lenkte, sowie Shervie Price für die kritische Lektüre des Manuskripts.
Großen Dank schulde ich meiner Verlegerin Arabella Pike für ihre Geduld, ihr außerordentliches Vertrauen in meine Arbeit und ihre ansteckende Begeisterung; ebenso Robert Lacey, dessen akribisches und kluges Lektorat nicht seinesgleichen kennt; und natürlich Helen Ellis, die aus der mühsamen Aufgabe des Buch-Promoting ein Vergnügen macht. Ebenso tief dankbar bin ich meinem Agenten und Freund Gillon Aitken für seinen unermüdlichen Beistand. Schließlich möchte ich meiner Frau Emma danken für ihre Geduld, ihr Verständnis und für ihre Liebe.
Adam Zamoyski
Mai 2014
1
Am 9. August 1815, einem Mittwoch, lichtete die HMS Northumberland in Plymouth ihre Anker und setzte Segel in Richtung der Insel St. Helena im Südatlantik, um den Mann aus Europa fortzuschaffen, der den Kontinent fast zwei Jahrzehnte lang dominiert hatte. Alle, die vor dem «Ungeheuer» in Angst und Schrecken gelebt hatten, atmeten erleichtert auf. «Unglücklicherweise», schrieb der Philosoph Joseph de Maistre, «ist aber nur seine Person verschwunden, seine politische Moral hat er uns hinterlassen. Sein Genie war wenigstens in der Lage, die Geister zu zügeln, die er rief, und sie nur so viel Schaden anrichten zu lassen, wie er für nötig hielt: diese Geister sind noch unter uns, nur gibt es keinen mehr, der die Macht hat, sie in die Schranken zu weisen.»[1]
Besagter Mann, Napoleon Bonaparte, einst Kaiser der Franzosen, hatte sich ähnlich geäußert. «Wenn ich fort bin», so hatte er einem seiner Minister erklärt, «wird die Revolution – oder vielmehr die Ideen, die sie inspirierten – ihr Werk mit erneuter Kraft fortsetzen.» Während er «halb watschelnd und halb großtuerisch» an Deck auf und ab ging, wie Charles Ross, der Kapitän des 74-Kanonen-Kriegsschiffs, schrieb, schien er sich keine Sorgen wegen der Dämonen zu machen, die er zurückließ. Ihn bekümmerte eher seine Behandlung durch die Briten, denen er sich ergeben hatte und die es ablehnten, seinen Titel anzuerkennen. Er wurde als «General Bonaparte» angeredet, und ihm wurden keine größeren Ehren bezeigt als sie einem Gefangenen dieses Rangs zukamen. Zwei Tage zuvor hatte man ihn, unter heftigstem Protest seinerseits, kurzerhand von der HMS Bellerophon, mit der er an die Küste Englands gebracht worden war, an Bord der Northumberland überstellt, wo der Konteradmiral Sir George Cockburn, Befehlshaber der Flottille, die ihn zu seinem neuen Domizil bringen sollte, seine Flagge gehisst hatte. An Bord hatte man ihn einer sorgfältigen Leibesvisitation unterzogen und sein Gepäck gründlich durchsucht; Kapitän Ross notierte, er besitze «ein prächtiges versilbertes Service und vielleicht das kostbarste und schönste Porzellan-Service, das je hergestellt wurde, sowie eine kleine Feld-Bibliothek, eine leidliche Auswahl an Garderobe sowie etwa viertausend Napoleons in bar», die konfisziert und der britischen Schatzkammer zugeführt wurden. Staatsmännische Würde war nie die starke Seite Napoleons gewesen, und seine Versuche, die seinem kaiserlichen Status gemäße Ehrerbietung einzufordern, waren zum Scheitern verurteilt. Sonderliches Mitgefühl rief er nicht hervor, außer bei der Gruppe eingeschworener Anhänger, die beschlossen hatte, ihm in die Gefangenschaft zu folgen. Bei ihrer ersten Begegnung fand Kapitän Ross ihn «blässlich» und «schmerbäuchig»: «insgesamt ein unangenehmer Bursche, von priesterlichem Aussehen». Auch durch nähere Bekanntschaft auf der Reise milderte sich seine Einschätzung nicht. Admiral Cockburn beschrieb Napoleons Benehmen, insbesondere seine Angewohnheit, mit den Fingern zu essen, als «ungehobelt».[2]
Napoleon und sechs Männer seiner Entourage, die sich mit Bediensteten und den Kindern einiger Begleiter auf insgesamt siebenundzwanzig Personen belief, dinierten am Tisch des Kapitäns, gemeinsam mit dem Admiral und dem Obersten des Infanterieregiments, das ihn bewachen sollte. Er gab es bald auf, sich einen «unangemessenen Rang anzumaßen», indem er etwa die britischen Offiziere so sehr in Verlegenheit zu bringen suchte, dass sie ihre Kopfbedeckung abnahmen, wenn er es tat, oder die Tafel verließen, wenn er sich erhob. Nach dem Abendessen spielte er Schach mit Leuten aus seinem Gefolge oder Whist und Siebzehnundvier mit den britischen Offizieren, bei denen er Englischunterricht nahm und die er gerne mit Anekdoten aus seinem ereignisreichen Leben unterhielt, insbesondere aus seinen Feldzügen in Ägypten und Russland, wobei er sich nicht selten in langatmigen Erklärungen und Selbstrechtfertigungen erging. Manchmal wirkte er antriebslos und abwesend, und gelegentlich indisponiert durch Seekrankheit oder andere Unannehmlichkeiten einer Schiffsreise, doch im Ganzen war er gut gelaunt und machte den Eindruck, nicht nur seine Ambitionen hinter sich gelassen zu haben, sondern sein gesamtes Interesse an der Zukunft des Kontinents, den er so lange in Atem gehalten hatte. Am Abend des 11. September, fünf Wochen, nachdem sie in See gestochen waren, und keine drei Monate, seit er als Befehlshaber einer beeindruckenden Armee auf dem Schlachtfeld von Waterloo gestanden hatte, las er der Gesellschaft über zwei Stunden aus einem Buch mit persischen Märchen vor.[3]
An just diesem Abend dankte der Mann, der entscheidend zu Napoleons Sturz beigetragen hatte, Zar Alexander I. von Russland, seinem Schöpfer für den schönsten Tag seines Lebens. Auf einer Ebene nahe dem Städtchen Vertus in der Champagne hatte er eine außerordentliche Demonstration militärischer Macht und religiöser Inbrunst vorgeführt, die den Beginn einer neuen Epoche universellen Friedens und harmonischen Zusammenlebens einläuten sollte. Angefangen hatte sie am Tag zuvor mit einer Parade von über 150.000 seiner Soldaten und 520 Kanonen, die sich, laut dem Herzog von Wellington, «mit der Präzision einer Maschine» bewegten. Darauf folgte ein gargantueskes Mahl, zubereitet vom berühmten Chefkoch Carême, den der Zar zu diesem Anlass von dem Gourmet Fürst Talleyrand ausgeliehen hatte. Die dreihundert Gäste, zu denen der Kaiser von Österreich und der König von Preußen gehörten (sowie eine glänzende Reihe von Diplomaten, Generälen und Ministern), nahmen Platz an Tischplatten unter einem geräumigen Zelt im Garten von Dr. Poisson, einem ortsansässigen Arzt, in dessen Haus Alexander sein Hauptquartier eingerichtet hatte. Da der Ort durch den Krieg ausgeplündert war, musste das Essen für das Bankett und die Verpflegung für die Soldaten aus Paris herangeschafft werden.[4]
Am 11. September, dem Fest des russischen Nationalheiligen Alexander Newski und Namenstag des Zaren, versammelten sich die Soldaten erneut und bildeten Karrees um sieben Altäre, die über Nacht auf der Ebene in Form eines griechisch-orthodoxen Kreuzes aufgestellt worden waren. Alexander ritt zum Altar in der Mitte, stieg ab und neigte das Haupt. In diesem Augenblick begannen die Priester an allen sieben Altären unisono eine Messe zu zelebrieren, die über drei Stunden dauerte. Alexander schritt von Altar zu Altar, geführt von einer sentimentalen Schriftstellerin, die sich zur frommen Mystikerin gewandelt hatte: Juliane von Krüdener, die mit einer langen schwarzen Kutte kostümiert war. Der Gottesdienst nahm ihn vollständig gefangen, und «seine Haltung strahlte die echte Hingabe und Demut eines ernsten Christen aus», wie es eine englische Augenzeugin formulierte.[5]
Alexander sah in der Parade und im Gottesdienst ein Geschehen von weltumfassender Bedeutung, das nicht nur den Triumph über die von der Revolution und Napoleon heraufbeschworenen Teufel besiegelte, sondern zugleich den Untergang der alten und die Geburt einer neuen Welt ankündigte. Nach einer langen spirituellen Odyssee war er nun an dem Punkt angelangt, Gottes Allgewalt zu erkennen. Die Parade auf der Ebene von Vertus war zugleich eine Demonstration seiner weltlichen Macht und deren Unterwerfung unter den göttlichen Willen. Er sah sich und die beiden anderen Monarchen, die Napoleon bezwungen hatten – Kaiser Franz I. von Österreich und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen – in einer Linie mit den heiligen drei Königen aus dem Morgenland, die die Herrschaft Jesu Christi erkannt hatten. Diese Vorstellung wollte er mit Substanz füllen, indem er alle Souveräne verpflichtete, sich den Übeln der Zeit mit einer neuen Art von Staatsführung entgegenzustellen, nämlich einer, die ihre Legitimation aus dem Wort Gottes ableitete. Unter Hintanstellung der genaueren Ausgestaltung dieser Herrschaftsform schlug er vor, gemeinsam eine Erklärung zu unterzeichnen, in der man gelobte, in einem neuen Geist zu regieren, in einem Heiligen Bund (die «Sainte Alliance» wird im Deutschen gewöhnlich mit «Heilige Allianz» übersetzt, aber der französische Begriff bezieht sich auf den biblischen Bund Gottes), der sie verpflichtete, das Königtum Gottes auf Erden anzuerkennen.[6]
Der ursprüngliche Entwurf, formuliert in einer an die Apokalypse gemahnenden Sprache, sah die Vereinigung Europas in einer christlichen Föderation vor, de facto «eine Nation» mit «einer Armee». Dies wurde aufgrund des Einspruchs von Franz und Friedrich Wilhelm abgeändert, doch die endgültige Version enthielt das Bekenntnis der Herrscher, sie hätten «die innere Überzeugung gewonnen, dass es notwendig ist, ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, die die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers lehrt». Sie versprachen, «ihren unerschütterlichen Entschluss zu bekunden, als die Richtschnur ihres Verhaltens in der inneren Verwaltung ihrer Staaten sowohl als in den politischen Beziehungen zu jeder anderen Regierung alleine die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens gelten zu lassen, die, weit entfernt, nur auf das Privatleben anwendbar zu sein, erst recht die Entschließung der Fürsten direkt beeinflussen und alle ihre Schritte lenken sollen.»[7]
Kaiser Franz war skeptisch; Friedrich Wilhelm fand die Angelegenheit lachhaft; der britische Außenminister Lord Castlereagh und der Herzog von Wellington hatten alle Mühe, ihre Heiterkeit zu unterdrücken, als ihnen der Zar das Dokument vorlegte. Sie waren aber durchaus bereit, diese in ihren Augen harmlose Schrulle, dieses in den Worten des österreichischen Außenministers Fürst Metternich «lauttönende Nichts» geduldig zu ertragen. Das Dokument war kein staatlich bindender Vertrag und würde hoffentlich in den Archiven ihrer Kanzleien verschwinden, denn eine Veröffentlichung, so fürchteten sie, würde sie der Lächerlichkeit preisgeben. Es wurde ordnungsgemäß von Alexander, Franz und Friedrich Wilhelm am 26. September, dem Vorabend von Alexanders Krönungsjubiläum, unterzeichnet. Im Laufe der Zeit wurde es aufgrund der Beharrlichkeit des Zaren von jedem Monarchen in Europa unterschrieben, mit Ausnahme des englischen Königs George III. (aus verfassungsrechtlichen Gründen) und des Papstes (aus Gründen der katholischen Glaubenslehre). Doch niemand machte sich in vollem Umfang bewusst, welche Bedeutung der Zar ihm beimaß.[8]
Alexander war einer der wenigen europäischen Herrscher seiner Zeit, der eine nennenswerte Erziehung genossen hatte. Es war eine ungewöhnliche Erziehung, keineswegs ausgerichtet auf seine zukünftige Rolle als Alleinherrscher eines riesigen Imperiums, sie vermehrte noch die Widersprüche, die seiner Position innewohnten, und unterschied ihn deutlich von den anderen Monarchen. Seine Großmutter, Zarin Katharina II., hatte sich mit großer Sorgfalt um die Auswahl seiner Lehrer gekümmert und wollte sein Erziehungsprogramm selbst bestimmen, doch Alexanders Französischlehrer, der Schweizer Philosoph Frédéric César de La Harpe, nahm bald das Heft in die Hand. La Harpe pflanzte dem jungen Prinzen seine eigene Weltsicht ein, er bestritt die Idee des Gottesgnadentums und lehrte ihn, dass alle Menschen gleich seien.[9]
Katharina hoffte, Paul, ihren Sohn und Alexanders Vater, aus der Erbfolge ausschließen zu können, und bestand deshalb darauf, dass der Junge die meiste Zeit nicht bei seinen Eltern, sondern an ihrem Hof zubrachte. Seine Erziehung und persönliche Neigung ließen ihn diesen korrupten und unmoralischen Hof, der für das 18. Jahrhundert typisch war, verabscheuen, und er schätzte um so mehr die kurzen Momente, die er mit seiner Mutter und seinem Vater verbringen konnte, deren Lebensumstände auf Schloss Gattschina schlicht und – sie waren deutscher Abstammung! – auf tröstliche Weise gemütlich waren. Während seine Großmutter ihn auf die Ausübung der Macht vorbereitete, träumte er von einem geruhsamen Leben als Privatier irgendwo in Deutschland.
Zar Alexander I., der hoffte, dass eine von christlichen Prinzipien geleitete Regierung die von der Französischen Revolution entfesselten Kräfte des Bösen besiegen wird. Porträt von George Dawe.
Katharina befürchtete, die Frauen würden Alexander nachstellen, und er könnte sich zu einem Libertin entwickeln, deshalb bestand sie darauf, dass er in vollkommener Unschuld aufwuchs, abgeschottet von den «Geheimnissen der Liebe». Seine Entourage war auf Prüderie eingeschworen, und als der jugendliche Alexander eines Tages auf einem Spaziergang zwei Hunde bei der Paarung sah, erklärte ihm der Tutor, dass sie miteinander kämpften. Doch bereits in frühem Alter wurde er mit einer deutschen Prinzessin verheiratet, und obgleich er sich durchaus in seine Kindsbraut verliebte, war es für ihn schwierig, die Ehe zu vollziehen. Sein ganzes weiteres Liebesleben war belastet von Schuldgefühlen, und er betrachtete den frühen Tod aller seiner Kinder als Strafe Gottes.[10]
Als Katharina im November 1796 starb, bestieg ihr Sohn Paul den Thron und verfolgte prompt einen Kurs, der ihn zu einem der unbeliebtesten Herrscher in der russischen Geschichte werden ließ. Er verbot fast den gesamten Kanon der französischen Literatur und richtete in jedem Hafen Zensurbüros ein, um importierte Schriften auf ihren subversiven Inhalt überprüfen zu lassen. Er verbot ausländische Musik und den Gebrauch von Wörtern wie «Citoyen», «Club», «Société» und «Revolution». Russen wurde untersagt, im Ausland zu studieren. Er erließ einen Ukas nach dem anderen, in denen Sitten und Essenszeiten, Haartrachten, Bärte, Koteletten und Kleidung vorgeschrieben wurden. Und häufig revidierte er diese Dekrete wieder. Oftmals stellten die Menschen fest, dass der Stil ihrer Garderobe verboten war, und dann mussten sie hastig Rockschöße und -aufschläge abschneiden, Taschen anbringen oder abnehmen und Hüte in die vorgeschriebene Form beulen, ehe sie auf die Straße gehen konnten.
Allmählich erkannte Alexander, dass er die vom Schicksal für ihn vorgesehene Verantwortung übernehmen musste. «Ich glaube, wenn ich je an die Macht kommen sollte, täte ich besser daran – statt ins Ausland zu gehen –, mein Land zu befreien und es in Zukunft davor zu bewahren, von Irren als Spielzeug missbraucht zu werden», schrieb er an La Harpe. Er sah die Aufgabe seines Lebens zunehmend darin, die russische Autokratie in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln und die Leibeigenschaft aufzuheben. Seine Stunde schlug 1801, als Paul ermordet wurde, woran der Sohn eine passive Mitschuld trug. Er setzte politische Häftlinge auf freien Fuß, widerrief viele der repressiven Gesetze seines Vaters, hob Zensur und Reisebeschränkungen auf, brachte Bildungsreformen auf den Weg, gründete Universitäten, berief eine Kommission zur Kodifizierung der Gesetze ein und beauftragte seinen Freund Alexander Woronzow, nach dem Vorbild der französischen Erklärung der Menschenrechte eine Charta für das russische Volk zu entwerfen.[11]
Im Jahre 1804 regte er bei den Verhandlungen über ein Bündnis mit England an, die europäischen Staaten in eine harmonische Föderation umzuwandeln, die jeden weiteren Krieg überflüssig machen würde. Drei Jahre später, anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags mit Napoleon in Tilsit, war er überzeugt, in eine große Allianz der kontinentalen Supermächte einzutreten, die Frieden und Fortschritt sichern würde. Erst langsam änderte er seine Einschätzung und begann den Kaiser der Franzosen als Ausbund des Bösen zu betrachten. Napoleons Invasion in Russland 1812 überstand er mit Bibellektüre und inbrünstigen Gebeten, während seine Armee geschlagen wurde und Moskau brannte, und für die Vertreibung der französischen Eindringlinge dankte er dem Herrn. Statt mit Napoleon Frieden zu schließen, einen Frieden, den er sehr zum Vorteil Russlands hätte diktieren können (wie viele in seiner näheren Umgebung hofften), setzte Alexander den Krieg fort. «Mehr denn je unterwerfe ich mich dem Willen Gottes und folge seinem Ratschluss blind», verkündete er im Januar 1813, als er daranging, Europa von dem französischen «Ungeheuer» zu befreien: Er war davon überzeugt, nur ein Werkzeug in den Händen des Allmächtigen zu sein. Als er dann das Ziel erreicht hatte, Napoleon zur Abdankung zu zwingen, demonstrierte er (in einer Weise, die die Verbündeten 1815 teuer zu stehen kam) den Geist christlicher Nächstenliebe, indem er Napoleon unter großzügigen Bedingungen die Herrschaft über die Mittelmeerinsel Elba einräumte.[12]
Er hielt weiterhin orthodoxe Gottesdienste ab, kombinierte sie aber manchmal – wie am 10. April 1814, als nach dem Julianischen wie nach dem Gregorianischen Kalender Ostern auf den gleichen Tag fiel – mit Elementen der katholischen und protestantischen Liturgie. In London, wo sich die alliierten Siegermächte nach der Niederlage Napoleons trafen, besuchte er Zusammenkünfte der Bible Society und ging mit Quäkern zum Abendmahl. Im badischen Bruchsal, auf seinem Weg zurück nach Russland, wurde er mit dem deutschen Pietisten Johann Heinrich Jung-Stilling bekannt gemacht, mit dem er lange Gespräche darüber führte, wie sich das Reich Gottes auf Erden errichten lasse.
In den nächsten Monaten folgte Alexander einem Weg, der ihm seiner Ansicht nach von Gott aufgetragen war. Frustriert von den praktischen Schwierigkeiten, die er auf dem Wiener Kongress erlebte, glaubte er, dass Napoleons Flucht von Elba Gottes Strafe für das nachgiebige Verhalten der Teilnehmer, einschließlich seiner selbst, war. In Heilbronn, auf seinem Weg zu Wellington, dem er sich vor der Schlacht von Waterloo anschließen wollte, lernte er die Baroness Krüdener kennen, die ihn davon überzeugte, dass er von Gott auserwählt sei und seine ganze Kraft darauf konzentrieren müsse, den Willen des Herrn auszuführen. Zu dieser Zeit war Alexander fasziniert von einem Buch des deutschen Philosophen Karl von Eckartshausen, der mit der These aufwartete, manche Menschen, sogenannte «Lichtträger», seien mit der Fähigkeit begabt, die Göttliche Wahrheit durch Wolken zu sehen, die sie vor der gemeinen Masse verbargen. Dies und die Worte der Baroness bestärkten ihn nur in seinem Gefühl, vom Allmächtigen auserkoren zu sein. Sie und er knieten gemeinsam nieder, um für die Nachricht von Napoleons Niederlage bei Waterloo zu danken, und sie folgte ihm anschließend nach Paris, wo sie ein Haus gleich neben dem Élysée-Palast bewohnte, in dem er Quartier bezogen hatte. Sie sahen sich täglich, sie beteten und hielten oft bizarre Gottesdienste ab, die ihren Höhepunkt in dem spirituellen Rummel auf der Ebene von Vertus fanden.[13]
Wellington, Castlereagh und viele andere hatten den Eindruck, der Zar sei ein wenig verrückt geworden. Metternich hielt ihn schon lange für einen Kindskopf, der gefährlichen Schwärmereien anhing. Als zynischer Pragmatiker hatte der österreichische Außenminister keine Zeit für solchen Firlefanz, zumal er davon ausging, dass alles wieder ins Lot kommen würde, wenn Napoleon erst einmal von der Bildfläche verschwunden war. Doch im Jahre 1815 war Alexander wahrscheinlich der einzige unter den Monarchen und hochrangigen Ministern auf dem Kontinent, der ein Gespür für die Sehnsüchte und Ängste hatte, die Europas Gemüter umtrieben, und der verstand, dass viele Menschen mehr wollten als bloß Frieden, Ordnung und einen vollen Bauch.
Seine Heilige Allianz war der ernsthafte Versuch, die Welt auf einen richtigen Weg zu bringen. Er war überzeugt, dass nur ein auf christlicher Moral basierendes System die Wunden, die durch die Ereignisse des letzten Vierteljahrhunderts geschlagen worden waren, heilen und Harmonie in einer zutiefst zersplitterten Welt wiederherstellen konnte. Zwar mag sein Vorhaben naiv und seine Lösung unausgegoren erscheinen, doch er erkannte als einziger unter den Monarchen und Ministern, die die Schlussakte des Wiener Kongresses aushandelten, dass kein Friedensvertrag, wie gerecht auch immer, alleine den Abgrund überbrücken konnte, der sich 1789 aufgetan hatte.